Die Muskatprinzessin - Christoph Driessen - E-Book

Die Muskatprinzessin E-Book

Christoph Driessen

0,0

Beschreibung

Eine mutige Frau in einer neuen Welt Amsterdam, frühes 17. Jahrhundert: Eva sieht sich gezwungen, ihre geliebte Heimat Holland zu verlassen, denn die Geschäfte ihres Vaters, des Bierbrauers Claes Corneliszoon Ment, laufen schlecht. Bedrängt von seinen Gläubigern, kommt es ihm gerade recht, dass der wohlhabende Generalgouverneur der Vereinigten Ostindischen Compagnie, Jan Pieterszoon Coen, ein Auge auf seine Tochter geworfen hat. Gegen ihren Willen muss die blutjunge Frau die Ehe mit dem über zwanzig Jahre älteren Pfeffersack eingehen und lernt schon in der ersten gemeinsamen Nacht seine dunkelste Seite kennen. Kurz nach der Vermählung tritt Coen seinen Generalgouverneursposten in Ostindien an und Eva muss bis auf ihren lebenslustigen Bruder Gerrit und ihren Kater Jasper alles zurücklassen. Acht Monate dauert die Fahrt nach Batavia in drückender Hitze, um sodann wie ein Herrscherpaar in ihrer neuen Heimat empfangen zu werden. Die Welt, in die Eva nun eintaucht, könnte exotischer nicht sein. Sie hat plötzlich den Status einer Prinzessin mit einer riesigen Schar asiatischer Diener und einem Elefanten als Reittier. Eva kann sich dem Zauber und der Schönheit des fremden Landes nicht entziehen. Sie lernt Jacques Specx und seine geheimnisvolle Tochter Sara kennen, den dicken Crijn van Raemburch, Mitglied des Indienrates und vor allem den jungen Aufsteiger Antonio van Diemen, der ihre Aufmerksamkeit erregt. Rasch gewinnt die rothaarige Eva an Einfluss, kümmert sie sich doch um benachteiligte Frauen und Kinder und wird hierfür von den Einheimischen verehrt, während ihr Mann mit äußerster Strenge über das Land und seine eigene Frau herrscht.  Ein leidenschaftlicher Roman voller Sinnlichkeit und Abenteuer – wie der Duft der Muskatblüte.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 640

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Christoph Driessen

Die Muskatprinzessin

Historischer Roman

Zum Buch

Amsterdam, frühes 17. Jahrhundert: Eva sieht sich gezwungen, ihre geliebte Heimat Holland zu verlassen, denn die Geschäfte ihres Vaters, des Bierbrauers Claes Corneliszoon Ment, laufen schlecht. Bedrängt von seinen Gläubigern, kommt es ihm gerade recht, dass der wohlhabende Generalgouverneur der Vereinigten Ostindischen Compagnie, Jan Pieterszoon Coen, ein Auge auf seine Tochter geworfen hat. Gegen ihren Willen muss die blutjunge Frau die Ehe mit dem über zwanzig Jahre älteren Pfeffersack eingehen und lernt schon in der ersten gemeinsamen Nacht seine dunkelste Seite kennen.

Kurz nach der Vermählung tritt Coen seinen Generalgouverneursposten in Ostindien an, und Eva muss bis auf ihren lebenslustigen Bruder Gerrit und ihren Kater Jasper alles zurücklassen.

Acht Monate dauert die Fahrt nach Batavia in drückender Hitze, um sodann wie ein Herrscherpaar in ihrer neuen Heimat empfangen zu werden. Die Welt, in die Eva nun eintaucht, könnte exotischer nicht sein. Sie hat plötzlich den Status einer Prinzessin mit einer riesigen Schar asiatischer Diener und einem Elefanten als Reittier. Eva kann sich dem Zauber und der Schönheit des fremden Landes nicht entziehen.

Sie lernt Jacques Specx und seine geheimnisvolle Tochter Sara kennen, den dicken Crijn van Raemburch, Mitglied des Indienrats, und vor allem den jungen Aufsteiger Antonio van Diemen, der ihre Aufmerksamkeit erregt.

Rasch gewinnt die rothaarige Eva an Einfluss, kümmert sie sich doch um benachteiligte Frauen und Kinder und wird hierfür von den Einheimischen verehrt, während ihr Mann mit äußerster Strenge über das Land und seine eigene Frau herrscht.

Ein leidenschaftlicher Roman voller Sinnlichkeit und Abenteuer – wie der Duft der Muskatblüte.

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- oder Bildteile.

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind vom Autor nicht beabsichtigt.

 

Copyright © 2020 by Maximum Verlags GmbH

Hauptstraße 33

27299 Langwedel

www.maximum-verlag.de

 

1. Auflage 2020

 

Lektorat: Diana Schaumlöffel

Korrektorat: Angelika Wiedmaier

Satz/Layout: Alin Mattfeldt

Covergestaltung: Alin Mattfeldt

E-Book: Mirjam Hecht

 

Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Made in Germany

ISBN 978-3-948346-17-1

Inhalt

Zum Buch

Impressum

Inhalt

Widmung

ERSTER TEIL: AMSTERDAM

Schreck in der Morgenstunde

Erste Begegnung

Lektion im Elendsviertel

Fieberträume

Hochzeitsnacht

Der Tote in der Schleuse

Ein neues Leben

Unter Pfeffersäcken

Eiskonzert

ZWEITER TEIL: MAURITIUS

Auf schwankendem Boden

Der Perser

In der Hölle

Laternengeflüster

Überraschung unter Deck

Gefangene der Stille

Die Sünde Sodoms

Der Meeresberg

Vertreibung aus dem Paradies

Ein Kind unter dem Herzen

DRITTER TEIL: BATAVIA

Die Korallenfestung

Einzug des Herrscherpaars

Ein Schlag ins Gesicht

Blutmuskat

Irrweg zum Geistertempel

Abschied

Blick in den Abgrund

Der Elefantengott

Wasserfreuden

Erwachendes Feuer

Der Kampf beginnt

Die Explosion

Zweimal Männerbesuch

Verurteilt zum Tode

Im Labyrinth

Strafgericht

Die Nacht der Entscheidung

Die Liebe

Nachwort

Über den Autor Christoph Driessen

Zehn Fragen an … Christoph Driessen

Widmung

Für Barbara

ERSTER TEIL: AMSTERDAM

Schreck in der Morgenstunde

Der Tag, der das Leben von Eva Ment für immer veränderte, begann damit, dass sie morgens eine tote Maus in ihrem Bett fand. Die Maus war sehr klein und hatte eine spitze Nase. Sie lag auf dem Rücken mitten auf dem schneeweißen Laken und hatte alle viere von sich gestreckt. Da das Maul ein wenig offen stand, konnte Eva zwei winzig kleine vorstehende Zähne erkennen.

„Jasper?“ Eva sah sich im Zimmer um. Aber der Kater hatte seine Gabe wohl nur abgelegt und war wieder verschwunden. Sie ließ sich aus dem Bett gleiten, schlüpfte in ihren Unterrock und tappte über den knarrenden Dielenboden. Im Haus war es still. Die Tür des Nachbarzimmers quietschte, als sie sie öffnete. Sie spähte hinein. Es war dunkel, weil die Läden noch geschlossen waren, nur durch einen Spalt fiel etwas Licht von draußen herein.

Sie tastete sich bis zur gegenüberliegenden Wand vor, wo ein Schrankbett stand, und zog die Vorhänge zurück. Auf dem Kopfkissen zeichnete sich eine wilde Haarmähne ab. „Gerrit!“, rief sie und fasste ihn an der Schulter. „Gerrit!“ Sie rüttelte an ihm. „In meinem Bett liegt eine tote Maus. Hast du gehört? Jasper hat mir eine tote Maus ins Bett gelegt. Aufwachen!“

„Lass mich in Ruhe!“, tönte es dumpf aus dem Kissen zurück. Eva ließ sich nicht beeindrucken: „Warst du gestern doch wieder mit den Jungs unterwegs? Gerrit, antworte!“

„Hör auf damit! Du hast mir gar nichts zu sagen!“

„Natürlich habe ich das, ich bin deine ältere Schwester.“ Diesen Satz hatte sie schon hundert-, nein tausendmal gesagt, und jedes Mal schoss ihr dabei durch den Kopf, dass sie ihm auch die Mutter ersetzen musste. Die Mutter, die drei Tage nach seiner Geburt im Wochenbett gestorben war. Auch Eva selbst hatte keine Erinnerung mehr an sie, denn sie war erst ein Jahr alt gewesen, als es passiert war. Allerdings war ihr ihre Mutter schon mehrmals im Traum erschienen. Ihre Züge waren immer klar umrissen, sie hatte große Ähnlichkeit mit Gerrit. Denn ihre Verwandten wurden nicht müde zu betonen, dass Gerrit seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten sei.

Gerrit war siebzehn Jahre alt und bildhübsch. Dabei sah er ganz und gar nicht so aus wie ein typischer holländischer Junge. Immer wieder wurde er mit dem dummen Scherz aufgezogen, sein Vater sei wohl ein spanischer Soldat gewesen. Gerrit hatte einen schwarzen Lockenschopf, große dunkelbraune Augen, mit denen er mal herausfordernd, mal melancholisch dreinblicken konnte, eine lustige geschwungene Nase und einen sinnlichen Mund. Aber am meisten liebte Eva die Grübchen in seinen Mundwinkeln, die sich immer dann bildeten, wenn er etwas Herausforderndes, Freches oder Spöttisches gesagt hatte. Nur dann waren sie zu sehen – und nicht etwa, wenn er einfach nur freundlich lächelte.

Dass Eva seine Schwester sein sollte, konnte man eigentlich nicht glauben. Eva hatte eine Haut, die fast so weiß war wie das Laken, auf dem jetzt die tote Maus lag, und vor allem hatte sie lange rote Haare. Rot mit einem Stich Orange. So wie die Schärpe, die ihr Vater jedes Jahr zum Festessen seiner Schützengilde anlegte. Oder wie der Hummer auf dem Stillleben, das bei Onkel Pieter an der Wand hing und über das Eva als kleines Mädchen immer mit den Fingern gestrichen hatte, um zu sehen, ob der Hummer nicht doch lebte. Eva kannte niemanden in Amsterdam, der so rote Haare hatte wie sie. Ihr Vater, ja, der hatte zwar auch welche, aber sie waren lange nicht so kräftig rot, sie erinnerten Eva eher an das Rotbraun des Ziegelsteins, in dem die prächtige Fassade des Bartolotti-Hauses an der Herengracht gemauert war.

In ihrer Kindheit, als sie die Haare noch offen hatte tragen dürfen, war sie eine Attraktion auf der Straße gewesen. Die Leute waren stehen geblieben und hatten sie angegafft. Mehrmals hatten Fremde ihr ungefragt hindurchgestrichen; einer hatte sich sogar zuvor mal erkundigt, ob die abfärben könnten. Von anderen Kindern war sie oft gehänselt worden. „Hexe, Hexe!“, hatten sie gerufen. Jetzt war in der Öffentlichkeit immer nur der Haaransatz über der Stirn zu sehen, alles andere verschwand unter einer strengen weißen Haube. Eva fand das schade. Sie mochte ihre Haare. Sie machten sie zu etwas Besonderem. Nicht in dem Sinne, dass sie sich als etwas Besseres gefühlt hätte. Aber die Haare sicherten ihr von vornherein eine gewisse Eigenständigkeit. Sie war nicht irgendein beliebiges Mädchen, sie war Eva Ment, Tochter des Bierbrauers Claes Corneliszoon Ment, Schwester des angehenden Bierbrauers Gerrit Ment, Besitzerin eines schwarz-grau getigerten Katers namens Jasper, wohnhaft in dem Haus Der Weiße Adler am Oudezijds Voorburgwal, gleich gegenüber der Alten Kirche, die exakt in der Mitte von Amsterdam stand.

Der Name Der Weiße Adler stammte von einem Giebelstein über der Haustür, auf dem ein Vogel zu sehen war. Gerrit behauptete immer, es sei bestenfalls eine Möwe, aber alle anderen sprachen von einem Adler.

Außer den roten Haaren hatte Eva nach eigener Überzeugung nichts Besonderes an sich. Sie war weder schön noch hässlich, weder schlau noch dumm, weder gut noch schlecht. Ihr Französischlehrer – ein Katholik aus Wallonien – hatte ihr einmal gesagt, das sei ganz normal; ihre Persönlichkeit müsse sich im Laufe ihres Lebens erst noch herausbilden. Dagegen war ihr Vater überzeugt, dass der Charakter eines jeden Menschen seit Anbeginn der Welt unabänderlich feststand, da in Gottes großem Plan schon alles vorgezeichnet sei. Zum Beweis dafür verwies er darauf, dass Gerrit von Geburt an ein Tunichtgut und Eva ein Trotzkopf gewesen sei. Er fand, dass sie zu oft Widerworte gab. Im Übrigen war sie ihm zu dünn. In regelmäßigen Abständen pflegte er sie daran zu erinnern, dass Männer füllige Frauen bevorzugten, was ohne Zweifel stimmte.

„Du kommst jetzt und räumst die Maus für mich weg!“, befahl Eva und begann, ihren Bruder aus dem Bett zu ziehen. Er lag vollständig bekleidet darin, nur die Stiefel hatte er ausgezogen.

„Kannst du das nicht selber machen?“, stöhnte er, ließ sich dann aber doch aus seiner Betthöhle auf den Boden gleiten, raffte sich auf und schlurfte mit hängenden Schultern und blinzelnden Augen in ihr Zimmer. Vor dem Bett angekommen, hob er die Maus mit zwei Fingern am Schwanz hoch, riss das Fenster auf und warf sie in hohem Bogen in den Kanal vor ihrem Haus. Dahinter ragte der Turm der Alten Kirche auf; die goldenen Zeiger der Uhr standen auf Viertel nach sieben. „Und jetzt lässt du mich in Ruhe!“

„Habt ihr wieder durchgezecht?“, fragte Eva. „Du hattest doch fest versprochen, dich gestern mal zurückzuhalten, weil heute die Kirmes anfängt.“

Wortlos verließ er das Zimmer, im nächsten Moment hörte sie ihn seine Tür zuschlagen.

Der Junge trank zu viel. Einen über den anderen Abend zog er mit seinen Freunden los und kam jedes Mal erst spät in der Nacht wieder heim. Wenn sie nicht im Wirtshaus saßen, vertrieben sie sich die Zeit mit Golf oder Tennis. Tennis spielten sie in einer Halle, was teuer war, und beim Golf hatten sie mit den harten Bällen schon mehrfach Fensterscheiben zu Bruch gehen lassen, was ebenfalls eine Rechnung nach sich zog, wenn sie erwischt wurden.

Eva zog das Betttuch ab, schließlich hatte darauf die Maus gelegen. Bettwäsche musste, was sie betraf, immer pieksauber sein. Aus einer Truhe, die unter ihrem Fenster stand, holte sie ein neues weißes Laken hervor. Als sie mit dem Beziehen fertig war, benetzte sie sich Hände und Gesicht mit etwas Wasser aus einer Schüssel. Dann rief sie nach Tanneke, der Dienstmagd. Die stämmige junge Frau musste ihr beim Ankleiden helfen, denn nie und nimmer hätte sie sich selber in das steife Korsett zwängen können. Tanneke war jedes Mal eine ganze Weile damit beschäftigt, die Rückenkordeln festzuziehen, um dadurch Evas Busen platt zu drücken und ihre sowieso schon nicht üppigen Rundungen zu verstecken, so wie es die Mode gebot. Auch das Anlegen des Rockes war nicht gerade einfach: Sie musste ihn über den sogenannten Weiberspeck spannen, eine dick ausgepolsterte Stoffrolle, die weit von der Taille abstand. So fiel der Rock in einigem Abstand vom Körper nach unten, wodurch die Hüften besonders betont wurden. Anschließend half Tanneke ihr noch in ein eng anliegendes schwarzes Leibchen. Darüber kam ein langes, ärmelloses Gewand aus schwarzem Satin. Dann konnte Tanneke gehen. Vor ihrem Spiegel band sich Eva eine weiße Halskrause um und verstaute ihre rote Mähne unter einer Spitzenhaube, die mit Spangen befestigt wurde. So zurechtgemacht, ging sie die Treppe hinunter in den Saal.

In diesem größten Wohnraum des Hauses befand sich der Schlafplatz ihres Vaters, ein Säulenbett mit Baldachin. Er pflegte jedoch schon in der Morgendämmerung aufzustehen und die Brauerei aufzusuchen. Umso mehr überraschte es Eva, als jetzt die Tür zum Nebenzimmer aufging und ihr Vater hereinkam. „Ah, da bist du ja!“, sagte er. „Guten Morgen. Wir müssen etwas besprechen.“

„Ihr seid nicht in der Brauerei?“

„Nein, wie du siehst. Heute gibt es zunächst etwas Wichtigeres.“ Er wandte sich der Treppe ins Souterrain zu und rief nach unten: „Tanneke – Frühstück!“ Mit einer Handbewegung lud er Eva dazu ein, an dem großen Esstisch in der Mitte des Saals Platz zu nehmen. Er selbst ließ sich auf einen der mit Leder gepolsterten Stühle fallen.

Claes Corneliszoon Ment war ein stattlicher Mann, wie man so schön sagte, was jedoch nichts anderes bedeutete, als dass er außerordentlich fett war. Für seine Wämser und Pluderhosen benötigte der Schneider doppelt so viel Stoff wie normal. In gewaltigen Wülsten hing ihm der Speck im Sitzen über die Oberschenkel. Das Merkwürdige war, dass sein Kopf nicht so recht dazu zu passen schien. Im Verhältnis zu dem massigen Leib wirkte er winzig, und in seinen Gesichtszügen hatte sich Claes Corneliszoon Ment einen Hauch von Jugendlichkeit bewahrt. Es sah aus, als hätte man den Kopf auf den falschen Körper geschraubt.

Eva konnte sich erinnern, dass ihr Vater früher weit weniger dick gewesen war. Aber je mehr seine Brauerei unter der Konkurrenz zugezogener Bierbrauer gelitten hatte, je radikaler er das Unternehmen hatte verschlanken müssen, desto stärker war er selbst in die Breite gegangen. Nun aber war offenbar der Punkt erreicht, an dem es nicht mehr weiterging. Dicker als jetzt konnte er nicht mehr werden, und auch die geschäftliche Situation der Brauerei konnte sich kaum noch verschlechtern. Schon einige Male hatte ihr Vater erwähnt, dass er sich zur Ruhe setzen wolle. Unklar war allerdings, wer seine Schulden bezahlen sollte. Denn dass er Schulden hatte – hohe Schulden – war sicher.

„Kind“, hob ihr Vater jetzt an. „Ich habe eine sehr gute Nachricht für dich. Eine sehr gute Nachricht für uns alle. Du kannst dich freuen!“ In diesem Moment kam Tanneke mit zwei Kannen Frühstücksbier herein. Sie stellte die Kannen auf den Tisch und noch zwei Trinkbecher daneben. Dann hörte man ihre Holzschuhe wieder die Treppe hinunterklappern.

„Um was geht es?“, fragte Eva. Sie hatte ein ungutes Gefühl.

„Schau mal“, sagte er, „du weißt, dass unser Geschäft nicht gut läuft. Meine Gläubiger bedrängen mich immer stärker, sie fordern die Tilgung meiner Schulden, sie rauben mir meine letzten Kunden, indem sie mich mit Spottpreisen unterbieten. Das sind Preise, bei denen sie selbstverständlich draufzahlen, aber es ist ihnen alles egal, wenn ich nur zugrunde gehe …“

„Vater“, unterbrach ihn Eva, „was wolltet Ihr mir sagen?“

Einen Moment lang blickte er sie überrascht an, so als wüsste er gar nicht, was sie meinte, dann fasste er sich. „Ja, ja, du hast recht.“ Jetzt kam Tanneke zurück und stellte Brot, Butter und einen großen Käselaib auf den Tisch. Claes Corneliszoon Ment schnitt sofort eine dicke Scheibe Käse ab und belegte sich ein Brot. Dann begann er zu kauen. Offenbar wartete er darauf, dass die Magd wieder in der Küche verschwand. „Nimm dir auch etwas, Kind, du musst essen!“ Eva ging nicht darauf ein.

Sobald sie wieder allein waren, fuhr ihr Vater fort: „Schau, Eva, es geht um Folgendes: Du bist nun achtzehn Jahre alt.“ Er hatte den Satz noch nicht ausgesprochen, da wusste sie bereits, was er als Nächstes sagen würde. Und sie behielt recht. „Das ist ohne Zweifel das richtige Alter, um zu heiraten.“

Ein Schock durchfuhr sie. Das unangenehme Gefühl baute sich im Bauch auf, stieg empor bis zum Hals und schnürte ihr die Kehle zu. Er wollte sie verheiraten! Von einem Moment auf den anderen hatte sich ihr Leben verändert. Der große Zeiger am Turm der Alten Kirche mochte sich noch nicht einmal bewegt haben, so klein war die Zeiteinheit, die seit der Mitteilung dieser Botschaft verstrichen war, und doch würde ihr Leben fortan in zwei Hälften zerfallen: in die Zeit davor und danach.

Eva brauchte einige Augenblicke, bis sie wahrnahm, dass ihr Vater weiter auf sie einredete. „… und deshalb glaube ich wirklich, dass es ein Geschenk des Herrn ist! Dass der Herr uns nach einer Zeit der Prüfung nun etwas Gutes tun will.“ Er machte eine Pause. „Nun, willst du denn nicht wissen, wer es ist?“

Eva rührte sich nicht. „Also. Als ich gestern Abend bei Onkel Pieter war, hat er mir gesagt, er hat den perfekten Bräutigam für dich. Ich konnte es zunächst gar nicht glauben. Es ist wirklich eine fantastische Partie, vielleicht die beste in ganz Holland! Meine liebe Eva, dieser Mann könnte jede Frau haben. Aber er hat ein Auge auf dich geworfen!“

„Kenne ich ihn?“

„Er hat dich im Gottesdienst gesehen. Übrigens ist er ein sehr frommer Mann, vielleicht ist ihm deine ehrliche Andacht aufgefallen. Jedenfalls ist er auf Brautschau und hat Onkel Pieter gebeten, einen Kontakt herzustellen.“

„Warum Onkel Pieter?“

„Du weißt doch, dass Onkel Pieter enge Verbindungen zur Vereinigten Ostindischen Compagnie hat. Und dieser hohe Herr steht in Diensten der Compagnie.“

Er schwieg wieder. Vermutlich wartete er darauf, dass Eva nach dem Namen fragen würde, und als sie es nicht tat, sagte er: „Es ist Jan Pieterszoon Coen, der langjährige Generalgouverneur der Compagnie in Ostindien. Er war Herr und Meister über alle Besitzungen der Compagnie auf den Gewürzinseln im Indischen Ozean und an der indischen Küste. Onkel Pieter hält ihn für den fähigsten Mann, auf den die Compagnie je hat bauen können. Und, Eva, die Compagnie hat ihn für seine Dienste reich belohnt. Er ist vermögend.“

„Und deshalb der Richtige, um unsere Schulden zu bezahlen“, dachte Eva, aber sie sprach es nicht aus. Ihr Vater, der bisher beim Reden meist an die Wand oder an die Decke geschaut hatte, sah ihr nun ins Gesicht, und sie spürte, dass er darin das Maß ihrer Erschütterung ablesen konnte. „Eva!“ Er ergriff ihre Hand. „Eva! Ich kann mir vorstellen, dass das jetzt alles sehr plötzlich für dich kommt. Aber es ist ein Grund zu allergrößter Freude. Wir hätten nie damit rechnen können, dass ein so großer Mann dich erwählen würde. Es ist so unerwartet, dass man dahinter nur das Wirken des Herrn vermuten kann. Du brauchst gar nicht erst auf die Suche nach einem geeigneten Ehegatten zu gehen, dieser Sorge bist du enthoben. Das Glück ist ganz von allein zu dir gekommen.“

An dieser Stelle trat Tanneke wieder in den Saal. „Ich habe noch Hering – will jemand Hering?“ Evas Vater ließ ihre Hand los: „Ja, gewiss doch, frag nicht erst, bring ihn rauf!“ Dann beugte er sich über den Tisch. Eva wusste, dass er ihr in die Augen schauen wollte, aber sie hielt den Blick fest auf den Eichentisch gerichtet. Nur wenige Dinge auf der Welt kannte sie so gut wie die Maserung dieser Eichenplatte, an der sie seit Kleinkindertagen ihre Mahlzeiten eingenommen hatte. Da war die breite Kerbe, die entstanden war, als sie einmal versehentlich den großen Silberpokal hatte fallen lassen. Sein Fuß hatte sich tief in das Holz gebohrt, und die Furche, die dadurch entstanden war, glich den Plattbodenschiffen, die die Amsterdamer Grachten befuhren. Rechts darüber befand sich ein Holzauge mit einem schwarzen Strich in der Mitte. Eva fand, dass es so aussah wie ein Auge von Jasper.

„Wie alt ist er?“ Eva kam ihre eigene Stimme plötzlich fremd vor.

„Er … er dürfte so um die vierzig sein.“

Jetzt sah Eva vom Tisch auf. „Dann ist er mehr als doppelt so alt wie ich!“

„Nun, er sieht jünger aus, und er ist groß, enorm groß! Er war auch noch nie verheiratet, sein ganzes Leben hat er bisher der Compagnie geweiht. Morgen schon wirst du ihn kennenlernen und kannst dich dann selbst davon überzeugen, dass ich die Wahrheit gesagt habe. Wir werden ihn morgen vor der Kirche treffen und gemeinsam mit ihm den Gottesdienst besuchen. Anschließend kommen er und Onkel Pieter zum Mittagessen mit zu uns.“

„Und wenn ich nicht will?“

„Wie meinst du das, wenn du nicht willst?“

„Wenn ich ihn nicht heiraten will.“

„Eva, versteh doch, dies ist der Glücksfall deines Lebens, dies ist weit mehr, als du und ich je hätten erwarten können.“ Tanneke marschierte mit einer Platte herein, auf der drei entgrätete Heringe lagen. Evas Vater fasste den einen beim Schwanz, sperrte den Mund auf und biss den ganzen Fischleib ab. Den Schwanz warf er auf die Platte zurück. Anschließend wiederholte er die Prozedur noch zweimal. Dann wuchtete er seinen massigen Körper mühsam vom Stuhl hoch.

„So, mein Liebes, und nun muss ich weg. Du darfst heute Abend mit Gerrit auf die Kirmes, das hatte ich dir ja versprochen, und ich halte mein Wort. Ich verlange aber – und das ist mir ernst – dass ihr es nicht zu doll treibt. Morgen ist ein wichtiger Tag für dich, vielleicht der wichtigste in deinem Leben. Ich möchte nicht, dass du oder auch Gerrit morgen mit dunklen Ringen unter den Augen am Mittagstisch sitzt. Beim ersten Rufen des Nachtwächters seid ihr zu Hause, hast du gehört?“

Er setzte sich seinen Hut auf. In der Tür zum Vorderhaus blieb er noch einmal stehen und drehte sich um. „Eva, nimm dich jetzt zusammen! Wenn ich zurückkomme, will ich ein fröhliches Gesicht sehen!“ Damit verschwand er.

Eva blieb regungslos auf ihrem Stuhl sitzen, während Tanneke den Tisch abräumte. „Was ist los?“, fragte sie. „Ach, nichts“, murmelte Eva. Sie hatte keine Lust, Tanneke ins Vertrauen zu ziehen. Ja, wenn es Els gewesen wäre, ihre alte Magd und Kinderfrau, der hätte sie alles erzählt. Aber Els war vor zwei Jahren an einer Krankheit gestorben. Seitdem hatten sie Tanneke hier. Und die war eben nur eine Dienstmagd.

Eva ging hinauf in ihr Zimmer. Das Fenster stand noch offen. Es war ein schöner Septembermorgen, und die hellen Klänge des Glockenspiels der Alten Kirche wehten zu ihr über das ruhige Wasser des Oudezijds Voorburgwal.

Sie schaute hinaus. In dem Haus mit dem heiligen Nikolaus im Giebel gleich gegenüber wohnte ein junges Paar, Stephanus und Isabella. Eva hatte nie mit den beiden gesprochen, aber sie hatte ihnen oft von ihrem Fenster aus zugeschaut. Wenn sie das Haus verließen, trat Isabella immer als Erste hinaus, Stephanus hielt ihr von innen die Tür auf. Dann hakte sie sich bei ihm ein, sie gingen zusammen die paar Stufen von der Haustür bis zum Bürgersteig hinunter und spazierten davon. Meist waren sie in ein angeregtes Gespräch vertieft. Aber manchmal geschah es, dass Stephanus plötzlich anhielt, Isabella unvermittelt ansah und dann sanft mit der Hand ihre Wange berührte und sie mitten auf den Mund küsste. Mit Sicherheit wusste er, dass viele Leute diese öffentliche Zärtlichkeit nicht guthießen, aber das störte ihn nicht. Man ahnte das, auch wenn man die beiden nur von einem offenen Fenster auf der anderen Kanalseite aus beobachtete. Stephanus und Isabella waren ein echtes Liebespaar. Evas mittlerweile verstorbene Freundin Judith hatte gehört, dass Isabellas Eltern mit Stephanus zunächst gar nicht einverstanden gewesen waren, weil sein Vater nur ein einfacher Schreiber im Rathaus war, wohingegen es Isabellas Familie im Ostseehandel zu Wohlstand gebracht hatte. Aber die beiden hatten sich darüber hinweggesetzt. Es war eine Liebesheirat gewesen. So etwas hatte sich Eva auch immer für sich vorgestellt. Und jetzt: ein doppelt so alter Mann namens Coen. Was war das überhaupt für ein Name? Angenehm klang er nicht.

Plötzlich spürte Eva ein vertrautes Kitzeln an ihren Unterschenkeln. Ohne dass sie es bemerkt hatte, war Jasper ins Zimmer gekommen und strich ihr unter ihrem nicht ganz bodenlangen Rock um die Beine. Sie bückte sich nach unten und kraulte ihn unter dem Kinn, wobei er genießerisch die Augen schloss. „Jasper, mein Kleiner“, sagte sie leise. „Du bleibst in jedem Fall bei mir.“

Erste Begegnung

„Komm jetzt endlich!“

Den ganzen Tag über war Eva wie gelähmt gewesen. Sie hatte auf ihrem Bett gelegen, aus dem Fenster geschaut und sich geweigert, zum Essen zu erscheinen. Erst jetzt, da Gerrit im Türrahmen stand, raffte sie sich auf. Eigentlich hatte sie an diesem ersten Tag der Septemberkirmes ihre besten Ärmel mit den goldenen Stickereien anlegen wollen. Sie konnte die Ärmel ihres schwarzen Leibchens abtrennen und dann andere mit Schleifen an den im Schulterbereich eingearbeiteten Ösen befestigen. So ließen sich Stoffe und Farben variieren. Aber unter den gegenwärtigen Umständen verspürte sie keine Lust mehr dazu. „Ja, ich komme“, sagte sie und schloss das Fenster.

Gerrits Aufzug war dergestalt, dass sie laut darüber gelacht hätte, wenn ihr nicht so elend zumute gewesen wäre. Auf den ersten Blick glich er einem Kanarienvogel, denn sowohl Wams wie Pluderhose waren von einer grellgelben Farbe. Die Unterschenkel steckten in so eng sitzenden weißen Strümpfen, dass sie Eva an zwei Würstchen erinnerten, deren Pelle gleich platzen würde. Die Schuhe hatten hohe Absätze und wurden fast vollständig von einer feuerroten Schleife bedeckt. Das Komischste aber war ein gewaltiger Schlapphut mit langen roten Federn. Die Krempe hing Gerrit so tief ins Gesicht, dass er kaum etwas sehen konnte. Auch der Degen, der martialisch im Gürtel steckte, war eindeutig überdimensioniert.

„Das muss ja ein Vermögen gekostet haben“, meinte Eva. „Hab ich günstig auf dem Neumarkt gekauft“, entgegnete ihr Bruder. „Gebraucht. Stammt von einer Zwangsversteigerung. Schick, was?“

„Na ja.“

„Gut, wenn man so wie du auf Schwarze Witwe macht …“ Er musterte abfällig ihre konservativ-dunkle Aufmachung. „Du könntest die Haube abnehmen, dann hättest du wenigstens ein kleines Leuchtfeuer auf dem Kopf, aber so wie du jetzt aussiehst, schaut dir sowieso kein Mann hinterher.“

„Das ist auch gar nicht mehr nötig“, entgegnete Eva.

Gerrit bemerkte die Anspielung nicht, sondern wandte sich zum Gehen. Es bereitete ihm sichtlich Schwierigkeiten, auf den hochhackigen Schuhen die Treppe hinunter zu balancieren und dabei nicht über den Degen zu stolpern, der an seinem Gürtel wild umherbaumelte und ihm immer wieder zwischen die Beine geriet. „Säbel dir bloß nicht deine beiden Golfbälle ab!“, bemerkte Eva und wunderte sich darüber, dass sie noch scherzen konnte. Gerrit revanchierte sich auf der Straße, indem er den Degen aus dem Gürtel zog und mit der Spitze über den gepflasterten Gehweg kratzte – er wusste genau, dass Eva das hohe, quietschende Geräusch nicht ausstehen konnte.

Amsterdam war märchenhaft verwandelt. In der Abenddämmerung warf das Licht der Fackeln bizarre Schatten auf Buden und Zelte. Überall gab es Verkaufsstände, dazu Puppenspieler, Zauberer und Quacksalber, die ihre Pillen und Pulver anpriesen. Ein Theater ließ Figuren aufmarschieren, die scheinbar von selbst Arme und Beine bewegten – einer der Umstehenden sagte, sie würden von einem geheimen Uhrmechanismus gesteuert. In der Mitte des Jahrmarkts stand ein fast haushoher bunt bemalter Goliath aus Holz, der den Kopf hin und her drehte und dabei mit den Augen rollte.

Akrobaten führten Kunststücke vor. Zwei Männer tauchten ihre Hände in einen Tiegel voll geschmolzenen Bleis – es schien ihnen nichts auszumachen. Ein Engländer schluckte flüssigen Schwefel und kaute Kohlen, ein Pferd führte seine Rechenkünste vor. Bienen flogen auf Befehl ihres Besitzers in den Korb zurück. Eva und Gerrit bestaunten eine Pyramide aus Menschen, die in gefährlicher Höhe ihre Künste vorführten. Die größte Menschentraube stand vor einer Schauspielbühne. Eva sah, wie ein Mann im Gewand des Todes einen jungen Gesellen mit sich fortziehen wollte.

Plötzlich schossen Eva Tränen in die Augen. Warum gerade jetzt, konnte sie nicht sagen. Sie schlug die Hände vors Gesicht.

„Schwesterchen, was hast du?“ Gerrit legte den Arm um sie.

„Vater will mich verheiraten.“

„Was?“

„Ja. Heute hat er’s mir gesagt.“

„Und mit wem?“

„Irgendein hohes Tier von der Compagnie. Vierzig Jahre oder älter. Der könnte mein Vater sein.“

„Hat er Geld?“

„Ja, was denkst du denn? Das ist doch der Grund, warum ich ihn heiraten soll. Ich soll ihn heiraten, damit Vater seine Schulden bezahlen kann.“

„Verdammt!“, fluchte Gerrit. „Das ist heftig, richtig heftig. Du darfst dir das nicht gefallen lassen! Du musst dich weigern!“

„Das werde ich vielleicht auch. Aber Vater ist völlig begeistert.“ Sie äffte seinen Tonfall nach: „Das hättest du niemals erwarten können, dass sich so ein hoher Herr um dich bemüht!“

„Wenn du dich weigerst, kann er dich nicht zwingen!“, meinte Gerrit. Er schien ehrlich schockiert. „Stell dich quer!“

„Das sagt sich so leicht“, wandte Eva ein. „Du weißt doch, dass Vater kurz vor dem Bankrott steht.“

In diesem Augenblick rannten drei Gestalten auf Gerrit zu und warfen ihn zu Boden. Einer beugte sich über ihn und machte sich an seinem Gesicht zu schaffen. Eva packte ihn an der Schulter und versuchte, ihn wegzuziehen. „Lass das, lass ihn los!“ Doch der Unbekannte ließ sich davon nicht beeindrucken. Als er schließlich aufhörte und sich wieder hinstellte, sah Eva, dass Gerrits Gesicht weiß war. Es war ein alter Kirmesscherz, dass sich junge Leute überfielen und das Gesicht ihres Opfers mit Wachs und Mehl einrieben. Eva musste bei dem Anblick unwillkürlich an den geschminkten Schauspieler denken, der auf der Bühne den Tod verkörpert hatte.

Gerrit hatte sich inzwischen aufgerappelt und versuchte zu Evas Entsetzen, seinen Degen zu ziehen. Weil der sich aber irgendwo verhakt hatte, gelang ihm das nicht – wütend rüttelte er am Knauf seiner Waffe. Die drei Männer, die ihn niedergeworfen hatten, brachen in schallendes Gelächter aus. Gereizt bis aufs Blut, wollte Gerrit mit bloßen Händen auf sie losgehen, doch mit einem Mal ließ er die geballten Fäuste sinken und begann ebenfalls zu lachen: „Willem … Lucas … Nicolaes …“, prustete er. „Ihr seid wohl verrückt geworden, was? Na wartet, ich werd’s euch schon noch heimzahlen!“

Nun schlugen sich alle vier begeistert auf die Schulter und boxten einander gegen die Brust. Dazu grölten sie französische Begrüßungsformeln. Gerrit wandte sich an Eva: „Ich dreh noch kurz eine Runde mit denen.“

„Gerrit, Vater hat gesagt, du musst heute pünktlich zu Hause sein!“

Seine Kumpane lachten, doch Eva achtete nicht darauf. „Ich bin dagegen, dass du mitgehst. Man muss um dein Leben fürchten. Der geringste Anlass, und du verlierst die Beherrschung und greifst zum Degen, wie man eben gesehen hat. Das kann sehr schnell böse enden, besonders auf der Kirmes.“

„Keine Angst“, rief ihr einer der jungen Männer zu, „wir passen auf ihn auf!“ Schon verschwanden sie mit ihm in der Dunkelheit.

„Das ist die schlimmste Kirmes, die ich jemals erlebt habe“, dachte Eva. Und jetzt musste sie sich auch noch ohne männliche Begleitung auf den Heimweg machen. Eine Frau am Kirmesabend allein auf der Straße – das war das reinste Spießrutenlaufen. Sie zog den Kopf ein und beeilte sich wegzukommen. Aus den Augenwinkeln fiel ihr ein junges Liebespaar auf: Er hatte ihr gerade an einem Stand einen Kirmeskuchen gekauft. Mit Zuckerguss stand darauf geschrieben: In Liebe. Eva ging noch schneller.

Am nächsten Morgen war Gerrit nicht zu Hause. Claes Corneliszoon Ment bekam einen Wutanfall, so wie Eva ihn selten erlebt hatte. Sein kleiner Kopf lief puterrot an. Weil Gerrit nicht anwesend war, musste sich Eva einiges anhören. Sie habe nicht auf ihren kleinen Bruder aufgepasst, hielt der Vater ihr vor. „Kleiner Bruder?“, entgegnete sie. „Der ist einen Kopf größer als ich.“

Insgeheim freute sich Eva, dass der Tag, dem ihr Vater so große Bedeutung beimaß, nicht so begann, wie er sich das vorgestellt hatte. Gerrits Verschwinden fand sie allerdings beunruhigend. Doch für Nachforschungen blieb keine Zeit, sie mussten zur Kirche.

Eva hatte sich so verhalten wie möglich gekleidet. Auf keinen Fall wollte sie den Eindruck erwecken, Coen gefallen zu wollen. Ihr Vater hatte sie zwar kurz gemustert, aber nichts gesagt – für einen Gottesdienstbesuch hielt er die dezente schwarze Aufmachung vermutlich angemessen.

Bis zur Alten Kirche ging es nur über eine Brücke. Eva hätte den Weg mit verbundenen Augen gefunden, so gut kannte sie ihn. Das alte Gemäuer war ihre Taufkirche, und solange sie zurückdenken konnte, war sie mindestens einmal in der Woche dort gewesen.

Eva hatte schon den ganzen Morgen ein brennendes Gefühl in der Magengegend, und als sie nun auf dem Platz vor der Kirche eintrafen, nahm es an Heftigkeit zu. Mehrere kleine Gruppen von Kirchgängern standen beisammen. Ihr Vater sah sich kurz um, dann entdeckte er ihren Onkel, und sofort geschah, was Eva schon so häufig an ihm beobachtet hatte: Wahrscheinlich ohne es selbst zu bemerken, beugte ihr Vater den Oberkörper ein wenig vor und setzte ein anbiederndes Lächeln auf. Dies hatte ohne Zweifel damit zu tun, dass er in Pieter Hasselaer alles sah, was er auch gern gewesen wäre: guldenschwer und geachtet. Hasselaers Brauerei stand im Ruf, eine Goldgrube zu sein, doch mehr noch hatte der Herr Schwager mit Grundstücksspekulationen verdient. Dabei kam ihm zugute, dass er als Ratsmitglied immer etwas früher als die anderen wusste, wo als Nächstes neues Bauland für den nie abreißenden Strom von Neubürgern erschlossen werden sollte.

Eva fragte sich, ob einer von Onkel Pieters Gesprächspartnern ihr künftiger Ehemann sein könnte. Es fiel ihr auf, dass einer von ihnen – er stand mit dem Rücken zu ihr – ein geradezu hünenhafter Kerl war. Sollte das etwa …?

Pieter Hasselaer hatte sie nun auch gesehen und winkte sie ein wenig gönnerhaft heran. Schon im Näherkommen nahm Evas Vater den Hut ab. Die Männer öffneten den Kreis. „Guten Morgen, Onkel Pieter“, grüßte Eva. Hasselaer zog den Hut. „Guten Morgen, Eva. Das hier ist Herr van Neck, ich glaube, ihr seid euch schon begegnet.“ Eva senkte ehrfürchtig den Kopf – der alte van Neck war eine Amsterdamer Berühmtheit, denn er hatte ein Vierteljahrhundert zuvor als Pionier des Ostindienhandels sagenhafte Profite erzielt. „Das hier“, fuhr Hasselaer fort, „ist Herr Visscher.“ Der Name sagte Eva nichts. Sie verbeugte sich routiniert.

Hasselaer wandte sich nun dem Letzten in der Runde zu. Es war der Hüne. „Und das hier ist General Coen.“ Eva durchzuckte es. Langsam hob sie den Kopf. Ihre Augen befanden sich gerade einmal auf Brusthöhe des Mannes. Sie musste zu ihm emporschauen. Er war hager, fast ausgezehrt, mit hervorstehenden Backenknochen und einem schmalen Mund, der von Knebel- und Spitzbart eingerahmt wurde. Die Nase war groß und gebogen wie der Schnabel eines Raubvogels. Die kleinen Augen lagen tief in den Höhlen, doch ihr Blick war so durchdringend, dass Eva unwillkürlich wieder zu Boden schaute.

Jetzt erinnerte sie sich, dass ihr Coen in der Kirche schon einmal aufgefallen war – sie hatte ihn nur von Weitem gesehen, und doch hatte er ihr Respekt und sogar etwas Furcht eingeflößt. Es war nicht allein seine Riesenhaftigkeit, es war der Ernst, der von ihm ausging, gepaart mit einer, wie es schien, natürlichen Überlegenheit. Zusammen ergab dies eine Ausstrahlung von zwingender Autorität.

Coen hatte noch nicht gesprochen, und Eva hatte ebenfalls geschwiegen. Ohne den Blick ganz zu heben, brachte sie ein „Sehr erfreut“ heraus. Es war eher gehaucht als gesprochen. Coens Lippen bewegten sich nicht. Eva sah erneut zu ihm auf. Nun endlich rührte er sich. „Die Freude ist ganz auf meiner Seite, verehrtes Fräulein Ment.“ Seine Stimme war nicht ganz so tief, wie sie erwartet hatte. „Sollten wir jetzt reingehen?“ Die anderen nickten. Für Eva entstand ein Augenblick der Unsicherheit, da sie nicht wusste, ob sie hinter Coen hergehen sollte. Doch da war schon ihr Vater zur Stelle und bedeutete ihr, sich neben ihm zu halten. Auch die Ehefrauen von Hasselaer, van Neck und Visscher, die sich nahe der Eingangstür miteinander unterhalten hatten, schlossen sich an.

Die Gesellschaft verteilte sich über zwei Bänke. Eva versuchte, sich zu sammeln. Es beruhigte sie immer, in der Kirche zu sein. Die kahlen, weiß getünchten Wände und Säulen und die durchsichtigen, farblosen Fenster ließen sie tiefer und langsamer atmen. Hier gab es nichts, was die Augen ablenken konnte. Nach einiger Zeit legte sich das Schwirren im Kopf, die Gedanken ordneten sich. Mehr und mehr zog sie sich in ihr inneres Gehäuse zurück.

Eva horchte auf das Rascheln der Kleider und das Ächzen der Bänke, wenn sich wieder jemand setzte. Einige tuschelten. Sonst war es still, denn die Calvinisten hatten neuerdings durchgesetzt, dass die Orgel nicht mehr bespielt werden durfte. Sie meinten, dass die Musik vom Wort Gottes ablenke. Eva dachte daran, wie sehr sie die Orgelmusik immer geliebt hatte. In ihren Kindertagen hatte in der Alten Kirche noch der große Organist Jan Pieterszoon Sweelinck gewirkt. Er war einer der warmherzigsten Menschen, die Eva jemals getroffen hatte, und der Einzige, der mit Kindern genauso freundlich umging wie mit Erwachsenen. Einmal – sie musste ungefähr zehn Jahre alt gewesen sein und Gerrit acht – hatten sie ihm einen ganzen Vormittag beim Üben zugehört. Als sie schließlich aufgestanden waren, hatte er sie wieder zurückgerufen und gebeten, noch etwas zu bleiben. Sie dürften auch aussuchen, was er spiele. Eva hatte sich daraufhin ihr Lieblingslied Der lustige Mai gewünscht. Sweelinck spielte es nicht nur einmal, sondern immer und immer wieder, und jedes Mal hörte es sich anders an. Gerrit, der schon damals ein famoser Fiedler war, saß die ganze Zeit mit offenem Mund in der Kirchenbank. Eva hatte nie vergessen, was er draußen zu ihr gesagt hatte: „Gott spricht gar nicht durch den Pfarrer. Er spricht durch Herrn Sweelinck.“

Pfarrer Sylvius predigte an diesem Sonntag passend zur Kirmes über die Verderbtheit der Jugend. Die Donnerpredigt schien wie für Gerrit bestimmt, doch der fehlte noch immer. Eigentlich sollten sie alle gehen und ihn suchen, anstatt hier in der Kirche den Moralpredigten des Pfarrers zu lauschen, dachte Eva. Aber es ging ja um Wichtigeres. Ihr graute davor, wenn sie an das gemeinsame Mittagessen dachte.

Schließlich forderte Johannes Sylvius die Gemeinde auf, in sich zu gehen und über ihre Sünden nachzudenken. Andächtige Stille trat ein. Die Ruhe war nahezu vollständig. Bis plötzlich … ein Knarren! Eva drehte sich um und sah, dass das Hauptportal einen Spalt weit offen stand. Eine Hand, die einen sehr großen Hut festhielt, tauchte auf, dann ein Gesicht – es war Gerrit. So leise wie möglich versuchte er, die Tür wieder zu schließen, aber offenbar aus Nervosität ließ er sie nicht richtig einschnappen, sodass sie noch einmal aufging. Daraufhin warf er sie mit größerem Schwung ins Schloss, was ein dumpfes Poltern zur Folge hatte. Nun reckte etwa die Hälfte der Gemeinde den Hals. Eva winkte dem Störenfried, was ihr sofort einen leichten Ellbogenstoß ihres Vaters einbrachte. Mit gesenktem Kopf steuerte Gerrit auf ihre Bank zu. Alle rückten etwas auf, sodass er sich noch neben ihr in die Bank quetschen konnte. Er sah schlimm aus. Die Haare hingen ihm verstrubbelt und fettig in der Stirn, im Gesicht sah man noch Reste der Wachs-Mehl-Mischung, mit der ihn seine Freunde eingeschmiert hatten, und sein gelbes Kostüm war verdreckt. Sein Vater warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

Eva flüsterte: „Schön durchgefeiert?“

„Maul halten!“, fauchte Gerrit und starrte düster vor sich hin.

Trotz dieser Frechheit blieb Eva auch nach dem Ende des Gottesdienstes dicht bei Gerrit. Alles war besser, als neben Coen stehen zu müssen. Als sie ihr Haus, den Weißen Adler, erreichten, hatte Claes Corneliszoon Ment kurz Gelegenheit, seinem Sohn etwas zuzuzischen: „Wir sprechen uns noch!“

Am Tisch nahm Eva rechts von ihrem Vater Platz, Gerrit links. Ihnen gegenüber saßen Coen, Onkel Pieter und dessen Frau Aechtje. Diese begann sofort davon zu erzählen, wie sie beide vor einigen Wochen den Prinzen von Oranien – den Oberbefehlshaber der niederländischen Streitkräfte – und dessen Frau Amalie zu Solms-Braunfels in Den Haag besucht hatten. „Ich glaube, die Gräfin Amalie hat einen Narren an mir gefressen“, behauptete Aechtje. „Sie konnte sich gar nicht mehr von mir losreißen. Wir haben sogar den kleinen Prinzen gesehen – ein außerordentlich hübsches Kind.“

Evas Vater versuchte, Coen in das Gespräch einzubeziehen: „General Coen verkehrt natürlich ständig mit hohen und höchsten Persönlichkeiten, nicht wahr?“

„Eher weniger“, erwiderte der. „Ich war nur einmal beim Prinzen. Ich hatte ihm für seine Menagerie einen Leoparden mitgebracht.“

„Was ist ein Leopard?“, fragte Ment.

„Ein Löwe mit Flecken. Sehr gefährlich, ein Menschenfresser. Wir transportierten ihn in einem Käfig und mussten uns beim Füttern immer in Acht nehmen. Die lange Überfahrt ist der Bestie allerdings nicht gut bekommen, ich glaube, sie ist kurz danach verendet.“

Tanneke war inzwischen mit der Suppe hochgekommen. „Bei Gräfin Amalie gab es eine delikate Mandelsuppe, garniert mit Hahnenkamm, Pistazien und Granatapfelkernen, wirklich köstlich!“, berichtete Tante Aechtje. „Danach ging es weiter mit einer pikanten Fleischpastete mit Früchten, da hab ich mir später sogar vom Küchenmeister das Rezept geben lassen. Wollt Ihr’s hören?“

Ohne darauf einzugehen, richtete sich Vater Ment wieder an Coen: „Gewiss kennt Ihr aus den fernen Landen, die Ihr bereist habt, auch einige empfehlenswerte Gerichte?“

Zum ersten Mal spielte ein Lächeln um die Lippen des Ehrengastes. „Wisst Ihr, die asiatische Küche ist völlig anders als die unsere. Zum einen ist sie natürlich sehr stark gewürzt, weil die Gewürze dort vor der Haustür wachsen und entsprechend billig zu haben sind. Grundlage der meisten Gerichte ist Reis …“

„Davon habe ich schon einmal gehört“, sagte Eva – sie erschrak geradezu darüber, dass sie freiwillig das Wort ergriffen hatte. Coen sah sie aber sofort an und nickte ihr aufmunternd zu: „Sehr gut“, lobte er. „Die meisten Niederländer sind zu ignorant, um je davon gehört zu haben.“

„Bei der Gräfin …“, wollte Aechtje Hasselaer ihre Schilderung fortsetzen, doch diesmal wurde sie von ihrem Mann unterbrochen: „Ist es nicht so, dass die Asiaten die kuriosesten Dinge essen?“

„Lasst es mich so sagen: Sie bevorzugen andere Gerichte, als wir sie gewohnt sind.“ Coen nahm einen Löffel Suppe. Eva schaute zur Seite und sah, dass Gerrit seinen Teller noch nicht angerührt hatte. Er starrte mit leerem Blick auf die ihm gegenüber sitzende Tante Aechtje.

„Ich habe mir zum Beispiel sagen lassen, dass in einigen Teilen Asiens geröstete Spinnen vertilgt werden“, erzählte Coen weiter. „Vom Geschmack her sollen sie an Hühnchen erinnern. Die Spinnen in Asien sind weit größer als bei uns, müsst Ihr wissen. Andernorts werden Tintenfische bei lebendigem Leibe verzehrt.“

„Das ist ja widerwärtig!“, ließ sich Tante Aechtje vernehmen.

„Am chinesischen Kaiserhof gilt Schwalbennestersuppe als die köstlichste aller Spezialitäten. Diese Nester sind nicht aus Zweigen oder dergleichen gewebt, sondern aus dem hart gewordenen Speichel der Schwalben, den sie wie eine Art Kleister einsetzen. Sammler holen diese Nester unter großer Gefahr für Leib und Leben aus Felsenhöhlen. Die Nester werden in Wasser eingeweicht, damit sie aufquellen, und anschließend mit Kalbfleisch und Brühe gegart.“

Niemand sagte mehr etwas. Alle löffelten ihre Suppe, allerdings recht langsam.

„Auf den Philippinen wiederum schwört man auf ausgebrütete Enten- und Hühnereier. Ich habe sie selbst einmal gekostet, ein chinesischer Kapitän hatte mich dazu eingeladen, und es wäre unhöflich gewesen, es abzulehnen. Die Eier hatten zwei Wochen in einem warmen Korb gelegen und sich dabei prächtig entwickelt. Nun wurden sie etwa eine halbe Stunde gekocht und anschließend serviert. Als ich meines öffnete, erblickte ich darin einen fast schon vollständigen Vogel: Schnabel, Federn, Augen – all das war bereits ausgebildet. Der Kapitän erklärte mir, dass ich zunächst die Flüssigkeit herausschlürfen müsse. Danach war der Körper an der Reihe. Ich erinnere mich noch, dass das schwarzbraune Fleisch von recht scharfem Geschmack war. Der Speise wird in Asien vor allem deshalb zugesprochen, weil sie der Manneskraft zugutekommen soll.“

„Soll ich abräumen und die Muscheln auftragen?“, fragte Tanneke. Claes Corneliszoon Ment nickte nur.

Coen schaute in die Runde. „Ja, es gibt viel zu entdecken in Ostindien.“ Gerade als er das sagte, öffnete sich die Tür zum Nachbarzimmer, und Jasper stahl sich herein. „Katze ist in weiten Teilen Chinas ein ganz normales Gericht“, fuhr Coen fort. „Auch der Magen und die Eingeweide werden gegessen. Wichtig ist, dass die Katze gut abgehangen ist.“

In diesem Moment hörte Eva aus Gerrits Richtung ein klägliches Stöhnen, und dann sah sie, wie er langsam den Mund öffnete und sich quer über den Tisch auf die vor ihm sitzende Aechtje erbrach. Es war ein Schwall wie bei einem Deichdurchbruch. Die Tante schrie, Onkel Pieter sprang auf, nur Coen blieb ungerührt sitzen. Danach herrschte Stille. Entgeistert sah Tante Aechtje an sich hinab.

„Verzeihung“, murmelte Gerrit. „Ich glaube, ich habe gestern Abend ein bisschen viel getrunken.“

Lektion im Elendsviertel

In der folgenden Nacht wachte Eva auf, und mit einem Mal wurde ihr klar, dass sie mit Coen würde schlafen müssen. Die Vorstellung schockierte sie. Zwar war ihr die männliche Anatomie durchaus vertraut, zum Beispiel hatte sie im Sommer des Öfteren nackten Männern beim Schwimmen in den Entwässerungskanälen vor der Stadt zugesehen. Und natürlich kannte sie Gerrit. Sie war mit ihm aufgewachsen, und noch immer schliefen sie ganz selbstverständlich in einem Bett, wenn eines ihrer Zimmer für Besuch benötigt wurde. Sie hatte verfolgt, wie Gerrit Haare an Stellen wuchsen, an denen zuvor keine gewesen waren, und auch, wie er sie sich wieder abrasiert hatte, weil es seit einiger Zeit Mode war, einen unbehaarten Körper zu haben. Sie hatte sogar schon mehrmals erlebt, dass sich sein Geschlecht morgens beim Aufstehen auf das Doppelte seiner normalen Größe aufgebläht hatte und nicht mehr zur Erde zeigte, sondern gen Himmel. Beim ersten Mal war ihr der Anblick gänzlich unwahrscheinlich vorgekommen. Gerrit hatte sich hastig der gegenüberliegenden Wand zugedreht und die Spargelstange in seiner weiten Pluderhose verschwinden lassen.

Es war also nicht so, dass sie scheu gewesen wäre. Das Verlangen, einen Mann körperlich zu lieben, brannte seit Langem in ihr. Judith, die sehr bibelfest gewesen war, hatte ihr gesagt, dass es sogar in der Heiligen Schrift Stellen gab, die davon erzählten. Doch, sie wollte diesen Rausch erleben, aber nicht mit Jan Pieterszoon Coen. Er war zu alt und zu groß. Er war ihr unendlich fremd. Ihre Fantasie reichte nicht aus, um sich vorzustellen, wie er sie berühren, umarmen und küssen wollte. Er machte nicht den Eindruck, als würde er sich auf diese Dinge verstehen. Vermutlich hatte er seine Triebe bisher in Bordellen ausgelebt. Natürlich kannte sie ihn erst sehr flüchtig, aber sie wusste bereits, wie er sprach, sich bewegte, ein wenig auch, wie er dachte. Und all das erschien ihr nicht sehr ermutigend.

In den nächsten drei Tagen gab sie sich der Hoffnung hin, die Verbindung würde vielleicht doch nicht zustande kommen. Ihr Vater sprach nicht mehr von Coen – er sprach überhaupt nicht mehr. Gerrit war von ihm an jenem Sonntag zum ersten Mal seit Jahren geohrfeigt worden – natürlich erst, nachdem die Gäste gegangen waren. Mit seinen Freunden durfte er sich vorerst nicht mehr treffen. Eva hütete sich, noch einmal auf Coen zu sprechen zu kommen.

Doch am darauffolgenden Donnerstag sagte ihr Vater beim Mittagessen zu ihr: „Herr Coen wird uns am Sonntag wieder beehren. Du wirst dann auch Gelegenheit erhalten, mit ihm unter vier Augen zu sprechen.“

Der Bissen blieb ihr im Halse stecken. „Vater“, sagte sie, „ich bin überhaupt noch nicht im richtigen Alter. Kaum jemand heiratet vor Mitte zwanzig.“

„Kaum jemand? Das erscheint mir ein wenig übertrieben“, wandte ihr Vater ein. „Und selbst wenn: Du hast eben schon früh das große Los gezogen. Endlich ein Hauptgewinn für uns!“ Es war wohl witzig gemeint, denn er grinste. Tatsächlich hatten sie in der Lotterie trotz reger Beteiligung nie mehr gewonnen als einmal eine Garnitur von Damenunterröcken, die Eva zu groß gewesen waren. Das silberne Tafelservice, die Goldketten, die Tapisserien und alle weiteren wertvollen Preise waren immer an andere gegangen.

„Ich betrachte ihn keineswegs als das große Los. Er ist viel zu alt für mich. Ein so großer Altersunterschied ist immer schlecht.“

„Das kann man so allgemein nicht sagen. Und ich frage mich wirklich, was es hier noch zu meckern gibt! Du kannst einen Mann heiraten, der reich ist, der einen Namen hat, der – wie du gehört hast – mit den Mächtigen umgeht. Da solltest du nicht noch auf sein Alter schauen. Wer alles will, geht leer aus.“

„Wenn er so eine tolle Partie ist, dann frage ich mich, was er ausgerechnet von mir will.“

„Das muss ich dir ja wohl nicht erst sagen. Unsere Familie mag geschäftlich schon bessere Zeiten erlebt haben, aber wir stammen immer noch aus einem alten Amsterdamer Patriziergeschlecht. Onkel Pieter dürfte demnächst Bürgermeister werden. Über dich erhält Jan Pieterszoon Coen Zutritt zu diesen Kreisen.“

„Aha. Dann bin ich also ein Vehikel für seine Karriere, ein Mittel zum Zweck. Habt Ihr Euch schon einmal gefragt, ob ich irgendetwas für ihn empfinde? Nein, das interessiert Euch erst gar nicht. Aber ich sage es Euch trotzdem: Nein, ich empfinde nichts für ihn. Höchstens Abscheu.“

„Liebe kann wachsen …“

„Vater, es ist nicht mehr wie früher! Die Zeiten haben sich geändert, wir leben im 17. Jahrhundert!“

Da schlug Ment mit der flachen Hand auf die Tischplatte. „Jetzt reicht es! Du bist undankbar und verzogen! Weißt du was? Wir werden jetzt einen Spaziergang machen. Zieh deinen Umhang über!“

„Wo sollen wir denn hingehen?“

„Das wirst du schon sehen!“

Wortlos tat Eva, was ihr Vater verlangte. Sie konnte sich beim besten Willen nicht denken, was er vorhatte.

Draußen spürte sie zum ersten Mal, dass es Herbst geworden war. Die Backsteinfassaden glänzten von einem kurz zuvor niedergegangenen Regenschauer, das Gewölk des Himmels ließ gerade wieder etwas Halbsonne durch. Am Kanal streuten die Linden ihr goldgelbes Laub in das Wasser.

Evas Vater strebte über die Brücke. Trotz seiner Leibesfülle war er noch verblüffend gut zu Fuß. Es ging an der Alten Kirche vorbei und quer über die Warmoesstraat mit ihren verlockenden Geschäften. Dann führte der Weg sie weiter über den Dam-Platz, auf dem immer noch die Kirmeszelte standen. Dahinter begann die Neustadt mit ihren von Bäumen gesäumten Wasseravenuen, den vor zehn Jahren angelegten Hauptkanälen Herengracht, Keizersgracht und Prinsengracht. Die erste, die Herengracht, war die feinste Adresse der Stadt. Eva hatte sich immer gewundert, dass in Amsterdam die Herren vor den Kaisern kamen, aber ihr Vater hatte ihr erklärt, dass sie nun einmal in einer Republik lebten, ohne König oder Kaiser.

Claes Corneliszoon Ment lief unbeirrt weiter, bis sie eine andere Gegend der Stadt erreichten. „Weißt du, wo wir hier sind?“ Eva schüttelte den Kopf: „Weiter als bis zur Prinsengracht bin ich nie gewesen.“

Ihr Vater nickte. „Dies ist der Jordaan. Hier wohnen diejenigen, die in ihrem Leben weit weniger vom Glück begünstigt sind als du. Ich möchte, dass du dir jetzt alles ganz genau anschaust!“

Es begann eine Wanderung, wie Eva sie noch niemals erlebt hatte. Sie blickte in Gerberhöfe, in denen bleichgesichtige Gestalten Häute entfleischten, wässerten und in ätzenden Laugen enthaarten. Sie sah Färbereien, von denen ihr Vater erzählte, dass dort Knechte giftige Farbbrühen mischten. Sie atmete den Gestank der Zuckerraffinerien und Seifensiedereien. Sie kam durch Gassen und Stiegen, die so schmal waren, dass sie, wenn sie die Arme ausstreckte, die Hauswände an beiden Seiten berühren konnte. Sie wich den Blicken der Kinder aus, die sie aus großen glasigen Augen anstarrten und sich wohl ein Almosen erhofften. An einer Stelle, wo sich zwei der schlauchartigen Straßen kreuzten, hielt ihr Vater an, um zu verschnaufen. „Schau dich nur um“, sagte er.

Dicht gedrängt standen die Menschenpackhäuser, vier, fünf Stockwerke hoch, unterwandert und durchkreuzt von einem Geflecht aus Gassen, Treppen, Hinterhöfen und Durchgängen. Farblose Häuser in fahlem Licht. Ab und an ertönte ein Warnschrei, und dann ergoss sich von oben der Inhalt eines Nachttopfs auf den ungepflasterten Weg. Eva sah auf ihre Schuhe: Sie schienen bereits ruiniert, denn der Straßenbelag bestand aus nichts anderem als platt getretenem Dreck. Beim nächsten Regenguss würde sich alles in Schlamm verwandeln; und dann würde man sich nicht nur die Schuhe, sondern auch die Kleider verderben. „Es geht weiter“, keuchte ihr Vater.

Immer wieder musste Eva frei herumlaufenden Hunden und Schweinen ausweichen, die im Straßendreck nach etwas Essbarem wühlten. Kanäle gab es zwar auch in diesem Teil Amsterdams, doch anders als in den besseren Vierteln konnte man hier auf den ersten Blick erkennen, was sie eigentlich waren: das Gedärm des Stadtkörpers. Von den Häusern und Werkstätten aus lief das Abwasser durch Rinnsteine direkt in die Grachten. Eva wusste, dass auch alle Schlacht-, Betriebs- und Marktabfälle sowie der auf der Straße liegen gebliebene Pferdekot in die Kanäle geschüttet wurde. Sie sah einen toten Hund in der schäumenden Brühe treiben und ein Stück weiter den Kadaver einer Ziege. Am Rand eines der Kanäle hatten sich ganze Abfallberge angesammelt. Viele Häuser waren abgesackt und neigten sich bedenklich zur Seite. Auf den Dächern reckten sich Schornsteine wie schwarze Finger in den Himmel.

Eva empfand es als eine Erlösung, als ihr Vater endlich umdrehte und sie nach einigen Brücken wieder an der Prinsengracht standen.

„Kannst du dir vorstellen, warum ich dich hierhergeführt habe?“ Eva konnte es, aber sie sagte es nicht.

„Hier kannst auch du einmal enden. Vielleicht nicht gerade in den dunkelsten Höhlen und Baracken, aber in dieser Gegend allemal. Das geht ganz schnell, und dann wirst du froh sein, wenn Onkel Pieter dir einen Platz in einem der öffentlichen Wohnstifte besorgt.“

„Vater, Ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass unsere Familie so tief sinken könnte“, wandte Eva ein.

„Ich kenne durchaus vergleichbare Fälle“, entgegnete ihr Vater. „Du bist im Luxus aufgewachsen, du hast immer alles gehabt und scheinst dies als selbstverständlich hinzunehmen. Das ist es nicht. Du weißt, dass es mit uns nicht zum Besten steht. Deine Position ist gefährdet. Viel hast du nicht anzubieten, eigentlich nur den tadellosen Ruf unserer alteingesessenen Familie und unsere guten Beziehungen. Das ist das Pfund, mit dem du wuchern musst. Aber du musst es dir so vorstellen, dass viele andere junge Frauen das Gleiche oder sogar etwas Besseres offerieren. Es ist, als würde jede von euch an einem kleinen Steg stehen und auf ein großes Schiff warten, mit dem ihr in den Hafen der Ehe einlaufen könnt. Und jetzt kommt so ein Schiff, ein so großes und prächtiges, wie es noch keine von euch je gesehen hat. Und – was für ein unbeschreibliches, völlig unerwartetes Glück! – es hält auch noch genau an deinem kleinen Steg. Du kannst an Bord gehen. Zögerst du? Das Schiff hält nur ein einziges Mal bei dir, wenn du es jetzt vorbeifahren lässt, wird es nie mehr wiederkommen.“ Er machte eine Pause. „Überlege dir also gut, was du tust. Du bist verwöhnt, du bist nicht belastbar. Du würdest ohne einen Mann, der dich versorgt, nicht zurechtkommen. Und in dieser Welt hier“ – er zeigte zu der finsteren Passage, aus der sie gekommen waren – „würdest du nicht lange überleben.“

Damit wandte er sich wortlos um und stapfte nach Hause. Eva folgte ihm in einigem Abstand.

Fieberträume

Coen war pünktlich auf die Minute, als er am Sonntagnachmittag zu seinem zweiten Besuch erschien. Eva erkannte es daran, dass das Glockenspiel der Alten Kirche einsetzte, als er klopfte. Drei Uhr. Tanneke öffnete ihm, führte ihn herein und bot ihm ein Glas Rheinwein an. Der Stuhl, auf dem Coen Platz nahm, war eigentlich zu niedrig für ihn – er wusste nicht recht, wo er seine Beine lassen sollte.

Die beiden Männer unterhielten sich zunächst über den Verlauf des Krieges gegen Spanien. Dann erhob sich Ment von seinem Platz und sagte: „Ich möchte mich fürs Erste empfehlen.“ Damit verschwand er.

Eva hatte die Augen niedergeschlagen, aber sie konnte den Blick ihres Gegenübers regelrecht spüren. Sie hatte keine Ahnung, worüber sie mit ihm reden sollte. Es war eine äußerst unangenehme Situation.

„Woher wusstet Ihr, dass in Asien Reis gegessen wird?“, fragte Coen.

Eva sah auf. „Das hat mir ein Kaufmann erzählt, der einmal für einige Tage bei uns gewohnt hat. Ein Bekannter von Onkel Pieter.“

Wieder entstand eine Stille. Dann sagte Eva: „Ich bewundere alle, die den Mut haben, eine solche Reise anzutreten. Ich könnte das nie.“

„Warum nicht? Seid Ihr nicht neugierig?“

„Doch, schon. Ich mag es zum Beispiel, Karten anzuschauen. Onkel Pieter hat einen Globus. Er muss überaus kostbar sein.“

„Globen gehören in der Tat zum Teuersten, was es gibt“, bestätigte Coen. „Aber sagt mir, wenn Euch ferne Länder doch offenbar anziehen, warum könnt Ihr Euch dann nicht vorstellen, selbst dort zu leben?“

„Gerade weil alles so anders ist. Die Menschen essen seltsame Dinge, wie Ihr selbst berichtet habt. Sie tragen vermutlich andere Kleidung, sie haben Gewohnheiten, die von den unseren abweichen. Gewohnheiten, die wir vielleicht gar nicht verstehen können. Ich glaube, was am meisten auf mir lasten würde, wäre der Gedanke, dass diese Menschen einer anderen Religion angehören. Und folglich über die Welt und das Zusammenleben der Menschen völlig anders urteilen müssen als wir Christen.“

„Das lässt sich ändern“, gab Coen zu bedenken. „Wir sind aufgerufen, die Botschaft des Herrn in die Welt zu tragen.“

„Das ist gewiss eine ehrenwerte Aufgabe, solange es nicht mit Zwang und Gewalt geschieht, so wie es die Spanier in Westindien getan haben. Wie gesagt, ich bewundere jeden, der ans andere Ende der Welt reist. Aber ich möchte noch nicht einmal in einer anderen holländischen Stadt wohnen. Ich möchte nicht weg aus Amsterdam. Wobei es nicht etwa so ist, dass ich meinen würde, es gäbe auf der Welt keinen schöneren Ort, gewiss nicht …“

„… Ihr müsstet Italien sehen!“, warf Coen ein.

„Ich bezweifle nicht, dass es ein sehenswertes Land ist. Aber dies hier ist eben mein Zuhause, diese Welt ist mir vertraut, und sie zu verlassen, würde mir vorkommen, wie einen Teil meiner selbst aufzugeben.“

Darauf erwiderte er nichts mehr. Auch Eva fiel nichts mehr ein, was sie noch hätte sagen können. Von draußen hörte man Kindergeschrei.

Plötzlich sagte Coen: „Ich habe bei Eurem Vater um Eure Hand angehalten.“

Der Satz kam wie ein Donnerschlag. Eva starrte ihn an.

„Ihr seid erschrocken? Selbstverständlich hängt alles von Eurem Einverständnis ab. Nur ein Wort, und ich ziehe mich zurück.“

Eva schwieg. Schließlich sagte sie: „Kann ich … kann ich darüber nachdenken?“

„Selbstverständlich.“ Coen stand auf. „Eine Entscheidung von solcher Tragweite will wohlüberlegt sein. Ich muss sowieso für einige Tage nach Hoorn. Wenn ich zurück bin, werde ich mich erkundigen, wie Ihr Euch entschieden habt.

Am nächsten Morgen erwachte Eva mit Fieber. Ihre Stirn war heiß, aber ihr selbst war so kalt, dass sie zitterte. Ihr Vater ließ sofort einen Arzt rufen. Noch vor neun Uhr morgens stand er an ihrem Bett, Jacob Janszoon de Wit, ein höflicher, schon etwas älterer Herr, der in Schweden geboren war, einem Land, das – wie er Eva erzählt hatte – völlig anders aussah als Holland, weil es nämlich ganz und gar von Wald bedeckt war. De Wit ließ sich von Tanneke Evas Nachttopf unter dem Bett hervorholen und füllte einen Teil ihres darin aufgefangenen Urins in ein Glas um, das er aus seiner großen Arzttasche hervorholte. Dieses Glas hielt er vor dem Fenster gegen das Licht und betrachtete es eingehend von allen Seiten.

Dann wandte er sich an Claes Corneliszoon Ment und verkündete: „Ein typischer Fall von Furor uterinus.“

„Um Gottes willen!“, rief Ment. „Was ist denn das?“

„Wir sprechen von der wandernden Gebärmutter“, erläuterte de Wit. „Seht, die weibliche Gebärmutter vermag im Körper umherzuwandern, wobei sie je nach Position bestimmte Organe zusammenpresst und dadurch die unterschiedlichsten Krankheiten verursacht. Fast jedes ernsthafte Frauenleiden lässt sich darauf zurückführen.“

„Es ist also ernsthaft?“, hörte Eva ihren Vater fragen.

„Ich fürchte ja“, war die Antwort. „Das Wichtigste ist jetzt, dass Fräulein Eva aus dem Bett kommt und sich möglichst aufrecht auf einen Stuhl setzt. Dann besteht die Chance, dass die Gebärmutter von selbst wieder nach unten rutscht, auf den Platz, wo sie hingehört.“

Ment wandte sich an Eva: „Hast du das gehört? Bitte setz dich auf den Stuhl dort.“

„Ich fühle mich sehr schwach“, protestierte sie.

„Du hast gehört, was der Doktor gesagt hat. Es mag beschwerlich sein, aber es ist der einzige Weg zur Gesundung und Verkürzung deines Leidens. Tanneke, kannst du den Stuhl vielleicht mit Kissen polstern? Herr de Wit, das wird doch wohl erlaubt sein oder stört das den Genesungsprozess?“

„Dagegen ist nichts einzuwenden, sofern sich Fräulein Eva um eine möglichst aufrechte Haltung bemüht.“

Unter den Augen des Arztes krabbelte Eva mühsam aus dem Bett und schleppte sich auf den Stuhl. „Lange halte ich es hier nicht aus“, klagte sie. „Ich schaff das einfach nicht.“

„Stell dich nicht so an!“, ermahnte sie der Vater. „Es ist doch nur zu deinem Besten.“

Doktor de Wit packte seine Tasche zusammen. „Ich werde morgen wieder vorbeikommen. Sollte sich ihr Zustand verschlimmern, so unterrichtet mich umgehend.“ Im Flur unterhielt er sich danach noch eine Zeit lang im Flüsterton mit dem Hausherrn.

Als de Wit gegangen war, bestimmte Vater Ment, dass Gerrit heute nicht mit in die Brauerei kommen, sondern bei seiner Schwester bleiben solle. Gerrit setzte sich neben sie und hielt ihre Hand. „Schwesterchen, Schwesterchen, was machst du für Sachen?“ Schon nach kurzer Zeit erklärte Eva, sie könne sich nicht mehr länger auf dem Stuhl halten, und wechselte ins Bett. Gerrit stapelte dort mehrere Kissen übereinander, sodass ihr Oberkörper erhöht lag. Bald schlief sie ein und wachte erst am Abend wieder auf. Das Fieber hatte nicht nachgelassen.

Am nächsten Tag erschien de Wit abermals, hielt erneut ein Glas mit Urin gegen das Licht, betrachtete Eva und bestätigte seine Diagnose einer wandernden Gebärmutter im fortgeschrittenen Stadium. Möglicherweise befinde sie sich bereits oberhalb des Magens. Nachdrücklich ermahnte er die junge Frau, so viel Zeit wie eben möglich in sitzender statt in liegender Haltung zu verbringen. Damit empfahl er sich.

Nach dem Arztbesuch schlief Eva. Als sie wach wurde, sah sie, dass Jasper sich neben ihr zusammengerollt hatte. Noch immer war ihr kalt, obwohl ihre Wangen glühten. Gerrit fragte, ob er ihr etwas auf seiner Fiedel vorspielen sollte. Er war ein hervorragender Musikant, aber Eva wollte jetzt Ruhe. Gerrit brachte ihr Bier zu trinken, setzte sich wieder neben sie und begann, ihr von der Fechtschule Thibault zu erzählen, die er seit einiger Zeit besuchte. Zusätzlich wollte er sich nun auch noch in der Tanzschule Vallet anmelden, die erst vor einem Jahr geöffnet hatte, sich aber bereits eines enormen Zulaufs erfreute. „Vater meint allerdings, es wäre zu teuer.“