Die Musik der Fremde - Michael Haas - E-Book

Die Musik der Fremde E-Book

Michael Haas

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Beschreibung

Als die Komponisten Europa verließen Zahlreiche, besonders jüdische Komponisten versuchten, vor dem Nationalsozialismus ins Ausland zu fliehen. Diejenigen, die sich retten konnten, hatten im Exil aber oft Schwierigkeiten, ihre Karriere fortzusetzen. Michael Haas erzählt die bewegenden Geschichten vieler Größen der Klassik, wie etwa Erich Wolfgang Korngold, der für Hollywood komponierte, oder Kurt Weill, deren Musik sich jedoch durch ihr neues Leben im Ausland teils drastisch veränderte. »Bestes Buch des Jahres 2023« Financial Times

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Seitenzahl: 592

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Michael Haas

Die Musik der Fremde

Komponisten im Exil

Aus dem Englischen übersetzt von Susanne Held

Reclam

Titel der Originalausgabe: Music of Exile. The Untold Story of the Composers Who Fled Hitler. Yale University Press 2023.

 

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist ausgeschlossen.

 

2025 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

 

© 2023 by Michael Haas

Originally published by Yale University Press

 

Covergestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH

Coverabbildung: Bettmann / Getty Images

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2025

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962354-2

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011501-5

reclam.de | [email protected]

Inhalt

Vorbemerkung

Vorwort

Einführung

1 Der »Hanswurst« des Unheils

Überblick über die naheliegenden Optionen

Schweiz, Frankreich, Spanien, Portugal, die Niederlande und Skandinavien

Großbritannien, Kanada und Australien

Wenn Europa nicht weit genug weg war

2 Exil in Deutschland

Von jüdischem Schicksal: Der Komponist Richard Fuchs und der Jüdische Kulturbund

Jenseits von Berlin: Der Kulturbund, Karlsruhe und Richard Fuchs

3 Exil in Deutschland – Innere Emigration

Die Opportunisten

Die Kompromittierten

Passiver Widerstand

Karl Amadeus Hartmann: Aktiver Widerstand

4 Musik des Widerstands

Widerstand wogegen?

Die Lager

Theresienstadt

Der verborgene Widerstand von Wilhelm Rettich

Kampflieder und die Erinnerung an ein besseres Deutschland

5 Kurt Weill und die Musik der Integration

Eine europäische Vorstellung von Amerika

Kurt Weills Amerikanisierung in England

Johnny Johnson

Maxwell Anderson und Knickerbocker Holiday

Die großen Erfolge: Lady in the Dark und One Touch of Venus

Sozialdidaktisches Theater in Amerika im Unterschied zum Lehrstück in Berlin

Weills amerikanischer »Flop«: The Firebrand of Florence

Weills »Folk-Opern« Down in the Valley und Street Scene

Der Prototyp des »Konzept-Musicals«: Kurt Weills Love Life

Lost in the Stars – Weills letztes Musical

Franz Waxman

6 Die Musik innerer Rückkehr

Robert Fürstenthals Rückkehr in ein Wien, das es nie gab

Walter Arlen: Ein Komponist des Trauerns

Hanns Eisler: »Kunst als Erinnerung«

Rückkehr zur Symphonie

7 Fallstudie: Hans Winterberg und seine musikalische Rückkehr nach Böhmen

8 »Hitler hat uns zu Juden gemacht« – Israel im Exil

Musik und politisches Judentum im Exil

Die verlorenen Söhne

Die Kinder des Exils

9 Die Missionare

Österreichisch-deutsche Neue Musik an entfernten Orten

Die Zweite Wiener Schule in China

Die Sowjetunion und Philip Herschkowitz

Lateinamerika und Guillermo Graetzer

Unbeantwortete Fragen – Flucht nach Japan, auf die Philippinen, nach Indien und Afrika

Lässt sich aus all dem eine Schlussfolgerung ziehen?

Auswahlbibliographie

Ausgewählte, die Erfahrung des Exils reflektierende Memoiren und Romane

Ausgewählte Websites

Abbildungsverzeichnis

Dieses Buch ist dem Gründungsteam des Exilarte Zentrums an der Universität für Musik und Darstellende Kunst in Wien gewidmet sowie meinen Kolleginnen und Kollegen Professor Gerold Gruber, Dr. Ulrike Anton, Katharina Reischl, Nobuko Nakamura, Lucia Lajčáková, und Ulrike Sych, der Präsidentin der Universität, die es ermöglichen konnte. Ich schließe auch Geraldine Auerbach mit ein, die ehemalige Direktorin und Gründerin des Jüdischen Musikinstituts der Londoner Universität, der ich zu großem Dank verpflichtet bin.

Vorwort

Trautwein hatte geglaubt, das Exil zu kennen. Das war ein Irrtum. […] Er begriff, dass er bisher immer nur Einzelheiten gesehen hatte, ein Nacheinander, ein Nebeneinander. Jetzt sah er in Einem die Größe und Erbärmlichkeit des Exils, seine Weite und Enge. Keine Schilderung, keine Erfahrung, kein Erlebnis vermochte diese Ganzheit des Exils, seine innere Wahrheit zu offenbaren; nur die Kunst.

Lion Feuchtwanger, Exil, 19401

In meinem vorigen Buch Forbidden Music: The Jewish Composers Banned by the Nazis, 2013 bei Yale University Press erschienen, befasste ich mich hauptsächlich mit musikalischen Entwicklungen in Deutschland und Österreich, an denen jüdische Komponisten nicht nur beteiligt waren, sondern in denen sie eine entscheidende Rolle spielten. Das Nachwort von Forbidden Music war ein Plädoyer für einen Ort, an dem die musikalischen Vermächtnisse derer, die ins Exil gezwungen wurden, geborgen, restauriert und letztlich dem Publikum zurückgegeben werden konnten, dem sie genommen worden waren. Mit der Gründung des Exilarte Forschungszentrums und Archivs für Verfolgte Musik an der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien (der von Antonio Salieri im Jahr 1817 gegründeten Akademie) konnten wir einen solchen Aufbewahrungsort für die musikalischen Nachlässe von exilierten Musikern, Sängern, Interpreten, im Musikgeschäft tätigen Personen und vor allem Komponisten schaffen. Mit jedem Neuzugang kristallisierte sich eine neue Exilgeschichte heraus, häufig waren das Geschichten, die übersehen oder von früheren Experten auch einfach nicht berücksichtigt worden waren. Da so viele der wichtigsten musikalischen Nachlässe bereits in anderen Archiven gelandet waren, beschlossen wir, jeden musikalischen Nachlass aufzunehmen, ohne Ansehen der Gattung und des Profils der einzelnen Personen. Wir hatten das Glück, noch viele wichtige Namen zu finden, von denen man angenommen hätte, dass sie bereits in nationalen Bibliotheken oder zumindest in wichtigen Universitätssammlungen untergebracht sind: Hans Gál, Wilhelm Grosz, Walter Susskind, Georg Tintner, ja sogar noch Objekte aus dem Nachlass von Erich Korngold. Sie alle sind als Komponisten oder Dirigenten auf Tonträgern zahlreich vertreten. Doch gerade die Nachlässe von weniger prominenten Personen offenbarten häufig die wahren Kosten von Verlust und Exil. So wie nur jene Wenigen Hitler entkommen konnten, die Glück und Beziehungen, meist auch Verwandte und materielle Mittel im Ausland hatten, so schafften es auch nur einige Auserwählte, in ihren neuen Heimatländern erfolgreich Karriere zu machen. Wir meinen, ihre Geschichten zu kennen, weil wir für all das dankbar sind, was sie zum kulturellen Leben der Länder und Gemeinschaften beitrugen, die sie aufnahmen. Was häufig nicht berücksichtigt wurde, ist die Frage, welche Veränderungen notwendig waren, damit sie beruflich überleben konnten. Ein großer Teil dieser Geschichte ist die Geschichte der Musik in der Nachkriegszeit, das vorliegende Buch kann daher als eine Art Fortsetzung von Forbidden Music angesehen werden.

›Exil‹ ist ein bekannter Begriff, der zumeist für Schriftsteller und bildende Künstler angewandt wird. In jüngerer Zeit wurde er auch mit Komponisten und Musikern in Verbindung gebracht. Im Deutschen deckt der Begriff ›Exilmusik‹ sämtliche Musik und alle Musiker ab, die von den Nationalsozialisten verfolgt und mit Zensur belegt wurden. Eigentlich ist der Begriff ungenau, denn es wurden damit auch Komponisten bezeichnet, die nie im Exil waren, so etwa Franz Schreker oder gar Felix Mendelssohn; er kann auch nicht für Komponisten oder Musiker verwendet werden, die in Konzentrationslagern der Nationalsozialisten ermordet wurden, denn auch sie wurden ja nicht ins Exil geschickt, sondern deportiert und interniert. Exil ist ein Begriff, der es ermöglicht, ein breit gefächertes Genre zu klassifizieren, ohne das NS-Wort ›entartet‹ zu benutzen. Paradoxerweise stammt der Begriff ›entartet‹ von dem zionistischen Arzt und Philosophen Max Nordau; er publizierte im Jahr 1892 einen Text mit dem Titel Entartung. Was die Nationalsozialisten verbannten und verfolgten, entzieht sich einer strengen Klassifizierung, denn es deckte alles ab von populärer Musik, Kabarett und Operette bis hin zu Kunstmusik, zur Avantgarde, zu Konzertwerken und Opern. Indem die nationalsozialistische Terminologie vermieden und stattdessen auf den euphemistischen Begriff ›Exilmusik‹ ausgewichen wurde, verbannte man die Musik des Exils im engeren Sinn in ein immerwährendes Niemandsland. Sie wurde als von Exilanten komponierte Musik definiert, aber nur selten als ›Exilmusik‹ analysiert.

Wenn es um Musik und Exil geht, dann kommt einem zumeist das 19. Jahrhundert in den Sinn; man denke nur an Chopin und Wagner. Ihr Identitätsgefühl war an eine bestimmte Vorstellung nationaler Selbstbestimmung gebunden. Die Idee, durch Musik in die Heimat zurückzukehren, war auch damals nicht neu. Im 19. Jahrhundert wurde jedoch die Vorstellung von ›Heimat‹ häufig durch ›Heimatland‹ ersetzt. Dieser Unterschied wird bei jeder Aufführung einer Polonaise oder Mazurka von Chopin ohrenfällig. Das ist Musik, die eher den Willen zum Widerstand als einen Verlust zum Ausdruck bringt. Doch der Wunsch nach nationaler Selbstbestimmung im 19. Jahrhundert, definiert durch homogene Gemeinschaften, die in Nationalstaaten zusammengefasst waren, ist etwas anderes als die Erfahrungen der Komponisten und Musiker, die gezwungen wurden, aus dem Europa der Nationalsozialisten zu fliehen. Die subversiven Nationalisten des 19. Jahrhunderts, die im Ausland lebten und sich gegen supranationale ausländische Herrscher zur Wehr setzten, waren mit den Musikern und Komponisten in der Mitte des 20. Jahrhunderts nicht vergleichbar, die unterdrückt wurden durch das, was sich für die Opfer als religiöse Verfolgung darstellte, was jedoch die Unterdrücker als »rassische Säuberung« verstanden.

Ein politischer Flüchtling hat ein Bewusstsein von seiner Identität und seinem Heimatland, das sich von demjenigen eines jüdischen Komponisten oder Musikers unterscheidet, dem vermittelt wird, dass er nicht mehr zum nationalen Narrativ gehört – ja, dass er überhaupt nie dazugehört hat. Dieser verlogenen Vorstellung zu widersprechen und sich hartnäckig zu weigern, die eigene Heimat zu verlassen, käme einem Selbstmord gleich. Hieran erkennt man einen entscheidenden Unterschied: Der politische Exilant geht aus Gewissensgründen; der verfolgte Jude flieht vor dem Völkermord der »ethnischen Säuberung«. Der Schmerz und die Empörung darüber, dass man nicht zu den Gemeinschaften gehört, in denen man seit Generationen gelebt hat, ja dass man nie zu ihnen gehört hat, übersetzen sich häufig in ein umso stärker ausgeprägtes Bewusstsein der eigenen Rechte. Der Zorn über und die Aufarbeitung von Ungerechtigkeit fanden häufig ihren Niederschlag in Werken, die irgendwo weit weg im Ausland in der Schublade landeten. Diese Musik entspringt einem tiefen Bedürfnis, das eigene Geburtsrecht zum Ausdruck zu bringen, verbunden mit der Notwendigkeit, sich in neuen, komplexen Situationen zurechtzufinden, sowie der Verunsicherung durch die Konfrontation mit seltsamen neuen Sprachen. Es geht hier nicht nur um Musik, die von Exilanten komponiert wurde, sondern tatsächlich um Musik des Exils.

Als ich im kalifornischen San Diego den in Wien geborenen Komponisten Robert Fürstenthal2 traf, stieß ich zum ersten Mal auf eine bislang unaufgelöste Diskrepanz zwischen der Musik, die von erfolgreichen Komponisten in ihren ehemaligen Heimatländern geschrieben wurde, und den ästhetischen und stilistischen Veränderungen, die in den Ländern erforderlich wurden, in denen sie Zuflucht fanden. Fürstenthal war vor seiner Ankunft in den USA im Jahr 1939 kein Komponist gewesen. Eine beiläufige Bemerkung, die er im Hinblick auf sein Bedürfnis machte, sich in dieser Situation einer drohenden Vertreibung eine kulturelle Identität zu bewahren, war aufschlussreich. Zum ersten Mal wurde ich während meiner Tätigkeit als Musikkurator am Jüdischen Museum in Wien auf ihn aufmerksam, als ich Manuskriptkopien von der Hugo-Wolf-Gesellschaft in Empfang nahm. Deren Vertreter berichtete mir von einem amerikanischen Komponisten, der ursprünglich aus Wien stammte und ein so großer Bewunderer von Hugo Wolf war, dass seine Kompositionen – unter anderem Streichquartette, Kammermusik und Lieder – geradezu wie eine Erweiterung der Musik von Hugo Wolf selbst wirkten. Ich nahm an, es müsse sich um einen Komponisten handeln, der um 1870 oder vielleicht noch um 1880 geboren wurde, und war überrascht, als sich herausstellte, dass von Robert Fürstenthal die Rede war, einem 1920 in Wien geborenen, in San Diego lebenden Buchprüfer. Mehrere Jahre später, nachdem ich das Museum verlassen und mit dem Professor für Musiktheorie Gerold Gruber das Exilarte-Zentrum gegründet hatte, bot sich mir die Gelegenheit, Robert Fürstenthal und seine aus Wien stammende Ehefrau in San Diego zu treffen. Dort sagte er etwas, das meine Perspektive ganz unerwartet erhellte und möglicherweise für die Entstehung dieses Buches verantwortlich ist. Als er gefragt wurde, warum er in den zurückliegenden Jahrzehnten weiterhin in der Weise von Hugo Wolf, Gustav Mahler, Richard Strauss und Joseph Marx komponiert hatte, antwortete er: »Wenn ich komponiere, bin ich wieder in Wien.« Diese Vorstellung einer ›Rückkehr‹ aus neuen Heimatländern durch die Tätigkeit des Komponierens war der Funke, der im Lauf der Zeit eine ganze Reihe von Fragen und Paradoxien beleuchtete, die sich bei der Untersuchung anderer, renommierterer Komponisten ergeben hatten.

Fürstenthal war zu jung, um im Wien Mahlers und Wolfs gelebt zu haben. Doch in dieses Wien kehrte er zurück, wenn er komponierte. Orson Welles sagte einmal: »Der echte Liebhaber Wiens lebt von geborgten Erinnerungen. Mit einem bittersüßen Anflug von Nostalgie erinnert er sich an Dinge, die er nie kannte. Das real existierende Wien ist die schönste Stadt auf der ganzen Welt. Aber das Wien, das es nie gab, ist die herrlichste Stadt aller Zeiten.«3 Oder, wie der Philosoph Ernst Bloch es formulierte: »Heimat ist etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war.«4

Dieses Buch befasst sich mit den Versuchen, die inneren Konflikte zu erforschen, die sich aus dem Verlust von Heimat und Identität ergeben; und das Bedürfnis nach Rückkehr und häufig auch Heilung, das musikalisch zum Ausdruck kommt. Natürlich wäre es eine viele Bände umfassende Aufgabe, jeden Komponisten oder Musiker zu behandeln, der vor Hitler und den Nationalsozialisten floh. Meine Auswahl der zu porträtierenden Komponisten und der Zusammenhänge, in denen sie lebten und arbeiteten, mag zufällig und subjektiv sein, doch hinter jeder einzelnen dieser Figuren – einige sind durchaus bekannt und etabliert, andere vollständig vergessen – stehen viele andere. Die für dieses Buch getroffene Auswahl soll nicht so sehr erschöpfend als vielmehr repräsentativ sein. Ich beabsichtige nicht, jeden bedeutenden Komponisten vorzustellen, der ins Exil gezwungen wurde; vielmehr möchte ich die unterschiedlichen Exilerfahrungen beschreiben, die sich dann auf verschiedene Personen anwenden lassen. Aus diesem Grund soll das Buch nicht als ein Komponistenlexikon gelesen werden, sondern vielmehr als eine Auswahl von Lebensläufen und Exilerfahrungen, aus denen sich weitere erschließen lassen. Da ich unterschiedliche Aspekte und Erfahrungen des Exils beschreibe, begegnet uns derselbe Komponist manchmal in verschiedenen Kapiteln. Wäre jeder Komponist einzeln behandelt worden, dann wäre aus diesem Buch eher ein Lexikon als eine Untersuchung unterschiedlicher Aspekte des musikalischen Exils geworden.

In meinen gut 40 Jahren als Aufnahmeproduzent hatte ich das Glück, einer Reihe von musikalisch Überlebenden zu begegnen, sie näher kennenzulernen und mit ihnen zu arbeiten. Wenn ich mich im Folgenden nicht auf jede Analyse beziehe, die von zahllosen akademischen Kollegen erstellt wurde, dann geschieht das aus dem Grund, dass ich meine eigenen Schlussfolgerungen vorstelle, die auf meinen persönlichen Erfahrungen beruhen. Ich hatte das Glück, dass mein Berufsleben die Zusammenarbeit mit dieser Generation außerordentlicher Musiker, Interpreten und Komponisten mit sich brachte. Als Musikkurator am Jüdischen Museum Wien und später als Mitbegründer des Exilarte-Zentrums an der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien (der vormaligen Musikakademie, an der so viele der in diesem Buch vorgestellten Personen studiert oder gelehrt haben) begegnete ich ihren Familien und hörte ihre Geschichten. Interviews, die viele Komponisten und Musiker deutschen und österreichischen Rundfunkanstalten gaben, enthielten zwangsläufig eine aufrichtigere Einschätzung ihrer individuellen Verlusterfahrungen. In Interviews, die für Medien- oder Oral-History-Projekte in neuen Heimatländern geführt wurden, betonen die Komponisten und Musiker eher ihre Dankbarkeit dafür, dass sie eine zweite Chance erhielten, auch wenn das bedeutete, dass sie verloren, was sie schon erreicht hatten. Dank dieser Interviews war es mir möglich, die diversen komplexen Kategorien und Erfahrungen zusammenzustellen und zu ordnen, die in diesem Buch vorgestellt werden.

Mein Dank gilt meinen in der Widmung erwähnten Kolleginnen und Kollegen sowie den vielen Personen, die meine Arbeit verfolgt haben, und den jungen Studentinnen und Studenten, die bewiesen haben, dass die Wiederherstellung dieser Vermächtnisse von Bedeutung ist. Tanya Tintner war eine enge Freundin und anspruchsvolle Herausgeberin. Sie hat viele der hier beschriebenen Umstände miterlebt, und ihre Rückmeldungen waren immer mehr als nur eine Korrektur von Rechtschreibung und Zeichensetzung. Doch auch andere Freundinnen und Freunde, die das Manuskript lasen und auf Tippfehler und Ungereimtheiten untersuchten, sollen nicht unerwähnt bleiben, wie etwa Evelyn Chan und mein Nachbar, der mittlerweile emeritierte Professor Christopher Taylor. Außerdem bin ich dem Team von Julian Loos und Frazer Martin der Yale University Press außerordentlich dankbar, zusammen mit ihrem unschätzbaren Hauslektor Richard Mason. Vor allem jedoch gilt mein Dank den Familien, die die musikalischen Nachlässe ihrer Vorfahren in Kellern, auf Dachböden und unter Betten aufbewahrt haben, bis sie annehmen durften, endlich ein Archiv und Forschungszentrum gefunden zu haben, das die Vermächtnisse ihrer Eltern und Großeltern, die in verlorenen Heimatländern gearbeitet, musiziert und komponiert haben, verstehen und in Ehren halten konnte.

Michael Haas, Mai 2023

Einführung

Wissenschaftler mit dem Schwerpunkt »Musik zur Zeit Hitlers« bedienen sich häufig des Begriffs der ›Inneren Emigration‹. Die Formulierung prägte der Schriftsteller Frank Thiess1 im August 1945 als Reaktion auf Thomas Mann, der die Jahre der NS-Diktatur in der Schweiz und den Vereinigten Staaten verbracht hatte. Thiess war zwar kein Anhänger der Nationalsozialisten, dennoch hatte er sich entschieden, in Deutschland zu bleiben. Bei Musikern bezieht sich der Begriff in der Regel auf Komponisten, die ihre Werke entweder im von den Nationalsozialisten besetzten Europa nicht zur Aufführung freigaben, wie beispielsweise Karl Amadeus Hartmann, oder die wie Walter Braunfels in selbstgewählter Isolation lebten. Es gab Komponisten wie Max Buting, Felix Petyrek oder Eduard Erdmann, die nicht mit Hitler sympathisierten, sich jedoch gezwungen sahen, in die NSDAP einzutreten,2 wenn sie ihre berufliche Tätigkeit als Interpreten oder Lehrer fortsetzen wollten. Ihre Werke wurden vielleicht nicht direkt verboten, häufig jedoch stillschweigend von den Spielplänen entfernt. Das Schlagwort des »Kulturbolschewismus« dräute über Werken von Komponisten, die zuvor Mitglieder der linksgerichteten November-Gruppe gewesen waren. Ihr Eintritt in die NSDAP kam sie nach dem Krieg teuer zu stehen, selbst wenn er zunächst lediglich als Mittel zur Fortführung der beruflichen Existenz angesehen wurde. Im Schatten des Völkermords wurde jedes Zugeständnis an die Nationalsozialisten, auch von Personen, die nur wenige oder überhaupt keine Emigrationsmöglichkeiten hatten, als schädlich angesehen und galt zumindest als eine Form von Mittäterschaft. Im Lauf der Zeit wuchs das Verständnis für diese Komponisten – man begriff, dass nicht jeder hatte gehen können, selbst wenn er es gewollt hätte. Außerdem müssen diese Dilemmata im Licht des Umstands gesehen werden, dass die Flüchtlingsquoten in vielen Ländern bereits mit Juden erfüllt waren. Musiker, die das Hitlerregime hassten, ansonsten aber nicht politisch exponiert waren, hätten jüdischen Musikern Plätze weggenommen – Juden, die andernfalls, wenn sie in von den Nationalsozialisten regierten Ländern geblieben wären, ermordet worden wären.

Das logische Gegenstück zu »innerer Emigration« wäre also »Immigration«, die Flucht in ein anderes Land. Dafür entschieden sich überwiegend Komponisten und Musiker, die am meisten gefährdet gewesen wären, wenn sie geblieben wären. »Innere Emigration« hätte für sie bedeutet, auf die Deportation in den sicheren Tod zu warten. Dabei handelte es sich üblicherweise um jüdische Musiker oder solche, die nach den nationalsozialistischen Rassengesetzen als jüdisch galten; oder um Komponisten, deren Werke vom neuen Regime öffentlich abgelehnt wurden, wie etwa Ernst Krenek oder Paul Hindemith. Sowohl jüdische als auch politisch missliebige Komponisten wurden verfolgt und mussten Vertreibung in ihrer ganzen Härte erdulden. Was die jüdischen Musiker jedoch erlebten, war noch etwas ganz anderes: ein Verlust der Identität. Die Nationalsozialisten hatten ihnen gezielt zwei Identitätsschichten genommen: diejenige, die es Juden erlaubte, kulturell deutsch zu sein; und diejenige, die es nach dem Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland im März 1938 jedem erlaubte, die österreichische Nationalität anzunehmen. Für viele Musiker, die österreichische Juden waren, bedeutete das den Verlust jeglichen Identitätsgefühls. Die Aufnahmeländer hatten den Verlust der österreichischen Souveränität zu schnell achselzuckend hingenommen und betrachteten sämtliche Flüchtlinge aus Österreich als Deutsche, für die bestimmte Quoten in Anschlag gebracht wurden. Die Nationalsozialisten hatten wiederum sämtlichen Juden die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen. Diejenigen, die aus politischen Gründen vertrieben wurden, oder jene, die das Land verließen, weil sie unter dem NS-Regime nicht leben konnten, würden dagegen niemals gezwungen sein, ihr nationales oder kulturelles Identitätsgefühl zu verleugnen. Aus diesem Grund gehe ich in diesem Buch davon aus, dass die Idee einer »inneren Rückkehr« das präzisere Gegenstück zu »innerer Emigration« ist. Es geht dabei um die Wiederherstellung der Identität und des Zugehörigkeitsgefühls, das von einem kriminellen Regime offiziell beseitigt wurde. Es geht um die »Wiedererlangung« des Selbst. Wenn das, was Hitler verfügt hatte, international hingenommen wurde und Österreicher als Deutsche klassifiziert wurden, Juden jedoch keine Deutschen sein durften, dann dürfte es nicht überraschen, dass Widerstand und das Bedürfnis, zurückzukehren, häufig in Werken zum Ausdruck kamen, die in der Schublade landeten.

Obwohl manche auch Zuflucht im Fernen Osten und Südamerika fanden, waren die meisten Länder, die Musikern auf der Flucht einen sicheren Hafen boten, englischsprachig, und angesichts des immensen kolonialen Erbes Großbritanniens waren die meisten dieser englischsprachigen Länder Teil der »Neuen Welt« und für Personen aus Mitteleuropa befremdlich. Wenn sie eine zweite Sprache beherrschten, dann war das zumeist eher Französisch und nicht Englisch. Die Länder der Neuen Welt hatten andere kulturelle Prioritäten und Traditionen, die eine beträchtliche Anpassungsleistung verlangten. Aufführungen neuer Musik aus Deutschland unter der Stabführung von Otto Klemperer hätten beim Publikum in Los Angeles eher amüsiertes höfliches Interesse erweckt, ganz im Unterschied zu der enthusiastischen Bewunderung oder der zornesroten Empörung des Publikums in Berlin. Teilweise wurden Versuche, ähnliche Reaktionen und Debatten in neuen Heimatländern hervorzurufen, als herablassend empfunden. US-Amerikaner, Kanadier, Australier und Neuseeländer hatten ganz andere Vorstellungen von neuer Musik. Die Weisheit, die Fähigkeiten und das profunde Wissen, das die Flüchtlinge mitbrachten, wurden zwar geschätzt, doch die zugrundeliegenden Werte der Alten Welt wurden häufig abgelehnt. Musikalische Entwicklungen in Europa beschrieben vielleicht einen kontinuierlichen Übergang von der Tonalität zur Atonalität, von der Konsonanz zur Dissonanz, vom Subjektiven zum Objektiven; auf viele Zuhörer in der Neuen Welt der Vorkriegszeit wirkten sie hingegen wie befremdliche Brüche.

In den vergangenen Jahrzehnten erschienen mehrere englische und amerikanische Bücher über die positiven Beiträge zum kulturellen Leben in Ländern, die den von Hitlers »Drittem Reich« vertriebenen Künstlern, Autoren, Komponisten und Interpreten Zuflucht boten.3 Diese Studien nehmen weitgehend eine triumphalistische Perspektive ein, indem sie die Gewinne der Länder hervorheben, die Hitlers unerwünschte Juden und Dissidenten aufnahmen. Nur wenige haben sich damit befasst, die Verluste zu untersuchen, die einzelne Komponisten und Interpreten erlitten. Der Gesamttenor dieser Bücher preist die neuen Gefilde, in die Hitlers Flüchtlinge kamen, und ihren immensen Erfolg, von dem sowohl sie selbst als auch ihre neuen Heimatländer profitierten. Diese Autoren ignorierten stilistische oder ästhetische Veränderungen zwar nicht, allerdings wurde zu selten die Frage gestellt, was diese Veränderungen den Einzelnen gekostet haben mögen. Auch wurde der innere Drang der Komponisten, zur Symphonie-, Sonaten- oder Quartettform zurückzukehren, obwohl sie vor der Immigration diese Formen als überholt angesehen hatten, in diesen Untersuchungen kaum hinterfragt. Ihre Bemerkungen über Veränderungen in stilistischer und ästhetischer Hinsicht wurden der Notwendigkeit zugeschrieben, in neuen Ländern mit neuen Öffentlichkeiten zu kommunizieren, und nur wenige Forscher – abgesehen von jenen, die über Arnold Schönberg schrieben – fragten danach, was diese Veränderungen die Musiker künstlerisch gekostet hatten und ob es sich um organische Veränderungen handelte oder ob sie allein aus existenzieller Notwendigkeit heraus erfolgten.4 Dass Schönberg objektiver dargestellt wurde, liegt an seiner unbestreitbaren Bedeutung für die Abkehr von der Diatonik, einer entscheidenden Entwicklung in der Musik des 20. Jahrhunderts, aus der ein großer Teil der Nachkriegsavantgarde hervorgehen sollte.

Das Fehlen von Antworten auf bislang nicht gestellte Fragen wird immer bedrängender. Warum verließ beispielsweise Erich Wolfgang Korngold, der ein so erfolgreicher Komponist von Filmmusik war, Hollywood unmittelbar nach Ende des Krieges? Warum wird dieser Abschnitt seines Lebens in den Erinnerungen seiner Witwe Luzi Korngold nur so sparsam behandelt, und warum werden seine Filmmusiken, für die er zu Recht berühmt war, in der Familienkorrespondenz so beiläufig abgetan? Er und andere Flüchtlinge leisteten einen unbestreitbaren Beitrag zu einer jungen Industrie, die sie mit ihrer Musik mindestens ebenso sehr, wenn nicht sogar stärker beflügelten als der glamouröseste Filmstar. John Mauceri schreibt in seinem Buch The War on Music, dass sie einen organischen Übergang von einem Jahrhundert zum nächsten ermöglichten.5 Für Korngold, Ernst Toch, Erich Zeisl und andere jedoch wurde das, was als ein aufregendes Experiment mit einem neuen Medium begonnen hatte, zu einem Mittel des Überlebens und einer Beschränkung ihrer Möglichkeiten künstlerischer Weiterentwicklung. Die Unmöglichkeit, während des Krieges in andere Gattungen überzuwechseln, wurde von Korngold und seiner Familie zweifellos als Bruch empfunden.

Großbritannien ist zu Recht stolz darauf, eine Reihe von musikalischen Flüchtlingen aufgenommen zu haben, darunter die Komponisten Hans Gál und Egon Wellesz. Beide waren vor dem Jahr 1938 äußerst erfolgreiche Opernkomponisten. Ihr Beitrag zum britischen Musikgeschehen der Nachkriegszeit ist unbestritten. Ein Großteil der Forschung über Alte Musik in Großbritannien verdankt sich Wellesz, während Gál heute als Mitbegründer des Edinburgh Festivals und führender Geist der Musikabteilung der University of Edinburgh in Erinnerung ist. Doch abgesehen von einer Oper, die Wellesz als Beitrag zu einem Wettbewerb des Arts Council of England schrieb, sollte keiner der beiden Komponisten eine weitere Oper schreiben. Und sie hörten nie mehr auch nur eine Note ihrer Opern, die zuvor in deutschen und österreichischen Opernhäusern regelmäßig aufgeführt worden waren. Ihr Leben war gerettet, ihr Vermächtnis jedoch verloren. Ein Großteil der in den neuen Heimatländern, häufig im privaten Rückzugsraum ihrer Studios, komponierten Musik kann als Versuch angesehen werden, Beziehungen zwischen vergangenen und gegenwärtigen Situationen herzustellen. Die trockenen 24 Preludes and Fugues von Hans Gál, die er in den 1980er und 1990er Jahren für sich selbst komponierte, können als Beispiel dienen.

Ein weiteres Beispiel ist Karol Rathaus, ein Komponist, dessen Erfolg in Berlin während der Zwischenkriegsjahre kaum überschätzt werden kann. Fast 1000 Briefe, die im Archiv der Universal Edition aufbewahrt werden, bezeugen, dass er einer der namhaftesten Komponisten Deutschlands war.6 Seine Opern und Ballette wurden an der Berliner Staatsoper aufgeführt; seine Orchesterwerke spielten die Berliner Philharmoniker unter Wilhelm Furtwängler. Rathaus’ Zusammenarbeit mit Alfred Döblin bedrohte kurzzeitig die Vorherrschaft von Brecht und Weill; Rathaus war der erste Komponist klassischer Musik, der Musik für einen Tonfilm schrieb. Nachdem er im Jahr 1933 aus Berlin geflohen war, blieb er als Komponist von Filmmusik in Paris und London erfolgreich. Er komponierte sogar ein Ballett, das am Royal Opera House, Covent Garden, aufgeführt wurde.7 Als sich der Krieg über ganz Europa auszubreiten drohte, schaffte er es, sich und seine Familie zu retten, indem er eine schlecht bezahlte Stelle an einem kürzlich gegründeten College auf New Yorks Long Island antrat. Als dann seine weltlichen Besitztümer, die sich noch in London befanden, im Jahr 1940 von einer deutschen Bombe vernichtet wurden, widmete er sich ganz der Lehre und dem Aufbau der Musikabteilung des Queens College in New York. Rathaus sprach zu keinem seiner Studenten je von seiner Vergangenheit, und er mied den Kontakt mit früheren Kollegen und Freunden, die erfolgreich Konzerte und Opernvorstellungen im nahegelegenen Manhattan dirigierten.

Dennoch haben alle diese Komponisten weiterhin Musik geschrieben. Manchmal handelte es sich um Lehrmaterial für örtliche Schulbehörden; manchmal war es ein Versuch, sich in einem exponierteren Rahmen einem möglichen Publikum vor Ort vorzustellen; sehr häufig arbeiteten sie einfach für sich selbst und die Schublade ihres Schreibtischs, ganz gelegentlich auch für religiöse Stätten.

Seit der Gründung des Exilarte-Zentrums halten wir Ausschau nach verlorenen musikalischen Nachlässen auch jenseits der bekannten Exilländer. Die Suche hat uns in den Fernen Osten, in den Südpazifik, nach Mittel- und Südamerika geführt. Natürlich haben wir auch mehrere ›verwaiste‹ Nachlässe aus Nordamerika und Großbritannien aufgenommen. Wenn es sich um Nachlässe von Komponisten handelte, dann stellten wir überrascht fest, wie viele von ihnen Musik für sich selbst, für Freunde und Familienangehörige komponierten, ohne die geringste Absicht, sie zu veröffentlichen. Andere Werke, die diese Komponisten für ein größeres Publikum bestimmt hatten, unterschieden sich häufig stilistisch von dem, was sie zuvor komponiert hatten, wobei es nur wenige Begleitinformationen zu der Frage gab, warum oder wie diese Veränderungen vorgenommen worden waren. Lediglich die eine oder andere Andeutung in einem Brief könnte eine Erklärung liefern. Über die Gründe für diese Veränderungen kann nur gemutmaßt werden. Von ihren überlebenden Kindern und Enkeln erfuhren wir immer wieder, wie dankbar diese Komponisten allein schon dafür waren, dass sie überleben konnten.

Richard Strauss bei einer Probe der Wiener Symphoniker am 22. Januar 1929. Spätere Nachforschungen von Mark Latimer identifizierten Mitglieder des Orchesters, die ermordet oder ins Exil gezwungen wurden. Er identifizierte daneben Unterstützer der Nationalsozialisten und Parteimitglieder.8

Dennoch hatten viele Komponisten das Gefühl, dass Hitler ihre europäische Kreativität erfolgreich erstickt hatte. Außerdem hatten nicht nur Komponisten und Musiker das Glück gehabt, vor den Nationalsozialisten fliehen zu können; dasselbe galt für ihr Publikum, mit dem sie sich in einem kreativen Dialog befanden. Wie die Öffentlichkeit neue Werke aufnahm, war für die Entwicklung der Musik in Europa ebenso wichtig wie die Kreativität der einzelnen Komponisten. Da sowohl das Publikum als auch die Komponisten stark eingeschränkt waren, sahen sich die exilierten Kreativen gezwungen, neue Hörerschaften zu finden. Es war nicht einfach, Dialoge mit einem neuen Publikum anzufangen. Kurt Weills Erfolge am Broadway müssen als besondere Ausnahme gelten, aber können wir sicher sein, dass er seinen kreativen Austausch mit dem Publikum in New York zur Gänze verstand und dass er den Dialog mit seinen Zuhörern im Griff hatte? Oder komponierte er Werke in der blinden Hoffnung, dass sie verstanden und geschätzt würden? Sein früher Tod im Alter von 50 Jahren vereitelt jede definitive Antwort auf diese Fragen. Lys Symonette, eine Kurt Weill und Lotte Lenya nahestehende Sängerin, teilte dem Autor jedoch mit, dass es »der Schmerz, Deutschland und die deutsche Sprache verloren zu haben«, gewesen war, »was ihn umbrachte«.9 Ein schwaches Herz und das Rauchen dürften Weills Aussichten nicht verbessert haben, aber wir kennen das Ausmaß und die Art von Stress nicht, der ihn letztlich das Leben kostete. Es gibt keinen Eins-zu-eins-Vergleich, denn er war der einzige Flüchtling aus dem nationalsozialistischen Europa, der in Amerika ankam und anschließend am Broadway erfolgreich wurde. Können wir davon ausgehen, dass er keinen Gedanken an die Komponisten verschwendete, die im Deutschland vor Hitler ebenso erfolgreich gewesen waren wie er und die sich jetzt im amerikanischen Exil durchschlagen mussten? Komponisten wie Ralph Benatzky, Friedrich Hollaender, Emmerich Kálmán, Paul Abraham und Jaromír Weinberger standen für unterschiedliche Gattungen des mitteleuropäischen populären Musiktheaters. Sie feierten vor ihrer Emigration in Europa enorme Erfolge, schafften es jedoch im Unterschied zu Weill nicht, in Amerika an ihre Erfolge anzuknüpfen und ihre künstlerische Entwicklung dort fortzusetzen. Weill muss sich wie ein von bedürftigen Verwandten umgebener Lottogewinner gefühlt haben.

Analysiert man das Schaffen von Komponisten vor und nach ihrer Einwanderung nach Amerika, dann lassen sich trotz enormer stilistischer Unterschiede viele einheitliche Muster erkennen. Eines dieser Muster ist das Bedürfnis, sich wieder an einen Ort oder eine fundamentale Identität zu binden, die durch die Verpflanzung in Frage gestellt wurde. Das lässt sich in einigen Fällen an einer bestimmten Auswahl an Gedichten für die Vertonung erkennen oder an der Rückkehr zu typisch europäischen Formen. Die Rückbesinnung auf klassische Konzepte wurde bereits erwähnt; daneben stehen Werke, die als Aufarbeitungsübungen verstanden wurden, als Versuche, mit der neuen Realität zurechtzukommen. Andere Komponisten fühlten sich gezwungen, ethnische und religiöse Identitäten anzunehmen, die sie zuvor abgelegt hatten, so beispielsweise ihren längst vergessenen jüdischen Glauben oder – unter Auslassung konfessioneller Identitäten – die Zuwendung zum Zionismus. Die Rückkehr zu einer jüdischen Identität, ob konfessionell oder politisch, war nicht zuletzt auch ein Akt persönlicher Wiederherstellung.

Musik, die verbannt, vergessen, unterdrückt und dann als unangemessen empfunden wurde für ein Europa nach Hitler, das umerzogen werden sollte, ist in zu viele Gattungen und Stile aufgefächert, als dass man sie in eine Kategorie fassen könnte. Am nächsten kommt man ihr mit dem aus dem NS-Wortschatz stammenden Begriff ›entartet‹ – die denkbar schlechteste Lösung für eine komplexe semantische Frage. Dasselbe gilt für die Klassifikation als ›Exilmusik‹. Der Begriff ist zu verschwommen und bezieht sich eher auf die Lebenssituation einzelner Komponisten, nicht jedoch auf die Musik, die sie hervorbrachten. Die Musik des Exils war das Mittel, das Komponisten zu einem Gefühl innerer Stabilität zurückführte. Exil bedeutete für Komponisten, die aus Hitlers Europa vertrieben wurden, etwas Umfassenderes als nur physische Vertreibung, es war mehr als der Verlust eines Ortes: Es war ein Zustand körperlicher und geistiger Transplantation. Für viele Komponisten war dieser Zustand nur durch die Komposition von Werken zu lindern, die eine Rückkehr suggerierten und ein Gefühl innerer Wiederherstellung versprachen. Es war mehr als lediglich Musik von Komponisten, die von Hitler gezwungen worden waren, an entfernten, exotischen Orten zu leben. Musik des Exils formuliert eine spezifische Aussage. Sie ist eine Musik, die nie von einem Komponisten derselben Generation aus demselben Ursprungsland hätte geschrieben werden können, der nicht ins Exil gezwungen wurde. Ebenso wenig hätte sie von einem Komponisten geschrieben werden können, der aus einem jener Länder stammte, welche für die Flüchtlinge zu neuen Heimatländern wurden. Die Musik des Exils war eine einmalige Synthese, verfasst von einem Komponisten an einem Ort, an den er nicht gehörte. Als solche war sie für das Publikum vor Ort zu fremd und blieb auch dem Publikum in den vormaligen Heimatländern verschlossen. Es ist eine Musik, die in ihrer einzigartigen, aus der Vertreibung entstandenen Synthese ein eigenes Kapitel in der umfassenderen Geschichte der Musik des 20. Jahrhunderts verdient.

1 Der »Hanswurst« des Unheils

Damals … lachten wir über diesen Hitler. Ein Verrückter, sagten wir, ein Hanswurst, ein Idiot; von der Sorte haben wir viele. Produkte des Krieges. Gesundbeter und stigmatisierte Jungfrauen und Propheten, Putschisten und Mörder und wer weiß, was sonst noch alles. Aber ihre Zeit ist vorbei. Nach und nach werden sie ja wohl zu sich kommen und den Mund halten.

Erinnerungen der Schriftstellerin und Journalistin Vicki Baum1

In der nationalsozialistischen Kulturideologie gab es zwei miteinander völlig unvereinbare Strömungen. Die eine Strömung fasste jede moderne Entwicklung, die von nationalistischen Meinungsmachern als anstößig empfunden wurde, unter die schwammige Klassifizierung ›Kulturbolschewismus‹. Die andere Strömung – sie bezog sich auf Werke, die als ›unerwünscht‹ galten – ergab sich aus etwas, das als ›Rasse‹ bezeichnet wurde, einem entsetzlich missverstandenen Begriff, der nach Belieben ebenso bedenkenlos auf Nationalitäten wie auf nicht-europäische Physiognomien und Hautfarben übertragen wurde. Die nationalsozialistischen Kulturrichter verschmolzen diese beiden disparaten Konzepte, indem sie postulierten, dass lediglich Angehörige einer fremden Rasse Werke des ›Kulturbolschewismus‹ produzieren oder beeinflussen konnten.

Solche pseudowissenschaftlichen Konzepte umfassten auch romantisierende Ideale des deutschen Volkes als dominierende ›Rasse‹ in Europa. Diese Auffassung war während einer Zeit entstanden, als Deutschland kein geeinter Nationalstaat gewesen war, sondern ein Netzwerk Deutsch sprechender, selbstverwalteter Kleinstaaten, von denen einige zu winzig waren, um als etwas anderes denn als persönliches ›Landgut‹ durchzugehen (Liechtenstein), wohingegen andere große und mächtige Königreiche waren. Das Einzige, was diese heterogene Gruppe, in der jede Einheit ihren eigenen Dialekt sprach, vereinen konnte, war das Deutsch der Luther-Bibel in Verbindung mit mittelalterlicher oder nordischer Mythologie. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden die Gedichte aus Des Knaben Wunderhorn und tausendseitige Romane über Ritter und Burgen von Autoren wie Adalbert Stifter. Es war eine Zeit, die nach nationaler Selbstbestimmung lechzte. Die Franzosen hatten gezeigt, welche Vorteile der Zusammenschluss zu einem Nationalstaat mit sich brachte. Infolgedessen gab es keine einzige Sprachgemeinschaft in Europa, die nicht denselben Status nationalstaatlicher Souveränität anstrebte.

Bis dahin war es in Europa üblich, unter der Herrschaft ausländischer Mächte zu leben, sei es das nominelle Oberhaupt des Deutschen Bundes – bis 1866 der österreichische Kaiser –, dem auch große Teile Zentraleuropas, Italiens und des Adriaraums unterstanden, oder die Franzosen. Die Herrscher Europas stammten aus einer überschaubaren Anzahl von Adelsfamilien, mit gleichem Anteil von Katholiken und Protestanten. Protestanten herrschten in Großbritannien, großen Teilen Deutschlands, in Holland und in Skandinavien; Katholiken im übrigen Europa, mit großen Teilen Süddeutschlands und Österreichs. Für die meisten Europäer war die Existenz eines Kontinents aus Nationalstaaten, basierend auf Gemeinschaften, die dieselbe Sprache sprachen und derselben Religion angehörten, unvorstellbar. Gleichzeitig war unvermeidlich, dass ein Europa, das mit diesen Kriterien nach Selbstbestimmung strebte, mit der Pseudowissenschaft in Berührung kam, die sich um den Darwinismus entwickelte: die Eugenik und die Vorstellung, dass bestimmte Gemeinschaften in Europa sich aufgrund gewisser geheimnisvoller physischer Merkmale auf besondere Weise entwickelt hätten. Man konnte es ja bei Rindern beobachten, warum sollte das nicht auf Menschen übertragbar sein? Der Rassismus hatte sein abscheuliches Haupt erhoben und sollte noch das gesamte folgende Jahrhundert prägen. Er war eine der Leitvorstellungen hinter der deutschen Aggression im Ersten Weltkrieg; und mit der Neuordnung Europas in Nationalstaaten, die ordentlich in eigenständigen Republiken organisiert waren, sollte er zu einem noch tödlicheren Element der politischen Philosophie werden, die in den Zweiten Weltkrieg mündete. Der homogenisierte Nationalstaat hatte für den Kaiser, der das einende Element in einem Netzwerk verschiedenartiger Völker gewesen war, keine Verwendung mehr. Sprache und Religion waren nun alles, was man brauchte. Solche einschränkenden Kriterien führten unvermeidlich zu Auseinandersetzungen über die Frage, wer dazugehörte und wer besser ausgeschlossen werden sollte. Der Rassismus des frühen 20. Jahrhunderts war der böswillige Schatten des neuen Nationalbewusstseins. Juden, Roma und Sinti waren auf einmal von Ausgrenzung bedroht, ebenso wie alle möglichen Individuen, die als unvereinbar mit dem Rasse-Ideal galten.

Liberale Verfassungen sowohl in Deutschland als auch in Österreich-Ungarn gegen Ende des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts hatten sämtlichen Bürgern, auch den Juden, mit der Freiheit, uneingeschränkt leben und arbeiten zu können, umfassende Emanzipation gewährt. Individuelle Rechte mussten von Gerichten und Parlamenten erkämpft werden: etwa das Recht für Juden, Nicht-Juden zu heiraten oder an Universitäten zu unterrichten oder sich dem Militär oder dem Öffentlichen Dienst anzuschließen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die rechtliche Gleichstellung erreicht, soziale Vorurteile gab es jedoch nach wie vor. Für einige Antisemiten waren Juden Feinde des Christentums, weil sie Christus ermordet hatten. Solange sie sich nicht bekehrten, waren sie von Gott verdammt. In den Augen anderer standen Juden für ein von außen kommendes Interesse, sie waren eine andere Nation, also auch eine andere ›Rasse‹. Da konnten sie konvertieren, soviel sie wollten – nie würde es so weit kommen, dass ein Jude zum Mitbürger würde. Richard Wagner schrieb sinngemäß, aus einem Juden könne genauso wenig ein Deutscher werden wie aus einem Afrikaner ein weißer Europäer.2

Diese Vorstellung des ›Fremden‹ wurde dahingehend weiterentwickelt, dass die Juden für jede modernistische Bewegung im 20. Jahrhundert verantwortlich gemacht wurden, die sämtlich als ›nicht-deutsch‹ galten. Das dürfte wohl die schlimmste und schädlichste aller rassistischen Lügen gewesen sein. Die Juden standen keineswegs hinter Bewegungen, die das Althergebrachte umstürzen wollten, vielmehr passten sie sich an und hatten sich die Konventionen so sehr zu eigen gemacht, dass sie anfangs nur widerwillig davon abwichen. Die populärsten Gattungen explodierten vor jüdischer Kreativität – ein Dorn im Fleisch der Antisemiten. Wenn Juden hinter den populärsten Liedern, den populärsten Operetten steckten, dann konnte das nur einen negativen Einfluss auf die Reinheit des deutschen Nichtjuden haben. Dabei übersah man den Umstand, dass große Gemeinschaften von Juden bereits vor dem Eintreffen teutonischer Stämme auf dem Gebiet gelebt hatten, das später Deutschland werden sollte, und dass sie sich seit Jahrtausenden mit den Einheimischen vermischt hatten. Die russische Kaiserin Katharina die Große beschränkte den Lebensraum der Juden in ihrem Reich auf den Landstrich, der als Ansiedlungsrayon bezeichnet wurde, aber dadurch hörten sie nicht auf, ein europäisches Volk zu sein. Sie waren einfach ein nichtchristliches europäisches Volk, was den katholischen, orthodoxen und protestantischen Klerus verstörte und die ungebildeten Massen noch mehr. Dennoch wurde der osteuropäische Jude – im Gegensatz zum deutschen Juden – in der Regel als Schtetl-Jude oder Jude aus dem Ghetto angesehen, und ganz gleich, wie gebildet und assimiliert er war – die Akzentspuren und der Klang der gesprochenen Sprache verrieten ihn, selbst wenn er groß, blond und blauäugig war.

Dieser kurze Abstecher in den deutschen Antisemitismus soll die Synthese von Nationalismus, Rassismus und – avant le mot – der Anprangerung von ›kultureller Aneignung‹ aufzeigen. Der Jude war nach Auffassung des nationalistischen Antisemiten (Richard Wagner kann als dessen Prototyp gelten) ebenso unfähig, eine Symphonie oder eine Sonate zu komponieren, wie – nach heute geäußerten Behauptungen – Weiße unfähig sind, aus der Perspektive eines Schwarzen zu schreiben, oder wie ein Mann unfähig ist, aus der Perspektive einer Frau zu schreiben. Ganz gleich, wie wertvoll, gut und bewunderungswürdig ein solches Werk sein mochte – es konnte lediglich als Imitation, als künstliches Machwerk durchgehen. Bezeichnenderweise sind die Wörter ›Kunst‹ und ›künstlich‹ ja eng miteinander verwandt.3 Jegliche Kunst, bis hin zu den Gesamtkunstwerken Richard Wagners, ist ihrem Wesen nach künstlich.4 Aber der Rassismus, die Attraktivität der Naturwissenschaften und die religiösen Traditionen verschworen sich miteinander gegen alles Jüdische. Wenn Juden im geschäftlichen, medizinischen, juristischen Sektor erfolgreich waren – also in Berufen, in denen Juden besonders stark vertreten waren –, dann wurde das als eine eher schädliche, nicht als positive Entwicklung angesehen, an der die liberalen Verfassungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts schuld waren.

Antisemitismus hatte sich in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts, getarnt als nationalistischer Schutz der ›angestammten‹ deutschen Kultur, im öffentlichen Diskurs festgesetzt – das ging so weit, dass sogar jüdische Schriftsteller und Kritiker jüdische Komponisten abfällig beurteilten.5 Wenn in der Musik eine Dissonanz nicht aufgelöst wurde, dann musste daran ein jüdischer Komponist schuld sein, denn kein ›deutscher‹ (mithin nichtjüdischer) Komponist würde daran auch nur im Traum denken … über Bach, Beethoven, Brahms und natürlich Richard Strauss sah man geflissentlich hinweg. Dasselbe Urteil wurde bei Abweichungen von der Tonalität oder dem Übergang von künstlerischer Subjektivität zur Sachlichkeit gefällt. All diese Auflösungen und Abweichungen galten als ›undeutsch‹, und es fiel deutschen Antisemiten leicht, deutsche Juden zum Sündenbock zu machen.6 Der deutsche Jude konnte unmöglich gewinnen, konnte unmöglich in die Gemeinschaft passen, und es war ausgeschlossen, dass er am Narrativ der deutschen Kultur Anteil hatte oder dazu einen Beitrag leistete. Die Juden, bei denen das nicht der Fall war, wie Heinrich Heine oder Felix Mendelssohn, wurden schlicht als Betrüger denunziert, und ihren Bewunderern wurde beschieden, sie hätten sich täuschen lassen und seien unfähig gewesen, den Betrug zu erkennen.

Allerdings waren Juden für die deutsche Kultur unverzichtbar, und stillschweigend wurden sie sogar von Persönlichkeiten wie Richard Wagner akzeptiert, dessen letzte Oper Parsifal dem jüdischen Dirigenten Hermann Levi anvertraut wurde. Heines Gedichte waren von jedem wichtigen Komponisten des 19. Jahrhunderts vertont worden, und selbst Der fliegende Holländer von Wagner kann Heine als seine ursprüngliche Quelle anführen. Kein noch so großes Ausmaß an Antisemitismus konnte den Reiz von Offenbachs Operetten, Meyerbeers Opern oder die überwältigende Beliebtheit von Mendelssohn zunichtemachen. Nathan der Weise war nicht von einem Juden verfasst worden, doch zeigte Gotthold Ephraim Lessings Stück jüdisches Selbstbewusstsein in aller Deutlichkeit auf. Aufgrund von Mischehen und Assimilation wurden einige der bedeutendsten Schriftsteller deutscher Sprache später gezielt unterdrückt, ihre Bücher wurden verbrannt. Ganz gleich wie bedeutend ihre Gedichte waren, wie fesselnd ihre Theaterstücke, wie beliebt ihre Romane – weil sie Juden waren, war es schlichtweg ausgeschlossen, dass sie deutsche Kultur repräsentierten.

Es wird kaum überraschen, dass jüdische Autoren, Komponisten und Künstler diese Dinge anders sahen. So unterschiedliche jüdische österreichische Komponisten des 20. Jahrhunderts wie Hans Gál, Erich Zeisl und Arnold Schönberg verstanden sich als Erben und Vermittler einer Musikkultur, die genuin deutsch war. Im Jahr 1919 wurde der halbjüdische Komponist Franz Schreker offiziell zum einzigen würdigen Nachfolger Richard Wagners gesalbt, und zwar von dem halbjüdischen Journalisten Paul Bekker, der für die einflussreiche Frankfurter Zeitung schrieb. Das war ein rotes Tuch für Antisemiten, die – ob zu Recht oder zu Unrecht – überzeugt waren, dass Richard Strauss oder Hans Pfitzner die würdigeren Kandidaten waren. Weder Bekker noch Schreker waren praktizierende Juden, beide waren jedoch überzeugt, dass sie zutiefst in die Geschichte der deutschen Musik im 20. Jahrhundert eingebunden waren.

Dass ich ausgerechnet auf jüdische Komponisten aus Österreich so ausführlich eingehe, ist kein Zufall. Wien war im 19. Jahrhundert ein Magnet für musikalische Genies und brachte im 20. Jahrhundert zahlreiche weitere hervor. Allein schon die Anzahl bedeutender Komponisten im 20. Jahrhundert mit jüdischen Eltern und Großeltern (das war das Ausschlusskriterium der nationalsozialistischen, für Kultur zuständigen Entscheidungsträger) in Österreich ist überwältigend: Gustav Mahler, Arnold Schönberg, Alexander Zemlinsky, Franz Schreker, Erich Korngold, Egon Wellesz, Hans Gál, Hanns Eisler und Ernst Toch sind lediglich die Namen der Komponisten von sogenannter »ernster Musik«. Bei den Komponisten von Operetten, Filmmusik und Unterhaltungsmusik sind die Österreicher nach wie vor bedeutender als ihre deutschen Nachbarn. Natürlich gab es viele wichtige Komponisten, die aufgrund ihrer jüdischen Abstammung aus Deutschland verbannt worden waren, beispielsweise Kurt Weill und Walter Braunfels, aber Österreich hatte noch ein weiteres Problem. Es war nie Teil von Bismarcks Projekt gewesen, weil die meisten Österreicher nicht germanischen bzw. deutschen Ursprungs waren. Nach 1918 traf das nicht mehr zu. Österreichs Anspruch auf seine deutsche kulturelle Identität war nun wohlbegründet. Für die meisten deutschsprachigen Österreicher war die Schaffung eines separaten deutschsprachigen Österreich nach 1918 widersinnig. Ihrer Auffassung nach hätte es in den deutschen Nationalstaat eingegliedert werden müssen, was Bismarck 45 Jahre zuvor auch getan hätte, wenn das habsburgische Österreich weniger slawisch gewesen wäre. Wie zum Beweis dieses Umstands übersiedelten fast alle oben erwähnten Komponisten entweder selbst nach Deutschland oder der Schwerpunkt ihrer Karrieren und ihrer Erfolge verlagerte sich dorthin.

Allerdings kam es mit dem Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland im März 1938 für die Juden zu einem gravierenden zweifachen Identitätsverlust. Mit der Auflösung Österreichs als einem eigenständigen Staat wurden sämtliche Österreicher zu deutschen Staatsbürgern, abgesehen nur von den Juden, denen das ›Privileg‹ deutscher Staatsbürgerschaft nicht gewährt wurde. Diese Verluste wurden schmerzlich wahrgenommen und spiegelten sich häufig in der Musik wider, die im Exil entstand.

Jüdische Komponisten im übrigen Europa hatten insgesamt noch weniger Glück. Nur wenige überlebten. Die Deutschen wussten, was mit ihren jüdischen Mitbürgern nach 1933 geschah, und als Österreich im März 1938 fiel, hatten jene, die über die nötigen Mittel verfügten, gerade noch genug Zeit zur Flucht. Das galt nicht für das übrige Europa. Die Tschechoslowakei fiel im März 1939 an die Nationalsozialisten, im September brach der Krieg aus. Fast eine ganze Generation tschechischer Komponisten wurde ermordet. Andere europäische Länder erlitten ähnliche Verluste, wobei in Frankreich, Polen, Ungarn, Rumänien, Griechenland und in den Niederlanden nach wie vor kulturelle Wiederentdeckungen stattfinden. Die Unmöglichkeit, zu fliehen, hinterließ in der europäischen musikalischen Kreativität ein gewaltiges Vakuum. Sie verzerrte, was wir zu wissen meinen. Heute gelten für uns Berlin, Wien oder Paris als Hauptstädte der ›modernen Musik‹, aber wir können nicht wissen, was in Prag, Warschau, Amsterdam und Budapest entstanden wäre. Sie alle hatten eigene, unabhängige musikalische Biotope. Einige waren von Berlin, Wien oder Paris beeinflusst, viele entwickelten sich jedoch parallel und bildeten ihre je eigenen musikalischen Idiome aus.

Ihre Exilmusik ist schwierig zu klassifizieren – aus dem einfachen Grund, dass so wenige überlebten, die überhaupt Exilerfahrungen machen konnten. Die größte Annäherung an die Musik von weder deutschen noch österreichischen Komponisten, die sich aus dem Exil ergab, ist beim tschechischen Komponisten Hans Winterberg möglich, auf den wir im weiteren Verlauf des Buchs zu sprechen kommen. Wie im Fall Winterberg war die Musik des Exils überwiegend die Musik von Nachkriegseuropa.

Überblick über die naheliegenden Optionen

Anglo-amerikanische Historiker schreiben in triumphalistischer Manier darüber, wie Länder davon profitierten, dass sie Hitlers Flüchtlinge aufnahmen, allerdings ziehen sie nur zögerlich Schlüsse bezüglich der Frage, warum es sich so verhielt. Es ist und bleibt eine offensichtliche Tatsache, dass nur diejenigen mit internationalen Beziehungen, mit ausreichend Geld oder mit unverschämt viel Glück es schafften, Hitlers mörderischem Regime zu entkommen. Wenn man sich den Zufluss an Flüchtlingen anschaut, die in England eintrafen, könnte man annehmen, dass sämtliche Juden Ärzte, Anwälte, Wissenschaftler, Industrielle, Akademiker oder klassische Musiker gewesen seien. In Wahrheit verfügten eben nur diese Berufsgruppen über die Mittel und Ressourcen, die für eine Flucht nötig waren. Juden waren – wie jede andere Gemeinschaft auch – ebenso oft Schuster und Schneider wie Anwälte und Ärzte. Die Schuster und Schneider hatten nur keine umsetzbaren Auswanderungsoptionen, keine Verwandten in Übersee, keine Rücklagen auf ausländischen Bankkonten, keine Beziehungen aufgrund von Geschäftskontakten. Sie sprachen nur selten eine zweite Sprache. Wenn sich praktisch nur die Oberschicht des europäischen Bürgertums die Flucht leisten konnte, dann kann es nicht überraschen, dass ihr Anteil an der Gesamtzahl der aufgenommenen Flüchtlinge überproportional beträchtlich sein würde.

Das galt auch für Musiker. Klassische Musiker hatten häufiger einen internationalen Ruf, wohingegen der Ausstrahlungskreis von Populärmusikern kleiner war. Schlager waren im Gegensatz zu heute nicht in englischer Sprache abgefasst, sie handelten vielmehr in den Landessprachen, häufig sogar in Dialekten, von lokalen Angelegenheiten. Die Lieder klangen zwar jazzig und pseudoamerikanisch, die besungenen Themen hingegen waren ganz provinziell. Der Komponist Walter Arlen schrieb eine Klavierphantasie über einen solchen Schlager: Wenn die letzte Blaue geht. Selbst deutschsprachigen Zuhörern erschloss sich die Thematik nicht unmittelbar, denn »die letzte Blaue« bezog sich auf das blaue Licht am rückwärtigen Ende der letzten nachts noch verkehrenden Straßenbahn in Wien. Wenn man »die letzte Blaue« verpasst hatte, dann musste man bis vier Uhr am nächsten Morgen warten oder nach Hause laufen. Arlen nahm in seine Phantasie mit dem schlichten Titel Die letzte Blaue identifizierbare musikalische Motive mit Wiener Bezug auf, er benutzte Zitate aus Die Fledermaus und Teile des Walzers An der schönen blauen Donau, um einen verlorenen Ort heraufzubeschwören. Die Musik für den zugrundeliegenden Schlager hatte Willy Engel-Berger komponiert, der während sämtlicher NS-Jahre als Filmkomponist weiterarbeiten konnte; dem Autor des Textes hingegen, Artur Rebner, gelang lediglich die Flucht nach Frankreich, wo er interniert wurde, bevor er dann nach Mexiko auswandern konnte. Arlens Klavierphantasie ist in gewisser Weise ein Denkmal für die zahllosen jüdischen Komponisten und Librettisten, die solche Stücke dutzendweise komponierten. Viele wurden in Lagern umgebracht, oder sie schafften es gerade noch, in einige der wenigen Länder zu entkommen, die noch bereit waren, Flüchtlinge aufzunehmen – Mexiko, Indien, einige lateinamerikanische Länder, der Ferne Osten mit China. Die Werke dieser Komponisten und Autoren wurden wahrscheinlich nur selten, wenn überhaupt, außerhalb der einzelnen Städte, in denen sie entstanden waren, gehört oder aufgeführt. Was für Wien galt, galt gleichermaßen für München, Köln, Hamburg, Berlin – für jeden Ort, der eine starke Lokalkultur besaß, die in einem Lied verarbeitet werden konnte. Es gab kaum eine Infrastruktur, um Schlager in Form von Noten oder 78-UpM-Schallplatten außerhalb bestimmter geographischer Märkte zu verkaufen. Infolgedessen hatten die Komponisten und Autoren dieser Lieder nur wenige internationale Kontakte, auf die sie zurückgreifen konnten, wenn solche Kontakte überhaupt existierten.

Natürlich gab es auch die Schlager aus den Filmen, die in der gesamten deutschsprachigen Welt Verbreitung fanden. Bevor die Nationalsozialisten an die Macht kamen, war die Filmindustrie in Berlin privat gewesen, so dass ein gewisser jüdischer Einfluss fortbestehen konnte. Die erfolgreichsten Komponisten von Film-Chansons und Kabarettnummern verfügten über internationale Kontakte, die ihnen die Flucht ermöglichten. Werner Richard Heymann und Friedrich Hollaender schafften es, über Paris nach Hollywood zu kommen. Aber nicht einmal überragende Prominenz war in jedem Fall eine Garantie für eine Spezialbehandlung oder eine leichte Ausreise. Der österreichische Kabarettkomponist Hermann Leopoldi wurde bei dem Versuch, in die Tschechoslowakei einzureisen, festgenommen und nach Dachau geschickt. Kollegen wie Fritz Grünbaum, Fritz Löhner-Beda und Paul Morgen wurden ermordet. Familienmitglieder, denen es gelungen war, nach Amerika zu emigrieren, konnten Beamte bestechen, so dass Leopoldi ihnen nachkommen konnte. Sein Kollege Karl Farkas schaffte es zunächst bis Paris, wo er interniert wurde, bevor er in Amerika ankam und dort nur knapp der Rückführung nach Europa entging, weil er keinen Bürgen hatte. Aber das waren die bekanntesten Komponisten, Interpreten und Entertainer, die in der deutschsprachigen Populärmusik und für das Kabarett tätig waren. Für jeden dieser bekannteren Namen gab es Dutzende nicht so bekannte, jüngere, die untergingen; die an den komplizierten Prozessen scheiterten, welche nötig waren, um einen sicheren Hafen zu finden; denen internationale Kontakte fehlten; oder die einfach für eine Flucht zu arm waren, zu alt, zu monoglott oder zu ängstlich.

Der Komponist Berthold Goldschmidt war im Jahr 1935 Mitglied des musikalischen Stabs an der Berliner Oper Charlottenburg. Er erzählte, wie er von einem NS-Beamten einbestellt wurde. Im Lauf des Gesprächs kam die Unterhaltung auf klassische Musik. Der Beamte erzählte Goldschmidt, dass seine Tochter Klavierunterricht nahm, woraus sich eine Konversation über mögliche Werke entspann, die sie sich erarbeiten könnte. Plötzlich beugte sich der Beamte über den Tisch und flüsterte, Goldschmidt müsse so schnell wie möglich das Land verlassen. Während der ersten Jahre der Hitlerdiktatur war noch nicht klar, wie sich die Dinge für Deutschlands Juden entwickeln würden, aber dank der Warnung, die er von diesem Beamten erhielt, konnte Goldschmidt seine Ausreise nach England vorbereiten, wo frühere Kollegen aus Charlottenburg bereits am Aufbau der Glyndebourne Opera in Sussex mitwirkten.

Genau genommen belegt dieser Bericht eine unausgesprochene Solidarität im deutschen Bildungsbürgertum. Man könnte sie auch als gebildete Mittelklasse bezeichnen. Derselbe NS-Beamte hätte wohl weniger Nachsicht mit Personen wie Artur Rebner oder auch mit Engel-Berger an den Tag gelegt, wenn Letzterer ein Jude gewesen wäre. Außerdem war Goldschmidt in der Lage, sich an Kollegen in England zu wenden, die bereits in einem gut funktionierenden Netzwerk arbeiteten und ihm die Ausreise aus Deutschland erleichtern konnten. Walter Arlen, der Komponist von Die letzte Blaue, stammte aus der Familie Dichter, die nicht nur ein großes Kaufhaus in Wien besaß, sondern auch mit der wohlhabenden amerikanischen Pritzker-Familie verwandt war, die Bürgschaften und Geldmittel zur Verfügung stellte. Je länger man sich mit der Musik des Exils befasst, desto stärker sieht man sich mit der Tatsache konfrontiert, dass vieles in der Musik nicht lediglich eine ›Rückkehr‹ in ein Land, eine Heimat, eine Sprache war, sondern auch eine Rückkehr in einen bestimmten Lebensstil, die Klage über den Verlust von Privilegien und einer Position innerhalb einer gebildeten und kultivierten Gesellschaft. Sogar Komponisten mit kommunistischen Sympathien wie Hanns Eisler oder Paul Dessau stammten aus dem deutschen Bildungsbürgertum mit seinem internationalen Beziehungsnetz.

Die Flucht aus Hitlerdeutschland gilt heute weitgehend als Flucht vor einer unvermeidlichen, sich klar abzeichnenden Vernichtung. Der Genozid wurde jedoch als Politik erst bei der sogenannten Wannseekonferenz im Januar 1942 festgeschrieben. Die Aktivitäten der SS-Einsatzgruppen in Osteuropa wurden totgeschwiegen. Die Ausgrenzung der Juden in Deutschland geschah zwar gezielt und häufig brutal, doch zu keinem Zeitpunkt entstand der Eindruck, dass die Juden Opfer eines Massenmords werden sollten, ausgemerzt aus der europäischen Geschichte und Kultur. Aus diesem Grund gab es immer wieder kleine Hoffnungszeichen, dass die Lage sich schon irgendwann wieder normalisieren werde, trotz der fortschreitenden Ausgrenzung, die es für Juden immer dringlicher machte, das Land zu verlassen. Ursprünglich war Vertreibung durchaus die Strategie der Nationalsozialisten gewesen. Wer jedoch nicht über Rücklagen, Familie oder Hilfe im Ausland verfügte, der verlor, wenn er Deutschland verließ, alles außer dem Wenigen, das man mitnehmen durfte.

Juden, die auf der Gehaltsliste des Staates standen, verloren mit dem sogenannten Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums ihre Stellen. Das Gesetz wurde am 7. April 1933 erlassen, eine Woche nach dem offiziellen Boykott jüdischer Unternehmen und Dienstleistungsbetriebe und zwei Wochen, bevor jüdische Kinder aus dem staatlichen Schulwesen ausgeschlossen wurden. Die »Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« hatte zur Folge, dass Juden, die in öffentlich finanzierten Einrichtungen unterrichteten oder auftraten oder in sonstiger Weise tätig waren, entlassen wurden. Das Gesetz betraf einen Sektor, der per definitionem dem Bildungsbürgertum, der gebildeten Mittelklasse angehörte, da der Zugang zu Stellen im öffentlichen Dienst weitgehend Personen mit einer qualifizierten Ausbildung vorbehalten war. Gewerbetreibende und Angestellte in der Privatwirtschaft waren davon nicht betroffen. Als Angestellte im öffentlichen Dienst hatten Musiker aus dem Bereich der klassischen Musik im Voraus Kenntnis davon, wie sich die Dinge weiterentwickeln würden. Komponisten, die Populärmusik für die Berliner Filmindustrie schrieben oder für das Kabarett tätig waren oder als Teil eines unabhängigen Ensembles auftraten, konnten weitermachen wie bisher. Sie nahmen sehr wahrscheinlich die Diskriminierung wahr, wenn Spielstätten, die mit öffentlichen Geldern arbeiteten, ihre Aufführungen absagten. Die jüdischen Musiker, Interpreten und Komponisten, die nicht im öffentlichen Dienst standen, waren jedoch noch nicht davon bedroht, ihren Lebensunterhalt nicht mehr verdienen zu können.

Natürlich gab es Situationen, in denen es selbst Personen mit exzellenten Beziehungen schwerfiel zu emigrieren; andererseits gelang es aber auch vielen Musikern ohne Kontakte, aus Deutschland herauszukommen. Erich Zeisl war erst 33 Jahre alt, als Hitlers Truppen im März 1938 in Wien einmarschierten. Aufgrund des deutschen Verbots jeglicher Werke jüdischer Komponisten in den vorangegangenen fünf Jahren beschränkte sich Zeisls internationale Karriere auf gelegentliche Aufführungen in der Tschechoslowakei oder der Schweiz. Außerhalb von Österreich kannte ihn kaum jemand, trotz seines wachsenden Rufs als durchaus vielversprechender einheimischer Komponist. Zeisl und seine Frau schafften es trotzdem, nach Paris zu fliehen, eine Möglichkeit, die nach dem Anschluss Österreichs noch durchaus umsetzbar war. Sie durchwühlten amerikanische Telefonbücher auf der Suche nach Menschen mit demselben Nachnamen, wobei hier und da Hoffnung aufflackerte, die schnell wieder erlosch, bis endlich einer der Zeisls in Amerika ihnen die dringend benötigte Bürgschaft beschaffte. Obwohl die Zeisls in Paris unter den Flüchtlingen, die bereits in sicherere Länder aufbrachen, wichtige Kontakte hatten, schafften sie die Flucht nur, indem sie zu tatkräftigen Schmieden ihres eigenen Glücks wurden.

Die Familie Zeisl in ihrer Wohnung in Wien am 10. November 1938, dem Tag nach der Kristallnacht, ihrem letzten Tag in Österreich. Von links nach rechts: Ilona Jellinek, Gertrud Zeisl (geb. Jellinek), Hilde Hirschenhauser, eine Freundin der Familie, und Erich Zeisl.

Das Gegenteil traf auf Franz Schreker zu, einen Komponisten und Professor, der im österreichisch-deutschen Musikleben so etabliert war, dass man sich nach wie vor fragt, warum es ihm nicht gelang, die für eine Auswanderung nötige Unterstützung zu erhalten. Er hatte mit sehr unterschiedlichen Problemen zu kämpfen. Seine Frau war keine Jüdin, und da Schreker selbst Halbjude war, waren seine Kinder nur zu einem Viertel jüdisch, was bedeutete, dass in seinem Haushalt keiner außer Schreker selbst sich unmittelbar bedroht fühlen musste. Nachdem er seine Stelle an der Preußischen Akademie der Künste in Berlin verloren hatte, war Schreker mit der schweren Aufgabe konfrontiert, seine Familie von der gefahrvollen Lage zu überzeugen. Seine Frau wollte Berlin nicht verlassen und war außerdem heftig in eine Affäre mit einer anderen Frau verstrickt. Der Stress seiner beruflichen Situation, möglicherweise auch die Brüchigkeit seiner Ehe und andere Faktoren hatten zur Folge, dass er einen Schlaganfall erlitt, in dessen Folge er bis zu seinem Tod im Jahr 1934 gelähmt blieb.

Diese Blindheit angesichts dessen, wie die Dinge sich entwickeln konnten, war bei vielen anzutreffen, oft bei Menschen, von denen man größere Aufmerksamkeit erwartet hätte. Als Schreker Joseph Marx um Hilfe bat, einen der namhaftesten Kompositionsprofessoren Wiens und Leiter der Akademie, in der Hoffnung, seine frühere Lehrtätigkeit in Wien wieder aufnehmen zu können, antwortete Marx in einem Brief, dass die Juden an ihrer gegenwärtigen Notlage selbst schuld seien.1 Marx hatte selbst mehrere jüdische Studenten, darunter auch Erich Zeisl; sein Mangel an Mitgefühl für einen ehemaligen Kollegen und Freund ist angesichts dessen, was bevorstand, erschütternd.

Im Juli 1938 beriefen die Amerikaner eine Konferenz ins französische Évian ein, um zu besprechen, wie man international mit der bevorstehenden Flüchtlingswelle aus Deutschland und dem früheren Österreich nach der Annexion durch die Nationalsozialisten im März jenes Jahres umzugehen gedachte. Bei den Flüchtlingen handelte es sich überwiegend um Juden oder um Personen, die von den nationalsozialistischen Rassegesetzen als jüdisch definiert wurden, und die Konferenz endete als Propagandacoup für die Nationalsozialisten, die stolz berichten konnten, dass weltweit niemand bereit sei, Deutschlands Juden aufzunehmen. So konnten sie suggerieren, es gebe ein internationales Einverständnis mit der deutschen Politik der Ausbürgerung und Enteignung der Juden. Ermutigt durch die vermeintliche internationale Gleichgültigkeit traten sie im November 1938 ihr groteskes Pogrom los, die sogenannte Kristallnacht, in einem brutalen Versuch, jüdische Nachzügler in die Emigration zu zwingen.

Mexiko war eines der wenigen Länder, welche die Rechtmäßigkeit des Anschlusses Österreichs an Deutschland nicht anerkannten. Infolgedessen war für Mexiko die österreichische Staatsbürgerschaft nach wie vor gültig, und seine diplomatischen Vertretungen in Wien begannen zahlreiche Visa an Österreicher, insbesondere Juden, auszuteilen, die keine anderweitigen internationalen Beziehungen oder Geldmittel hatten. Andere Länder taten es einfach Berlin nach und schlossen ihre Botschaften in Wien, da Wien ja nun keine Hauptstadt mehr war. Offiziell war Mexiko nur zur Aufnahme politischer Flüchtlinge bereit, da jedoch viele von ihnen Juden oder jedenfalls »nicht arisch« waren, überlappten sich die Kategorien häufig. An die mutige Haltung Mexikos im Jahr 1938 erinnert heute der »Mexikoplatz« in Wiens überwiegend jüdischem Zweiten Gemeindebezirk.

Die Situation in Österreich war heikel, da die römisch-katholische Klerikerdiktatur von Engelbert Dollfuß und seinem Nachfolger Kurt Schuschnigg Sozialdemokraten, Kommunisten und Mitglieder der verbotenen deutschen NS-Partei verfolgte. Sie wurden alle in Österreichs kürzlich eröffnetes Konzentrationslager Mauthausen verschickt. Da viele Deutsch-Österreicher nach wie vor verärgert darüber waren, dass die Verträge nach dem Ersten Weltkrieg es nicht zugelassen hatten, dass Österreich ein Teil Deutschlands wurde, war die Sympathie für den Anschluss weit verbreitet. Die Unterdrückung pan-germanischer Hoffnungen durch die Dollfuß/Schuschnigg-Regierung schaltete lediglich jegliche potentielle, von der politischen Linken ausgehende Opposition gegen Hitler aus. Die Anerkennung Österreichs durch verschiedene internationale Diplomaten in Mexiko, China und Japan ist angesichts der weitverbreiteten Zustimmung für die Annexion durch die Nationalsozialisten umso bemerkenswerter.

Es wirkt paradox, dass die offizielle nationalsozialistische Politik vor der Wannseekonferenz den Juden das Leben in Deutschland so unerträglich machen sollte, dass sie gezwungen waren, zu emigrieren, ihnen dann aber so viele Hindernisse in den Weg legte, dass viele der ausgefeiltesten Auswanderungspläne vereitelt wurden. Die Ausreise aus Deutschland, vor allem nach dem Anschluss Österreichs, wurde zu einem kafkaesken bürokratischen Albtraum aus Nebel und Spiegeln: Dokumente setzten Gegendokumente voraus, die ihrerseits frühere Dokumente voraussetzten, welche aber lediglich durch die Vorlage von jenen Dokumenten erhältlich waren, die man im Begriff war, zu beschaffen. Damit wurden frustrierte Juden in endlose Kreise geschickt, sogar diejenigen, die sich damit abfinden mussten, ihre sämtlichen weltlichen Güter zurückzulassen und ihre Bankkonten örtlichen Beamten zu übergeben. Es war nicht damit getan, internationale Beziehungen oder Zugang zu Geldern auf ausländischen Bankkonten zu haben, sondern es war auch eine Frage des Durchhaltevermögens und der Geduld: der Fähigkeit, freundlich zu bleiben, obwohl man beleidigt und beschimpft wurde. Die meisten Juden in Wien waren nicht reich. Von den fast 200 000 Juden, die in Österreich lebten, waren nur 48 000 wohlhabend genug, um ihre Synagogenbeiträge zu bezahlen.2