Griff nach den Sternen - Christoph Driessen - E-Book

Griff nach den Sternen E-Book

Christoph Driessen

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Beschreibung

Hätten Sie gedacht, dass Helmut Schmidt die britische Labour-Partei mit einer brillanten Rede zu Europa bekehrte? Oder dass der französische Präsident François Mitterrand die Schaffung des Euro als Entschärfung der deutschen Atombombe betrachtete? Schauen Sie hinter die Türen der Brüsseler Konferenzsäle und lauschen Sie lange geheim gehaltenen Gesprächen im Élysée-Palast! Folgen Sie Winston Churchill, der kurz nach dem Krieg die Vereinigten Staaten von Europa anstrebte, Charles de Gaulle, der Frankreichs Großmachtstellung durch Europa wiederherstellen wollte, und Angela Merkel, der "Königin Europas"! Christoph Driessen erzählt die Geschichte der EU, wie sie noch nie erzählt worden ist: zum Lachen und zum Weinen, zum Verzweifeln, zum Staunen und zum Mitfiebern.

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Christoph Driessen

Griff nach den Sternen

Die Geschichte der Europäischen Union

Meiner Mutter Monika Driessen, die im Zweiten Weltkrieg geboren wurde

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2024 Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

Gutenbergstraße 8 | 93051 Regensburg

Tel. 0941/920220 | [email protected]

ISBN 978-3-7917-3474-3

Umschlaggestaltung: www.martinveicht.de

Satz: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a. d. Donau

Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg

Printed in Germany 2024

eISBN 978-3-7917-6255-5 (epub)

Unser gesamtes Programm finden Sie unterwww.verlag-pustet.de

Inhalt

EINLEITUNG

Ein Experiment im Labor der Geschichte

Kapitel I

EIN GESCHENK FÜR KONRAD ADENAUER

Der Beginn der europäischen Einigung (1941–1951)

Porträt: Jean Monnet

Der Ideengeber

Porträt: Robert Schuman

Der Initiator

Porträt: Alcide De Gasperi

Europäer mit Heiligenschein

Stichwort: Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS)

Keimzelle der Europäischen Union

Kapitel II

RACHE FÜR SUEZ

Der Weg zu den Römischen Verträgen (1950–1957)

Porträt: Paul-Henri Spaak

Der Antreiber

Porträt: Konrad Adenauer

Der flexible Europäer

Stichwort: Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG)

Größte Handelsmacht der Welt

Kapitel III

PROFESSOR GEGEN GENERAL

Der Konflikt mit Charles de Gaulle (1958–1969)

Porträt: Sicco Mansholt

Der Vollstrecker der Europäischen Agrarpolitik

Porträt: Walter Hallstein

Der Mann des Aufbaus

Stichwort: Die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP)

Eine europäische Tragödie

Kapitel IV

EINE FRAU WILL IHR GELD ZURÜCK

Ausbau und Stagnation der Gemeinschaft (1969–1984)

Stichwort: Der Ministerrat

Reden und regeln

Stichwort: Der Europäische Rat

Zu 27 im Space Egg

Stichwort: Die Europäische Kommission

Eine potenzielle Europa-Regierung

Stichwort: Der Europäische Gerichtshof (EuGH)

Die letzte Instanz

Porträt: Simone Veil

Die Versöhnerin

Porträt: Altiero Spinelli

Der unbeugsame Föderalist

Stichwort: Das Europäische Parlament

Wo Malta größer gemacht wird

Kapitel V

DIE ENTSCHÄRFUNG DER DEUTSCHEN ATOMBOMBE

Von der D-Mark zum Euro (1985–2002)

Porträt: Jacques Delors

Ein französischer Zentralist in Brüssel

Stichwort: Die Europäische Währungsunion

Die unvollkommene Währung

Porträt: Helmut Kohl

Vorkämpfer des Euro

Kapitel VI

EUROPA IN AUFRUHR

Integrationsschub durch Krisen (seit 2003)

Porträt: Angela Merkel

Die Krisenmanagerin

Porträt: Emmanuel Macron

Der ausgebremste Reformer

Stichwort: Die Europäische Union (EU)

Ein politisches Lebewesen

ANHANG

Zeittafel

Kommentiertes Literaturverzeichnis

Bildnachweis

Register

EINLEITUNG

Ein Experiment im Labor der Geschichte

Ist es möglich, die Geschichte der Europäischen Union einigermaßen kompakt, verständlich und vielleicht auch noch streckenweise unterhaltsam zu erzählen? Das vorliegende Buch unternimmt diesen Versuch. Ausgangspunkt dafür ist meine ehrliche Überzeugung: Wie die EU wurde, was sie ist, das ist eine fesselnde Story. Schließlich geht es um ein „in der Geschichte der Menschheit einzigartiges Unterfangen“, wie Helmut Schmidt es einmal ausgedrückt hat. Es handelt sich um einen freiwilligen Zusammenschluss von Staaten, die auf vielen Gebieten intensiv zusammenarbeiten und einen Teil ihrer Souveränität an gemeinsame überstaatliche Instanzen abgetreten haben. Zu diesem welthistorischen Experiment kommen Protagonisten, die farbiger nicht sein könnten: Winston Churchill, Konrad Adenauer, Charles de Gaulle, François Mitterrand, Helmut Kohl, Margaret Thatcher …

Das vorliegende Buch basiert zudem auf der Annahme, dass die heutige EU – und damit ein Großteil der aktuellen Politik – unverständlich bleiben muss, wenn man ihre Geschichte nicht kennt. Und diese Geschichte ist häufig völlig anders verlaufen, als man glauben würde. Ich selbst bin jedenfalls bei der Recherche so manches Mal überrascht worden.

Dieses Buch ist in keiner Weise von der EU gesponsert oder unterstützt worden, es ist eine vollkommen unabhängige Arbeit, die ich aus rein persönlichem Interesse neben meiner beruflichen Tätigkeit erstellt habe. Meine Absicht ist es auch nicht, die Leserinnen und Leser vom Sinn der europäischen Einigung zu überzeugen, sondern sie über die Geschichte dieses Prozesses zu informieren. Dabei möchte ich die Motive aller Akteure verständlich machen – auch derjenigen, die die Einigung gebremst oder zu verhindern versucht haben. Das Ziel ist, dass sich die Leserinnen und Leser am Ende aufgrund der gewonnenen Informationen eine eigene Meinung bilden.

Zwar hat dieses Buch keine Fußnoten, aber es erhebt Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Jede Angabe kann belegt werden, nichts ist erfunden. Viele der verwendeten Quellen ergeben sich aus dem kommentierten Literaturverzeichnis am Ende, anderes kann bei weitergehendem Interesse über den Verlag von mir erfragt werden.

Der Aufbau des Buchs lehnt sich an meine beiden früheren im Verlag Friedrich Pustet erschienenen Bände „Geschichte der Niederlande“ und „Geschichte Belgiens“ an. Jede Epoche hat ihr eigenes Kapitel, dazwischen sind Porträts wichtiger Akteure und Stichworte zu Schlüsselbegriffen eingeschoben. Eine Chronologie, ein kommentiertes Literaturverzeichnis und ein Register schließen das Buch ab. All das soll dazu beitragen, es auch als Handbuch benutzen zu können, das sich zum Nachschlagen eignet und nicht unbedingt von Anfang bis Ende gelesen werden muss, auch wenn es so angelegt ist. Neu ist die Unterteilung des Haupttextes in kurze Abschnitte, die mit Ortsmarken eingeleitet werden. Das soll zum einen dem Lesefluss zugutekommen, entspricht zum anderen aber auch dem multipolaren Charakter der EU-Geschichte: Die Musik spielt eben lang nicht immer in Brüssel, vielmehr gibt es Handelnde an unterschiedlichsten Orten – auch außerhalb Europas.

Köln, im Frühjahr 2024

Christoph Driessen

KAPITEL I

Ein Geschenk für Konrad Adenauer

Der Beginn der europäischen Einigung (1941–1951)

Fast überall ist Krieg, der schlimmste Krieg, den es je gab. Aber mitten in der Finsternis erreicht die Vision eines geeinten und friedlichen Europas das italienische Festland – im Bauch eines Brathähnchens. Als der Krieg vorbei ist, will Frankreich Deutschland ein für allemal zerschlagen. Die USA und Großbritannien haben aber schon einen neuen Gegner im Blick und wollen Deutschland wieder aufbauen. Was jetzt? Frankreichs Außenminister weiß es auch nicht und wird deshalb rot. Ein Mitarbeiter hat dann aber die zündende Idee. Am Ende sinkt eine junge Schweizerin in die Arme eines französischen Zollbeamten, und der deutsche Bundeskanzler verstaut etwas in seiner Schreibtischschublade.

Ventotene. Eine Felseninsel im Meer. Ihr Name bedeutet ungefähr „die dem Wind standhält“. Schon die römischen Kaiser haben hier ihre Gegner festgesetzt. Jetzt ist es der Diktator Benito Mussolini, der das vulkanische Eiland 60 Kilometer vor der Küste von Neapel als Verbannungsort nutzt. Zu Hunderten sind hier Oppositionelle interniert, unter ihnen der Kommunist Altiero Spinelli, der Sozialist Eugenio Colorni und der Liberale Ernesto Rossi. Sie kommen aus ehemals verfeindeten politischen Lagern, doch jetzt eint sie ihr Antifaschismus. In diesem Sommer 1941 scheint ihre Sache allerdings für immer verloren: Adolf Hitler triumphiert. Er beherrscht fast den gesamten europäischen Kontinent, und nun rollen seine Panzer gen Moskau.

Es muss als Ausweis eines kompletten Realitätsverlusts erscheinen, dass Spinelli, Colorno und Rossi, diese drei gescheiterten Linken, mitten im Lager die Vision eines völlig anderen Europas entwerfen: frei, demokratisch, geeint – und ohne nationalstaatliche Ordnung. Die Souveränität der Nationalstaaten ist für sie die Wurzel allen Übels, die Ursache von Diktatur und Krieg. Deshalb muss Europa nach ihrer Überzeugung neu gedacht werden. Die Idee, die ihnen vorschwebt, ist ein europäischer Bundesstaat. Da ihnen Schreibutensilien bei schwerer Strafe untersagt sind, skizzieren die drei Kettenraucher ihren Plan mit dem Ruß abgebrannter Streichhölzer auf winzigem Zigarettenpapier, das sie im doppelten Boden einer Blechdose verstecken. Dieses Manuskript nennen sie das „Manifest von Ventotene“. Es heißt darin unter anderem: „Die erste anzugehende Aufgabe, ohne deren Lösung jeglicher Fortschritt ein trügerischer Schimmer bleiben würde, ist die endgültige Beseitigung der Grenzen, die Europa in souveräne Staaten einteilen.“ Die „föderalistische Neugestaltung Europas“ solle alle bisher existierenden Staaten einschließen – auch Deutschland. Deutschland dürfe nach seiner Niederlage nicht zerstückelt und „mit dem Fuß auf dem Nacken am Boden“ klein gehalten werden. Das Ziel der drei Vordenker sind die Vereinigten Staaten von Europa: „Es gilt, einen Bundesstaat zu schaffen, der auf festen Füßen steht und anstelle nationaler Heere über eine europäische Streitmacht verfügt.“

Die jüdische Berlinerin Ursula Hirschmann schmuggelt das Manifest nach einem Besuch bei ihrem Mann Eugenio Colorni von der Insel – in einem Hähnchen, das als Mitbringsel für ihn gedacht war, von den Wachen aber als zu luxuriös abgelehnt wurde. So erreicht Spinellis Vision einer Europäischen Union das Festland im Bauch eines Brathähnchens.

Algier. Jean Monnet ist ein Träumer. Natürlich, einerseits steht er mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen, gilt als fähiger Bankier und Wirtschaftsexperte mit besten Kontakten zur anglo-amerikanischen Welt. Gerade jetzt ist er im Französischen Komitee für die Nationale Befreiung eine Art Verteidigungsminister und damit einer der wichtigsten Franzosen, die im Exil gegen Hitler kämpfen. Aber dann wieder gibt es Momente, in denen man meinen könnte, er hätte den Bezug zur Wirklichkeit verloren. So an diesem Morgen im Herbst 1943 in Algier im bereits befreiten Nordafrika. Dort findet ihn sein Mitstreiter Etienne Hirsch tief in Gedanken versunken und über einer Europakarte brütend. Zwei Regionen hat er mit Bleistift markiert: das Ruhrgebiet und das französische Lothringen. Auf Nachfrage von Hirsch erklärt er, alle Probleme gingen auf diese beiden Gebiete zurück. Denn erst die dort geförderte Kohle und der dort erzeugte Stahl versetzten Deutschland und Frankreich überhaupt in die Lage, gegeneinander Krieg zu führen. Die Kohle ist der Energieträger. Sie ist notwendig, um durch Erhitzen aus Eisenerz Roheisen zu gewinnen und dies dann weiter zu Stahl zu verarbeiten. Aus Stahl wiederum baut man Waffen für den Krieg. Deshalb wird an der Menge Kohl und Stahl, die ein Land produzieren kann, seine Macht abgelesen. Auf der Grundlage dieser Erkenntnis ist Monnet eine Idee gekommen: Kann man künftige Kriege zwischen den beiden Erbfeinden vielleicht verhindern, indem man ihnen die Kohle-Regionen entzieht? Hirsch reagiert in höchstem Maße verwundert. Was für eine absurde Idee!

Wer ist dieser Mann? Jean Monnet spricht anlässlich seiner Auszeichnung mit dem Aachener Karlspreis 1953 vor einer Menge im nahe gelegenen Dreiländereck Deutschland-Niederlande-Belgien. Eine solche Rede vor größerem Publikum war untypisch für den französischen Regierungsberater, der vorzugsweise im Hintergrund wirkte.

17. Oktober 1943. Charles de Gaulle, selbstberufener Führer des „Freien Frankreich“, hat zum Mittagessen eingeladen. Dabei entspinnt sich ein Streitgespräch zwischen ihm und Monnet. Die beiden Landsleute sind vereint sowohl in ihrem Widerstand gegen die deutschen Besatzer und die französische Vichy-Regierung als auch in gegenseitiger Abneigung. Schon rein äußerlich und von ihrer Art her bilden sie Gegenpole: Hier der 1,93 Meter große Zweisterne-General, der im vollen Bewusstsein seines geschichtlichen Rangs eine Aura der Unnahbarkeit verbreitet. Auf der anderen Seite der kleine, gedrungene Mann mit dem runden Mondgesicht und dem verschmitzten Blick. Ein Schnurrbart verleiht seiner gepflegten Erscheinung etwas Dandyhaftes. Stets zugewandt und kompromissbereit, kann er gewinnend für seine Standpunkte eintreten. Mitunter umspielt ein ironisches Lächeln seine Lippen.

Begegnungen zwischen den zwei ungleichen Männern bergen immer ein gewisses Konfliktpotenzial. Einmal hat Monnet den General während eines Dinners in London gebeten, sich im Ton zu mäßigen und nicht so herumzuschreien. Auch diesmal hat de Gaulle ihm wieder einiges zu sagen. Er vertritt eine sehr eigene Sicht der politischen Großwetterlage: Zusammen mit der Sowjetunion, so seine Überzeugung, werde Frankreich nach dem Krieg die Geschicke Europas bestimmen. Es schwebt ihm vor, Frankreich große Teile Deutschlands einzuverleiben, so die linksrheinischen Gebiete von Köln bis zum Oberrhein. Das Ruhrgebiet soll künftig von Frankreich gemeinsam mit Belgien, den Niederlanden, Luxemburg, den USA, Großbritannien und der Sowjetunion verwaltet werden. Des Weiteren plant de Gaulle die Gründung einer westeuropäischen Wirtschaftszone, der neben Frankreich, den Niederlanden, Belgien und Luxemburg auch das Rheinland und das Ruhrgebiet sowie eventuell Italien angehören sollen. Frankreich werde diese Föderation als das mit Abstand größte Land dominieren und dadurch in einer Liga mit den USA und der Sowjetunion spielen. Es werde wieder Weltmacht sein. Deutschland dagegen solle nicht als Zentralstaat weiterexistieren, sondern wieder in eine Vielzahl verschiedener Länder wie vor der deutschen Reichsgründung 1871 zerfallen, wobei Preußen zerschlagen werde. Somit wäre die Gefahr eines Wiedererstarkens Deutschlands und damit eines neuen Krieges gebannt.

Jean Monnet ist anderer Meinung. Zwar strebt auch er eine möglichst starke Stellung Frankreichs an, zwar will auch er „ein einheitliches Wirtschaftsgebiet mit freiem Güteraustausch“, aber nicht mehr auf der Grundlage von Nationalstaaten. „Es wird keinen Frieden in Europa geben, wenn die Staaten auf der Basis nationaler Souveränität wiederhergestellt werden, mit all dem, was Machtstreben und wirtschaftliche Protektion mit sich bringen“, warnt er. Geboten seien vielmehr eine „echte Abtretung von Souveränität“ an „irgendeine Art zentraler Union“ und die Schaffung eines europäischen Markts ohne Zollbarrieren.

De Gaulle entgegnet, er könne sich kaum vorstellen, dass Deutschland und Frankreich Mitglieder einer gemeinsamen Union werden könnten. „Sie können die Vergangenheit nicht einfach ignorieren“, belehrt er Monnet. „Nach diesem Krieg werden Deutsche und Franzosen niemals gemeinsam in derselben Organisation sein können.“ Die unvorstellbaren Verbrechen, die die Deutschen verübt hätten, würden für immer zwischen ihnen stehen.

Izieu. Georgy beendet jeden seiner Briefe mit Küssen an Maman. Er macht dann eine 1 und ganz viele Nullen. So viele Küsse sendet er. Georgy ist acht Jahre alt und kommt aus Wien. Wenn er seine Trachtenhose anhat, sieht er immer noch aus wie ein österreichischer Bub. Aber schon seit er drei Jahre alt ist, wohnt er in Frankreich. Seine Eltern sind dort hingegangen, weil sie Juden sind. Aber weil sein Vater einer Arbeitskolonne zugeteilt wurde und seine Mutter krank ist, konnte er nicht bei ihnen bleiben. Er kam hierher, auf einen leerstehenden Hof in Izieu, hoch über dem Rhonetal. Hier gibt es noch viele andere Kinder, nicht nur aus Frankreich, sondern aus ganz Europa – aus Belgien, Polen, Rumänien, Deutschland, sogar aus Algerien … Georgy vermisst seine Eltern sehr, besonders seine Mutter. Aber zum Glück ist er oft abgelenkt, denn es gibt hier viele schöne Momente. Im Sommer haben sie ein Fest gefeiert, im Winter sind sie Schlitten gefahren. Zu Weihnachten hat Georgy einen Malkasten und einen Zeichenblock bekommen, denn er malt für sein Leben gern.

Porträt: Jean Monnet

Der Ideengeber

Am Anfang von Europa steht Jean Monnet (1888–1979). Er hat den Plan entworfen, aus dem alles hervorging. Insbesondere hat er die Hohe Behörde erfunden, die erste überstaatliche Instanz, an die die sechs Gründungsländer einen Teil ihrer Souveränität abtraten. Und danach hat Monnet die europäische Politik noch bis tief in die 70er Jahre hinein begleitet und als Graue Eminenz hinter den Kulissen mitgeprägt. Dabei stellte er sich sehr flexibel immer wieder auf neue Realitäten und Konstellationen ein.

Monnet war Visionär und Pragmatiker zugleich. Er hatte die Idee einer überstaatlichen Organisation, doch gleichzeitig war ihm bewusst, dass diese nur nach und nach realisiert werden konnte und auch nur dann, wenn die Bürger in den verschiedenen Ländern in jeder Phase spürbare Vorteile davon hatten. Einfach nur an die „europäische Gesinnung“ zu appellieren, hatte nach seiner Überzeugung keine Aussicht auf Erfolg.

Den entgegengesetzten Ansatz dazu vertrat der italienische Politiker Altiero Spinelli, der die Nationalstaaten auflösen und Europa von Grund auf neu erschaffen wollte: als Bundesstaat mit überragenden Kompetenzen für das Europäische Parlament. Der idealistische Spinelli war der Meinung: „Monnet hat das große Verdienst, Europa erbaut zu haben, und die große Verantwortung, es schlecht erbaut zu haben.“

Spinelli und andere haben Monnet den Vorwurf gemacht, er sei nicht nur der Vater Europas, sondern auch der Vater des Demokratiedefizits und der Brüsseler Bürokratie. Schließlich habe er auch selbst nie ein durch Wahlen zu erwerbendes politisches Amt bekleidet. Ein Funktionär sei er gewesen, ein Spitzenbeamter, und nach diesem seinem Bilde habe er die EU geformt. Tatsächlich wirkt Monnet auf Fotos wie ein unauffälliger Finanzbeamter, merkwürdig blass und konturlos und keineswegs wie ein „Mann der Geschichte“.

Monnet war kein Politiker im eigentlichen Sinne, er war noch nicht mal Mitglied einer Partei. Er hielt kaum je eine Rede und trat nicht im Fernsehen auf. Eher war er derjenige, der für die Politiker dachte und ihnen die Lösungen an die Hand gab. Monnet baute sein Europa nicht von unten, sondern von oben. Er kooperierte mit den bestehenden nationalen Regierungen. Er glaubte an Institutionen und Experten, die zum Wohle der Völker Entscheidungen treffen konnten, ohne sie dabei mit einzubeziehen.

Das hat in der Tat etwas Technokratisches an sich. Die Alternative zu Monnets Vorgehen wäre in der Praxis aber kein besseres, sondern gar kein Europa gewesen. Spinellis großes Ideal von den Vereinigten Staaten Europas nach dem Vorbild der USA hatte nie eine Chance, realisiert zu werden. Monnets Stärke bestand gerade darin, dass er nicht prinzipientreu an Idealvorstellungen festhielt, sondern sich als Meister in der Kunst des Möglichen erwies. So drängte er als über 80-Jähriger mit Erfolg auf die erste Direktwahl des Europäischen Parlaments, als sich dafür eine realistische Chance bot. Die Kombination aus Weitsicht und Pragmatismus macht Monnet zur überragenden Gestalt der europäischen Integration.

Es gibt eine Alarmglocke im Hof. Wenn die geläutet wird, müssen alle ganz schnell in den Wald rennen. Denn dann sind die Deutschen da.

Nizza. Die 16 Jahre alte Simone Jacob hat gerade ihre Abiturprüfungen abgelegt, und jetzt ist sie auf dem Weg zu ihren Freundinnen. Da wird sie von zwei Deutschen in Zivil angehalten und kontrolliert. Ein flüchtiger Blick auf ihren Ausweis genügt ihnen: „Der ist gefälscht.“ Simone gibt sich ahnungslos: „Aber nein, wie kommen Sie denn darauf?“ Doch die beiden Männer führen sie unverzüglich ab. Sie wird ins Hotel Excelsior gebracht. Ein Deutscher zeigt auf einen ganzen Stapel Ausweise, die alle mit derselben Unterschrift in grüner Tinte versehen sind. „Von Ihrem Ausweis haben wir hier so viele Exemplare, wie Sie möchten“, sagt er mit gespielter Liebenswürdigkeit in der Stimme.

Zusammen mit ihrer Mutter Yvonne, ihrer 21 Jahre alten Schwester Milou und ihrem 18 Jahre alten Bruder Jean wird Simone am 7. April 1944 in das große Sammellager in Drancy nordöstlich von Paris gebracht. Am selben Tag kommen hier auch Georgy und die anderen Kinder aus Izieu an. Der Gestapo-Chef von Lyon, Klaus Barbie, hat sie am Gründonnerstag aus ihrem Versteck holen lassen. Die Männer kamen ganz plötzlich, während des Frühstücks. Es blieb keine Zeit, den Alarm auszulösen und in den Wald zu rennen.

Nach einigen Tagen macht der Leiter des Sammellagers bekannt, dass alle jungen Männer bleiben könnten, um für die „Organisation Todt“ zu arbeiten, bekannt vor allem für den Bau des Atlantikwalls. Simone, ihre Schwester und ihre Mutter sind sich einig, dass Jean das unbedingt tun muss – so entkommt er der Deportation, sagen sie. Jean meldet sich freiwillig. Letzte Worte, letzte Blicke.

Brauweiler. „Aber Herr Oberbürgermeister!“ Es liegt ein spöttischer Unterton in der Stimme des Gestapo-Manns, der Konrad Adenauer auf dem Dachboden seines Verstecks im Westerwald aufgespürt hat. Barfuß und im Schlafanzug hat er sich dort hinter dem Schornstein versteckt. Der Mann, der früher einmal der „König von Köln“ genannt wurde – wie tief ist er gefallen! Umgehend wird Adenauer in das Gefängnis Brauweiler bei Köln abtransportiert. Dort muss er Hosenträger, Krawatte, Schnürsenkel und Taschenmesser abgeben. „Bitte begehen Sie keinen Selbstmord“, sagt der Gestapo-Kommissar zu ihm. „Sie würden mir damit die größten Scherereien verursachen.“ Auf die verwunderte Frage, wie er denn auf diese Idee komme, antwortet der Nazi-Funktionär: „Sie sind jetzt 68 Jahre alt und Ihr Leben ist sowieso zu Ende.“

Wieringermeer. Während im Westen Deutschlands schon die ersten Städte von den Alliierten befreit sind, ist die „Festung Holland“ weiterhin im Griff der Nazis. In diesem Winter 1944/45 liegt Amsterdam unter einer Frostglocke, friert und hungert. Die ausgemergelten Städter essen schließlich sogar Tulpenzwiebeln. Und jeden Tag ziehen sie mit Handkarren los zu den Bauern, viele Kilometer weit, um ein paar Kartoffeln oder Rüben zu ergattern. Auch vor dem Bauernhof von Sicco Mansholt im Wieringermeer-Polder in Nordholland stehen sie täglich zu Dutzenden und betteln um Nahrung. Er selbst ist nicht da, er ist im Widerstand aktiv und deshalb untergetaucht. Seine Frau Henny Postel gibt alle Vorräte weg, bis sie selbst nichts mehr hat.

Berlin. Am 16. Juli 1945 – es ist ein Montag, aber das spielt in dieser Mondlandschaft eigentlich keine Rolle mehr – besichtigt Winston Churchill die verwüstete Reichskanzlei. Auf dem Boden Glas, Reste von Kronleuchtern, Papiere, Eiserne Kreuze und die zerbrochene Marmorplatte von Hitlers Schreibtisch. Im Großen Speisesaal bleibt Churchill stehen und schaut nach oben – eine Bombe hat das Glasdach des Wintergartens zerschlagen. Dann geht es in den Garten, dort liegt der Eingang zum Bunker. Ein russischer Führer geleitet ihn die dunklen Stufen hinab. Im Schein seiner Taschenlampe erkennt man Kleidungsstücke, Gasmasken und einen verbrannten Handschuh. Die unteren Räume stehen voll Wasser. Auf einem Tisch überdauert noch eine Vase mit einem Zweig. Doch Churchill hat genug gesehen: Er dreht sich um, steigt langsam wieder nach oben in den Garten. „Hier muss Hitler herausgekommen sein, um Luft zu schnappen“, murmelt er mehr zu sich selbst. Und hier müsse er auch gehört haben, wie der Geschützdonner näher und näher kam. Nun zeigt ein Russe auf einen Fleck unter verrosteten Benzinkanistern. Da sei es gewesen, sagt er zu Churchill, da habe man die Leichen von Hitler und Eva Braun brennen sehen. Churchill dreht sich nur für einen kurzen Augenblick um. Dann wendet er sich angewidert ab und geht zu seinem Wagen zurück.

Potsdam. Zwei Tage später fragt er Josef Stalin, welche Absichten er in Europa verfolge. Sei er nicht dabei, an der Westgrenze seines Reichs eine Kette von Satellitenstaaten aufzubauen? Stalin tut überrascht: Nein, ganz im Gegenteil würden doch Truppen abgezogen. „In den nächsten vier Monaten werden zwei Millionen Soldaten demobilisiert und nach Hause zurückgeschickt.“

Drei Gewinner sitzen auf Schloss Cecilienhof zusammen – die Sieger des Zweiten Weltkriegs. Da ist Winston Churchill, der Mann, der Hitler 1940 als Einziger die Stirn bot. Alt ist er geworden, oft wirkt er müde und unkonzentriert. Damit ist er ein Sinnbild des Britischen Empire, das am Ende seiner Kräfte und so gut wie bankrott ist. Dann ist da Stalin, der sowjetische Diktator, scherzhaft Uncle Joe genannt, aber, wie alle wissen, ein Massenmörder. Der Sieg der Roten Armee hat ihm einen ungeheuren Machtzuwachs beschert. Jedem ist das bewusst, und so kann er es sich leisten, ganz zurückhaltend aufzutreten. Er gibt den guten Zuhörer und spricht selbst nur wenig und wenn, dann sehr leise. Allerdings sieht er nicht gut aus: das Gesicht fahl, der Schnäuzer ausgedünnt, seine Bewegungen langsam und steif. Im krassen Gegensatz dazu steht die Vitalität des agilen, breit lächelnden Präsidenten Harry S. Truman mit seinen hellen Sommerschuhen: Er ist die Verkörperung der neuen Supermacht USA. Charles de Gaulle, der Präsident der provisorischen französischen Regierung, hat dagegen trotz Protesten keine Einladung nach Potsdam bekommen. Er ist in den Augen der anderen höchstens ein Sieger von ihren Gnaden.

Eigentlich sollte die Konferenz eine Siegesfeier werden, doch davon ist wenig zu spüren. Voller Misstrauen beäugen sich die Großen Drei am rot befilzten Tisch. Die Luft ist geschwängert von Stalins Zigaretten und Churchills Zigarren. Papiere knistern, Dolmetscher murmeln … und ab und zu macht es „klatsch“: Dann hat ein Diplomat eine Mücke erschlagen.

In langen Gesprächen, die sich über mehr als zwei Wochen hinziehen, einigt man sich darauf, dass erst einmal alles so bleiben soll, wie es ist: Deutschland zerfällt in vier Besatzungszonen, eine britische, eine amerikanische, eine sowjetische und – auf drängenden Wunsch aus Paris – eine französische. Trotz dieser Aufteilung soll Deutschland als „wirtschaftliche Einheit“ behandelt werden. Französische Gebietsforderungen werden überwiegend zurückgewiesen. Das Saargebiet kann Frankreich vielleicht bekommen, beim Rheinland ist man sich unschlüssig, aber eine Abtrennung des Ruhrgebiets kommt nicht infrage.

In der Nacht zum 25. Juli wird Churchill von bösen Vorahnungen geplagt. „Ich träumte, dass das Leben vorbei war. Ich sah in aller Deutlichkeit, wie meine Leiche von einem weißen Tuch bedeckt in einem leeren Raum auf einem Tisch lag. Ich erkannte meine bloßen Füße, die unter dem Tuch hervorragten. Es war sehr lebensecht.“ An diesem Tag fliegt er nach London, um sich über das Ergebnis der vorangegangenen Parlamentswahl zu informieren. Er hat verloren. Seine Frau Clementine versucht, ihn zu trösten: „Vielleicht ist das ein versteckter Segen.“ Seine Antwort: „Wirklich sehr gut versteckt.“

Baden-Baden. Da General de Gaulle in Potsdam nicht eingeladen war, fühlt er sich an die Beschlüsse auch nicht gebunden und blockiert sie, wo er kann. Im Oktober 1945 hält er im Kurhaus von Baden-Baden eine Rede vor französischen Offizieren und Soldaten. Die Leitfrage lautet: „Was soll man mit Deutschland machen?“ Seine Antwort darauf sind dieselben Ideen, die er schon 1943 in seinem Streitgespräch mit Jean Monnet ausgebreitet hat: Die von Bismarck herbeigeführte Vereinigung soll rückgängig gemacht werden, einen deutschen Nationalstaat soll es in Zukunft nicht mehr geben. Und möglichst viele westliche Territorien sollen mit Frankreich verbunden werden. Auch auf das Ruhrgebiet will er nicht verzichten: „Dieses Ruhrgebiet ist ein Pfand und ein Hilfsmittel zugleich. Ein Pfand, weil ohne das Ruhrgebiet Deutschland sich nicht wieder erheben und uns erneut bedrohen, angreifen, niederwerfen kann. Ein Hilfsmittel für den Wiederaufstieg Westeuropas, und besonders ein Hilfsmittel, das Frankreich helfen soll, eine große Industriemacht zu werden. Dieses Ziel kann Frankreich nur mithilfe der Produktionskraft des Ruhrgebiets erreichen.“ Gleichzeitig strebt de Gaulle einen gemeinsamen Wirtschaftsraum mit den Benelux-Staaten an. So soll eine französische Weltmacht zu beiden Seiten des Rheins entstehen.

Paris. 1946 erhält Jean Monnet einen Auftrag von nationaler Bedeutung: Als Chef der französischen Planungsbehörde soll er dafür sorgen, dass Frankreich zu eben jener dominierenden Wirtschaftsmacht auf dem europäischen Kontinent aufsteigt, die bisher Deutschland gewesen ist. Dazu muss Deutschland niedergehalten werden – es soll nur noch eine bestimmte Menge Stahl produzieren dürfen. Gleichzeitig soll Frankreich seine Stahlkapazität enorm ausbauen, seine Produktivität erhöhen und seine Industrie modernisieren. Denn seit dem Börsencrash am „Schwarzen Freitag“ 1929 ist der Produktionsstandort Frankreich im internationalen Vergleich immer weiter zurückgefallen. Monnet soll das ändern und entwickelt dafür als nunmehr oberster Wirtschaftslenker einen Fahrplan, der nach ihm der Monnet-Plan genannt wird. Man könnte ihn auch den Frankreich-zuerst-Plan nennen.

Köln. Am 24. März 1946 hält der Vorsitzende des Landesverbands Rheinland der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (CDU) eine Rede in der Aula der halb zerstörten Universität. Die strengen, maskenhaften Züge dieses 70 Jahre alten Mannes sind hier vielen vertraut, denn es ist der ehemalige Oberbürgermeister Konrad Adenauer. Er hat den Krieg knapp überlebt, seine Familie hat es irgendwie geschafft, ihn aus der Gestapo-Haft frei zu bekommen. Und offenbar hat er trotz seines fortgeschrittenen Alters noch Pläne. Die Rede, die er jetzt hält, beweist das. Sie ist sehr lang, dauert mehrere Stunden. Es ist eine schonungslose Bestandsaufnahme. Adenauer konstatiert einen „Absturz des deutschen Volkes ins Bodenlose“. Im Moment gebe es keine Aussicht auf eine bessere Zukunft. Die Deutschen verharrten „in völliger politischer Machtlosigkeit, verachtet von allen Völkern der Erde“. Adenauer verlangt von ihnen – und das ist zu dieser Zeit alles andere als selbstverständlich – eine Gewissenserforschung. Die Schuld lasse sich nicht auf andere abschieben. „Der Nationalsozialismus hat uns unmittelbar in die Katastrophe hineingeführt. Das ist richtig. Aber der Nationalsozialismus hätte in Deutschland nie zur Macht kommen können, wenn er nicht in breiten Schichten der Bevölkerung vorbereitetes Land für seine Giftsaat gefunden hätte. Ich betone: in breiten Schichten der Bevölkerung. Es ist nicht richtig, jetzt zu sagen, die Bonzen, die hohen Militärs oder die Großindustriellen tragen allein die Schuld. Gewiss, sie tragen ein volles Maß an Schuld. Aber breite Schichten des Volkes, der Bauern, des Mittelstandes, der Arbeiter, der Intellektuellen, hatten nicht die richtige Geisteshaltung, sonst wäre der Siegeszug des Nationalsozialismus in den Jahren 1933 und folgende im deutschen Volk nicht möglich gewesen.“ Weniger als ein Jahr nach Kriegsende sind das ungewöhnlich deutliche Worte.

Adenauer spricht auch über die Sorgen von Deutschlands westlichen Nachbarn. Er könne voll und ganz nachvollziehen, dass sie nach den Erfahrungen der letzten Kriege Angst vor Deutschland hätten. Deshalb gilt für ihn: „Es muss eine Lösung der deutschen Frage gefunden werden, die organischer Natur und darum von Dauer ist.“ Eine Abtrennung des Rheinlands und des Ruhrgebiets sei keine derartige Lösung und könne auch nicht im Interesse Frankreichs sein, denn: „Wer eine solche Abtrennung vornimmt, muss sich auch die Frage vorlegen, was denn aus dem übrigen Deutschland werden soll, ob das übrige Deutschland nicht dadurch, um einen Ausspruch eines ausländischen Blattes zu gebrauchen, zu einem verwesenden Leichnam mitten in Europa wird, der genauso tödlich für dieses sein würde, wie ein siegreiches nationalsozialistisches Deutschland es gewesen wäre.“

Adenauer hat eine andere Lösung für das deutsche Problem anzubieten: „Ich bin Deutscher und bleibe Deutscher“, sagt er, „aber ich war auch immer Europäer und habe als solcher gefühlt. Deshalb bin ich von jeher für eine Verständigung mit Frankreich eingetreten.“ Mehr noch: Er erinnert daran, dass er sich schon in den 20er Jahren als Kölner Oberbürgermeister für eine Verflechtung der westdeutschen mit der französischen und belgischen Wirtschaft eingesetzt habe, „weil parallel laufende, gleichgeschaltete wirtschaftliche Interessen das gesündeste und dauerhafteste Fundament für gute politische Beziehungen zwischen den Völkern sind und immer bleiben werden. Heute sind ganz andere Zukunftsmöglichkeiten für Westeuropa, für ganz Europa möglich als damals.“ Und damit meint er: die „Vereinigten Staaten von Europa unter Einschluss Deutschlands“. Wenn ein solcher Zusammenschluss Realität würde, müsste Deutschland nicht zerschlagen werden und dennoch hätten Frankreich und die anderen Nachbarländer nichts mehr zu befürchten: „Die Vereinigten Staaten von Europa sind die beste, sicherste und dauerhafteste Sicherung der westlichen Nachbarn Deutschlands.“ Er denkt groß, dieser Repräsentant einer noch weitgehend unbekannten Partei in der britischen Besatzungszone. An Selbstbewusstsein mangelt es ihm nicht, seine Rede klingt schon fast wie eine Regierungserklärung.

Im darauffolgenden Sommer meldet sich bei ihm ein Besucher aus London: Duncan Sandys, der Schwiegersohn von Winston Churchill. Adenauer spricht mit ihm über seine Überzeugung, dass das künftige Deutschland nicht zentral, sondern föderal aufgebaut sein muss, dass also die einzelnen Regionen zwar in einem Gesamtstaat zusammengeschlossen sein, aber weitgehende Eigenständigkeit besitzen sollen. Dieses föderale Deutschland soll in einem föderalen Europa aufgehen, in dem es eng mit Frankreich zusammenarbeitet. Sandys zeigt sich beeindruckt von dem Politiker, der nur gut ein Jahr jünger ist als sein Vater. Er sei am ehesten geeignet, dieses föderale Deutschland eines Tages zu regieren, meint Sandys. Ob Adenauer gegenüber seinem englischen Gast auch wieder von den „Vereinigten Staaten von Europa“ spricht? Tatsache ist, dass Churchill eben diese Formulierung bald darauf selbst verwenden wird – in der berühmtesten Rede, die je über die europäische Einigung gehalten wird.

Zürich. Es ist der 19. September 1946 um 10 Uhr morgens, als sich Churchill vom spitztürmigen weißen Dolder Grand Hotel hoch über der Stadt abholen lässt. Seine jüngste Tochter Mary begleitet ihn. Trotz eines kalten Herbstwinds und Nieselregens stehen die Menschen mehrere Reihen tief in den Straßen. Manche schwenken Fähnchen mit dem Union Jack. Und alle hoffen, einen Blick auf den überlebensgroßen Mitbezwinger Hitlers zu erhaschen. Kaum zu glauben, aber es ist gerade einmal sechs Jahre her, seit die Luftschlacht um England tobte und Churchill in seinen Reden durch eine „Propaganda der Ehrlichkeit“ überzeugte. Und jetzt steht er hier leibhaftig im offenen Wagen, der Mann mit der schwarzen Melone, dem Spazierstock, der Fliege und der Havanna-Zigarre im Mundwinkel. Der Retter Europas, der leibhaftige Churchill. Weiße Rosen fliegen ihm zu, noch nie ist ein Politiker von den nüchternen Eidgenossen derart bejubelt worden.

Es ist sein aus Winterthur stammender Kunstlehrer Charles Montag, der den passionierten Landschaftsmaler zu einem dreiwöchigen Urlaub in der Schweiz überredet hat. Die kleine Insel der Seligen mitten im zerstörten Europa kann einen Besuch des alliierten Kriegshelden gut gebrauchen, da ihr allzu enge Handels- und Finanzbeziehungen zu Nazi-Deutschland angelastet werden. Während seiner Ferien am See ist Churchill mit Geschenken und Briefen aus der Bevölkerung überhäuft worden. Schweizer Regierungsvertreter zeigen dagegen deutliche Anzeichen von Nervosität: In seiner letzten großen Rede am 5. März 1946 in Fulton, Missouri, hat Churchill das Niederlassen eines Eisernen Vorhangs durch Stalin beklagt, was in Moskau Irritationen ausgelöst hat. Eine neuerliche, nunmehr von Schweizer Boden ausgehende Verstimmung wollen die Behörden vermeiden. Vorsorglich hat sich die Universität auch entschlossen, Churchill keine Ehrendoktorwürde zu verleihen – dies sowohl mit Blick auf die Sowjetunion als auch aus Rücksicht auf einige braune Professoren, deren Gegenstimmen die Hochschule vor der Weltöffentlichkeit in Misskredit bringen könnten. Auf Bitten der Gastgeber hat der britische Generalkonsul Churchill den dringenden Hinweis gegeben, seine Rede solle am Besten gänzlich unpolitischer Natur sein. Churchill hat daraufhin nur verächtlich geschnaubt. „Über was sonst soll ich sprechen als über Politik?“

11.15 Uhr. In der blumengeschmückten Universitätsaula tritt der 71 Jahre alte Staatsmann ans Redepult. „Ich möchte heute über Europas Tragödie zu Ihnen sprechen“, hebt er an. „Dieser edle Kontinent, der alles in allem die schönsten und kultiviertesten Gegenden der Erde umfasst und ein gemäßigtes, ausgeglichenes Klima genießt, ist die Heimat aller großen Muttervölker der westlichen Welt. Wäre jemals ein vereintes Europa imstande, sich das gemeinsame Erbe zu teilen, dann genössen seine 300 oder 400 Millionen Einwohner Glück, Wohlstand und Ehre in unbegrenztem Ausmaß.“

Churchill spricht in einem ruhigen, vergleichsweise unpathetischen Tonfall. Nicht nur die Honoratioren in der Aula selbst, sondern über Lautsprecher auch die im Auditorium Maximum versammelten Studenten und über Radio zahllose andere Menschen lauschen gebannt, als Churchill dieses Bild nun mit der derzeitigen Lage in Europa kontrastiert: Das Machtstreben der „teutonischen Nationen“ habe Europa in großes Unglück gestürzt. „Zwar haben sich einige der kleineren Staaten gut erholt, aber in weiten Gebieten starren ungeheure Massen zitternder menschlicher Wesen gequält, hungrig, abgehärmt und verzweifelt auf die Ruinen ihrer Städte.“ Gibt es einen Ausweg aus dieser Lage? Gewiss: Es gibt „ein Mittel, das, würde es allgemein und spontan von der großen Mehrheit der Menschen in vielen Ländern angewendet, wie durch ein Wunder die ganze Szene verändern und in wenigen Jahren ganz Europa, oder doch dessen größten Teil, so frei und glücklich machen würde, wie es die Schweiz heute ist. Welches ist dieses vorzügliche Heilmittel? Es ist die Neuschöpfung der europäischen Völkerfamilie. Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa errichten.“

Eine lebende Legende. Winston Churchill 1948 neben dem französischen Sozialisten und Résistance-Kämpfer Paul Ramadier beim Europa-Kongress in Den Haag. Das leidenschaftliche Engagement des damals angesehensten westlichen Politikers sicherte der europäischen Bewegung in den ersten Nachkriegsjahren internationale Beachtung und Unterstützung.

Im Jahr nach der Befreiung von Auschwitz sind dies ungeheuerliche Worte. Die meisten Zuhörer dürften sich an dieser Stelle unwillkürlich fragen: Vereinigte Staaten von Europa – etwa auch unter Einbeziehung Deutschlands? Churchill ist sich dessen bewusst: Deutschland habe „Verbrechen und Massenmorde begangen, für die es seit der mongolischen Invasion im 14. Jahrhundert keine Parallele gibt“, stellt er klar. Deshalb müsse es der Macht beraubt werden, „sich wieder zu bewaffnen und einen neuen Angriffskrieg zu entfesseln. Aber wenn all das getan worden ist, so wie es getan werden wird, so wie man es bereits jetzt tut, dann muss die Vergeltung ein Ende haben.“ Den Schrecknissen der Vergangenheit müsse man dann den Rücken zuwenden und in die Zukunft schauen.

Was Churchill bis zu dieser Stelle gesagt hat, ist schon brisant genug. Doch jetzt geht er noch weiter. „Ich sage Ihnen jetzt etwas, das Sie erstaunen wird“, warnt er vor. „Der erste Schritt zu einer Neuschöpfung der europäischen Völkerfamilie muss eine Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland sein. Nur so kann Frankreich seine moralische und kulturelle Führungsrolle in Europa wiedererlangen. Es gibt kein Wiederaufleben Europas ohne ein geistig großes Frankreich und ein geistig großes Deutschland.“ Unter der Führung dieser beiden Nationen müsse die europäische Völkerfamilie in einer „Union“ zusammengeführt werden, und all das schnell, denn „vielleicht bleibt wenig Zeit“. Und Großbritannien selbst? Die Briten stehen an der Spitze einer weltumspannenden anglophonen Gemeinschaft, dem Commonwealth. „Großbritannien, das britische Commonwealth, das mächtige Amerika und, so hoffe ich wenigstens, Sowjetrussland – denn dann wäre tatsächlich alles gut – sollen die Freunde und Förderer des neuen Europas sein und dessen Recht, zu leben und zu leuchten, beschützen. Darum sage ich Ihnen: Lassen Sie Europa erstehen!“ Tosender Applaus folgt auf diese Worte. Auf dem Weg zum Ausgang zwinkert Churchill einem schweizerischen Diplomaten zu: „Sie sehen, ich habe nicht über die Russen gesprochen!“

Das stimmt zwar – aber die Rede ist dennoch für viele eine Provokation. Vor allem in Frankreich stößt sie auf Ablehnung. Churchills Schwiegersohn Duncan Sandys besucht wenig später de Gaulle. Dieser ist im Januar 1946 als Präsident der Provisorischen Regierung zurückgetreten, weil er die Verfassung der Vierten Republik ablehnt, da sie dem Präsidenten nur sehr begrenzte Macht zugesteht. Seitdem ist er ohne Amt, hat aber weiter großen Einfluss. Der General weist seinen englischen Gast darauf hin, dass die Rede in seinem Land sehr schlecht angekommen sei. Deutschland sei als Staat nicht länger existent. Alle Franzosen stimmten darin überein, dass es kein neues vereinigtes Reich geben dürfe, denn sonst bestehe die große Gefahr, dass das Vereinigte Europa ein vergrößertes Deutschland werde. „Er betonte, wenn es gelingen soll, in Frankreich Unterstützung für die Idee einer Europäischen Union zu gewinnen, dann müsse Frankreich zusammen mit Großbritannien als Gründungsmitglied eintreten. Zudem müssten sich beide Länder auf eine ganz klare Haltung mit Bezug auf Deutschland einigen, bevor dieses in irgendeiner Weise einbezogen werden könne.

Was die Rolle Großbritanniens betrifft, so hat Churchill in seiner Rede keinen Zweifel daran gelassen, dass es die Vereinigung der europäischen Staaten zwar fördern, aber nicht selbst dazugehören soll. Schon seit Langem ist seine Überzeugung: „We are with Europe, but not of it.“ (Wir stehen an der Seite Europas, aber wir sind nicht Teil davon.) In vertraulichen Gesprächen schließt er eine Beteiligung aber nicht aus. Am Abend vor der Rede hat er zu zwei Schweizer Diplomaten gesagt: „Ich habe es vorgezogen, die Frage einer britischen Mitgliedschaft in den Vereinigten Staaten von Europa nicht zu betonen, um deutlich zu machen, dass es Aufgabe der übrigen Nationen wäre, uns einzuladen. Man darf nicht den Eindruck erwecken, wir wollten Europa kontrollieren, auch wenn klar ist, dass nur Britannien heute diese Führungsrolle zu übernehmen vermöchte.“ Zu seiner Frau sagt Churchill: „Wenn ich zehn Jahre jünger wäre, könnte ich vielleicht der erste Präsident der Vereinigten Staaten von Europa werden.“

Hertenstein. Sonntag, 22. September 1946. Alphornblasen und Jodelgesang ertönen auf der Rütli-Wiese. Fahnen flattern, neugieriges Publikum ist hinzugeströmt. Nur drei Tage nach Churchills Rede soll auf dieser Wiese im malerischen Dorf Hertenstein am Vierwaldstätter See Geschichte geschrieben werden, so wie schon einmal vor langer Zeit. Damals, der Überlieferung nach im Jahr 1291, schlossen sich hier mit dem Rütli-Schwur drei schweizerische Kantone zur Eidgenossenschaft zusammen. Daraus ist schließlich die föderale und mehrsprachige Schweiz hervorgegangen. Nun soll auf der Wiese wieder etwas Großes seinen Anfang nehmen. An diesem Tag soll hier eine europäische Eidgenossenschaft gegründet werden, die „Europäische Union“. Nicht von Regierungsvertretern, sondern von 79 Bürgern aus 13 europäischen Ländern und den USA. Idealisten sind es, Aktivisten, Intellektuelle. Männer und Frauen. In den vorangegangenen Tagen haben sie einen wahren Gesprächsmarathon absolviert. Zwischendurch haben sie von Churchills Rede erfahren und kurz überlegt, ob sie ihm ein Unterstützungstelegramm schicken sollten. Aber die Mehrheit hat das verworfen. Das Europa, das sie wollen, ist ein anderes als das des konservativen Kriegspremiers. Sie wollen einen radikalen Neuanfang. Keinen lockeren Staatenverbund, sondern einen Bundesstaat mit gemeinsamer Verfassung und eigenen Bürgerrechten, mit einem Parlament mit gesetzgeberischen Kompetenzen, hervorgegangen aus freien Wahlen. Eine europäische Volksbewegung soll diese völlige Neugestaltung des Kontinents zuwege bringen, und zwar nicht in einem allmählichen Prozess, sondern möglichst unverzüglich. Die Grundhaltung der hier versammelten europäischen Föderalisten ist: Dieser letzte Krieg war so furchtbar, dass nichts so bleiben kann, wie es war. Die Nationalstaaten müssen aufgelöst werden – wir brauchen jetzt ganz schnell ein vereintes Europa! Und dieses neue Europa muss ein Friedensprojekt sein, als Antwort auf die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. „Die Europäische Union richtet sich gegen niemanden und verzichtet auf jede Machtpolitik, lehnt es aber auch ab, Werkzeug irgendeiner fremden Macht zu sein.“ Diejenigen, die so denken, stellen im Europa der unmittelbaren Nachkriegszeit keineswegs eine kleine Minderheit politischer Schwärmer dar. Allein die Union europäischer Föderalisten (UEF) hat 100 000 zahlende Mitglieder.

Erstmals seit dem Krieg sitzen in Hertenstein auch Vertreter Deutschlands und Österreichs gleichberechtigt am Tisch – allerdings sind es Exilanten wie die seit 1933 in der Schweiz lebende Pazifistin Anna Siemsen. Ausreisegenehmigungen aus Deutschland sind von den Alliierten nicht erteilt worden. Auf Initiative der niederländischen Delegation verabschiedet die Hertensteiner Konferenz einstimmig, dass Deutschland als vollwertiges Mitglied in die künftige Europäische Union aufgenommen werden soll.

Berlin. Die vierte Klasse einer Mädchenschule erhält das Aufsatzthema „Mein schönster Tag“. Eine Schülerin schreibt: „Mein schönster Tag war der, an dem mein Bruder Friedrich starb. Seitdem habe ich einen Mantel und Schuhe und Strümpfe und eine gestrickte Weste.“

Von November 1946 bis März 1947 ist Deutschland im Griff eines Extremwinters. Es ist der kälteste seit 1880. Frostperiode folgt auf Frostperiode. Die Temperaturen sinken auf minus 20 Grad. Das in Trümmern liegende Land verschwindet unter Schneewehen. Die Elbe ist vollständig zugefroren, der Rhein auf einer Länge von 60 Kilometern. Wasserleitungen vereisen, Abflussrohre platzen. Da die Toiletten nicht mehr funktionieren, entdeckt man den Nachttopf wieder. Der Inhalt wird einfach aus dem Fenster gekippt. Damit herrschen in Deutschland wieder Zustände wie im Mittelalter. So weit ist es gekommen. So tief ist das Land gesunken.

Eisblumen bedecken die Fensterscheiben. Dann kriechen sie auch über die Wände der Wohnungen, und schließlich sind sogar die Bettdecken mit einer Kristallschicht überzogen. In den deutschen Städten ist mehr als die Hälfte des Wohnraums zerbombt. Zehn Millionen Vertriebene aus dem Osten suchen zusätzlich eine Unterkunft. Die Verkehrsverbindungen sind zu 40 Prozent zerstört, die Kriegsvorräte aufgebraucht. Die Abschottung der Besatzungszonen verhindert den Warenaustausch. Die Sieger demontieren vielerorts Maschinen und fordern Reparationen ein. Viele Felder und Höfe sind vom Krieg verwüstet, es fehlt an Dünger und Landmaschinen. Wegen eines sehr heißen Sommers ist ein Teil der Ernte vertrocknet. Die Kartoffel- und Getreidelieferungen aus den deutschen Ostgebieten fallen weg, weil dort nun Polen oder Sowjets regieren. Die Folge: Hunger. Überall in Deutschland sieht man spindeldürre Kinder mit Blähbäuchen. Die zahllosen Toten können nicht beerdigt werden, weil der Boden zu hart ist.

Der ehemalige US-Präsident Herbert C. Hoover, der das Land im Auftrag der Regierung im Februar 1947 besucht, stellt fest: „Die große Masse des deutschen Volkes ist, was Ernährung, Heizung und Wohnung anbelangt, auf den niedrigsten Stand gekommen, den man seit hundert Jahren in der westlichen Zivilisation kennt.“ So aber würden auch die anderen Länder nicht wieder auf die Beine kommen, denn: „Die gesamte Wirtschaft Europas ist mit der deutschen Wirtschaft durch den Austausch von Rohstoffen und Fertigwaren eng verkettet. Die Produktionsfähigkeit Europas kann nicht wieder hergestellt werden, ohne dass Deutschland in die Lage versetzt wird, zu dieser Produktivität beizutragen.“ Eine gedemütigte Nation sei zudem anfällig für linke und rechte Demagogen. Hoovers Mahnung an Präsident Truman: „Man kann Vergeltung oder Frieden haben. Aber nicht beides.“

Cambridge, Massachusetts. Nur zwölf Minuten lang ist die Rede, die der neue amerikanische Außenminister George Catlett Marshall an diesem sonnigen Vormittag des 5. Juni 1947 vor einer Absolventen-Klasse im Hof der Harvard-Universität hält. Der hochgewachsene Fünf-Sterne-General ist nicht dafür bekannt, viele Worte zu machen. Stattdessen ist er ein guter Zuhörer, der alle Fakten abspeichert, analysiert und dann darauf reagiert. Sein Motto: „Kämpfen Sie nicht gegen Probleme, lösen Sie sie!“ Die kurze Rede, die er nun hält, hat er erst an diesem Morgen im Flugzeug aus Washington entworfen. „Das wirtschaftliche Gefüge Europas ist während des Krieges vollständig zusammengebrochen“, erklärt „General Marshall“, wie er sich von allen außer von engsten Familienmitgliedern anreden lässt. Um zu überleben, sei Europa derzeit auf den Import von Nahrungsmitteln und anderen Gütern vornehmlich aus den USA angewiesen. Es könne diese aber derzeit nicht bezahlen, so dass eine völlige Verarmung und schwere Aufstände drohten. Dies könne unmöglich im Interesse der USA sein. „Logischerweise müssen die Vereinigten Staaten alles, was in ihrer Macht steht, unternehmen, um zur Rückkehr normaler wirtschaftlicher Verhältnisse beizutragen.“ Dafür sei „wesentliche zusätzliche Hilfe“ für Europa nötig – Hilfe, die „Heilung und nicht bloß Linderung“ verspricht. Das bedeutet also: Die US-Regierung ist dazu bereit, massive finanzielle Mittel bereitzustellen. Wer soll sie bekommen? „Jede Regierung, die am Wiederaufbau mitarbeiten will.“ Niemand ist ausgenommen, nicht Deutschland, nicht Polen, nicht die Tschechoslowakei oder Ungarn, noch nicht einmal die Sowjetunion. „Unsere Politik richtet sich nicht gegen irgendein Land oder eine Anschauung, sondern gegen Hunger, Armut, Verzweiflung und Chaos. Ihr Ziel ist die Wiederbelebung einer leistungsfähigen Weltwirtschaft.“ Nur eine deutliche Warnung spricht Marshall aus: „Eine Regierung, die darauf hinarbeitet, den Wiederaufbau anderer Länder zu behindern, kann von uns keine Hilfe erwarten.“ Dieser Satz kann als versteckte Drohung gegen Frankreich verstanden werden, das seine Besatzungszone gegen alle Versuche abschottet, wenigstens die Wirtschaft der drei Westzonen zu vereinheitlichen.

Für die Hilfen nennt Marshall eine deutliche Bedingung: Die infrage kommenden Staaten müssen selbst ein Programm dafür entwickeln, wie die Gelder aus den USA eingesetzt werden sollen – und sie müssen dies gemeinsam tun. „Das Programm sollte von den europäischen Nationen gemeinsam aufgestellt sein.“ Damit zwingt die US-Regierung die europäischen Staaten zur Zusammenarbeit. Ihr Ziel dabei ist, die einstigen Feinde auf den Weg zu einer europäischen Einigung zu bringen. Denn Washington ist zu der Überzeugung gelangt, dass nur ein geeintes Europa zukunftsfähig ist. Zum einen könnte Deutschland durch eine solche Einbindung in das europäische Staatensystem eingedämmt und kontrolliert werden, zum anderen entstünde so ein Gegengewicht zur Sowjetunion. Von jetzt an treten die USA als großer Förderer der europäischen Einheit auf.

Marshalls Zuhörern in Harvard entgeht an diesem Vormittag die historische Tragweite seiner Ankündigung. Erst später wird das nun folgende European Recovery Program als Marshall-Plan bekannt werden und seinem Initiator den Friedensnobelpreis einbringen. Die Sowjetunion wird die amerikanische Hilfe letztlich ausschlagen und ihre osteuropäischen Satellitenstaaten dazu zwingen, dies ebenfalls zu tun. Die westeuropäischen Staaten dagegen gründen 1948 die Organisation für wirtschaftliche europäische Zusammenarbeit, die – wie von den USA verlangt – ein gemeinsames Konzept zum wirtschaftlichen Wiederaufbau erstellt. Es ist das erste Mal, dass die europäischen Staaten in dieser Weise zusammenarbeiten.

London. Vom India Office in Whitehall aus hat Großbritannien ein Weltreich gelenkt. Nun tagt hier seit dem 23. Februar 1948 die Sechsmächtekonferenz, bestehend aus den USA, Großbritannien, Frankreich und den Benelux-Staaten. Sie beraten über die Zukunft Westdeutschlands. Ein letztes Mal pocht Frankreich auf die Abtrennung des Rheinlands, doch das ist mit den anderen nicht zu machen. Als Zugeständnis an Frankreich soll es lediglich das Saarland wirtschaftlich kontrollieren dürfen. Außerdem wird entschieden, die Kohle- und Stahlproduktion des Ruhrgebiets einer Internationalen Ruhrbehörde zu unterstellen. Im Übrigen beschließt die Konferenz die Gründung eines neuen deutschen Staates auf dem Gebiet der drei westlichen Besatzungszonen. Es soll eine Demokratie nicht zentralistischer, sondern föderaler Prägung werden: mit begrenzter Eigenständigkeit für die Länder. Die bereits bestehenden elf Länderparlamente in den drei Besatzungszonen werden beauftragt, einen Parlamentarischen Rat zu bilden und dort die Verfassung für die künftige Republik auszuarbeiten.

Den Haag. Noch lange nicht überall sind die Deutschen willkommen, selbst wenn sie sich jetzt Demokraten nennen. Das niederländische Kabinett kommt am 3. Mai 1948 zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen. In vier Tagen soll in Den Haag ein großer Europa-Kongress mit Vertretern aus 30 Ländern beginnen, darunter auch etwa 60 aus Deutschland. Die Regierung soll ihnen Einreisevisa ausstellen, doch damit sind viele Minister nicht einverstanden. Die Deutschen haben fast alle niederländischen Juden ermordet, Hunderttausende als Zwangsarbeiter deportiert und das Land völlig ausgeplündert – und jetzt, drei Jahre nach der Befreiung, soll Ministerpräsident Louis Beel sie hier zu einer Cocktailparty empfangen? Undenkbar! Doch dann erfolgt eine Intervention von Außenminister Pim Baron van Boetzelaer van Oosterhout: Kein Geringerer als Winston Churchill lege höchsten Wert auf die Anwesenheit der deutschen Teilnehmer. Er habe bereits damit gedroht, sich selbst einzuschalten, falls die niederländische Regierung ihre Kooperation verweigern sollte. Widerwillig gibt das Kabinett nach – eine Auseinandersetzung mit Churchill kurz vor seinem mit Spannung erwarteten Besuch ist das Letzte, was man will. Immer mal wieder wird Churchill in den nächsten Monaten die mahnende Frage stellen: „Wo sind die Deutschen?“

Der Kongress vom 7. bis zum 10. Mai 1948 ist eine Veranstaltung von Europa-Aktivisten verschiedenster Couleur. Sie lassen sich im Wesentlichen in zwei Lager einteilen: Föderalisten und Unionisten. Die Föderalisten sind diejenigen, die ein wirklich vereinigtes Europa mit gemeinsamer Regierung, gemeinsamem Parlament und gemeinsamer Verfassung anstreben. Die Nationalstaaten sollen sich auflösen. Für die Unionisten sind das unrealistische Träumereien. Europa kann nach ihrer Auffassung nur allmählich als Verbund souveräner Staaten aufgebaut werden, und dieser Prozess kann nicht von unten durch Aktivisten in Gang gesetzt werden, sondern nur von pragmatisch denkenden erfahrenen Staatsmännern.

Die zur Finanzierung des Kongresses notwendigen 200 000 Gulden – ein enormer Betrag – werden im Wesentlichen von niederländischen Unternehmen wie dem Elektronikhersteller Philips und der Konfektionskette C&A aufgebracht. Die niederländische Regierung beschränkt sich darauf, den altehrwürdigen Rittersaal im historischen Binnenhof als Tagungsort zur Verfügung zu stellen. Darüber weht für die Dauer der Zusammenkunft eine von Churchills Schwiegersohn Duncan Sandys entworfene Europaflagge: ein großes E auf weißem Grund. Ein Kommentator des „New Yorker“ fühlt sich dadurch an eine zum Trocknen aufgehängte lange Unterhose erinnert – die Zwischenräume zwischen den Balken des „E“ sehen für ihn aus wie weiße Hosenbeine.

Am Donnerstagabend – es ist Himmelfahrtstag – schwebt Churchill in Den Haag ein. Es herrscht eine Stimmung freudiger Erwartung. Bei fast schon sommerlichem Frühlingswetter ist die tulpengeschmückte Stadt voller radfahrender Familien, die einen Blick auf das große Ereignis erhaschen wollen. Um was es dabei geht, wissen wohl die wenigsten, aber dass Churchill in der Stadt ist, der hochverehrte, ja geliebte Kriegsheld und Befreier, das empfinden sie als Sensation. Alle anderen Politiker stehen ganz in seinem Schatten. Unter ihnen sind Vertreter der Vorkriegsgeneration wie die beiden französischen Ministerpräsidenten des Kriegsjahrs 1940, Édouard Daladier und Paul Reynaud, die beide jahrelang von den Deutschen inhaftiert worden sind. Anwesend sind aber auch junge politische Talente wie der Mitverfasser des Manifests von Ventotene, Altiero Spinelli, eine der treibenden Kräfte hinter der Union europäischer Föderalisten (UEP), der französische Parlamentsabgeordnete François Mitterrand und der konservative britische Politiker Harold Macmillan. Eine kleine Minderheit bilden die Frauen, aber daran nimmt zu dieser Zeit noch niemand Anstoß. Aus Deutschland angereist sind unter anderem Konrad Adenauer, der Justizminister von Nordrhein-Westfalen, Gustav Heinemann, und der Frankfurter Rechtsprofessor Walter Hallstein, der hier zum ersten Mal Bekanntschaft mit Adenauer macht. Für ihn hält die Zukunft noch einiges bereit: Die Schuhe, die er hier im vergleichsweise gut sortierten Den Haag kauft, wird er noch zehn Jahre später als erster Präsident der Europäischen Kommission tragen.

Insgesamt ist es eine Gesellschaft, wie man sie so bunt und vielfältig in Europa schon lange nicht mehr gesehen hat. „Sozialisten, Liberale und Konservative, Gläubige und Freidenker, Großunternehmer, Banker, Finanziers, Wirtschaftswissenschaftler und Gewerkschaftsführer, Parlamentarier und Wissenschaftler, Militärs und Künstler“ – so zählt sie der niederländische Senator Pieter Kerstens auf, der den Kongress ganz wesentlich organisiert, die Sponsorengelder gesammelt und aus eigener Tasche 25 000 Gulden zugeschossen hat.

Am nächsten Tag, Freitag, 7. Februar, betritt Churchill im Frack den mit 800 Delegierten voll besetzten Rittersaal. Das dort geltende Rauchverbot ist mit Rücksicht auf ihn vorübergehend außer Kraft gesetzt worden, so dass er sich erst einmal eine dicke Zigarre anzündet. Seit seiner Rede in Zürich habe die Europa-Bewegung mächtig an Fahrt aufgenommen, hebt er an. Der hier versammelte Kongress könne mit Recht für sich beanspruchen, die Stimme Europas zu sein. „Vor den heraufziehenden Gefahren werden wir uns nur dann retten können, wenn wir den Hass der Vergangenheit vergessen, wenn wir nationale Bitterkeit und Rachegefühle sterben lassen, wenn wir schrittweise Grenzen und Hindernisse beseitigen, die das, was uns trennt, verschlimmern und konservieren, und wenn wir uns gemeinsam des großartigen Schatzes an Literatur, Romantik, Ethik, Philosophie und Toleranz erfreuen, der allen gehört und der das wahre Erbe Europas ist, Ausdruck seines Genius und seiner Ehre, den wir aber durch unsere Streitigkeiten und Dummheiten, unsere schrecklichen Kriege und die grausamen und furchtbaren Taten, die durch Krieg und Tyrannen ausgelöst worden sind, fast weggeworfen haben.“

Das Treffen, mit dem alles begann. Der Europa-Kongress von 1948 im Rittersaal von Den Haag. Im Hintergrund das Europa-Logo, das als weiße Unterhose an der Wäscheleine verspottet wurde.

Dann sagt er etwas, was die anwesenden Deutschen tief bewegt: „Vor einiger Zeit habe ich gesagt, dass es die stolze Aufgabe der Siegernationen sei, die Deutschen an die Hand zu nehmen und sie zurück in die europäische Familie zu führen. Europa braucht alle Franzosen, alle Deutschen und alles, was ein jeder von uns geben kann. Darum heiße ich hier die deutsche Delegation willkommen, die wir in unsere Mitte eingeladen haben.“ Es gelte jetzt, Deutschland wirtschaftlich wieder aufzubauen, damit es seinen alten Ruhm zurückerlangen könne, ohne dabei seine militärische Macht wiederherzustellen. Nur im Rahmen des Vereinigten Europas könne das gelingen.

Zurzeit könnten sich an diesem Projekt nur die westeuropäischen Demokratien beteiligen, aber der grundsätzliche Anspruch sei, ganz Europa mit einzuschließen. „Herausragende Exilanten aus der Tschechoslowakei und aus den meisten anderen osteuropäischen Staaten und ebenso aus Spanien sind heute unter uns.“ Mit Freude und Zuversicht erwarte er den Tag, an dem ganz Europa demokratisch und vereinigt sei.

In der Auseinandersetzung zwischen Föderalisten und Unionisten bezieht Churchill nicht Stellung. Stattdessen appelliert er an beide Seiten, aufeinander zuzugehen. Weder sei es zielführend, jetzt etwa eine detaillierte Verfassung für die Vereinigten Staaten von Europa auszuarbeiten, noch dürfe man sich in unverbindlichen Erklärungen verlieren. Am Ende müsse schon ein greifbares Ergebnis stehen: „Die Aufgabe, die bei diesem Kongress vor uns liegt, besteht nicht allein darin, während dieser wenigen Tage, die wir hier versammelt sind, die Stimme des Vereinigten Europas zu erheben. Wir müssen hier und jetzt beschließen, dass in der einen oder anderen Form eine Europäische Versammlung gegründet wird, die es dieser Stimme ermöglicht, sich permanent Gehör zu verschaffen und der wir mit immer weiter zunehmender Akzeptanz in allen freien Ländern dieses Kontinents vertrauen.“ Wenn das gelinge, könnten die kleinen Kinder, die derzeit in einer gepeinigten und zerrissenen Welt aufwachsen müssten, dereinst einer strahlenden Zukunft entgegensehen.

Churchills Worte zeigen erneut große Wirkung. François Mitterrands Ehefrau Danielle, eine Résistance-Kämpferin, wird noch 60 Jahre später sagen, dies sei der Moment gewesen, in dem alles begonnen habe. „Churchills Rede war wie ein Donnerschlag.“

Im Anschluss empfängt Churchill einige Vertreter der deutschen Delegation, unter ihnen Adenauer. Er versichert ihnen, dass er keinerlei Hass gegen Deutsche hege, sondern dass im Gegenteil alle zusammenarbeiten und gemeinsam eine europäische Föderation bewerkstelligen müssten. Da Churchill kein Deutsch spricht und Adenauer kaum Englisch, verständigen sie sich über einen Dolmetscher. Adenauer ist beeindruckt von der Begegnung, aber der 74-Jährige wirkt auf ihn „doch schon sehr alt“. Er selbst ist 13 Monate jünger.

Am nächsten Tag werden die Delegierten in Arbeitsgruppen unterteilt. Alles geht ziemlich chaotisch zu und erinnert einen britischen Teilnehmer an die Atmosphäre eines Biergartens.

Amsterdam. Sonntagnachmittag, 9. Mai. Churchill ist auf dem Weg in die niederländische Hauptstadt. Aber die Sonne scheint jetzt so warm, dass er Durst bekommt. Als er am Weg ein rustikales holländisches Gasthaus mit dem Namen „De Gooische Boer“ entdeckt, lässt er seinen Chauffeur sofort stoppen. Seine Polizeieskorte bekommt davon nichts mit und fährt weiter geradeaus. Churchill genehmigt sich ein kühles Bier. Dann geht es weiter. Einige Zeit später steht er vor 40 000 Zuhörern auf dem Damplatz in der Mitte von Amsterdam. Seine Vision, so sagt er, sei ein Europa, in dem man stolz darauf sei, sagen zu können: „Ich bin ein Europäer.“ Und weiter: „Wir hoffen, ein Europa zu erleben, in dem sich die Menschen eines jeden Landes sowohl als Europäer als auch als Angehörige ihres Heimatlands betrachten, ohne dabei etwas von der Liebe und Loyalität zu ihrem Geburtsort einzubüßen. Wir hoffen, dass sie überall, wohin sie sich in diesem großen Gebiet auch wenden mögen, einem Gebiet, dem wir auf dem europäischen Kontinent keine Grenzen setzen, das aufrichtige Gefühl haben: ‚Hier bin ich zuhause. Ich bin auch ein Bürger dieses Landes.ʻ“

Den Haag. In den Arbeitsgruppen wird unterdessen bis zum frühen Morgen gerungen und gestritten. Der österreichische Graf Richard Coudenhove-Kalergi, der sich schon seit Anfang der 20er Jahre für ein „Pan-Europa“ einsetzt, bringt die zentrale Frage auf den Punkt: „Soll Europa sich zu einem kontinentalen Staatenbund zusammenschließen – oder zu einer großen Nation, zu einem Bundesstaat mit einer Bundesverfassung wie die Schweiz und die Vereinigten Staaten von Amerika?“ Mit anderen Worten: Soll Europa auf zwischenstaatlicher oder auf übernationaler Ebene integriert werden? Die Delegierten können sich in dieser Frage nicht einigen und schließen am Ende einen Kompromiss: Die europäischen Nationalstaaten sollen erhalten bleiben, aber einen Teil ihrer Souveränität auf die von Churchill geforderte „Europäische Versammlung“ übertragen. Das Presseecho auf den Kongress und seine Ergebnisse ist in der gesamten westlichen Welt gewaltig. Churchill ist sich sicher: „Dieser Europa-Kongress wird von den Historikern als Meilenstein in der Entwicklung unseres Kontinents hin zur Einheit gewürdigt werden.“

Straßburg. Die zwischen Frankreich und Deutschland so lange umkämpfte Stadt soll der passende Sitz sein für die vom Haager Kongress geforderte „Europäische Versammlung“. Der französische Außenminister Robert Schuman will sie „Europäische Union“ nennen, doch das geht seinem britischen Amtskollegen Ernest Bevin zu weit: Mehr als ein „Europarat“ soll es nicht sein. Der bullige Labour-Politiker in seinen schlecht sitzenden Anzügen, der mit elf Jahren die Schule beendet und sich dann zum Gewerkschaftsboss hochgearbeitet hat, hegt großes Misstrauen gegenüber den ambitiösen Plänen kontinentaler Europa-Enthusiasten. Er einigt sich schließlich mit den Franzosen auf einen Kompromiss: Es soll zwar eine parlamentarische Versammlung geben, in die die Parlamente der beteiligten Nationalstaaten Delegierte entsenden, doch diese Versammlung soll lediglich Vorschläge erarbeiten. Darüber beschließen soll dann ein Ministerkomitee, in dem die Außenminister der Mitgliedsstaaten vertreten sind – und zwar nach dem Einstimmigkeitsprinzip. Es ist also keine den Nationalstaaten übergeordnete Autorität vorgesehen.

Als die Abgeordneten im September 1949 „die Schaffung einer europäischen politischen Autorität mit begrenzten Funktionen, aber echten Vollmachten“ fordern, legt Bevin dagegen sein Veto ein. Auch die skandinavischen Staaten wollen keinen noch so kleinen Teil ihrer Souveränität an das überstaatliche Parlament delegieren. Damit ist das Schicksal des Europarats besiegelt, noch bevor er überhaupt richtig mit der Arbeit begonnen hat. Er bleibt zwar bestehen, ist aber irrelevant. Vielen ist jetzt klar: Trotz Churchills Pro-Europa-Kampagne wollen sich die Briten an einer Einigung des Kontinents nicht wirklich beteiligen. Wie aber soll Europa ohne seine größte Macht zusammenfinden?

Washington. Robert Schuman wird rot. Soeben hat ihn der amerikanische Außenminister Dean Acheson aufgefordert, ihm seine Vorstellungen von einer gemeinsamen Deutschlandpolitik darzulegen. Dies versetzt den französischen Außenminister in sichtliche Verlegenheit. Denn ihm ist klar, dass Frankreichs harte Linie gegenüber Deutschland nicht mehr länger durchgehalten werden kann. Es ist der 15. September 1949. Im fernen Bonn wird an diesem Tag Konrad Adenauer mit einer Stimme Mehrheit – seiner eigenen – zum Bundeskanzler gewählt. Damit gibt es wieder einen deutschen Regierungschef, und auch wenn sein Land, die Bundesrepublik, noch nicht souverän ist, so ist doch absehbar, dass es dies irgendwann sein wird. Die Amerikaner haben sich schlicht und einfach dafür entschieden, die Sowjetunion als die wesentlich größere Bedrohung zu betrachten. Westdeutschland soll künftig für den Kampf gegen den Kommunismus mobilisiert werden, die Bundesrepublik mit ihrem erheblichen Wirtschaftspotenzial ist als Teil des westlichen Bündnisses vorgesehen. Mit Reparationen darf der Wiederaufbau des Landes nach Meinung der US-Regierung nicht belastet werden – die Fehler von Versailles sollen sich nicht wiederholen.

Frankreich steht damit vor den Trümmern seiner Deutschlandpolitik. 1948 und 1949 hat die deutsche Stahlproduktion stark angezogen, zudem ist die französische Stahlindustrie von deutschen Kohlelieferungen abhängig. Damit droht der Alptraum der Franzosen Wirklichkeit zu werden: Schon wenige Jahre nach Kriegsende sind die Deutschen dabei, sie erneut zu überflügeln. Selbst eine Wiederbewaffnung des ehemaligen Kriegsgegners scheint angesichts der sowjetischen Bedrohung nur noch eine Frage der Zeit. Das ist genau das, was nicht passieren sollte, nicht passieren durfte. Schuman begreift: Es muss jetzt sehr schnell etwas geschehen. Frankreich muss seinen Widerstand gegen einen Wiederaufstieg Deutschlands aufgeben und gleichzeitig doch eine Möglichkeit finden, es zu kontrollieren. Aber wie soll das geschehen? Schließt sich beides nicht gegenseitig aus? Schuman zermartert sich den Kopf. Aber es fällt ihm nichts ein.

Porträt: Robert Schuman

Der Initiator

Monnet und Schuman werden oft in einem Atemzug genannt, und tatsächlich haben sie eng zusammengearbeitet. Persönlich aber hätten sie unterschiedlicher kaum sein können. Monnet war ein weltgewandter Cognac-Fabrikant, der den Luxus schätzte, der anspruchslose, tiefgläubige Robert Schuman (1886–1963) dagegen hatte mit seiner hageren Gestalt und dem kahlen Schädel schon rein äußerlich etwas von einem Mönch. Der spätere britische Premierminister Harold Macmillan beschrieb ihn 1950 als eine „merkwürdige, melancholische, Don-Quichotte-artige Figur, halb Politiker, halb Priester“.

Die Beurteilungen Schumans schwanken mitunter zwischen Extremen. Die einen verehren ihn als europäischen Heiligen, die anderen sagen, es sei ihm in Wahrheit nur um den Vorteil Frankreichs gegangen. Weder die eine noch die andere Sicht wird ihm gerecht. Dass Schuman als französischer Außenminister französische Interessen verfolgte, ist selbstverständlich. Das Hauptmotiv für Frankreichs europäische Integrationspolitik war – und ist – die Einbindung Deutschlands. Gleichwohl war es visionär und couragiert, dem besiegten Erbfeind nur fünf Jahre nach Kriegsende eine gleichberechtigte Position zuzugestehen.

Dass Schuman den nach ihm benannten Plan nicht erdacht hatte, schmälert sein Verdienst nicht, denn es war allein er, der diesen Plan durchsetzte – gegen einen äußerst skeptischen Regierungschef Bidault, der von einer deutsch-französischen Kooperation im Grunde nichts wissen wollte.

Der leise Gründervater Europas. Robert Schuman 1948 auf dem Weg in den Élysée-Palast. Ohne das entschlossene Handeln des französischen Außenministers wäre die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und damit der Beginn der europäischen Einigung nicht denkbar gewesen.

Schuman selbst hat sich treffend als „Mann der Grenze“ bezeichnet. 1952 erklärte er in seiner lëtzebuergeschen Muttersprache in einer Sendung von Radio Luxemburg: „Et ass ken Zo’fall, dass d’Ide vun enger Gemengschaft vu Stohl, Eisen a Kuelen grad engem Letzebuerger Jong komm ass.“