Geschichte Belgiens - Christoph Driessen - E-Book

Geschichte Belgiens E-Book

Christoph Driessen

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Beschreibung

Hätten Sie gedacht, dass Gent im Mittelalter größer war als London? Dass Belgien aus einem Opernabend hervorging? Oder dass Brüssel nur deshalb EU-Hauptstadt ist, weil B der zweite Buchstabe des Alphabets ist? Die Geschichte Belgiens ist surreal wie ein Bild von René Magritte und dabei spannend wie ein Krimi mit Hercule Poirot. Dennoch wurde sie bisher in Deutschland völlig vernachlässigt – dieses Buch ist die erste Gesamtdarstellung überhaupt. Christoph Driessen führt seine Leser in die frühkapitalistischen Städte des Mittelalters, auf die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs und in die Regenwälder von Belgisch-Kongo. Illustrationen, Kurzporträts von Pieter Bruegel bis Jacques Brel und Stichwörter von "Comics" bis "Pommes frites" lockern die Darstellung auf. Ein Buch, das in jeder Hinsicht überrascht!

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Seitenzahl: 450

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Christoph Driessen

Geschichte Belgiens

Die gespaltene Nation

Meinem Vater gewidmet

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber http://dnb.dnb.de abrufbar.

3., aktualisierte Auflage 2023

ISBN 978-3-7917-2975-6

© 2018 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

Umschlaggestaltung und Layout: Martin Veicht, Regensburg

Satz: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a. d. Donau

Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg

Printed in Germany 2023

eISBN 978-3-7917-6241-8 (epub)

Unser gesamtes Programm finden Sie unter

www.verlag-pustet.de

Inhalt

EinleitungDer unterschätzte Nachbar

Kapitel 1Weltmarkt des Mittelalters – Eine große Vergangenheit

Schnittstelle der KulturenDie Anfänge in Antike und Frühmittelalter

Porträt: Ambiorix – Ein belgischer Asterix

Leoparden gegen LilienDie Grafschaft Flandern

Stichwort: Die Schlacht der Goldenen Sporen – Wie man Geschichte instrumentalisiert

Die Geschäfte des Herrn van der BuerseIndustrie und Handel

Porträt: Jacob van Artevelde – Bürger von Gent

Stichwort: Brügge – Grundgereinigte Geschichte

Stichwort: Beginen – Leben als selbstbestimmte Städterin

Atlantis an der NordseeDie burgundischen Niederlande

Porträt: Philipp der Gute – Ein Herzog backt sich Belgien

Stichwort: Der Genter Altar – Belgiens Nationalheiligtum

Karl der TollkühneBurgundische Großmachtpolitik

Brügge und Gent gegen den Rest der WeltDer Untergang Burgunds

Porträt: Maria von Burgund – Die Märchenbraut

Kapitel 2Unter fernen Herren – Die Frühe Neuzeit

Invasion der SchneemännerDie habsburgischen Niederlande

Porträt: Anna Bijns – Expertin in Liebesfragen

Porträt: Pieter Bruegel – Großstädter mit diagnostischem Blick

Stichwort: Antwerpen – Das Abbild der Welt

Der König und die BettlerDie Teilung der Niederlande

Porträt: Der Herzog von Alba – Ein Berufsmilitär in der Schurkenrolle

Im Bann der Tollen GreteDie spanischen Niederlande

Porträt: Peter Paul Rubens – Diplomat des Friedens

Stichwort: Manneken Pis – Symbol der Meinungsfreiheit

Revolution von obenDie österreichischen und die französischen Niederlande

Stichwort: Waterloo – Wo Napoleon seinen Hut verlor

Stichwort: Pommes frites – Spiegel der belgischen Seele

Kapitel 3Land unter Dampf – Belgien im 19. Jahrhundert

OpernabendDie belgische Revolution

Stichwort: Flagge und Hymne – Farben und Sound der Revolution

Das schwarze LandBelgien als erste Industrienation Kontinentaleuropas

Porträt: Figuren der belgischen Revolution – Ein Denker, ein Kämpfer und ein Selbstmordattentäter

Porträt: Leopold I. – Belgiens deutscher Adoptivvater

Porträt: John Cockerill – Der Dampfzauberer

„Sire, es gibt keine Belgier!“Die Flämische Bewegung

Stichwort: Art nouveau – Ausdruck eines neuen Lebensgefühls

Kapitel 4Herz der Finsternis – Kolonialmacht Belgien

Die HandabschneiderDer Kongo-Freistaat Leopolds II.

Porträt: Leopold II. – Der Dämon Belgiens

Der Mann, der König Baudouin widersprachBelgisch-Kongo

Porträt: Pater Damian – Seelsorger auf der Insel der Aussätzigen

Stichwort: Pralinen – Man weiß nie, was man bekommt

Kapitel 5Pickelhaube und Hakenkreuz – Unter deutscher Besatzung

August 1914Überfall auf Belgien

Porträt: Hercule Poirot – Ein fiktiver Flüchtling als bekanntester Belgier

Faustpfand des ReichskanzlersBelgien im Ersten Weltkrieg

Stichwort: Weihnachtsfrieden – Stille Nacht in der Todeszone

Stichwort: Deutschsprachige Gemeinschaft – Die letzten Belgier

Porträt: René Magritte – Der Magier mit der schwarzen Melone

Nein zum JudensternBelgien im Zweiten Weltkrieg

Porträt: Menschen aus dem Widerstand – Eine Nonne, ein Baron und eine junge Frau

Stichwort: Ardennenoffensive – Als der Krieg nach Belgien zurückkehrte

Kapitel 6Die gespaltene Nation – Belgien seit 1945

Tim und Struppi im Land der NazisDer schwierige Neuanfang

Stichwort: Comics – Der belgische Geniestrich

Porträt: Jacques Brel – Hassliebe mit „Les Flamandes“

Der Turmbau zu BrüsselAufstieg zum Mittelpunkt der Europäischen Union

Stichwort: Atomium – Der belgische Eiffelturm

Ein Staat unter VerdachtDie Dutroux-Affäre

Stichwort: Lüttich – Metamorphosen einer Stadt

Abschied von Papas BelgienDie Föderalisierung

AusblickKnuffelen für Belgien

Anhang

Zeittafel

Kommentiertes Literaturverzeichnis

Bildnachweis

Register

Orte

Personen

Stichworte

EINLEITUNG

Der unterschätzte Nachbar

Von allen Nachbarländern Deutschlands ist Belgien wahrscheinlich das unbekannteste und mit Sicherheit das am meisten unterschätzte. Viel mehr, als dass dort ein Sprachenstreit zwischen Wallonen und Flamen tobt, gehört nicht zum Allgemeinwissen. Von Brüssel hört man zwar oft, aber dies kaum je im Zusammenhang mit Belgien. Das Land ist auch kein bevorzugtes Reiseziel der Deutschen, obwohl es auf sehr kleinem Raum denkbar viel zu bieten hat: von den Strandpromenaden Ostendes bis zum Gebirge der Ardennen und von der Millionenstadt Brüssel bis zu den schwarzen Märchenwäldern des Hohen Venn.

Die belgische Geschichte ist erst recht Terra incognita. Man liest darüber nur sehr selten etwas, und wenn, dann ist es mit hoher Wahrscheinlichkeit falsch. „Der Spiegel“ zum Beispiel beschrieb Belgien 2016 als „dieses künstliche Gebilde, das irgendwann im 19. Jahrhundert aus einem Betriebsunfall der Geschichte entstanden ist, aus einer Rangelei großer Mächte […] Ein Gebilde, das optimistisch zusammenfügte, was ohne gemeinsame Geschichte war: das flämische Flandern, das frankophone Wallonien und Ostbelgien, in dem 76 000 Menschen Deutsch sprechen.“

An diesem Text stimmt gar nichts. Belgien entstand nicht aus einer Rangelei der Großmächte, im Gegenteil: Alle Großmächte bis auf Frankreich wollten, dass Belgien mit den Niederlanden in einem gemeinsamen Königreich vereint blieb. Erst als sich dies aufgrund des erfolgreichen Verlaufs der belgischen Revolution als unmöglich erwies, lenkten sie widerstrebend ein. Zu diesem Zeitpunkt, 1830/31, verband Flandern und Wallonien eine jahrhundertelange gemeinsame Geschichte. Unter wechselnden Bezeichnungen hatten die südlichen Niederlande seit vielen Generationen einen festen Platz auf der europäischen Landkarte. Belgien ist ein Land mit einem jungen Staat, aber einer langen Geschichte. Im Mittelalter war es neben Oberitalien die reichste und fortschrittlichste Region Europas. Und immer wurde hier sowohl Niederländisch als auch Französisch gesprochen. Das deutschsprachige Ostbelgien gab es 1830 allerdings noch nicht: Dieses Gebiet gehörte zum Königreich Preußen und kam erst nach dem Ersten Weltkrieg zu Belgien.

Das Beispiel aus dem „Spiegel“ ist keine Ausnahme. Immer wieder ist in deutschen Medien zu lesen, Belgien sei ein „Kunstgebilde“ – die gemeinsame Vorgeschichte von Flamen und Wallonen ist schlicht nicht bekannt. Eine deutschsprachige Geschichte Belgiens kann vor diesem Hintergrund nicht schaden. Es ist einigermaßen erstaunlich, dass es sie bisher noch nicht gab, denn zum einen ist Belgien eben doch ein direkter Nachbar Deutschlands mit zahlreichen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Verbindungen, und zum anderen sagt der belgische Schriftsteller Pierre Mertens zu Recht: „Wir haben eine großartige Geschichte voller Tragik und Dramatik, voller Stolz und Schande.“ Auch sei das Land „ein Laboratorium Europas, eine Metapher Europas. Alle Widersprüche und Gegensätze, die man in Europa findet, findet man auch in Belgien.“

Diese Geschichte möglichst verständlich und fair und dabei vielleicht auch noch unterhaltsam zu erzählen, ist der Anspruch dieses Buches.

Köln, im September 2018

Christoph Driessen

Vorwort zur 3. Auflage

Belgien ist ein unbekannter Nachbar – aber keiner, für den sich in Deutschland niemand interessiert. Diese Erkenntnis darf man wohl daraus ableiten, dass nunmehr schon die 3. Auflage der Geschichte Belgiens in Druck gehen kann. „Endlich kann ich auch meinem Bekanntenkreis in Deutschland ein Buch vorlegen, das mir komplizierte Erklärungen erspart“, schrieb mir eine flämische Brüsselerin. „Vielleicht wird Antwerpen jetzt nicht mehr so oft in Holland vermutet.“ Wenn dieser Band weiterhin einen kleinen Beitrag dazu leisten kann, das Interesse an Belgien zu wecken, freut mich das sehr.

Köln, im Januar 2023

Christoph Driessen

KAPITEL 1

Weltmarkt des Mittelalters – Eine große Vergangenheit

Schnittstelle der Kulturen.Die Anfänge in Antike und Frühmittelalter

In „Asterix bei den Belgiern“ müssen die Einwohner des unbesiegbaren gallischen Dorfes konstatieren, dass die von einem Feldzug in Belgien zurückgekehrten Römer den Aufenthalt bei ihnen geradezu als Erholungsurlaub empfinden. „Julius Cäsar hat gesagt, dass von allen gallischen Stämmen die Belgier am tapfersten sind“, eröffnet Asterix seinem Häuptling Majestix. Der macht sich daraufhin schnurstracks auf den Weg nach Norden, um den Belgiern zu zeigen, dass Cäsar sich geirrt haben muss. Dort angekommen, gibt ihm der belgische Chef Stellartoix die herablassende Empfehlung: „Bleib mit deinen Manneken hinter der Linie, wo’s unchefährlich ist, ja?“

Wie so oft hat auch dieser Asterix-Plot einen wahren Kern. Gleich zu Beginn von „De Bello Gallico“ stellt Cäsar klar: „Gallien ist in seiner Gesamtheit in drei Teile geteilt. Einen bewohnen die Belger, den anderen die Aquitaner und den dritten jene, die in ihrer eigenen Sprache Kelten, in unserer Sprache Gallier heißen. Sie alle unterscheiden sich in Sprache, Einrichtungen und Gesetzen voneinander. […] Die tapfersten von ihnen sind die Belger.“

Das Siedlungsgebiet der Belger erstreckte sich zu Cäsars Zeit (100–44 v. Chr.) in etwa von der Seine bis zum Rhein. Sowohl Cäsar als auch – ein Jahrhundert später – Tacitus berichten, dass die Belger von sich sagten, sie seien Kelten germanischen Ursprungs. Angenommen wird, dass sich zwischen 900 und 500 vor Christus, in der Eisenzeit, sowohl keltische als auch germanische Stämme im Gebiet des heutigen Belgien ansiedelten. Kelten und Germanen sprachen unterschiedliche Sprachen: die Kelten Keltisch, was heute noch im Bretonischen und Walisischen fortlebt, die Germanen eine Art Urgermanisch, die Vorläufer-Sprache des Deutschen, Niederländischen und Englischen.

Von 58 bis 50 vor Christus unterwarf Julius Cäsar ganz Gallien einschließlich der von den Belgern bewohnten Gebiete und verleibte sie dem römischen Imperium ein. Dabei rottete er die Belger großenteils aus (weshalb es höchst zweifelhaft war, dass sich die Belgier des 19. Jahrhunderts als Nachfahren der antiken Belger betrachteten). Die Bezeichnung Belger verschwand allmählich, doch als man sehr viel später, im 16. Jahrhundert, die Antike wiederentdeckte, erlebte der Begriff eine Renaissance: Das gesamte Gebiet der heutigen Benelux-Staaten wurde damals oft als Belgica bezeichnet. Belgien war ein Synonym für Niederlande. Als die Bewohner der südlichen Niederlande 1830 ihre Unabhängigkeit erklärten und einen Namen für ihr Land brauchten, griffen sie auf diese Bezeichnung zurück. Sie bedienten sich bei Julius Cäsar und nannten ihr neues Land Belgien.

Das von Cäsar eroberte Gallien wurde in drei Provinzen eingeteilt: Gallia Aquitania im Südwesten, Gallia Lugdunensis in der Mitte und Gallia Belgica im Norden. Diese Provinz reichte von der belgischen Nordseeküste bis zum Genfer See. Hauptstadt war Reims.

Das Leben in Gallien veränderte sich nach der Eroberung durch Cäsar völlig: Die römische Zivilisation hielt Einzug, und Gallien wurde ein wesentlicher Bestandteil des Imperiums. Die Gallier übernahmen weitgehend die römische Lebensform, es entstanden Städte – auf dem Gebiet des heutigen Belgien etwa Tongeren, Tournai und Arlon –, Aquädukte, Amphitheater, Badeanstalten und alles, was zum römischen Leben dazugehörte. Im späteren Belgien war die gallo-römische Kultur allerdings weniger ausgeprägt als im Gebiet des heutigen Frankreich. Dort verbreitete sich im Laufe der Zeit ein keltisch und germanisch beeinflusstes Vulgärlatein, aus dem sich das Französische entwickeln sollte. Die Sprachgrenze verlief in etwa entlang der römischen Heerstraße Via Belgica, die die Stadt Colonia Claudia Ara Agrippinensium – das heutige Köln – mit Gesoriacum – dem heutigen Boulogne-sur-Mer am Ärmelkanal – verband. Südlich davon wurde vor allem Vulgärlatein gesprochen, nördlich davon viel weniger. Faszinierend ist: Ungefähr entlang dieser Linie verläuft noch heute die belgische Sprachgrenze.

Die nächste Zäsur fiel in das Jahr 406: Der germanische Stamm der Franken überquerte den Rhein und eroberte Gallien. Dennoch setzte sich die Sprache der Franken dort nicht durch, das Vulgärlatein blieb erhalten. Dies wird unter anderem damit erklärt, dass Latein ein hohes Prestige besaß und die Franken außerdem das römische Verwaltungssystem übernahmen. Nur ganz im Norden Galliens, im heutigen Flandern, schoben die Franken die germanische Sprachgrenze in das eroberte Land vor, weil sich die gallo-römische Kultur dort nie so stark ausgebreitet hatte wie im Süden. So kommt es also, dass mitten durch das heutige Belgien die Grenze zwischen den germanischen und den romanischen Sprachen verläuft. Belgien liegt auf der Schnittstelle der beiden Kulturen.

Im Jahr 843 wurde das Erbe Karls des Großen im Vertrag von Verdun unter seinen Enkeln in drei Teile zerschnitten: das Westfrankenreich Karls des Kahlen, aus dem später Frankreich hervorging, das Ostfrankenreich Ludwigs des Deutschen, Ursprung des späteren Deutschland, und dazwischen ein von der Nordsee bis zum Mittelmeer reichendes Mittelreich Lothars I. Dieses Reich hatte keinen Bestand und wurde schon bald zwischen dem West- und dem Ostfrankenreich aufgeteilt. Das Gebiet des späteren Belgien lag auch hierbei genau auf der Grenze, so dass später ein Teil zum Königreich Frankreich gehörte und der andere zum Heiligen Römischen Reich. Der Fluss Schelde markierte die Grenze zwischen diesen beiden Teilen.

Ebenfalls ins 9. Jahrhundert fallen die Anfänge der Grafschaft Flandern. Heute wird mit diesem Begriff der niederländischsprachige Teil Belgiens bezeichnet. Die historische Grafschaft Flandern stand jedoch für etwas anderes. Sie erstreckte sich tief in das heutige Nordfrankreich hinein, bedeutende flandrische Städte waren zum Beispiel Lille und Douai. Dementsprechend wurde in Teilen Flanderns kein Niederländisch gesprochen (oder vielmehr keine Vorläufersprachen des Niederländischen), sondern Französisch. Im Frühmittelalter war Flandern ein schwer zugängliches Sumpfgebiet mit einer ausgefransten Küste, die deutlich weiter östlich verlief als heute. Keimzelle der Grafschaft Flandern waren Brügge und Gent, Siedlungen, die sich rund um die Reste römischer Verteidigungsanlagen entwickelten. Der Name leitet sich ab von pagus Flandrensis, der ursprünglichen Bezeichnung für die Gegend um Brügge. Pagus war ein römischer Distrikt, Flandrensis ist wohl von einem germanischen Wort für Flut, Strömung, Schlamm abgeleitet, also eine passende Umschreibung für das morastige Gebiet.

Aber auch Gent spielte von Anfang an eine wichtige Rolle. Der erste bekannte Graf von Flandern, Balduin I. mit dem Beinamen Eisenarm († 879), scheint zunächst Graf von Gent gewesen zu sein. 863 heiratete er die Tochter des westfränkischen Königs Karl des Kahlen und wurde daraufhin von diesem auch als Graf von pagus Flandrensis eingesetzt. Seine Nachfolger wussten dieses Gebiet kontinuierlich zu vergrößern. Zunächst wurde dafür die Bezeichnung Flandrae verwendet, in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts dann der Singular Flandria.

Als die Expansion der Grafen von Flandern in südlicher Richtung zunehmend auf Widerstand stieß, wandten sie sich nach Osten. So kam es, dass die Grafschaft eine geteilte Lehnshoheit hatte: Der größere, westlich der Schelde gelegene Teil unterstand der französischen Krone und hieß deshalb Kron-Flandern, der kleinere Teil östlich der Schelde, das sog. Reichsflandern, gehörte zum Heiligen Römischen Reich. Flandern war also ganz buchstäblich ein Gebiet auf der Grenze zwischen Frankreich und Deutschland. Erst 1529 verzichtete der französische König offiziell auf seine Ansprüche auf Flandern.

Faktisch haben die Grafen von Flandern aus ihrem Herrschaftsgebiet nach und nach einen eigenen Mini-Staat geschaffen, in dem weder der König von Frankreich noch der deutsche Kaiser viel zu sagen hatten. Sie taten das, indem sie dem Gebiet zum Beispiel ein einheitliches Recht aufzwangen, fast immer verhüllt in feierliche Verträge mit einzelnen Städten, in denen sie gelobten, deren Privilegien zu achten. Die Grafen schufen Anfänge einer zentralen Verwaltung, indem sie Beamte einstellten, sie sprachen Recht und ernannten in den Städten Schöffen, die ihnen dann wieder Loyalität schuldeten. Weil sie bald ein sehr reiches Gebiet regierten, verfügten sie über größere finanzielle Einkünfte als die meisten anderen Fürsten und deshalb über mehr Ansehen. All dies trug dazu bei, aus Flandern eine feste Größe zu machen. Die Grafen gründeten zudem neue Städte – darunter Ypern und Lille –, bauten Kanäle und riefen Messen ins Leben, die zum wirtschaftlichen Aufschwung beitrugen.

Wie bereits erwähnt, wurden in der Region seit jeher zwei Sprachen gesprochen: Das Herzland rund um Brügge und Gent sprach Niederländisch, der Süden Französisch. Auch der Hof des Grafen parlierte auf Französisch, ebenso der obere Klerus. Der Erzbischof von Reims, Fulko der Ehrwürdige, beschrieb das Niederländische um das Jahr 900 als eine „barbarische und wilde Sprache“. Sowohl in Frankreich als auch in England waren Flamen gleichbedeutend mit Barbaren.

Auch hier gelang es einer Grafendynastie, ihr Territorium durch Heirat, Krieg, Terror und Glück immer weiter auszubreiten. Keimzelle war Löwen, dann kamen Brüssel und später die Markgrafschaft Antwerpen hinzu. Zum Dank dafür, dass Graf Gottfried III. sich 1183/84 als Kreuzfahrer bei der Verteidigung von Jerusalem gegen Sultan Saladin ausgezeichnet hatte, erhob Kaiser Friedrich Barbarossa Brabant zum Herzogtum. Es gehörte nicht zu Frankreich, sondern war der westlichste Teil des Heiligen Römischen Reiches und umfasste die heutigen belgischen Provinzen Wallonisch-Brabant, Flämisch-Brabant, Antwerpen und Brüssel sowie die heutige niederländische Provinz Nord-Brabant.

Ein anderes langlebiges Herrschaftsgebilde, das seine Selbständigkeit sogar bis zur Annexion durch die Franzosen 1795 verteidigen konnte, war das Fürstbistum Lüttich. Sein Territorium war ein Flickenteppich von teilweise unverbundenen Enklaven. Es gehörte später weder zu Burgund noch zu den habsburgischen oder spanischen Niederlanden der Frühen Neuzeit, sondern war ein selbständiger Teil des Heiligen Römischen Reiches. Weitere Einheiten, die heute ganz oder teilweise zu Belgien zählen, waren die Grafschaften Hennegau und Namur, die Herzogtümer Luxemburg (das im 19. Jahrhundert geteilt werden sollte) und Limburg sowie die Herrlichkeit Mechelen. Dass diese Gebiete später einmal ein Land bilden sollten, war zu dieser Zeit noch nicht abzusehen. Im Gegenteil, man könnte manchen Grund finden, der dagegen sprach: Einige Gebiete gehörten zum Heiligen Römischen Reich, andere waren ein französisches Lehen, einige waren ausgesprochen städtisch geprägt, andere ländlich. Eine der wenigen Gemeinsamkeiten dieser sonst so unterschiedlichen Gebiete war ihre Zweisprachigkeit. Mit Ausnahme von Namur und des dünn besiedelten Luxemburg wurden alle sowohl von Französisch- als auch von Niederländischsprachlern bewohnt. Letztere wurden auf diese Weise mit der französischen Kultur konfrontiert und Erstere umgekehrt mit Einflüssen aus dem niederländisch-germanischen Raum. Dieser Austausch dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, dass die Gebiete an Maas und Schelde enge Handelskontakte sowohl nach Frankreich als auch in die deutschen Länder unterhielten. Man darf dabei allerdings nie vergessen, dass der Alltag im Mittelalter von Dialekten beherrscht wurde. Noch im Jahr 1549 klagten Gemeindemitglieder im limburgischen Venlo darüber, dass sie das Niederländisch ihres aus Brabant stammenden Priesters nicht verstehen könnten, dabei kam dieser aus einem Ort, der gerade einmal 60 km entfernt war.

Das vergleichsweise kleine Gebiet zwischen Nordsee und Ardennen war also seit seinen frühesten Anfängen durch enorme Vielfalt gekennzeichnet. Es war ein Grenzland, das ebenso von Frankreich wie vom deutschen Raum beeinflusst war. Seit Menschengedenken wurden dort unterschiedliche Sprachen gesprochen. Dass im heutigen Belgien Flamen und Wallonen in einem Staat zusammenleben, ist also nichts „Unnatürliches“ oder „Künstliches“, wie immer wieder behauptet wird, sondern vielmehr das hervorstechendste Merkmal dieser Region seit frühesten Tagen.

Porträt: Ambiorix

Ein belgischer Asterix

1861 besuchte der belgische Kronprinz, der spätere König Leopold II., die Walhalla bei Regensburg, eine Hall of Fame des 19. Jahrhunderts. Leopold war beeindruckt: So etwas könnte auch der junge belgische Staat gebrauchen, notierte er in sein Tagebuch. Ein solcher Tempel müsse alle Großen vereinen, „die unsere Provinzen hervorgebracht haben, von Ambiorix, der die Römer aufhielt, bis auf den heutigen Tag“. Aus Kostengründen wurde das Projekt nie verwirklicht, doch Ambiorix bekam sein eigenes Denkmal auf dem Marktplatz von Tongeren, Belgiens ältester Stadt in der Provinz Limburg. Im Beisein Leopolds wurde es 1866 enthüllt. Ein örtlicher Schmied soll für die muskulöse Figur Modell gestanden haben. Heutige Betrachter fühlen sich durch den Flügelhelm und den buschigen Schnäuzer unwillkürlich an Asterix erinnert.

Ambiorix ist der bekannteste „Belgier“ der Antike. Allerdings stellten die vorliegenden Informationen für patriotische Belgier auch ein Problem dar, denn im Grunde sind sie für Ambiorix wenig schmeichelhaft. Cäsar berichtet, dass ein Teil des römischen Heers im Jahr 54 v. Chr. im Gebiet des Stamms der Eburonen irgendwo zwischen Rhein und Maas überwinterte. Cäsar zufolge warnte Ambiorix die Römer, dass alle Winterlager angegriffen werden sollten. Er rief den Kommandanten Quintus Titurius Sabinus auf, das befestigte Lager sofort zu verlassen und sich zu den anderen Heeresteilen zu begeben, wofür er ihm freies Geleit zusicherte. Wie sich zeigte, war das Ganze ein Hinterhalt: Die Römer wurden von den Eburonen angegriffen und niedergemetzelt. Einem römischen Geschichtsschreiber zufolge bedeutete die Niederlage für Cäsar einen solchen Schock, dass er schwor, seine Haare nicht eher wieder schneiden zu lassen, als bis er sich dafür gerächt hatte. Eben das tat er umgehend – vom Volk der Eburonen blieb kaum jemand übrig. Abgesehen davon dass Ambiorix seinem Volk also einen Bärendienst erwiesen hat, ist er der Schilderung zufolge auch noch ein wortbrüchiger Verräter. Die späteren Verteidiger seines Heldenstatus verlegten sich deshalb darauf, entweder die Verlässlichkeit von Cäsars Bericht in Zweifel zu ziehen oder aber Ambiorix’ Vorgehen als intelligente List hinzustellen. Gedichte und Theaterstücke verherrlichten seine Taten, der Historiker Louis Hymans rühmte ihn als „Sinnbild von Tapferkeit und Selbstaufopferung für das Vaterland“. Diese Verehrung konnte Ambiorix nur deshalb zuteil werden, weil er genau dem Nationalmythos entsprach, der sich im 19. Jahrhundert in Belgien herausgebildet hatte: Demnach waren die Belgier seit den Tagen von Julius Cäsar fortwährend von fremden Mächten unterdrückt worden, bis sie in der Revolution von 1830 „nach achtzehn Jahrhunderten des Leidens und Streitens“ ihre Freiheit wiedergewannen. So entstand 1800 Jahre nach dem Tod des historischen Ambiorix eine Gestalt, die nur unwesentlich weniger fiktiv war als zum Beispiel – Asterix.

Ambiorix, der Belger. 1866 errichtete Statue auf dem Marktplatz von Tongeren.

Leoparden gegen Lilien.Die Grafschaft Flandern

18. Mai 1302. Tiefe Nacht. Über den schwarzen Grachten von Brügge liegt eine trügerische Ruhe. Trügerisch deshalb, weil in den Stiegen, Höfen und Durchgängen der Handwerkerviertel niemand an Schlaf denkt. So geräuschlos wie möglich rüsten sich die Männer mit allem aus, was als Waffe zu gebrauchen ist: Spieße, Äxte, Fleischermesser … Einige, die zur Bürgermiliz gehören, verfügen auch über Schwerter. Die Männer haben es auf die Besatzungssoldaten abgesehen: Der französische König Philipp IV. (1268–1314) – Beiname der Schöne – hat Flandern besetzt und seinem Reich einverleibt. Der Graf von Flandern, Guido von Dampierre (um 1226–1305), ist sein Gefangener und kann nichts mehr ausrichten. Guido hatte sich zuvor von der französischen Krone losgesagt und mit dem englischen König Eduard I. verbündet. Die Patrizier in Brügge und anderen flandrischen Städten unterstützten dagegen Philipps Bemühungen, Flandern zu annektieren. Guido betrachten sie als Gegner, weil er ihnen ihre Privilegien streitig macht und auch Bürger aus anderen als den reichsten, alteingesessenen Familien an der Stadtregierung beteiligen will. Um das zu verhindern, ist den Patriziern jedes Mittel recht – sogar die Einverleibung Flanderns durch Frankreich. Daher auch ihr Beiname Leliaerts – Lilien: Es ist eine Anspielung auf diese Blume im französischen Königswappen. Ihre Gegner werden liebaerds genannt, was Leoparden bedeutet und auf das Wappentier von Flandern, den Löwen, anspielt. Später wird auch die Bezeichnung clauwaerds populär werden, nach den Klauen des Löwen. Die Handwerker und einfachen Bürger von Brügge zählen fast alle zu den liebaerds, nicht so sehr, weil sie nun alle eingefleischte flämische Patrioten sind, sondern weil ihnen der König hohe Steuern abverlangt. Die Personifizierung der als ungerecht empfundenen Fremdherrschaft ist der von König Philipp als Gouverneur von Flandern angestellte Edelmann Jacques de Châtillon. Er will nicht begreifen, dass man die flandrischen Städte nicht regieren kann wie französische. Denn erstens sind sie – von Paris einmal abgesehen – viel, viel größer, und zweitens ist ihre Bevölkerung aufgrund der alles beherrschenden Tuchindustrie ganz anders strukturiert. In den flandrischen Städten herrschen gewaltige soziale Gegensätze: An der Spitze stehen die märchenhaft reichen Patrizier, die Masse der Bevölkerung aber besteht aus einem vorindustriellen Arbeiterproletariat. Immer wieder erschüttern soziale Unruhen den gesellschaftlichen Frieden. Die Handwerker und Arbeiter sind gut organisiert, denn die Tuchproduktion erfordert unterschiedlichste Arbeitsgänge, was zur Bildung vieler verschiedener Zünfte geführt hat: Spinner, Weber, Walker, Färber, Scherer … Alle haben ihre eigene Vertretung. Meist liegen sie miteinander über Kreuz, aber allen gemeinsam ist der Hass auf den König und die Patrizier. Sie sind sogar bereit, dafür zu den Waffen zu greifen. Der letzte Gewaltausbruch liegt erst zweieinhalb Wochen zurück. Unter Führung des Fleischers Jan Breydel und des Webers Pieter de Coninck haben einfache Brügger am 1. Mai die nahe gelegene Burg Male erstürmt und die dort stationierte französische Garnison niedergemetzelt. Anschließend sind Breydel und de Coninck geflohen.

Die französischen Soldaten in Brügge ahnen nicht, welche Gefahr ihnen droht. Alles liegt in tiefem Schlaf, als die Aufständischen durch die Gassen huschen. Plötzlich Lärm: Türen und Fenster werden aufgebrochen, schon stehen die Angreifer in den Quartieren der Soldaten. Es geht alles so schnell, dass keine Zeit bleibt, sich zu verteidigen. Wenn nicht sofort klar ist, ob man wirklich einen Franzosen vor sich hat, verlangen die Brügger ganz einfach, ihre Parole schilt en vriend (Schild und Freund) nachzusprechen. Es sind Wörter, an deren Aussprache sich besonders gut feststellen lässt, ob man einen native speaker vor sich hat. Ein französischer Akzent – eskild statt schilt – bedeutet in diesem Fall das Todesurteil. Wer es schafft, nach draußen zu fliehen, ist noch lange nicht gerettet: Frauen werfen Bänke und Sättel aus den Fenstern.

Als die Glocken der Liebfrauenkirche zur Frühmette läuten, sind mindestens 120 Franzosen tot und 85 Ritter gefangen – für sie können hohe Lösegelder erpresst werden. Die meisten, unter ihnen der verhasste Gouverneur de Châtillon, schaffen es allerdings, sich in Sicherheit zu bringen. Das Massaker bleibt als „Brügger Frühmette“ in Erinnerung.

Die Antwort von König Philipp lässt nicht lange auf sich warten: Er entsendet ein gewaltiges Ritterheer. Sobald seine Truppen den Teil Flanderns erreicht haben, in dem kein Französisch mehr gesprochen wird, beginnen sie damit, die Bevölkerung zu tyrannisieren – zumindest vermerkt das der zeitgenössische Verfasser der „Annalen von Gent“. Die Aufständischen aus Brügge, unterstützt von Bauern aus der Umgebung und Gleichgesinnten aus Ypern und Gent, stellen in aller Eile eine eigene Streitmacht auf. Am 11. Juli 1302 stehen sich die beiden ungleichen Armeen bei Kortrijk in Westflandern gegenüber. Auf der einen Seite hat sich unter zahllosen Wappenbannern ein hervorragend ausgerüstetes Heer von Panzerreitern formiert, die Crème de la Crème des französischen Adels. 2700 Edelleute in Ganzkörperrüstung hoch zu Ross, befehligt vom ruhmbedeckten Grafen Robert von Artois, seines Zeichens Kreuzritter, Eroberer von Pamplona und vorübergehend Regent des Königreichs Neapel. Unterstützt werden die Ritter von etwa 4000 Fußsoldaten, unter ihnen 1000 Armbrustschützen. Und auf der anderen Seite? Da zählt man lediglich 350 Reiter, dafür aber 10 000 Fußsoldaten. Ihre Ausrüstung ist der ihrer Gegner weit unterlegen: Sie tragen einfache Stangenwaffen mit dem Beinamen Goedendag, da sich damit recht nachdrücklich an die Ritterhelme anklopfen lässt. Den „Annalen von Gent“ zufolge zählt die gesamte Armee der Flamen nicht mehr als zehn Ritter. Diese beginnen den Tag mit einer geradezu revolutionären Geste: Sie steigen vom Pferd und schützen ihren Kopf nur mit dem gleichen offenen Helm, wie ihn das Gros ihrer Streitmacht trägt. Zudem schlagen sie vor aller Augen etwa 30 Anführer des gemeinen Volks zu Rittern, darunter Metzger, Weber und Tuchwalker. Auch Pieter de Coninck und seine beiden Söhne werden auf diese Weise erhoben. Die Botschaft: Jeder hat an diesem Tag die Chance, ein Ritter zu werden. Gleichzeitig machen die flandrischen Kommandanten aber auch deutlich, dass jeder Fluchtversuch mit dem Tod bestraft wird. Das Gelände eignet sich sowieso nicht zum Ausreißen: An drei Seiten wird es entweder von Bächen oder von den Stadtmauern von Kortrijk umschlossen. Und gegenüber steht das feindliche Ritterheer.

Gegen Mittag beginnt die Schlacht mit dem Vorrücken der Franzosen. Überall surrt und zischt es in der Luft – das sind die Pfeile der Armbrustschützen. Die Flamen können sie jedoch meist mit ihren Schilden abwehren. Schließlich reiten die Ritter auf die flandrischen Linien zu, wobei sie über zwei Bäche hinwegsetzen müssen, keine Kleinigkeit mit ihren schweren Metallpanzern. Aber dies ist eben Flandern, ein Land voller Wasserläufe und Moraste, ungewohnt für die hohen Herren aus dem Süden. Einmal auf der anderen Seite, preschen sie auf die flandrischen Fußsoldaten zu. Bisher hat dieser Anblick meist ausgereicht, um den Gegner in Panik zu versetzen und auseinanderzutreiben. Doch die flandrischen Helme, Schilde, Lanzen und Spieße bewegen sich nicht. Zwar wird die Mauer nun an mehreren Stellen von den Reitern durchbrochen, doch insgesamt hält sie stand. Und die Flamen schlagen zurück. Ihre bevorzugte Kampfmethode ist alles andere als ritterlich, aber dafür sehr effektiv: Sie verletzen die Pferde mit ihren Goedendags so stark, dass sie stürzen. Danach sind die Panzerritter so hilflos wie ein auf den Rücken gefallener Käfer. Auch ihrem Oberbefehlshaber ergeht es so. „Ich bin der Graf von Artois“, sagt er zu den ihn umringenden Flamen. Er ist sich sicher, gefangen genommen zu werden, denn für ihn kann man ein astronomisch hohes Lösegeld erpressen. Doch von solchen ritterlichen Bräuchen wissen die Handwerker aus den flandrischen Städten nichts. Sie haben den Befehl, keine Gefangenen zu machen. „Hier ist kein Edelmann, der Eure Sprache versteht“, ist ihre Antwort – jedenfalls behauptet das eine zeitgenössische Chronik. Der Graf wird totgeschlagen.

Verzweifelt versuchen die Franzosen, sich zu einer neuen Angriffswelle zu formieren, doch sie finden nicht den Raum dafür, weil sie die beiden Bäche im Rücken haben. Als die Abendsonne das Schlachtfeld bescheint, liegen dort etwa 1250 tote Ritter aus Frankreich, unter ihnen 60 Herzöge, Prinzen und Grafen. Auch der verhasste Gouverneur Jacques de Châtillon lebt nicht mehr. Die Nachricht, dass ein Ritterheer von Fußsoldaten besiegt worden ist, ist so sensationell, dass bei ihrem Eintreffen in Rom sieben Tage später Papst Bonifatius VIII. geweckt wird. In Paris schwirrt unterdessen das Gerücht umher, die Flamen hätten Philipp IV. abgesetzt und stattdessen einen Weber als König Peter inthronisiert. Ohne Zweifel geht dies auf den Namen des Rebellenführers Pieter de Coninck – übersetzt: Peter der König – zurück. Auf dem Schlachtfeld finden die Flamen die Sporen der gefallenen französischen Ritter: Metallspitzen an den Schuhen zum „Anspornen“ der Pferde. Weil sie diese Sporen als Trophäen aufbewahren, erhält die Schlacht später den klangvollen Namen Guldensporenslag – die Schlacht der Goldenen Sporen.

Die Bedeutung der Schlacht für den gesamten niederländischen Raum ist kaum zu überschätzen: Flandern gewann dadurch seine Selbständigkeit zurück anstatt dauerhaft in Frankreich aufzugehen. Zudem setzten sich einfache Arbeiter und Handwerker gegen Patrizier, Adlige und den mächtigsten König der Christenheit durch. Wenige Tage nach der Schlacht wurden die Patrizier-Regierungen in Gent und Ypern ebenso gestürzt wie zuvor schon jene in Brügge. Dies bedeutete nicht weniger als eine politische und soziale Revolution. Fortan besaßen das Bürgertum und die Handwerkerzünfte in den Stadtregierungen aller drei großen flandrischen Städte immer ein erhebliches Mitspracherecht. Die weitgehendsten Rechte hatten die Zünfte in Brügge, das die Rebellion angeführt hatte. Eine so frühe Emanzipierung des Bürgertums und des einfachen Volks ist in der europäischen Geschichte einzigartig. Zudem strahlten die Geschehnisse in Flandern auf benachbarte Gebiete aus: Auch in Lüttich, Mechelen und in den Städten von Brabant kamen die Handwerker in Aufstand und forderten Mitsprache. Als Folge davon wurde etwa Lüttich ab 1303 von einem Stadtrat regiert, der zur Hälfte aus Handwerkern bestand.

Das Land der Städte. Ballung des Textilgewerbes in der Grafschaft Flandern.

Philipp der Schöne fand sich mit seiner Niederlage allerdings nicht ab und errang 1304 militärische Erfolge gegen die Flamen auf dem Land und zur See. Der Nachfolger des mittlerweile gestorbenen Guido von Dampierre, Robert III. von Flandern, schloss daraufhin 1305 mit Philipp den Friedensvertrag von Athis-sur-Orge. Darin erhielt Flandern seine Selbständigkeit als französisches Lehen offiziell zurück. Im Gegenzug wurde vor allem Brügge zu gigantischen Strafzahlungen an die französische Krone verpflichtet. Als Pfand erhielt der König den Süden Flanderns mit den Städten Lille und Douai. Nun zeigte sich jedoch, dass der Graf von Flandern keine wirkliche Kontrolle mehr über die großen Städte hatte, denn diese weigerten sich schlicht, den Vertrag anzuerkennen. Daraufhin erklärte sich Philipp der Schöne 1312 im Vertrag von Pontoise dazu bereit, die Bußen stark zu verringern, wofür der Graf von Flandern Lille und Douai dauerhaft an Frankreich abtreten musste. Endgültig war dies dann aber doch nicht: 1369 kehrten sie noch einmal zu Flandern zurück. Die Ereignisse hatten deutlich gemacht, dass die flandrischen Städte fast wie autonome Republiken agierten. Die Macht der Großen Drei – Gent, Brügge und Ypern – zeigte sich auch darin, dass sie ihren Einflussbereich allmählich auf ihr Umland ausdehnten, ähnlich wie die norditalienischen Städte Florenz und Mailand. Dadurch konnten sie sich bis zu einem gewissen Grad selbst mit Lebensmitteln versorgen. Allerdings erreichten sie nie ganz den Status unabhängiger Stadtstaaten, dazu war der Einfluss der flandrischen Grafen und später der burgundischen Herzöge trotz aller Einschränkungen zu groß.

Stichwort: Die Schlacht der Goldenen Sporen

Wie man Geschichte instrumentalisiert

Als die Deutschen 1914 in Belgien einfielen, wollte König Albert I. seine Untertanen an ein glorreiches Ereignis aus ihrer Geschichte erinnern, damit sie daraus Mut schöpfen konnten. Es fiel ihm aber keines ein, das sowohl Flamen als auch Wallonen ansprach. Deshalb appellierte er: „Flamen, gedenkt der Schlacht der Goldenen Sporen! Wallonen, gedenkt der 600 Franchimonteser!“ Letztere hatten 1468 trotz starker Unterlegenheit einen Verzweiflungsangriff auf das Lager des burgundischen Herzogs Karl des Kühnen ausgeführt, der gegen Lüttich vorrückte, um die in seinen Augen ungehorsame Stadt zu bestrafen. Die Schlacht der Goldenen Sporen wiederum gilt als größter Sieg, den die Flamen je errungen haben. Sie ist ein perfektes Beispiel dafür, wie historische Ereignisse im Nachhinein verdreht und politisch instrumentalisiert werden können. Die Umdeutung erfolgte zunächst vor dem Hintergrund der belgischen Staatengründung. Der Antwerpener Maler Nicaise de Keyser schuf 1836 ein viel bewundertes Monumentalgemälde der Schlacht, in der die Zeitgenossen ihren erst wenige Jahre zurückliegenden Freiheitskampf gegen die Niederlande wiedererkannten. Noch weit einflussreicher war das 1838 erschienene Buch zur Schlacht, „Der Löwe von Flandern“ von Hendrik Conscience. Dieser historische Roman war so ungeheuer populär, dass Conscience als „der Mann, der das Volk lesen lehrte“, bekanntwurde. Der Fleischer Jan Breydel, der in Consciences Erzählung die flandrischen Handwerker in die Schlacht führt, stieg dadurch Jahrhunderte nach seinem Tod zum Volkshelden auf und bekam 1887 zusammen mit seinem Mitstreiter Pieter de Coninck ein Denkmal auf dem Grote Markt in Brügge. Conscience wollte mit seinem Werk eigentlich den Patriotismus aller Belgier stärken. Im Laufe der Zeit entwickelte sich die Schlacht jedoch zum Narrativ der flämischen Nationalisten. Ihr Jahrestag am 11. Juli wurde 1973 sogar der offizielle Feiertag von Flandern. In diesem Kontext gilt die Schlacht als Höhepunkt eines jahrhundertelangen flämischen Widerstandskampfes gegen die übermächtigen französischen Fremdherrscher mitsamt ihrer Sprache. In Wahrheit waren die Fronten im Jahr 1302 weit weniger übersichtlich: Keineswegs alle Flamen waren Feinde des französischen Königs – die großen Patrizierfamilien unterstützten ihn. Umgekehrt kämpften auch französischsprachige Flamen gegen Frankreich. Ursache des Konflikts war ein Feudalstreit zwischen dem König von Frankreich und dem Grafen von Flandern, der aber kein Niederländisch sprach, sondern Französisch. Dazu kamen soziale Auseinandersetzungen innerhalb der flandrischen Städte. Fragen von Sprache und Nation spielten eine untergeordnete Rolle. Von ähnlich großer Bedeutung wie die Schlacht der Goldenen Sporen war im Übrigen die Schlacht von Worringen im Jahr 1288: Ihr Ausgang – ein unerwartet deutlicher Sieg über den Erzbischof von Köln – sicherte den Fortbestand Brabants als unabhängiges Herzogtum. Da sich diese Schlacht aber nicht in den Kontext des heutigen Sprachenstreits einbetten lässt, ist sie in Belgien kaum bekannt.

Außerdem herrschten innerhalb der Stadtmauern oft chaotische Zustände. Immer wieder kam es zu Aufständen und blutigen Fehden unter den führenden Familien, vergleichbar mit heutigen Rachefeldzügen zwischen Mafia-Clans. Unter diesen Umständen gelang es mitunter einzelnen Bürgern, die Regierung einer Stadt zu übernehmen und große Politik zu machen. Der berühmteste von ihnen war Jacob van Artevelde, der zum Herrscher von Gent aufstieg, als solcher ganz Flandern dominierte und eine Rebellion sowohl gegen Graf Ludwig I. als auch gegen den französischen König anzettelte. Die Mentalität der städtischen Gesellschaft spiegelt sich auch in dem zu van Arteveldes Zeit in der Gegend von Gent entstandenen Tierepos „Van den vos Reynaerde“ (Vom Fuchs Reineke): Anpassungsvermögen, List und Einfallsreichtum triumphieren hier über althergebrachte Ideale wie Ritterlichkeit und Aufrichtigkeit.

Die Städte brachten ihre Macht in einer eigenen Architektur zum Ausdruck: Neben den Türmen der Kathedralen und Kirchen wuchsen Belfriede empor, massige, wehrhafte Glockentürme, in denen die wichtigsten Urkunden des städtischen Gemeinwesens aufbewahrt wurden. Die 134 m lange Tuchhalle von Ypern mit einem 70 m hohen Belfried, erbaut im 13. Jahrhundert, war eines der ersten Profanbauwerke der Gotik und blieb für immer eines der größten. Mit dem Riesenbau wollte die Stadt offensichtlich kompensieren, dass sie von den „Großen Drei“ nur die kleinste war.

Auch im Herzogtum Brabant errangen einige Städte ein hohes Maß an Selbstständigkeit, allerdings war die Entwicklung dort nicht so stürmisch wie in Flandern. Ein Meilenstein war 1312 die Charta von Kortenberg, die als Vorläufer einer Verfassung betrachtet werden kann. Sie regelte die Rechtsprechung, garantierte die Privilegien und Freiheiten der Städte, schränkte die Befugnis der Herzöge zur Erhebung von Steuern ein und begründete ein Beratungsgremium mit Abgesandten der Städte. Herzog Johann II. unterschrieb die Charta auf seinem Sterbebett. Heute wird sie als die früheste Urkunde betrachtet, die auf dem europäischen Festland die Rechte der Bürger festschrieb. In England war ein Jahrhundert früher – 1215 – schon die Magna Charta besiegelt worden, die allerdings nur die Rechte des Adels verbriefte, während sich die Charta von Kortenberg ausdrücklich auf alle „Leute, reiche und arme“, bezog.

1356 wurden diese Rechte in der Blijde Incomst noch weiter ausgebaut. Bljide Incomst – auf Französisch Joyeuse Entrée – bedeutet wörtlich übersetzt Froher Einzug und bezeichnet eine Tradition, bei der ein neu angetretener Herzog in eine Stadt einzog und von der Bevölkerung als rechtmäßiger Herrscher anerkannt wurde. Im Gegenzug garantierte der Herzog die Freiheiten und Privilegien der Stadt. Als 1356 Johanna, die Herzogin von Brabant und Limburg, nach Löwen kam – zu dieser Zeit mit 20 000 Einwohnern die größte Stadt von Brabant –, wurde bei dieser Gelegenheit zusätzlich eine Charta unterzeichnet, die die fürstliche Macht noch einmal deutlich beschnitt. Johanna musste sich dazu bereitfinden, weil ihre Ansprüche auf das Herzogtum umstritten waren. Im heraufziehenden Brabanter Erbfolgekrieg wollte sie sich der Unterstützung der Städte und des Adels versichern. Die Charta, die sog. Blijde Incomst van Brabant, bestimmte, dass der Fürst ohne Zustimmung der Städte keinen Krieg führen und keine Steuern erheben durfte. Für den Fall dass sich die Herzogin – und ihre Nachfolger – nicht an die Regelungen halten sollten, wurde den Untertanen ein Widerstandsrecht zugestanden. Diese Ungehorsamkeitsklausel machte nachhaltigen Eindruck: Noch im 16. Jahrhundert beriefen sich darauf die Rebellen im niederländischen Freiheitskampf gegen den König von Spanien.

Die Geschäfte des Herrn van der Buerse.Industrie und Handel

Die „Arnolfini-Hochzeit“ ist eines der berühmtesten Bilder der Welt – und gleichzeitig eines der rätselhaftesten. So stimmen die Experten weder darin überein, dass es eine Hochzeit darstellt, noch dass ein Arnolfini abgebildet ist. Einigkeit besteht nur in drei Punkten: Es ist ein Werk des Malers Jan van Eyck, es entstand 1434, und es zeigt ein Bürgerpaar aus Brügge.

Porträt: Jacob van Artevelde

Bürger von Gent

Im Jahr 1337 befand sich Gent in einer verzweifelten Situation. Zwischen England und Frankreich kriselte es – es war der Beginn eines Konflikts, den man später den Hundertjährigen Krieg nennen sollte. Flandern war dabei dem König von Frankreich als seinem Lehnsherrn verpflichtet. Die Folge: Gent und die flandrischen Städte bekamen keine Wolle mehr aus England. Ohne Wolle kein Tuch, ohne Tuch kein Brot – Flandern hungerte. In dieser kritischen Lage kam es am 28. Dezember 1337 zu einem Volksauflauf auf einem morastigen Feld vor den Stadttoren. Dabei muss ein Mann eine Rede gehalten haben, die die Bevölkerung elektrisierte, denn sechs Tage später wurde die Stadtregierung ausgetauscht – und fortan stand an ihrer Spitze der Bürger Jacob van Artevelde (um 1290–1345). Dieser Mann vollbrachte Dinge, die man vorher für unmöglich gehalten hätte: Er bewegte die tödlich verfeindeten Zünfte der Weber und Tuchwalker dazu, friedlich zusammenzuarbeiten. Weder vor ihm noch nach ihm hat das irgendwer geschafft. Das gleiche Kunststück gelang ihm im Hinblick auf Gents große Rivalen Brügge und Ypern: Die drei Städte schlossen sich zusammen, um gemeinsam für ihre Interessen einzutreten – ein Ende des Wollboykotts. Van Artevelde vollzog dazu einen radikalen Bruch in der Außenpolitik: Am 26. Januar 1340 erkannten die flandrischen Städte auf dem Genter Marktplatz den anwesenden englischen Monarchen Eduard III. als König von Frankreich an. Das zahlte sich umgehend aus: Eduard beendete den Wollboykott, Flandern konnte wieder an die Arbeit gehen. Durch das Städtebündnis mit Gent an der Spitze wurde van Artevelde zum De-facto-Herrscher von ganz Flandern. Auf Augenhöhe verhandelte er fortan mit Königen – ohne dabei vorzugeben, mehr zu sein, als er war. Wenn er an Eduard schrieb, unterzeichnete er als „Bürger von Gent“. Das Bündnis mit England brachte allerdings auch Nachteile, da Flandern ebenso von Getreide-Importen aus Frankreich abhängig war. Als 1345 auch noch der Friede zwischen den verfeindeten Zünften zerbrach, löste sich van Arteveldes Machtbasis auf: Seine Position gründete schließlich nicht auf hoher Geburt, sondern ausschließlich auf Erfolg. In einer Gasse hinter seinem Haus wurde er von einer aufgebrachten Menge erschlagen. Sein Sohn Philipp van Artevelde (1340–1382) konnte 1381/82 noch einmal eine ähnlich beherrschende Position in Gent erobern, wurde jedoch in einer Schlacht gegen die Franzosen getötet. Danach fiel Jacob van Artevelde lange der Vergessenheit anheim, doch im 19. Jahrhundert erlebte er ein Comeback. Der junge belgische Staat hatte ein akutes Bedürfnis an Nationalhelden, und der kämpferische Flame schien für diese Rolle bestens geeignet. 1863 erhielt der „weise Mann von Gent“ auf dem Marktplatz seiner Heimatstadt ein kolossales Standbild. „Er hatte schon die belgische Nation im Sinn und gab sein Leben dafür, diesen Traum zu verwirklichen“, behauptete der Bürgermeister bei der Enthüllung. In den Folgejahren wurde van Artevelde auch noch zur Symbolfigur der flämischen Sozialisten, die in ihm ihren eigenen Kampf für die Rechte der Arbeiter wiedererkennen wollten.

Meine Frau, mein Haus, mein Hund. Die „Arnolfini-Hochzeit“ von Jan van Eyck.

Das erste, was man wahrnimmt, wenn man sich in der National Gallery in London zu dem 80 x 60 cm großen Bild vorgearbeitet hat, ist die feierliche Ruhe und Würde, die es ausstrahlt. Als nächstes erstaunen die leuchtenden Farben und die Plastizität der beiden Figuren, die Tiefenwirkung des Zimmers, die Präzision winzigster Details, nur vergleichbar mit heutigen hochauflösenden Fotografien. Obwohl Ölfarben um 1430 noch nicht lange in Gebrauch waren, wusste van Eyck auf virtuose Weise damit umzugehen. Er entwarf täuschend echt aussehende Oberflächen und Lichteffekte. Man glaubt, den weichen Pelzmantel des Mannes fühlen und den schweren Stoff des Frauenkleids über den Fußboden gleiten zu hören. Wenn diese Kunst selbst einen modernen Betrachter noch gefangen nimmt, wie muss das Bild erst auf einen Menschen des 15. Jahrhunderts gewirkt haben? Bis heute wird gerätselt, wie van Eyck solche fotorealistischen Bilder zustande bringen konnte und ob er eventuell Projektionsvorrichtungen als Hilfsmittel benutzt hat. Viele prunkvolle Details unterstreichen den Reichtum des Paars: Auf der Fensterbank und auf einem Tisch liegen erlesene Zitrusfrüchte aus Südeuropa, der Teppich auf dem Boden ist aus dem Orient importiert, die Fenster sind aus Glas, noch dazu aus farbigem wie in der Kirche. Auch ein Messingleuchter war ein absolutes Luxusobjekt: Er erlaubte es seinem Besitzer, die Nacht zum Tage machen und den Einbruch der Dämmerung zu ignorieren. Ein Spiegel, wie er hinten an der Wand hängt, war für die meisten Menschen ebenfalls unerschwinglich: Sie sahen ihr Gesicht zeitlebens höchstens im Wasser.

Gleichzeitig ist jedoch offensichtlich, dass hier kein königliches oder auch nur adliges Paar dargestellt ist. Die Schleppe der Frau ruht auf Holzdielen, nicht auf Marmorplatten. Und die Pantinen, die der Mann abgestreift hat, beweisen, dass er sich draußen zu Fuß bewegt – nicht auf einem Pferd, in einer Kutsche oder in einer Sänfte. Die Pantinen trägt er, damit seine weichen Lederschuhe im Straßendreck nicht schmutzig werden. Nein, es sind keine Aristokraten, die sich hier verewigen lassen, es sind Bürger. Und das ist eine Premiere: Die „Arnolfini-Hochzeit“ ist das erste Bürgerporträt überhaupt. Mehr noch: Es ist das Abbild einer frühen bürgerlichen Konsumgesellschaft, die über Handelsbeziehungen mit weit entfernten Teilen der Welt in Verbindung steht. Ein solches Bild konnte im 15. Jahrhundert nur an einem Ort der Welt entstehen – in der von Bürgern beherrschten Stadt Brügge, der wichtigsten Handelsmetropole Nordeuropas.

Brügge war jahrhundertelang die reichste Stadt der Grafschaft Flandern, und Flandern wiederum war so reich und mächtig, dass es noch lange als Synonym für die südlichen Niederlande – das heutige Belgien – verwendet wurde, so wie man Holland oft mit den nördlichen Niederlanden gleichsetzt. Flandern war die am stärksten urbanisierte Landschaft des Mittelalters; mehr als ein Drittel der Bevölkerung lebte dort in Städten. Damit übertraf es sogar Oberitalien, wo die Städte viel weiter auseinander lagen. Die flandrischen Städte erreichten für die damalige Zeit riesige Ausmaße. Die gewaltigste von allen war Gent, die größte Stadt nördlich der Alpen nach Paris (dessen Einwohnerzahl sich um die 90 000 bewegte). Gent war größer als London, größer als Köln. Köln, die größte deutsche Stadt, kam auf 40 000 Einwohner. Gent hatte mindestens 64 000. Östlich des Rheins gab es überhaupt nichts mehr, was sich in irgendeiner Weise mit diesen Metropolen messen konnte. Noch Kaiser Karl V. (1500–1558) soll gesagt haben: „Je mettrai Paris dans mon Gand“ – „Ich könnte ganz Paris in mein Gent stecken.“ Der Satz spielt mit dem gleichlautenden Wort gand – Handschuh – so dass er auch heißen könnte: „Ich könnte ganz Paris in meinen Handschuh stecken.“ Brügge besaß um 1300 mindestens 46 000 Einwohner, Saint-Omer 35 000, Atrecht (Arras), Douai und Lille jeweils 30 000. Das Domkapitel von Ypern schätzte die Einwohnerzahl dieser Stadt im Jahr 1258 auf 40 000. Flandern zählte darüber hinaus noch mehrere Dutzend kleinere Städte, von denen einige wie Kortrijk, Sluis, Béthune und Hesdin zwischen 5000 und 10 000 Einwohner stark waren.

Die Wirtschaftskraft der flandrischen Städte beruhte ganz überwiegend auf der Tuchindustrie. Die Grundlage dafür war das Vorhandensein großer Mengen von Schafwolle. Die sandigen Böden des Landes wurden als Weiden genutzt. Schon Cäsar erwähnte, dass die meisten hier lebenden Stämme Schafherden besäßen, und bereits zu römischer Zeit wurde flandrisches Tuch in weit entfernte Teile des Imperiums exportiert. Die in Flandern erzeugte Wolle reichte allerdings bald nicht mehr aus, so dass in großem Stil aus England importiert werden musste. Die englische Wollzufuhr war so wichtig, dass England die flandrische Wirtschaft durch einen Exportstopp lahmlegen konnte. Von Frankreich wiederum war Flandern für seine Lebensmittelversorgung abhängig. Die Verarbeitung der Wolle erfolgte in den Städten im Rahmen einer geradezu frühkapitalistischen Arbeitsteilung: Die Webermeister beherrschten das Produktionsmittel, den Webstuhl, und die Arbeiter verkauften ihre Arbeitskraft gegen Stücklohn. Das flandrische Tuch wurde sowohl als Massengut als auch als Luxusprodukt hergestellt. Über Messen, Jahrmärkte und den Seehandel fand es Verbreitung bis nach Italien und Russland.

In den meisten Städten waren bis zu zwei Drittel der arbeitenden Bevölkerung in der Textilindustrie beschäftigt. Diese Abhängigkeit hatte Nachteile: Wenn England aus politischen Gründen einen Exportstopp für Wolle erließ, gerieten die flandrischen Städte sofort in eine Krise. Ihren Höhepunkt erlebte die Tuchindustrie im 13. Jahrhundert, danach setzte ein Niedergang ein. In Ypern, das fast vollständig auf die Tuchindustrie ausgerichtet war, zog der Rückgang einen massiven Einwohnerschwund von 40 000 auf weniger als 10 000 um die Mitte des 15. Jahrhunderts nach sich. Gent konnte den Verlust durch ein Monopol für den Getreidehandel teilweise auffangen.

Brügge bewältigte die Herausforderung am besten, da es einen unschätzbaren Vorteil hatte: den Zugang zur See. Die heute weit landeinwärts gelegene Stadt befand sich ursprünglich direkt am Meer. Die See zog sich jedoch allmählich zurück, und es entstand ein Gebiet, das, ähnlich dem heutigen Wattenmeer, stark von den Gezeiten geprägt war. Durch eine Sturmflut im Oktober 1134 wurde der Meeresarm Zwin noch einmal so weit vertieft, dass eine Fahrrinne für seegängige Schiffe entstand. Sie konnten nun bis weit ins Landesinnere segeln. Das letzte Stück wurde durch die Kanalisierung des Flüsschens Reie überbrückt. Später setzte allmählich eine Versandung ein, so dass Brügge für die großen Hansekoggen nicht mehr erreichbar war. Anders als in der Fachliteratur oft zu lesen ist, blieb seine Position davon aber lange unbeeinträchtigt. Der Güterverkehr wurde nun über die günstig gelegenen Vorhäfen Damme und Sluis abgewickelt, wobei die eigentlichen Geschäfte aber weiterhin in Brügge getätigt wurden. Erst Ende des 15. Jahrhunderts, als die ausländischen Kaufleute zunehmend nach Antwerpen abwanderten, neigte sich Brügges große Zeit langsam dem Ende zu, doch blieb die Stadt auch im 16. Jahrhundert noch ein wichtiger und wohlhabender Handelsplatz. Brügge verdankte seine Stellung als Weltmarkt des Mittelalters der Kombination aus seinem Zugang zum Meer und der Verfügbarkeit des gefragten Exportartikels Tuch. Dies lockte ausländische Kaufleute an. So richtete die Hanse in Brügge eines ihrer Hauptkontore ein. Ebenso waren die oberitalienischen Handelsmetropolen Venedig, Genua, Florenz, Mailand und Lucca mit Kaufmannskolonien vertreten. Dazu kamen Engländer, Spanier und Portugiesen. Diese Nationen tauschten in Brügge ihre Waren: aus dem Norden Massengüter wie Holz, Teer und Getreide, aber auch Luxusartikel wie Pelze, und aus dem Süden Salz, Wein, Früchte, später auch Madeirazucker und afrikanisches Elfenbein.

Brügge wurde zum Schnittpunkt nördlicher und südlicher Handelsströme. Ein exotisches Bild muss sich geboten haben, wenn einmal im Jahr eine große Galeerenflotte der norditalienischen Städte die Brügger Häfen anlief. „Eine große und sehr wohlhabende Stadt und einer der größten Märkte der Welt“, urteilte 1438 der kastilische Reisende Pero Tafur. „Man sagt, dass zwei Städte miteinander um die kommerzielle Vorherrschaft ringen: Brügge im Westen und Venedig im Osten. Mir scheint jedoch – und viele stimmen darin mit mir überein –, dass das Wirtschaftsleben in Brügge viel reger ist.“ Tafur fand dort „alles, was die ganze Welt erzeugt. Ich sah dort Orangen und Zitronen aus Kastilien, die gerade erst von den Bäumen gepflückt zu sein schienen, Obst und Wein aus Griechenland in so reichhaltiger Menge wie in diesem Land selbst. Ich sah Spezereien und Gewürze aus Alexandria und der gesamten Levante, ebenso, als wäre man gerade dort; Pelze vom Schwarzen Meer, als wären sie in der Region hergestellt worden. Hier war ganz Italien mit seinem Brokat, seiner Seide und seinen Rüstungen und allem, was dort gemacht wird, und so gibt es keinen Teil der Welt, dessen Erzeugnisse hier nicht in ihrer vollendeten Form zu finden sind.“

Stichwort: Brügge

Grundgereinigte Geschichte

Brügge ist Belgiens Weltwunder: eine der größten Städte des Mittelalters – in Bernstein konserviert. So scheint es zumindest. Tatsächlich ist das heutige, auf den ersten Blick lückenlos mittelalterliche Stadtbild wesentlich ein Werk des 19. Jahrhunderts. Natürlich, es gibt jede Menge echt mittelalterliche Sakral- und Profanbauten, denn im 17. und 18. Jahrhundert war die Stadt arm, und Armut ist der beste Denkmalschützer. Aber selbst an einem solchen Ort wird hin und wieder etwas abgerissen und ersetzt. Dass man in Brügge früher als andernorts das touristische Potenzial des alten Baubestands erkannte, lag daran, dass die Stadt schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts touristisch erschlossen wurde. Sie lag genau an der Route, die englische Reisende auf ihrem Weg zum romantischen Mittelrhein nahmen. Sie machten dabei meist auf dem Schlachtfeld von Waterloo Station, und da war Brügge nicht weit. Um 1900 wurde die Bekanntheit der Stadt durch den Erfolgsroman „Bruges-la-Mort“ – deutsch: „Das tote Brügge“ – noch einmal massiv gesteigert. Der belgische Schriftsteller Georges Rodenbach (1855–1898) verankerte damit einen Dekadenzmythos in den Köpfen des europäischen Fin-de-Siècle-Publikums. „Ein Hauch des Todes wehte ihn von den geschlossenen Häusern an“, heißt es da. „Diese abendliche und herbstliche Einsamkeit, wo der Wind die letzten Blätter davonfegte, ließ ihn mehr denn je den Wunsch empfinden, seinem Leben ein Ende zu machen.“ Ähnlich wie Venedig wurde das entvölkerte und versandete Brügge zum Sinnbild verfallener Größe. Parallel zu dieser Entwicklung baute die Stadtverwaltung den historischen Kern zur mittelalterlichen Zeitkapsel aus. Von 1877 an förderte die Stadt die Restaurierung gotischer Fassaden und den Neubau historisierender Häuser im Brügger Giebelstil. Spuren neuzeitlicher Bebauung wurden konsequent ausgewischt. Dieser Umbau der Stadt zu einem historischen Disneyland avant la lettre ist eng mit dem Namen des Stadtbaumeisters Louis Delacenserie (1838–1909) verbunden. Er bemühte sich bei Restaurierungen darum, die Gebäude noch mittelalterlicher aussehen zu lassen, als sie im ursprünglichen Zustand gewesen waren. Gleichzeitig hatte er kein Problem damit, hinter den Kulissen moderne Techniken wie Metallkonstruktionen einzusetzen. So kam Brügge im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zu seinem wunderbar geschlossenen Stadtbild. Ende des 20. Jahrhunderts wurde die Kernstadt erneut saniert, um sich 2002 als europäische Kulturhauptstadt präsentieren zu können. Das Ergebnis dieser Bemühungen ist eine Art grundgereinigtes Mittelalter. Alles strahlt, glänzt und blinkt. Stilvoll und teuer, aber auch blendend schön sieht es aus. Und genau das scheint den Besuchern aus aller Welt noch viel besser zu gefallen. Brügge ist heute belebter, als es in seiner großen Zeit je gewesen sein kann. Auf Rodenbachs „erkalteten Adern der Kanäle“ lärmen die immer größer werdenden Rundfahrboote, an den einst „geschwärzten Treppengiebeln“ prangen die Namen bekannter Feinschmeckerlokale, in den „toten Straßen und gewundenen Gassen“ schieben sich die Touristen zur nächsten Chocolaterie. Im „toten Brügge“ blüht das Leben. Und vor allem das Geschäft.

Um die Kommunikation zwischen Einheimischen und auswärtigen Kaufleuten zu erleichtern, stellte ein Schulmeister aus Brügge in der Mitte des 14. Jahrhunderts das erste niederländisch-französische Wörterbuch zusammen, das Livre des Metiers (Buch der Gewerbe), das in der Folgezeit immer wieder aktualisiert wurde. 1483 brachte der englische Drucker William Caxton in Brügge eine französisch-englische Version heraus. Die von Brügge aus operierenden Kaufleute benötigten für ihre teils riskanten Unternehmungen mehr Geld als sie selbst hatten. So entwickelte sich in der Stadt ein blühendes Bankwesen nach italienischem Vorbild. Es waren italienische Bankiers, die diesen Wirtschaftszweig beherrschten. Brügge war die nördlichste Stadt, in der große Bankhäuser wie die Medici Niederlassungen unterhielten. Wie wichtig die Kreditanstalten für dieses frühkapitalistische System waren, ergibt sich aus der großen Zahl von Konten: Zwischen circa 1350 und 1375 führte etwa der Bankier Ruweel in Brügge 82 davon. Hochgerechnet auf die damals 15 bis 16 Bankiers wären das insgesamt etwa 1200 Bankkonten.

Während Brügge im Bankwesen übernahm, was Italien vorgegeben hatte, leistete es auf einem anderen Gebiet Pionierarbeit: Es ist die Geburtsstätte der Börse. Sowohl die Sache an sich als auch das Wort Börse haben sich von Brügge aus verbreitet. Der Kaufmann Robrecht van der Buerse I. (ca. 1256–1320) unterhielt dort ein Gästehaus, in dem vor allem Kaufleute abstiegen. Sie konnten bei ihm übernachten, essen und trinken und im Keller ihre Waren deponieren. Doch was noch wichtiger war: Sie hatten auch die Möglichkeit, sich untereinander auszutauschen. Wie standen die Preise, welches Geschäft konnte lohnend sein, welcher Händler war vertrauenswürdig? So entstand ein Umschlagplatz für Wirtschaftsnachrichten. Zudem genoss van der Buerse bald so viel Vertrauen, dass er zwischen den Kaufleuten vermittelte oder sie gegenüber Dritten vertrat. Es ist absolut legitim, in seinem Gasthaus die Keimzelle der heutigen Börsen zu sehen.

Stichwort: Beginen

Leben als selbstbestimmte Städterin