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Pruden, Siebenbürgen: Es ist eine paradiesische Welt, in die Sara als Jüngste von sechs Geschwistern hineinwächst. Siebenbürgen war ein guter Ort, um Kind zu sein, heisst es in dem Buch. Doch dann wird Saras Leben in völlig andere Bahnen katapultiert. Im Januar 1945 wird sie als 17-Jährige zusammen mit anderen jungen Leuten in ein russisches Arbeitslager in der Ukraine verschleppt, wo sie unter härtesten, menschenunwürdigsten Bedingungen zweieinhalb Jahre Zwangsarbeit verrichten muss. Bei der ersehnten Heimkehr wartet der nächste Schicksalsschlag auf sie: Ihr wird als Siebenbürger Sächsin der Zutritt zur alten Heimat verwehrt. So beginnt eine Odyssee, die sie über Deutschland schliesslich nach Kanada führt, wo sie endlich ankommen und ein neues Leben beginnen kann. Die Autorin liefert ein plastisches Bild des alten Siebenbürgen, einer versunkenen Welt mit jahrhundertealten Traditionen und Gebräuchen, und erzählt einfühlsam die bewegende Geschichte einer mutigen jungen Frau, die trotz allen Leids und Unrechts ihren Weg geht.
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Seitenzahl: 98
Dieses Buch widme ich meiner kanadischen Tante und ihren Nachkommen
PROLOG
1. TEIL
KINDHEIT UND JUGEND IN SIEBENBÜRGEN
WINTERSCHNEE
DAS DÖRFLICHE LEBEN
WASCHTAG IN PRUDEN
BAD IM ZUBER
TRACHTEN
SARA IN SCHÄSSBURG
ENDLICH EIN PLATZ IM INTERNAT
HELMUT UND HANNELORE GEBEN SICH DAS JA-WORT
LANGE FEIERN ZUR HOCHZEITSVORBEREITUNG
DIE HOCHZEITSVORBEREITUNGEN GEHEN WEITER
WÖCHNERIN SEIN IN PRUDEN
TAUFE IN PRUDEN
SARA AM TSCHORLBRUNNEN
DAS STERBEN DES ALTEN JOHANN
SARA ALS JUNGE LEHRERIN
VERSTECKT IM KELLER HINTER DEM BOTTICH
RUSSISCHES ARBEITSLAGER IN DER UKRAINE
HERBST 1944 – ARBEITSFÄHIGE WERDEN NOTIERT
14.– 16. JANUAR 1945 – DEPORTATION
IM VIEHWAGEN
ANKUNFT IM ARBEITSLAGER
GEFANGENE DER RUSSEN
SCHWERARBEITERINNEN
WEIHNACHTEN IM LAGER
WIE KONNTE DAS ALLES GESCHEHEN?
DER KNOCHENBRUCH
GEHORCHEN UND PARIEREN
AUSERLESENE SCHÖNHEITEN
DAS ROTE KREUZ
HEIMKEHR, ABER WOHIN?
DIE FAHRT INS UNGEWISSE GEHT WEITER
SCHWARZ ÜBER DIE GRENZE
DER BRUDER ERZÄHLT
DIE ÜBERFAHRT
NEUE HEIMAT IN KANADA
SARA BRAUCHT EINE ARBEITSSTELLE
SARA FINDET EINE FREUNDIN UND TRIFFT IHREN ZUKÜNFTIGEN MANN
ANDY UND SARA GRÜNDEN EINE FAMILIE
EINE ÜBELKEIT KÜNDIGT FROHES AN
DIE KANADISCHE GROSSFAMILIE WÄCHST UND WÄCHST
SARAS BRÜDER KOMMEN NACH KANADA
DER VATER ERZÄHLT
SARA LERNT ANDYS SCHWEIZER DORF KENNEN
SARA IST VERSÖHNT MIT IHREM SCHICKSAL
ZWEI BILDER MIT GÄNSEN
NOCHMALS IM SCHNEEWINTER
TANTE SARAS SCHLUSSWORT
2. TEIL
ZUR GESCHICHTESIEBENBÜRGENSSIEBENBÜRGENS
WO LIEGT SIEBENBÜRGEN?
DÖRFER UND STÄDTE, DIE IN SARAS LEBEN EINE ROLLE SPIELTEN
DIE ERSTEN SIEDLER SIEBENBÜRGENS
SARAS BERICHT ZU IHREM HERKUNFTSLAND
DANK
QUELLENANGABEN
BILDVERZEICHNIS
MEINE TANTE IST SCHWEIZERIN. Das war nicht immer so. Wie es dazu kam, davon erzählt die Geschichte von Sara, die seit Jahrzehnten in Kanada lebt. Es ist die Geschichte einer starken Frau, aber auch die Geschichte eines verlorenen Paradieses. Denn ein paradiesisches Dorf war Pruden in Siebenbürgen, in welchem Sara behütet in einer Großfamilie aufwuchs. Und es ist die Geschichte über das Leid und Unrecht, das der Krieg über die Siebenbürger Sachsen ob ihrer Deutschsprachigkeit gebracht hatte.
»Geht, geht!«, sagte sie mit den Händen gestikulierend zu mir und meinem Mann, als sie uns nach einem Besuch bei ihr in Vancouver auf den Flughafen begleitete. »Geht! Ich mag keine langen Abschiede.« Wir kamen ihrer Bitte schmunzelnd nach. Erst Jahre später, als Sara mir ihre Geschichte auf Tonband erzählte, sollte ich verstehen, weshalb sie keine langen Abschiede mochte. Zu oft hatte sie solche erlebt, zu oft waren Abschiede mit Heimweh und seelischem Schmerz verbunden gewesen.
Meine Tante hatte zum Glück dann ein neues Paradies gefunden, nachdem sie Andy, den Sohn eines armen, aber tüchtigen Bergbauern aus dem Prättigau in der Schweiz kennengelernt hatte. Andy, einer von neun Geschwistern, war in den Kriegsjahren der Armut des Graubündner Dorfes entflohen, mein Vater war sein Bruder. Wie froh bin ich, dass Sara und Andy sich kennenlernten.
DOCH WIE BEGANN Saras unglaubliche Geschichte? Saras Erinnerungen gehen zurück lange vor die Zeit der Katastrophe – der Tag, an dem alle arbeitsfähigen 17- bis 45-jährigen Männer und Frauen von den Russen deportiert wurden.
Die Geschichte beginnt mit vielen unendlich schönen Erinnerungen an ein Paradies, in dem sie als die Jüngste von sechs Geschwistern in Pruden, einem Dorf im deutschen Siebenbürgen, aufwuchs. Eine der Erinnerungen ist die an die Theateraufführung in der Schule des Bruders und viele andere, die sie durch die schwerste Zeit ihres Lebens begleiten sollten.
Es erfüllt mich mit großer Dankbarkeit, dass Sara ihr Schicksal so tapfer meisterte, und so meine Tante geworden ist, dass ich um etliche wunderbare Cousinen und Cousins in diesem großen nordamerikanischen Land weiß. Sara und ihren Nachkommen widme ich dieses Buch.
IM HAUS, IN DEM DIE KLEINE SARA mit ihrer Familie wohnte, gab es – wie in allen Häusern dieses Dorfes in Siebenbürgen – drei Zimmer. Wenn man ins Haus eintrat, befand man sich unmittelbar in der großen Wohnküche. Dort spielte sich das Familienleben ab. Sara erinnert sich, wie sie am großen Tisch aus Massivholz sitzt und dem Vater zuschaut, wie er in einer Schrift liest, die Mutter steht am Herd und bereitet eine Mahlzeit zu. Draußen ist es kalt und stürmisch. Es ist ein Januarabend im Jahr 1931. Im Frühling soll Sara ihren vierten Geburtstag feiern.
Plötzlich stürmt der große Bruder Hans herein. »Was ist los?«, fragt die Mutter. Sara blickt auf. Die Laune des Bruders gleicht dem Sauwetter draußen. »Müsstest du nicht in der Schule sein, bei der Theaterprobe?«, fragt die Mutter.
»Es fehlt eine Hauptrolle, und wenn wir die nicht besetzen können, dann ist die ganze Aufführung im Eimer«, antwortet er.
»Wer müsste dann diese Hauptrolle spielen?«, fragt der Vater.
»Ein Junge, so um die sechs Jahre alt. Aber keiner traut sich. Keiner hat den Mut dazu. Wir haben einige geprüft, keiner taugt dazu. Keiner kann so viel auswendig lernen, wie nötig wäre.«
Unvermittelt schaut er zunächst auf die kleine Schwester, dann mit der erlösenden Idee zu den Eltern: »Warum kann nicht Sara das probieren?«
Die Augen der Kleinen leuchten auf, begierig und überzeugt, dass sie das könnte, obwohl sie doch noch ein kleines Kind ist.
Tags darauf sollte Hans gegen Abend erneut nach Hause kommen, einen dicken Mantel aus dem Schrank holen, die kleine Schwester darin einwickeln und sie, mit einem wollenen Schal um den Hals, durch den Winterschnee watend, zur Schule tragen.
DER KREISLAUF DER NATUR bestimmte das Leben auf dem Dorf. Vom Frühjahr bis zum Herbst warteten Feldarbeiten auf dessen Einwohnerinnen und Einwohner. Neben den Erwachsenen wurden auch die größeren Kinder dazu herangezogen. Derweil hatten die Kleinen auf die Hühner zu schauen, mussten sie füttern und die Eier reinholen, auch hatten sie schon anstehende kleine Hausarbeiten zu verrichten, den Abwasch zu besorgen und das Nachtessen vorzubereiten, dann noch den Hof sauber zu wischen.
Spielen durften die Kleinen erst, wenn alle Arbeiten erledigt waren. Alte Frauen, die nicht mehr auf das Feld gehen konnten, hatten ein Auge darauf, dass alles seine Ordnung hatte.
An der Straße, an welcher Sara und ihre Familie wohnte, saßen vor ihren Häusern drei alte Frauen. Sobald sie die Kinder, meist Mädchen, draußen spielen sahen, erhoben sie sich von ihren Bänken, gingen von Haus zu Haus und prüften, ob alle Arbeit gut verrichtet war.
Unter den drei Frauen war auch Saras Großmutter. Sie wohnte nur fünf Häuser weiter unten an der Strasse. Wenn sie sich am Stock gehend auf den Weg zu Saras Haus machte, war noch alles in bester Ordnung. Doch bis sie dann tatsächlich dort ankam, konnte schon wieder was passiert sein, hatte vielleicht schon wieder irgendeine Kuh einen Fladen hinterlassen, sodass Sara erneut mit ihrer Arbeit beginnen, diesen ein weiteres Mal entfernen und auf den Misthaufen hinter der Scheune bringen musste.
Auch Sara hatte zu Hause solche Arbeiten verrichten müssen. Jetzt gehörte sie nicht mehr zu den Kleinen und ging deshalb mit aufs Feld. Sie war stolz darauf. Endlich durfte sie mit den großen Kindern und den Erwachsenen arbeiten. Auch Pferde, Büffel, Pflug und Egge wurden aufs Feld gebracht. Sara musste nun früh aufstehen. Getreide sollte ausgesät, es musste gejätet werden, und auch sonst wartete harte und stundenlange Arbeit auf die Truppe. Doch da hielt das Dorf zusammen. Alle wirkten mit.
Sara gehörte jetzt auch ein wenig zu den Großen.
WENN SARA IN DER KÜCHE die Treppe hochging, gelangte sie zum »Estrich«. Das Kind mochte diesen Ort, dort wurden gedörrte Früchte, Birnen oder auch Bohnen aufbewahrt. Der Estrich glich aber nicht einem Dachgeschoss, wo keine Tür mehr irgendwohin führt. Dieser Estrich war auch Wohnraum. Im Winter, wenn die Mutter nur kleine Wäsche machen konnte, hingen hier Leintücher auf den aufgespannten Seilen, und in einer Ecke wurde die schmutzige Wäsche aufbewahrt. Das störte die Kinder nicht, die hier auch schrieben und lasen. Es war ein Ort der Ruhe, den Sara besonders liebte.
Vom Estrich weg führte ein Weg direkt in die Sommerküche. Im Monat Mai wurde alles aus der unteren Küche hierhergebracht. Da stand auch der große Ofen, in dem die Mutter Brot und andere Köstlichkeiten buk. Vom Estrich aus führte ein Fluchtweg nach draußen. Hörte man jemanden durch die Haustür hereinkommen, jemand, dem man nicht begegnen wollte, konnte man vom Estrich aus das Haus verlassen. Auch von der Sommerküche aus gab es weitere Türen. Durch eine gelangte man in den Keller, wo der Wein, Kartoffeln und verschiedene andere Gemüse eingelagert waren. Auch unter einem großen Bett in der Wohnküche gab es einen geheimen Fluchtweg. Verschob man das Bett, sah man eine Falltür, die – wenn sie offen war – ebenfalls direkt in den Keller führte.
Hinter dem Haus standen die Scheunen. In der großen Scheune waren die Wagen und die landwirtschaftlichen Geräte untergebracht. In der anderen Scheune wurde das Heu gelagert. Hier war auch der Stall der zwei Pferde, der vier Kühe und der zwei Büffel.
Wenn dann endlich der lang ersehnte Frühling kam, die Sonne wieder länger schien und es wärmer wurde, kamen die zwei großen Waschtage. Da wurde alle schmutzige Wäsche gesammelt und in einen großen Bottich gestopft, der einen kleinen Spund als Öffnung nach unten hatte. Über die Wäsche wurde ein Leintuch gespannt und auf dieses Asche gestreut, die man aus den Öfen gesammelt hatte. Dann wurde über das Ganze heißes Wasser geschüttet. Die so entstandene Lauge sickerte durch den Spund nach unten in einen kleineren Bottich. Die durch die Lauge aufgeweichte Wäsche wurde zum Bach getragen und auf einem Waschstuhl geklopft, bevor sie im kühlen Bach gespült wurde.
Sara mochte die Waschtage, denn da gab es zum Mittagessen weiße geriebene Bohnen mit Speck, und die Erwachsenen tranken dazu ein Glas vom besten Wein. Dieses besondere Essen machte die Waschtage zu einem regelrechten Fest.
WENN WASCHTAG WAR, tummelten sich die Kinder im Bach. Ungeachtet des kalten Wassers tauchten und spritzten sie einander an, sodass sie dann auch wirklich sauber waren. Wie aber erst liebte es das Sarakind, wenn es samstags im Zuber von der Mutter gewaschen und geschrubbt wurde. Mit dem Wasserkrug leerte die Mutter das Wasser über die mit Seife oder Lauge gereinigten Haare. Nie und nimmer hätte es die Mutter zugelassen, dass sich Läuse in den Haaren ihrer Kinder einnisteten.
Danach war Sara bereit, am nächsten Tag die Sonntagstracht anzuziehen und mit der Familie in die Kirche zu gehen.
DIE PRUDENER MÄDCHEN hatten eine dorfeigene Tracht. Wie stolz sie doch waren, wenn sie diese von den Müttern am Spinnrad und in Handarbeit hergestellten Kleider tragen durften, die handbestickten Schürzen über den langen Röcken. Alles stellten die Frauen selber her, sie nähten und stickten. Selbstgestickte Wandbehänge waren in jedem Haus zu finden, Tücher mit den farbigen Wappen und dem aufgestickten Satz: »Siebenbürgen unsere Heimat«.
Die Erwachsenen trugen ebenfalls feierliche, selbst gestickte und genähte Trachten, die Jugendlichen zusätzlich auf dem Kopf einen runden Hut. Das gefiel der kleinen Sara. Hier war sie daheim, an diesem schönen Ort, wo alles mit solcher Sorgfalt hergestellt und gepflegt wurde.
SARA WAR EINE GUTE SCHÜLERIN. »Du sollst Lehrerin werden«, bestimmten die Eltern und die großen Brüder. Sara wusste nicht, ob sie das wollte, sie war doch erst zehn Jahre alt und sie ging so gern in Pruden in die Schule. Hier war ihre Welt. Doch wer einmal studieren wollte, musste die Schule in der Stadt besuchen. Sara fühlte sich noch zu klein für einen solchen Abschied. Doch die Eltern bestanden darauf. Man wollte sie nach Schäßburg bringen, in die Stadt, wo sie sich so fremd fühlen wird.