Die Mütter - Brit Bennett - E-Book
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Die Mütter E-Book

Brit Bennett

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Beschreibung

«Die Mütter», so nennen sie die alten Frauen in der kleinen kalifornischen Gemeinde Oceanside. Sie sind Zeugen des Skandals, mit dem dieser Roman beginnt. Ein Skandal ist es, wenigstens aus ihrer Sicht: dass Nadia Turner, deren Mutter sich das Leben genommen hat, mit Luke, dem Sohn des Pastors … dass Nadia Turner ein Baby bekommt … oder vielmehr beschließt, es nicht zu bekommen. Und das ist erst der Anfang der Geschichte. Anders als Luke kehrt Nadia der Kleinstadtenge bald den Rücken. Aber Aubrey, ihre beste Freundin, bleibt und stellt sich auf ihre Weise gegen den Chor der alten Frauen, deren Stimmen mit der Zeit merklich auseinandergehen. Es dauert nicht lange, und sie feiern ein neues Paar in Oceanside: Aubrey und Luke Sheppard. Und das beschäftigt die vom College heimgekehrte Nadia mehr, als sie vor der besten Freundin zugeben kann. Brit Bennett fragt nach dem, was uns hält und was uns bindet: Freundschaft, eine gemeinsame Vergangenheit, eine nicht gelebte Geschichte. In «Die Mütter» erzählt sie voller Respekt und mit der nötigen Respektlosigkeit von Herkunft, Hautfarbe und Geschlecht, erzählt mit einer gelassenen Genauigkeit, die staunen macht. Ein lebenskluger Roman über das Amerika von heute und das Amerika von morgen.

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Brit Bennett

Die Mütter

Roman

Aus dem Englischen von Robin Detje

Über dieses Buch

«Die Mütter», so nennen sie die alten Frauen in der kleinen kalifornischen Gemeinde Oceanside. Sie sind Zeugen des Skandals, mit dem dieser Roman beginnt. Ein Skandal ist es, wenigstens aus ihrer Sicht: dass Nadia Turner, deren Mutter sich das Leben genommen hat, mit Luke, dem Sohn des Pastors … dass Nadia Turner ein Baby bekommt … oder vielmehr beschließt, es nicht zu bekommen. Und das ist erst der Anfang der Geschichte.

Anders als Luke kehrt Nadia der Kleinstadtenge bald den Rücken. Aber Aubrey, ihre beste Freundin, bleibt und stellt sich auf ihre Weise gegen den Chor der alten Frauen, deren Stimmen mit der Zeit merklich auseinandergehen. Es dauert nicht lange, und sie feiern ein neues Paar in Oceanside: Aubrey und Luke Sheppard. Und das beschäftigt die vom College heimgekehrte Nadia mehr, als sie vor der besten Freundin zugeben kann.

Brit Bennett fragt nach dem, was uns hält und was uns bindet: Freundschaft, eine gemeinsame Vergangenheit, eine nicht gelebte Geschichte. In «Die Mütter» erzählt sie voller Respekt und mit der nötigen Respektlosigkeit von Herkunft, Hautfarbe und Geschlecht, erzählt mit einer gelassenen Genauigkeit, die staunen macht.

Ein lebenskluger Roman über das Amerika von heute und das Amerika von morgen.

Vita

Brit Bennett, geboren 1990, wuchs im südlichen Kalifornien auf und studierte an der Stanford University und an der University of Michigan. Ihre Arbeiten erschienen in «The New Yorker», «The New York Times Magazine», «The Paris Review» und «Jezebel». «The Mothers» ist ihr erster Roman; er wurde unter anderem für den PEN/Robert W. Bingham Prize nominiert.

Für Mom, Dad, Brianna und Jynna

Eins

Zuerst haben wir es nicht geglaubt, man weiß ja, wie in der Kirche getratscht wird.

So wie damals, als wir alle dachten, dass unser oberster Kirchendiener John Eins seine Frau betrügt, weil Betty, die Sekretärin des Pastors, gesehen hatte, wie er sich beim Brunch an eine andere Frau heranmachte. Eine schicke junge Frau noch dazu, eine mit Hüftschwung, wobei die wirklich gar nichts herumzuschwingen hatte vor einem vierzig Jahre verheirateten Mann. Ein Mal fremdgehen, das konnte man einem Mann verzeihen, aber diese junge Frau in einem Straßencafé über Buttercroissants gebeugt anzuflirten? Das war ganz was anderes. Noch bevor wir John Eins die Leviten lesen konnten, tauchte er am Sonntag in der Upper Room Chapel auf, samt Gattin und der jungen Frau mit Hüftschwung – einer Großnichte aus Fort Worth auf Besuch –, und damit war die Sache erledigt.

Zuerst dachten wir, das könnte diese Art Geheimnis sein, obwohl es sich nicht so anfühlte, zugegeben. Es schmeckte auch nicht danach. Alle guten Geheimnisse haben ihren Eigengeschmack, bevor sie verraten werden, und wenn wir dieses spezielle etwas länger abgeschmeckt hätten, wäre uns vielleicht aufgefallen, dass es sauer war, wie ein unreifes, zu früh gepflücktes Geheimnis, vom Baum gestohlen und vor der eigentlichen Erntezeit herumgereicht. Aber das taten wir nicht. Wir gaben das saure Geheimnis weiter, ein Geheimnis, das seinen Ursprung in dem Frühjahr hatte, als Nadia Turner vom Sohn des Pastors geschwängert worden war und in die Abtreibungsklinik in der Stadt ging, um die Sache zu regeln.

Sie war damals siebzehn. Sie wohnte bei ihrem Vater, einem Marinesoldaten, ohne ihre Mutter, die sich sechs Monate zuvor umgebracht hatte. Nach diesem Ereignis hatte sie sich einen Ruf als wildes Mädchen erarbeitet – sie war jung, sie hatte Angst, und sie versuchte, diese Angst hinter ihrem hübschen Aussehen zu verbergen. Und hübsch war sie wirklich, schön sogar, mit ihrem bernsteinfarbenen Teint, den seidigen langen Haaren und den braunen, grauen und goldenen Wirbeln in den Augen. Wie die meisten Mädchen wusste sie, dass hübsch dich sichtbar macht und auch unsichtbar, aber wie die meisten Mädchen hatte sie noch nicht heraus, wie man damit spielen konnte. Und so erfuhren wir alles über die Stunden in den Clubs von Tijuana, die Wasserflasche, die sie an der Oceanside High immer bei sich hatte, voll mit Wodka, über die Samstage auf dem Marinestützpunkt, wo sie mit den Soldaten Billard spielte – Abende, an denen sie schließlich die Fersen ans beschlagene Fenster im Auto irgendeines Mannes stemmte. Das waren vielleicht alles nur Märchen, und garantiert wahr ist nur das eine: Ihr ganzes Abschlussjahr an der Highschool über ging sie mit Luke Sheppard ins Bett, und im Frühjahr darauf wuchs in ihrem Leib sein Baby.

 

Luke Sheppard kellnerte in Fat Charlie’s Seafood Shack, einem Restaurant an der Seebrücke, bekannt für frische Zutaten, Livemusik und familienfreundliche Atmosphäre. So stand es jedenfalls in der Anzeige in der San Diego Union-Tribune, und man musste ziemlich blöd sein, um das zu glauben. Wer lange genug in Oceanside wohnte, wusste, dass unter den Wärmelampen Fish & Chips von gestern wieder heiß gemacht wurden, so viel zum Thema frische Zutaten, und wenn es überhaupt Livemusik gab, wurde sie von versifften Teenies in zerrissenen Jeans geliefert, denen die Sicherheitsnadeln von den Lippen baumelten. Nadia Turner wusste noch ein paar Dinge über Fat Charlie’s, die nicht in eine Zeitungsanzeige passten, etwa dass ein Teller mit Charlie’s Cheesy Nachos der ideale Snack zu einem Saufgelage war und dass der Chefkoch das beste Gras nördlich der Grenze verkaufte. Sie wusste, dass drinnen gelbe Rettungswesten über der Theke hingen und die drei schwarzen Kellner den Laden nach einer langen Schicht deshalb ihr Sklavenschiff nannten. Sie kannte diese Geheimnisse des Fat Charlie’s, weil Luke sie ihr verraten hatte.

«Was ist mit den Fischstäbchen?», fragte sie zum Beispiel.

«Weich wie Waschlappen.»

«Pasta mit Meeresfrüchten?»

«Finger weg!»

«Bei Pasta kann doch nichts schiefgehen.»

«Weißt du, wie sie die Scheiße produzieren? Sie stopfen Fischreste in die Ravioli.»

«Na gut, dann das Brot.»

«Wenn du dein Brot nicht aufisst, stellen wir es anderen Leuten auf den Tisch. Das Brot, das du dir gerade nehmen willst, kommt von einem Alten, der sich den ganzen Tag die Eier kratzt.»

In dem Winter, in dem ihre Mutter sich umbrachte, bewahrte Luke Nadia davor, die Crab Bites zu bestellen. (In Schmalz ausgebackenes Krebsimitat.) Nach der Schule verschwand sie jetzt immer, nahm den Bus und stieg einfach irgendwo aus. Manchmal fuhr sie Richtung Osten ins Camp Pendleton, guckte sich dort einen Film an, ging im Stars and Strikes kegeln oder spielte mit den Marinesoldaten Billard. Die ganz Jungen waren am einsamsten, also fand sie immer eine Meute einfacher Soldaten, die sich mit ihren kahlgeschorenen Köpfen und in den schweren Stiefeln nicht wohl fühlten, und wenn es Nacht wurde, küsste sie normalerweise einen von ihnen, bis ihr zum Heulen war. Oder sie fuhr Richtung Norden, an der Upper Room Chapel vorbei an die Küste, die äußerste Grenze. Im Süden gab es auch wieder Strände, schönere Strände, wo der Sand so weiß war wie die Menschen, die sich darauf aalten, Strände mit Promenade und Achterbahn, Strände hinter Gittern. Nach Westen fahren konnte sie nicht. Im Westen war das Meer.

Mit dem Bus floh sie vor ihrem alten Leben, als sie nach Schulschluss bis zur Fahrstunde mit ihren Freundinnen auf dem Parkplatz abgehangen hatte oder auf die Tribüne geklettert war und der Footballmannschaft beim Training zugesehen hatte oder mit versammelter Mannschaft ins In-N-Out gezogen war. Im Jojo’s Juicery hatte sie beim Jobben mit ihren Kollegen rumgealbert, hatte an Lagerfeuern getanzt und war auf die Wellenbrecher geklettert, wenn man sie dazu herausforderte, weil sie immer so tat, als hätte sie vor nichts Angst. Es erschreckte sie, dass sie damals kaum je allein gewesen war. Ihre Tage vergingen, als wäre sie vom einen zum anderen weitergereicht worden wie bei einem Staffellauf: Ihr Mathelehrer reichte sie weiter an die Spanischlehrerin, die sie an den Chemielehrer weiterreichte, bis sie bei ihren Freundinnen und später wieder zu Hause bei den Eltern landete. Dann war die Hand ihrer Mutter eines Tages weg gewesen, und sie war gestürzt, rasselnd zu Boden gegangen.

Gesellschaft hielt sie jetzt überhaupt nicht mehr aus – nicht die ihrer Lehrer, die geduldig lächelten, wenn sie mit den Hausaufgaben zu spät dran war; nicht die ihrer Freundinnen, die aufhörten zu blödeln, wenn sie sich beim Lunch zu ihnen setzte, als wäre ihre Fröhlichkeit beleidigend für sie. Wenn Mr. Thomas im Fortgeschrittenenkurs Gemeinschaftskunde Zweiergruppen ansagte, fanden ihre Freundinnen sich schnell zusammen, und sie musste mit dem anderen stillen einsamen Mädchen arbeiten: mit Aubrey Evans, die in der Mittagspause zu Treffen der Christlichen Schülergruppe verschwand, nicht um damit ihren Lebenslauf für die College-Bewerbung zu schmücken (als Mr. Thomas fragte, wer Bewerbungen abgeschickt habe, hatte sie sich nicht gemeldet), sondern weil sie es gottgefällig fand, in ihrer Freizeit in einem Klassenzimmer zu sitzen und Konserven für die Armen mit zu organisieren. Aubrey Evans, die einen schlichten goldenen Keuschheitsring trug, an dem sie beim Reden drehte, und immer allein zum Gottesdienst in der Upper Room kam, das frömmelnde Einzelkind strenggläubiger Atheisten vermutlich, schwer damit beschäftigt, ihnen den Weg ins Licht zu weisen. Nach ihrer ersten Zweierarbeit hatte Aubrey sich vorgebeugt und ganz leise zu Nadia gesprochen.

«Es tut mir so leid, das wollte ich nur sagen», sagte sie. «Wir haben alle für dich gebetet.»

Es hatte aufrichtig geklungen, aber was sollte Nadia damit anfangen? Sie war seit der Beerdigung ihrer Mutter nicht mehr in der Kirche gewesen. Sie fuhr stattdessen Bus. Eines Nachmittags stieg sie in der Stadt vor dem Hanky Panky aus. Sie war sich ganz sicher, dass jemand sie aufhalten würde – mit ihrem Rucksack sah sie wirklich aus wie ein Kind –, aber der Türsteher auf seinem Hocker am Eingang blickte kaum von seinem Handy auf, als sie hineinhuschte. Am Dienstagnachmittag um drei war der Stripclub ziemlich tot, stumpf standen silberne Tische im Glanz der Bühnenbeleuchtung. Schwarze Vorhänge vor den Fenstern blockten das Sonnenlicht ab, in den Sesseln vor der Bühne hingen dicke weiße Männer mit tief ins Gesicht gezogenen Baseballkappen im künstlichen Dunkel. Im Scheinwerferlicht tanzte ein wabbeliges weißes Mädchen, seine Brüste schwangen hin und her wie Pendel.

Im Dunkel des Clubs konnte man mit seinem Kummer allein sein. Ihr Vater hatte sich in die Upper Room gestürzt. Er besuchte beide Gottesdienste am Sonntagvormittag, ging mittwochs zum Bibelkreis und donnerstagabends zur Chorprobe, obwohl er nicht mitsang und die Proben geschlossen waren, aber niemand brachte es über sich, ihn fortzuschicken. Ihr Vater stellte seine Traurigkeit auf eine Kirchenbank; sie ging sich mit ihrer verstecken. Der Barmann nahm ihren gefälschten Ausweis achselzuckend zur Kenntnis und mixte ihr einen Drink, und sie hockte sich in eine dunkle Ecke, nippte an ihrer Cola-Rum und sah den Frauen zu, die fertig aussahen und sich auf der Bühne wiegten. Die dünnen jungen Mädchen hob der Club sich für die Abende und Wochenenden auf, dies waren ältere Frauen, die an Kinder und Einkaufslisten dachten, mit Schwangerschaftsstreifen und Orangenhaut. Schon der Gedanke hätte ihre Mutter entsetzt – sie in einem Stripclub, am helllichten Tag –, aber Nadia blieb und nippte langsam an ihren verwässerten Drinks. Als sie das dritte Mal dort war, zog ein alter schwarzer Mann seinen Stuhl neben sie. Er trug ein rotes Karohemd mit Hosenträgern darüber, unter seiner Hochseefischermütze ragten graue Haarbüschel hervor.

«Was trinkst du da?», fragte er.

«Was trinkst du denn?», sagte sie.

Er lachte. «Nee, nee. Das ist was für Erwachsene. Nicht für ein kleines Ding wie dich. Ich besorg dir was Süßes. Wär das was, Schätzchen? Du siehst mir wie ein Naschkätzchen aus.»

Er lächelte und ließ eine Hand auf ihren Oberschenkel gleiten. Lang und dunkel wölbten seine Fingernägel sich auf ihrer Jeans. Bevor sie sich rühren konnte, tauchte eine schwarze Frau am Tisch auf, über vierzig, mit knallpinkem Glitzer-BH und Stringtanga. Helleres Braun zog sich über ihren Bauch wie Tigerstreifen.

«Lass sie ihn Ruhe, Lester», sagte die Frau. Und dann, zu Nadia: «Komm mit, wir gehen Luft schnappen.»

«Ach, Cici, ich wollte doch bloß reden», sagte der alte Mann.

«Also bitte», sagte Cici. «Das Kind ist nicht mal so alt wie deine Uhr.»

Sie brachte Nadia nach hinten an den Tresen und kippte in die Spüle, was sie noch im Glas hatte. Dann warf sie sich einen weißen Mantel über und winkte Nadia nach draußen. Unter dem schiefergrauen Himmel sah die platte Fassade des Hanky Panky noch deprimierender aus. Weiter hinten standen zwei weiße Mädchen vor dem Haus und rauchten, und beide winkten kurz, als Cici und Nadia vor die Tür traten. Cici grüßte lässig zurück und zündete sich eine Zigarette an.

«Du hast ein hübsches Gesicht», sagte Cici. «Sind die Augen echt? Bist du halb-halb?»

«Nein», sagte sie. «Also, das sind meine echten Augen, aber ich bin nicht halb-halb.»

«Siehst aber danach aus, finde ich.» Cici blies eine Rauchwolke zur Seite weg. «Von zu Hause abgehauen? Ach, jetzt guck nicht so. Ich verpfeife dich nicht. Ihr Mädchen kommt hier dauernd an und wollt ein bisschen Geld verdienen. Legal ist das nicht, aber was kümmert das Bernie. Der wird dich schon auf die Bühne lassen, mal gucken, was du draufhast. Aber glaub nicht, dass sie dich hier herzlich aufnehmen. Mit den Blondinen gibt es Konkurrenz genug ums Trinkgeld – warte, bis die Mädchen deinen Pracht- und Knackarsch sehen.»

«Ich will nicht tanzen», sagte Nadia.

«Na, ich weiß ja nicht, was du suchst, aber hier findest du es nicht.» Cici beugte sich vor. «Weißt du, dass du durchsichtige Augen hast? Als könnte man einfach durchgucken, so kommt einem das vor. Dahinter ist nichts als traurig.» Sie langte in ihre Manteltasche und holte eine Handvoll Knitterscheine heraus. «Das hier ist nichts für dich. Geh runter ins Fat Charlie’s und kauf dir was zu essen. Los.»

Nadia zögerte, aber Cici stopfte ihr die Scheine in die Hand und drückte ihr die Finger zur Faust zusammen. Das könnte sie vielleicht machen, so tun, als wäre sie von zu Hause abgehauen. War sie ja vielleicht auch. Ihr Vater fragte sie nie, wo sie gewesen war. Spätabends kam sie nach Hause, und ihr Vater lag im dunklen Wohnzimmer in seinem Liegesessel vor dem Fernseher. Er wirkte jedes Mal überrascht, wenn sie die Tür aufschloss, als hätte er nicht einmal gemerkt, dass sie weg gewesen war.

 

Im Fat Charlie’s hatte Nadia an einem Tisch weiter hinten die Speisekarte durchgeblättert, als Luke Sheppard aus der Küche gekommen war, die weiße Schürze um die Hüften. Über seinem muskulösen Brustkorb spannte sich das schwarze Fat-Charlie’s-T-Shirt. Er sah noch genauso gut aus, wie sie ihn aus der Sonntagsschule kannte, nur dass er inzwischen ein Mann geworden war, sonnengebräunt und breitschultrig, Bartstoppeln auf dem kantigen Kinn. Und er humpelte jetzt, entlastete das linke Bein, aber das Krüppelige daran, der ruckelnde Gang und die Zartheit machten ihn für sie nur noch begehrenswerter. Vor einem Monat war ihre Mutter gestorben, und sie fühlte sich zu allen hingezogen, die ihren Schmerz offen zeigten, was sie selbst nicht konnte. Nicht einmal auf der Beerdigung hatte sie geweint. Beim Leichenschmaus hatte ein ganzes Defilee von Gästen sie bewundert, weil sie sich so gut gehalten habe, und ihr Vater hatte ihr den Arm um die Schultern gelegt. Den ganzen Gottesdienst über hatte er zusammengekrümmt auf der Kirchenbank gesessen, mit zuckenden Schultern, lautlos, hatte männlich geweint, aber eben doch geweint, und zum ersten Mal hatte sie sich gefragt, ob sie vielleicht stärker war als er.

Ein innerer Schmerz sollte nach außen nicht sichtbar werden. Wie seltsam es sein musste, auf äußerliche Weise Schmerz zu empfinden, einen Schmerz, den man nicht verbergen konnte. Sie spielte mit der Speisekarte, während Luke an ihren Tisch gehumpelt kam. Sie hatte, gemeinsam mit der ganzen Upper Room, den Abschluss seiner vielversprechenden zweiten Spielzeit angesehen. Ein ganz normaler Kick, ein übles Tackle, und schon war sein Bein gebrochen, und der Knochen ragte weiß aus der Haut. Die Kommentatoren hatten gesagt, es sei ein Wunder, wenn er je wieder normal laufen könne, vom Spielen ganz zu schweigen, also war niemand überrascht gewesen, als die San Diego State ihm das Stipendium strich. Aber nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus hatte sie Luke nicht mehr gesehen. In ihrer Vorstellung lag er noch immer auf einer Liege, von den Schwestern gehätschelt, das eingegipste Bein gestützt in Richtung Zimmerdecke.

«Was machst du denn hier?», fragte sie.

«Arbeiten», sagte er und lachte dann, aber das Lachen klang hart, als würde plötzlich ein Stuhl über den Boden scharren. «Was war bei dir so los?»

Er blickte sie nicht an, spielte mit dem Notizblock, also wusste sie, dass er das mit ihrer Mutter wusste.

«Hunger habe ich», sagte sie.

«Bei dir war Hunger los?»

«Kann ich die Crab Bites haben?»

«Lieber nicht.» Er führte ihren Finger über die laminierte Karte zu den Nachos hin. «Da. Versuch’s mit denen.»

Sanft lag seine Hand auf ihrer, als wollte er ihr das Lesen beibringen, indem er ihr den Finger unter neuen Wörtern entlangführte. Sie kam sich in seiner Gegenwart schrecklich jung vor, zwei Tage darauf zum Beispiel, als sie sich wieder in seine Abteilung setzte und eine Margarita bestellen wollte. Er lachte und hielt ihren gefälschten Ausweis vor sich hin.

«Ach komm», sagte er. «Bist du nicht eher zwölf?»

Sie zog die Augen zusammen. «Fick dich», sagte sie, «ich bin siebzehn.»

Aber sie sagte es ein bisschen zu stolz, und Luke lachte wieder. Selbst achtzehn – was sie erst Ende August werden würde – würde ihm jung vorkommen. Sie ging noch zur Schule. Er war einundzwanzig und schon auf dem College gewesen, auf einer echten Uni, nicht auf dem Community College, wo alle nach dem Schulabschluss ein paar Monate abhingen, bis sie Jobs gefunden hatten. Sie hatte sich an fünf Universitäten beworben, jetzt wartete sie auf Antwort und fragte Luke, wie es auf dem College war, also, ob die Gemeinschaftsduschen in den Wohnheimen so eklig waren, wie sie glaubte, und ob man wirklich Socken über die Türgriffe zog, wenn man nicht gestört werden wollte. Er erzählte ihr von Wettrennen in Unterhosen und Schaumpartys, wie man das Maximum aus dem Mensaessen herausholte, wie man bei Tests mehr Zeit schindete, indem man eine Lernschwäche vortäuschte. Er wusste Bescheid, und er kannte Mädchen, Studentinnen, Mädchen, die in hochhackigen Schuhen in die Vorlesung kamen, nicht in Turnschuhen, die keine Rucksäcke trugen, sondern Mappen, und den Sommer über ein Praktikum bei Qualcomm oder der California Bank & Trust machten, anstatt in der Saftbar an der Seebrücke zu jobben. Sie malte sich aus, selbst auf dem College zu sein, eines dieser weltgewandten Mädchen, und Luke würde sie mit dem Auto besuchen kommen oder, wenn sie weiter weg studierte, mit dem Flugzeug, in den Semesterferien. Er würde sich totlachen, wenn er wüsste, wie sie ihn in ihre Phantasien einbaute. Er zog sie oft auf, zum Beispiel als sie anfing, im Fat Charlie’s ihre Hausaufgaben zu machen.

«Verdammt», sagte er, als er durch ihr Lehrbuch Höhere Mathematik blätterte. «Du bist ja ein Nerd.»

Ein Nerd war sie nicht, aber das Lernen fiel ihr leicht. (Damit hatte ihre Mutter sie immer aufgezogen – das muss ja toll sein, sagte sie immer, wenn Nadia eine Spitzennote mit nach Hause brachte und sich erst am Vorabend auf die Klausur vorbereitet hatte.) Sie hatte Angst, ihre Fortgeschrittenenkurse könnten Luke abschrecken, aber ihm sagte es nur, dass sie schlau war. Guck mal, die da, sagte er zu einem Kellner, der vorbeikam, die erste schwarze Präsidentin, du wirst schon sehen. Jedes auch nur ansatzweise begabte schwarze Mädchen kannte den Spruch. Aber sie hörte es gern, wenn Luke mit ihr angab, und dass er sie aufzog, wenn sie lernte, gefiel ihr noch besser. Er behandelte sie nicht wie alle anderen in der Schule, die ihr entweder auswichen oder mit ihr redeten, als wäre sie ganz zerbrechlich und würde beim ersten harten Wort in Scherben gehen.

Eines Abends im Februar fuhr Luke sie nach Hause, und sie bat ihn mit hinein. Ihr Vater war das Wochenende über mit der kirchlichen Männergruppe unterwegs, und so war es still und dunkel im Haus, als sie ankamen. Sie wollte Luke einen Drink anbieten – das machten die Frauen im Kino so, sie reichten Männern klobige Gläser mit dunklen maskulinen Flüssigkeiten –, aber das Mondlicht fiel auf Glasvitrinen, in denen kein Alkohol mehr stand, und Luke drängte sie an die Wand und küsste sie. Sie hatte ihm nicht erzählt, dass es ihr erstes Mal war, aber er wusste Bescheid. Im Bett fragte er sie dreimal, ob sie aufhören wolle. Sie sagte jedes Mal nein. Der Sex würde weh tun, und das wollte sie auch. Luke sollte ihr Schmerz von außen sein.

Als der Frühling kam, wusste sie, um wie viel Uhr Luke Schluss hatte, wann sie ihn treffen konnte, in der verlassenen Ecke vom Parkplatz, wo man zu zweit allein blieb. Sie wusste, welche Abende er freihatte, dann lauschte sie auf sein Auto, das sich in ihre Straße schlich, und huschte auf Zehenspitzen an der geschlossenen Schlafzimmertür ihres Vaters vorbei. Sie wusste, wann er zu spät zur Arbeit ging, dann nämlich, wenn sie ihn am Vorabend zu sich ins Haus geschmuggelt hatte, bevor ihr Vater von der Arbeit kam. Dass Luke ein zu kleines Fat-Charlie’s-T-Shirt trug, weil er damit mehr Trinkgeld bekam. Dass ihm, wenn er sich auf die Bettkante fallen ließ, ohne viel zu sagen, vor einer langen Schicht graute, also sagte sie auch nicht viel, zog ihm das zu enge T-Shirt über den Kopf und streichelte ihm die ausladenden Schultern. Sie wusste, dass den ganzen Tag auf den Füßen sein zu müssen seinem Bein mehr zu schaffen machte, als er zugab, und manchmal, wenn er schlief, betrachtete sie die dünne Narbe, die auf sein Knie zukroch. Knochen waren stark, bis sie schwach wurden, so wie alles andere auch.

Außerdem wusste sie, dass im Fat Charlie’s zwischen Lunch und Happy Hour tote Hose war, also fuhr sie mit dem Bus hin, als ihr Schwangerschaftstest positiv war, um es ihm zu sagen.

 

«Fuck», war sein erstes Wort.

Dann: «Bist du dir sicher?»

Dann: «Bist du dir auch ganz, ganz sicher?»

Dann: «Fuck.»

Im leeren Fat Charlie’s ersäufte Nadia ihre Pommes in Ketchup, bis sie schlaff und matschig waren. Natürlich war sie sich sicher. Sie wäre ihm überhaupt nicht damit gekommen, wenn sie sich nicht sicher gewesen wäre. Tagelang hatte sie um Blut gebetet, um einen Tropfen gebettelt, und wäre er auch noch so klein, aber ihre Höschen waren makellos weiß geblieben. An diesem Vormittag war sie also zur kostenlosen Schwangerschaftsberatung vor der Stadt gefahren, einem grauen Flachbau in einer Ladenzeile. Die Empfangsdame war hinter den Gummibäumen aus Plastik kaum zu sehen gewesen; sie schickte Nadia in den Wartebereich. Dort setzte sie sich zu einer Handvoll schwarzer Mädchen, die kaum den Blick hoben, zwischen ein dickes Mädchen, das lila Kaugummiblasen platzen ließ, und ein anderes in einer kurzen Latzhose, das auf ihrem Telefon Tetris spielte. Eine fette weiße Beraterin namens Dolores brachte Nadia nach hinten, wo sie sich in einen Verschlag quetschten, der so eng war, dass ihre Knie aneinanderstießen.

«Also, hast du denn Grund zu der Annahme, dass du schwanger bist?», fragte Dolores.

Sie trug einen grob gestrickten grauen Pulli mit Schäfchenmuster und redete wie eine Kindergärtnerin, lächelnd, mit einem zarten Triller am Ende ihrer Sätze. Sie muss Nadia für geistig behindert gehalten haben – wieder ein schwarzes Mädchen, das zu dumm gewesen war, auf einem Kondom zu bestehen. Dabei hatten sie Kondome benutzt, meistens wenigstens, und Nadia kam sich blöd vor, dass sie sich mit dieser eingeschränkten Variante von safer sex so wohl gefühlt hatte. Sie hätte doch die Klügere sein müssen. Sie hätte wissen müssen, dass ein einziges Missgeschick genügte, und schon war ihre Zukunft weg. Schwangere Mädchen waren ihr schon begegnet. Sie hatte sie in hautengen Tanktops und um die Bäuche gewickelten Sweatshirts durch die Schule watscheln sehen. Den Jungen, die sie in diesen Zustand versetzt hatten, war sie nie begegnet – ihre Namen waren geheimnisumwittert, so flüchtig wie die Gerüchte selbst –, aber die Mädchen bekam sie nicht wieder aus dem Kopf, wie sie so groß vor ihr aufgeblüht waren. Sie hätte es wirklich besser wissen sollen. Schließlich war sie das Missgeschick ihrer Mutter.

Luke saß ihr gegenüber, krümmte sich und spannte die Finger, wie früher am Spielfeldrand. In ihrem ersten Highschool-Jahr hatte sie mehr Luke zugesehen als der Mannschaft auf dem Spielfeld. Wie diese Hände sich wohl auf ihrer Haut anfühlen würden?

«Ich dachte, du hast vielleicht Hunger», sagte er.

Sie warf noch ein Stück Pommes auf den Haufen. Sie hatte den ganzen Tag über nichts gegessen – im Mund hatte sie einen salzigen Geschmack, so wie kurz vor dem Kotzen. Sie streifte die Flip-Flops ab und stützte die nackten Füße an sein Bein.

«Es geht mir beschissen», sagte sie.

«Willst du was anderes?»

«Weiß nicht.»

Er stieß sich vom Tisch ab. «Ich hol dir was anderes …»

«Ich kann es nicht behalten», sagte sie.

Luke erstarrte, halb aufgestanden.

«Wie bitte?», sagte er.

«Ich kann kein Baby behalten», sagte sie. «Ich kann hier nicht die scheiß Mom spielen, ich will aufs College, und mein Dad würde …»

Sie brachte es nicht über die Lippen – das Wort Abtreibung klang hässlich und technisch –, aber Luke hatte sie doch verstanden, oder? Er war der Erste gewesen, dem sie erzählt hatte, dass sie angenommen worden war, als die E-Mail der University of Michigan kam – er hatte sie schon stürmisch umarmt, da war sie noch mitten im Satz gewesen, und sie dabei fast zerquetscht. Er musste doch verstehen, dass sie sich das nicht entgehen lassen konnte, ihre einzige Chance, von zu Hause wegzukommen, von ihrem schweigsamen Vater, dessen Lächeln nicht einmal die Augen erreicht hatte, als sie ihm die Mail zeigte, und der ohne sie, ohne dass sie ihn ständig daran erinnerte, was er verloren hatte, glücklicher wäre, das wusste sie. Sie konnte nicht zulassen, dass dieses Baby ihr Leben hier festnagelte, jetzt, wo sie gerade die Chance bekam, zu entkommen.

Wenn Luke es verstand, dann sagte er es nicht. Er sagte erst einmal gar nichts, sank auf die Sitzbank zurück, plötzlich ganz langsam und schwer. In diesem Augenblick sah er noch älter aus, das bartstoppelige Gesicht müde und eingefallen. Er nahm ihre nackten Füße und legte sie sich in den Schoß.

«Okay», sagte er, und dann weicher: «Okay. Sag mir, was ich tun soll.»

Er versuchte nicht, sie umzustimmen. Sie war ihm dankbar dafür, obwohl ein Teil von ihr gehofft hatte, er könnte etwas Altmodisches und Romantisches tun, ihr einen Heiratsantrag machen zum Beispiel. Sie hätte ihm niemals das Jawort gegeben, aber es wäre nett gewesen, wenn er es versucht hätte. Stattdessen fragte er sie, wie viel Geld sie brauchte. Sie kam sich blöd vor – an so etwas Praktisches wie die Tatsache, dass die Operation bezahlt werden musste, hatte sie noch gar nicht gedacht –, aber er versprach ihr, das Geld aufzutreiben. Als er ihr am Tag darauf den Umschlag gab, bat sie ihn, nicht in der Klinik auf sie zu warten. Er massierte ihr den Nacken.

«Bist du dir da sicher?», fragte er.

«Ja», sagte sie. «Hol mich einfach hinterher ab.»

Mit Publikum würde sie sich schlechter fühlen. Verletzlicher. Luke hatte sie nackt gesehen – er war ihr in den Leib gefahren –, aber dass er sie in Angst sah, war ihr irgendwie zu intim, das hielt sie nicht aus.

 

Am Morgen ihres Termins nahm Nadia den Bus zur Abtreibungsklinik in der Stadt. Dutzende Male war sie daran vorbeigefahren – ein unauffälliges hellbraunes Gebäude im Schatten einer Bank of America –, aber sie hatte nie ein klares Bild davon gehabt, wie es drinnen aussah. Wenn sich der Bus auf den Strand zuschlängelte, hatte sie aus dem Fenster geblickt und sich sterile weiße Wände vorgestellt, scharfes Besteck auf Tabletts, fette Empfangsdamen in weiten Pullis, die weinende Mädchen in Wartezimmer trieben. In Wirklichkeit war der Eingangsbereich offen und hell, die Wände waren cremefarben gestrichen, in einer Tönung mit einem trendigen Namen wie Taupe oder Ocker, und auf den Eichentischen standen zwischen Zeitschriftenstapeln blaue Vasen voller Muschelschalen. Nadia setzte sich so weit wie möglich weg von der Tür auf einen Stuhl und tat, als würde sie die National Geographic lesen. Neben ihr kämpfte eine Rothaarige halblaut mit einem Kreuzworträtsel; an ihrer Seite fläzte sich ihr Freund und starrte auf sein Handy. Er war der einzige Mann im Raum, vielleicht hielt die Rothaarige sich also für etwas Besseres – mehr geliebt –, weil ihr Freund mitgekommen war, obwohl er nicht wie ein netter Freund aussah, nicht einmal mit ihr redete oder ihr die Hand hielt, wie Luke es getan hätte. Am anderen Ende des Zimmers schluchzte ein schwarzes Mädchen in ihren Jeansjacken-Ärmel. Seine Mutter, eine schwere Frau mit dem Tattoo einer lila Rose auf dem Arm, saß daneben, die Arme vor der Brust verschränkt. Sie wirkte wütend, vielleicht war sie auch nur besorgt. Das Mädchen sah aus wie vierzehn, und je lauter es schluchzte, desto angestrengter guckten alle weg.

Nadia überlegte, ob sie Luke simsen sollte. Bin hier. Alles okay. Aber seine Schicht hatte gerade angefangen, und er machte sich wahrscheinlich sowieso schon Sorgen genug. Sie blätterte langsam die Zeitschrift durch, ihr Blick schweifte ab, hin zur blonden Rezeptionistin, die in ihr Headset lächelte, zum Verkehr draußen, zur blauen Vase mit den Muscheln neben sich. Ihre Mutter hatte den Strand, wie er war, gehasst – schmutziger Sand, alles voller Zigarettenkippen –, aber Muscheln hatte sie geliebt; sie war immer gebückt am Wasser entlanggegangen und hatte Muschelschalen aus dem feuchten Sand gekratzt.

«Sie beruhigen mich», hatte sie einmal gesagt, Nadia auf ihrem Schoß ganz fest gehalten und langsam eine der Schalen gedreht, sodass deren schimmernde Innenseite aufblitzte. In ihrer Hand war ein blasslila und grüner Glanz gewesen.

«Turner?»

Eine schwarze Krankenschwester mit leicht angegrauten Dreadlocks stand in der Tür und las ihren Namen von einem Klemmbrett ab. Als Nadia ihre Handtasche nahm, spürte sie, wie die Schwester sie von oben bis unten musterte, die rote Bluse, die engen Jeans, die schwarzen Pumps.

«Du hättest dir was Bequemeres anziehen sollen», sagte die Schwester.

«Mir ist bequem so», sagte Nadia. Sie kam sich wieder wie dreizehn vor, im Büro des stellvertretenden Direktors, der ihr einen Vortrag über die Kleiderordnung hielt.

«Jogginghosen», sagte die Schwester. «Hätte man dir sagen müssen, als du angerufen hast.»

«Hat man mir gesagt.»

Die Schwester schüttelte den Kopf und machte sich wieder auf den Weg durch den Korridor. Sie wirkte müde, anders als die munteren weißen Schwestern, die in pinken Kitteln auf Gummisohlen vorüberquietschten. Als hätte sie schon so viel erlebt, dass sie nichts mehr überraschen konnte, nicht einmal ein kesses Mädchen mit einem affigen Outfit, eine, die so allein war, dass kein Mensch mit ihr im Wartezimmer saß. Nein, an so einer war nichts Besonderes – nicht ihre guten Noten, nicht ihr hübsches Aussehen. Sie war einfach eines dieser schwarzen Mädchen, die in der Scheiße saßen und sich wieder herausarbeiteten.

Beim Ultraschall fragte der Assistent Nadia, ob sie einen Blick auf den Bildschirm werfen wolle. Es müsse nicht sein, sagte er, aber manchen Frauen würde es den Abschied erleichtern. Sie sagte nein. Sie hatte einmal von einer ungefähr sechzehnjährigen Mitschülerin gehört, die niedergekommen war und das Neugeborene am Strand ausgesetzt hatte. Sie war verhaftet worden, als sie wieder umgekehrt war, um einem Cop zu erzählen, sie habe da ein Neugeborenes gesehen. Er hatte gemerkt, dass sie die Mutter war. Woran?, hatte Nadia sich immer gefragt. Vielleicht hatte er im Scheinwerferlicht seines Streifenwagens innen an ihren Schenkeln Blut entdeckt oder an ihren Brustwarzen frische Milch gerochen. Oder es war etwas völlig anderes gewesen. Wie behutsam sie ihm das Baby angereicht hatte, oder dass ihr Blick so fürsorglich war, als er dem Kind den Sand aus dem Haarflaum strich. Vielleicht hatte er sogar noch beim Zurücksetzen zwischen ihr und dem ausgesetzten Baby das güldene Band der Mutterliebe leuchten sehen. Irgendetwas hatte sie jedenfalls verraten, aber diesen Fehler würde Nadia nicht machen. Wieder umzukehren. Sie würde nicht zögern und sich nicht erlauben, das Ungeborene zu lieben oder überhaupt kennenzulernen.

«Machen Sie einfach los», sagte sie.

«Und wenn es Mehrlinge sind?», fragte der Assistent und rollte auf seinem Stuhl auf sie zu. «Zwillinge, Drillinge, weißt du …»

«Warum sollte ich das wissen wollen?»

Er zuckte die Achseln. «Es gibt Frauen, die wollen das wissen.»

Sie wusste schon zu viel über das Baby, zum Beispiel dass es ein Junge war. Eigentlich konnte man das noch nicht sagen, aber sie spürte, dass sie etwas Fremdes im Leib hatte, etwas, das sie selbst war und auch wieder nicht. Die Anwesenheit von etwas Männlichem. Eines Jungen, der Lukes dicke Locken haben und die Augen beim Lächeln zusammenkneifen würde wie er. Nein, auch daran durfte sie nicht denken. Sie konnte sich nicht erlauben, das Baby um Lukes willen zu lieben. Also wandte sie das Gesicht ab, als der Assistent den Sensor durch den blauen Schleim über ihren Bauch fahren ließ.

Ein paar Augenblicke später hielt er inne und ließ den Sensor auf ihrem Bauchnabel ruhen.

«Huch», sagte er.

«Was?», sagte sie. «Was ist los?»

Vielleicht war sie ja gar nicht schwanger. Das konnte vorkommen, oder? Vielleicht war das Testergebnis falsch gewesen, oder das Baby hatte gespürt, dass es nicht erwünscht war. Vielleicht hatte es von sich aus aufgegeben. Sie konnte nicht anders – sie warf einen Blick auf den Monitor. Dort sah man einen Keil aus grobkörnigem weißem Licht und in der Mitte ein schwarzes Oval mit einem einsamen weißen Fleck darin.

«Deine Gebärmutter ist vollkommen rund», sagte der Assistent.

«Und? Was heißt das?»

«Keine Ahnung», sagte er. «Vielleicht, dass du eine Superheldin bist.»

Er gluckste, fuhr mit dem Sensor im Gel herum. Sie wusste nicht, was sie auf dem Sonogramm zu sehen erwartet hatte – eine geschwungene Stirn vielleicht, die Konturen eines Bäuchleins. Nicht das hier, weiß und bohnenförmig und so klein, dass es hinter ihrem Daumen verschwinden würde. Wie konnte dieses winzige Licht ein Leben sein? Wie konnte etwas so Kleines ihr das Leben kaputt machen?

Als sie wieder ins Wartezimmer kam, weinte das Mädchen in der Jeansjacke. Niemand sah es an, auch die schwere Frau nicht, die jetzt einen Platz weiter von ihm weggerückt war. Nadia hatte sich getäuscht – diese Frau konnte nicht die Mutter des Mädchens sein. Eine Mutter würde näher rücken, wenn ihr Kind weinte, nicht weiter weg. Ihre Mutter hätte sie in die Arme geschlossen und ihre Tränen mit dem eigenen Körper aufgenommen. Sie hätte sie gewiegt und nicht losgelassen, bis die Schwester ihren Namen aufrief. Aber diese Frau hier kniff dem weinenden Mädchen in den Oberschenkel.

«Schluss jetzt», sagte sie. «Du wolltest doch erwachsen werden. Na bitte, jetzt bist du erwachsen.»

 

Der Eingriff dauere nur zehn Minuten, erklärte ihr die Schwester mit den Dreadlocks. Kürzer als eine Serienfolge im Fernsehen.

Im kalten Operationssaal starrte Nadia auf den Monitor vor sich, über den Strandbilder von überall auf der Welt flackerten. Aus Lautsprechern an der Decke erklang meditative Musik, klassische Gitarre über Meeresbrandung. Ihr war klar, dass sie sich einbilden sollte, sie liege auf einer Insel unter Palmen und spüre unter sich den weißen Sand. Aber als die Schwester ihr die Anästhesiemaske anpasste und sagte, sie solle bis hundert zählen, konnte sie an nichts anderes denken als an das Mädchen, das sein Baby im Sand ausgesetzt hatte. Vielleicht war der Strand ein natürlicherer Ort, um ein Baby zurückzulassen, für das man nicht sorgen konnte. Es in den Sand betten und hoffen, dass irgendjemand es fand – ein altes Paar bei einem Spaziergang im Mondschein, ein Streifenpolizist, der mit der Taschenlampe die Bierkästen ableuchtete. Aber wenn nicht, wenn niemand es zufällig entdeckte, würde es an seinen Ursprung zurückkehren, in ein Wasser wie das in ihr. Am Strand würden sich die Wellen brechen, es in ihre Arme nehmen und wieder in den Schlaf wiegen.

 

Als alles vorbei war, kam Luke sie nicht abholen.

Eine Stunde nachdem sie ihn angerufen hatte, lag sie als Einzige noch immer im Aufwachzimmer, krümmte sich in einen zu harten pinken Liegesessel und drückte sich gegen die Krämpfe ein Heizkissen auf den Bauch. Eine Stunde lang starrte sie in das Dämmerlicht und konnte die Gesichter der anderen nicht erkennen, aber sie dachte sie sich so leer wie ihres. Vielleicht hatte das Mädchen aus dem Wartezimmer in die Armlehne geweint. Die Rothaarige hatte vielleicht einfach ihr Kreuzworträtsel weiter gelöst. Vielleicht hatte sie das alles schon einmal durchgemacht, oder sie hatte schon Kinder und konnte noch eines nicht gebrauchen. Ob es einfacher war, wenn man schon ein Kind hatte, so als würde man höflich einen Nachschlag ablehnen, weil man schon satt war?

Nun waren die anderen fort, und sie holte gerade das Telefon heraus und wollte Luke zum dritten Mal anrufen, als die Schwester mit den Dreadlocks einen Klappstuhl heranzog. Sie hatte einen Pappteller mit Crackern und einen kleinen Apfelsaft dabei.

«Dauert ein bisschen, bis die Krämpfe weg sind», sagte sie. «Einfach warm halten, dann hören sie auf. Hast du ein Heizkissen zu Hause?»

«Nein.»

«Einfach ein Handtuch warm machen. Geht genauso.»

Nadia hatte gehofft, dass eine andere Schwester kommen würde. Sie hatte mit angesehen, wie lieb die anderen Schwestern sich um ihre Mädchen kümmerten, ihnen ein Lächeln schenkten, die Hand hielten. Die Schwester mit den Dreadlocks wedelte einfach mit dem Teller vor ihr herum.

«Ich habe keinen Hunger», sagte Nadia.

«Du musst was essen. Vorher darf ich dich nicht weglassen.»

Nadia seufzte und nahm einen Cracker. Wo war Luke? Sie hatte diese Schwester satt, mit ihren Falten und dem festen Blick. Sie wollte in ihrem eigenen Bett liegen, in ihre Decke gewickelt, den Kopf an Lukes Schulter. Er würde ihr Suppe kochen, und sie würden auf dem Laptop Filme gucken, bis sie einschlief. Er würde sie küssen und ihr sagen, dass sie tapfer gewesen war. Die Schwester stellte beide Füße auf und schlug ihre Beine dann wieder übereinander.

«Schon von deinem Freund gehört?», fragte sie.

«Noch nicht, aber er kommt», sagte Nadia.

«Sonst jemand, den du anrufen kannst?»

«Ich brauche sonst niemanden, er kommt schon.»

«Er kommt nicht, Baby», sagte die Schwester. «Gibt es sonst jemanden, den du anrufen kannst?»

Nadia blickte auf. Die Schwester war sich so sicher, dass Luke nicht auftauchen würde, dass sie erschrak, aber noch mehr erschütterte sie, wie sie Baby gesagt hatte. Ein watteweiches Baby, das schien die Schwester selbst zu überraschen, als wäre es ihr einfach rausgerutscht. So wie Nadia in ihrem Delirium gleich nach dem Eingriff in das verschwommene Gesicht der Schwester geblickt und «Mama?» gesagt hatte, so lieb und süß, dass die Schwester beinahe mit Ja geantwortet hätte.

Zwei

Wenn Nadia Turner gefragt hätte, wir hätten ihr gesagt: Lass die Finger von dem.

Man weiß ja, was sie über Pastorenkinder sagen. In der Sonntagsschule laufen sie im Allerheiligsten herum, kreischen und hinterlassen Buntstift-Schmierereien auf den Kirchenbänken; in der Mittelstufe ist der Pastorensohn hinter den Mädchen her, und seine Schwester pappt sich grellen Lippenstift auf und sieht wie eine Nutte aus; in der Highschool kifft der Sohn dann auf dem Kirchenparkplatz, und die Tochter lässt sich auf der Toilette vom Sohn des Diakons begrabschen, der ihr schweigend die Strumpfhose herunterrollt, auf der ihre Mutter bestanden hat, weil eine Dame nicht mit unbedeckten Beinen in die Kirche geht.

Luke Sheppard, keck und verwegen, mit feinem Lockenkopf, Footballer-Schultern und diesem Lachen in den Augen. Oh, wir hätten ihr alle gleich gesagt: Lass die Finger von dem. Gehört hätte sie natürlich nicht auf uns. Was wussten die Kirchenmütter denn schon? Nicht, wie Luke ihr im Schlaf die Hand hielt oder beim Kuscheln in ihren Haaren spielte, oder wie sie ihm das mit dem Schwangerschaftstest erzählt und er dann ihre Füße in den Schoß genommen hatte. Ein Mann, der die ganze Nacht seine Finger mit deinen verschränkte und dir die Füße hielt, wenn du traurig warst, musste dich doch lieben, wenigstens ein bisschen. Außerdem, was wusste ein Haufen alter Damen schon?

Wir hätten ihr gesagt, dass wir ihr zusammengerechnet ganze Jahrhunderte voraushatten. Wenn wir all unsere Lebensläufe aneinanderlegten, waren wir vor der Weltwirtschaftskrise geboren worden, vor dem Bürgerkrieg, sogar bevor es Amerika gab. Und wie wir so gelebt haben, hat es auch Männer gegeben. O ja, Mädchen, da hat es auch ein kleines bisschen Liebe gegeben. Dieses kleine bisschen Liebe, das dir den Mund wässrig macht nach mehr, wie das letzte bisschen Honig im Topf, das ganz kurz den Hunger überdeckt. Wir haben uns mit der Zunge die Zähne abgeleckt, um dieses kleine bisschen so lange zu genießen, wie es nur ging, und wie wir so gelebt haben, hat nichts uns hungriger gemacht.

 

Zehn Jahre vor Nadia Turners Termin hatten wir der Abtreibungsklinik in der Stadt schon unseren ersten Besuch abgestattet. Nein, nicht wie Sie denken. Als diese Klinik entstand, hätten wir gelacht über die Vorstellung, Babys zu bekommen, so wie Sarah, ungewollt oder sonst wie. Außerdem waren wir damals längst Mütter, manche im Herzen und andere richtig. Wir wiegten die Enkelkinder, auf die wir aufpassen mussten, gaben den Nachbarskindern Klavierstunden und backten Kuchen für die Alten und Kranken, die nicht mehr vor die Tür kamen. Alle bemutterten wir jemanden, und darüber hinaus bemutterten wir alle gemeinsam die Upper Room Chapel, weshalb wir auch dabei waren, als die Kirche zum Protest vor der Klinik aufrief. Nicht dass Upper Room die Art Gemeinde gewesen wäre, die sich über jede Kleinigkeit aufregte, die ihr nicht gefiel. Die ihre Faust gegen anstößige Szenen in Filmen erhob, Berge von Rap-CDs kaufte, nur um sie zu zerstören, oder dem Gouverneur in Sacramento schrieb, damit die Liste verbotener Bücher immer lang und auf dem neuesten Stand blieb. Nein, die Gemeinde hatte bisher erst ein einziges Mal protestiert, in den Siebzigern, als in Oceanside der erste Stripclub gebaut wurde. Ein Stripclub, nur ein paar Minuten vom Strand, wo die Kinder spielten und im Meer badeten! Was würde als Nächstes kommen, ein Bordell auf der Seebrücke? Warum nicht gleich den ganzen Hafen zum Rotlichtviertel erklären? Das Hanky Panky machte trotzdem auf, und obwohl es der Gemeinde ein Dorn im Auge blieb, waren alle sich einig: Die neue Abtreibungsklinik war viel schlimmer. Wahrlich ein Zeichen der Zeit. Eine Abtreibungsklinik, mal eben in die Stadt gestellt wie ein Donutladen.

Also versammelte sich das Kirchenvolk zum Protest vor der Baustelle. John Zwei, der für die Autolosen den Kirchenbus angeworfen hatte, Schwester Willis, unter deren Aufsicht die Sonntagsschüler bunte Schilder gemalt hatten, und sogar Magdalena Price, die man kaum je dazu bewegen konnte, in der Upper Room mit anzufassen, wenn das bedeutete, dass sie sich von ihrer Klavierbank erheben musste, sogar sie war mit zum Protestieren gekommen, um, wie sie sich ausdrückte, zu sehen, was die ganze Aufregung sollte. Den Pastor, die First Lady und ihren Sohn hatten wir in die Mitte genommen – damals war der Sohn ein kleiner Junge, der Erdbrocken auf den Gehweg kickte –, und der Pastor betete für die Seelen der unschuldigen Kinder.

Unser Protest währte nur drei Tage. (Nicht etwa weil wir in unseren Überzeugungen schwankend geworden wären, sondern weil die Militanten dazukamen, irre Weiße, wie sie irgendwann in den Nachrichten auftauchen würden, weil sie in den Kliniken Bomben legten oder Ärzte abstachen. Wir waren die Letzten, die dabei sein wollten, wenn so einer durchdrehte.) Drei Tage lang kam Robert Turner um sechs Uhr früh in die Stadt gefahren und brachte uns eine neue Ladung Protestschilder aus der Kirche. Seine Frau und er waren für Demonstrationen nicht so zu haben, sagte er dem Pastor, aber die Schilder fahren sei das mindeste, wo er doch den Laster habe.

Und zehn Jahre später war er für die Upper Room dann nur noch der Mann mit dem Laster, dem schwarzen Chevy mit der offenen Ladefläche, der zum Upper-Room-Laster geworden war, weil man Robert so oft damit von der Kirche abfahren sah, ein Arm aus dem Fenster, die Ladefläche voller Essenslieferungen, Kleiderspenden oder Klappstühle. Er war natürlich nicht das einzige Gemeindemitglied mit Laster, aber das einzige, das ihn immer sofort zur Verfügung stellte. Neben dem Telefon hatte er einen Kalender liegen, und wenn jemand von der Kirche anrief, trug er mit einem winzigen Golf-Bleistift einen Termin ein. Manchmal scherzte er, eigentlich müsste er auf der Ansage seines Anrufbeantworters den Laster auch nennen, der bekomme sowieso mehr Anrufe als er. Ein Scherz, wobei er sich schon fragte, ob da nicht etwas Wahres dran war, ob der Laster nicht der Grund dafür war, dass man ihn zu Picknicks und Grillfesten einlud, ob der Laster nicht der eigentliche Gast war, weil man ihn für den Transport von Lautsprechern, Klapptischen und -stühlen brauchte, während er nur als Begleitung geduldet wurde. Warum sonst hätte man ihn jeden Sonntag so herzlich begrüßt, wenn er in die Upper Room kam? Die Kirchendiener schlugen ihm auf die Schultern, die Damen am Empfangstisch strahlten, und der Pastor ließ einmal in einem Nebensatz fallen, er wäre nicht überrascht, wenn Roberts Führungsqualitäten eines Tages mit einem Sitz im Ältestenrat belohnt werden würden.

Der Laster war für ihn die Wende gewesen, glaubte Robert. Aber da war auch seine Tochter. Alleinerziehenden Vätern fliegen immer die Herzen zu, besonders wenn sie Mädchen großziehen, und den Leuten wäre Robert Turner noch immer nicht egal gewesen, auch wenn da nicht diese schreckliche Sache mit seiner Frau gewesen wäre, auch wenn sie einfach die Koffer gepackt und sich davongemacht hätte. Manchen kam es ohnehin so vor, als hätte sie genau das getan.

 

Als ihr Vater an diesem Abend seinen Laster in die Garage fuhr, lag Nadia zusammengekrümmt im Bett und hielt sich den zuckenden Bauch. «Die Krämpfe können schlimm sein», hatte die Dreadlocks-Schwester gesagt. «Das dauert ein paar Stunden. Wenn sie ganz schlimm werden, rufst du einen Krankenwagen.» Den Unterschied zwischen schlimmen und ganz schlimmen Krämpfen hatte die Schwester ihr nicht erklärt, dafür hatte sie Nadia eine oben zusammengerollte weiße Papiertüte gegeben, wie eine Lunchtüte. «Gegen die Schmerzen. Alle vier Stunden zwei.» Eine ehrenamtliche Helferin wollte Nadia unbedingt nach Hause fahren, und als sie zu dem weißen Mädchen in den schmutzigen Sentra stieg, konnte sie draußen die Schwester sehen, die ihnen nachblickte. Die Helferin – blond, Anfang zwanzig, ernst – plapperte die ganze Fahrt über nervös und drehte an den Knöpfen des Autoradios herum. Sie sei im ersten Semester an der Cal State San Marcos, sagte sie, und der Dienst in der Klinik sei Teil ihres Studiums, Hauptfach Frauenforschung. Sie sah wie die Sorte Mädchen aus, die auf die Uni gingen, so was wie Frauenforschung als Hauptfach belegten und trotzdem erwarten konnten, ernst genommen zu werden. Sie fragte, ob Nadia aufs College wolle, und die Antwort schien sie zu überraschen. «Oh, Michigan ist eine tolle Uni», sagte sie, als wüsste Nadia das nicht schon.

Das war vor zwei Stunden gewesen. Nadia kniff die Augen zusammen und ließ sich aus dem kalten Zentrum des Schmerzes an dessen warme Ränder treiben. Sie wollte gerade noch eine Tablette nehmen, obwohl sie wusste, dass sie eigentlich warten sollte, aber als sie das Rumpeln des Garagentors hörte, stopfte sie die orangefarbene Kapsel in die weiße Tüte und alles in die Nachttischschublade. Alles Ungewöhnliche konnte verräterisch sein, sogar eine schlichte Papiertüte. Seit sie von ihrer Schwangerschaft wusste, hatte sie geglaubt, ihrem Vater müsse doch auffallen, dass etwas nicht stimmte. Wenn sie in der Schule einen schlechten Tag gehabt hatte, hatte ihre Mutter das sofort gemerkt. Was ist los?, fragte sie dann schon, bevor Nadia hallo sagen konnte. Ihr Vater war nie so aufmerksam gewesen, aber eine Schwangerschaft war nicht einfach ein doofer Tag in der Schule – er würde doch merken, dass sie in Panik war, ganz bestimmt. Sie war froh, dass es bisher nicht geschehen war, aber dass man in einem anderen Körper nach Hause kommen konnte, dass einem inwendig etwas Großes zustoßen konnte, ohne dass es jemand merkte, erschreckte sie auch.

Ihr Vater klopfte dreimal und öffnete dann vorsichtig die Tür zu ihrem Zimmer. Er trug seine Uniform, die ihm wie angegossen passte, so gut standen ihm Bügelfalten, die Abzeichen auf der Brust. Ihre Freunde waren immer überrascht, dass ihr Vater bei den Marines war. Er wirkte nicht so wie die, die sie schon als Kinder in der Stadt gesehen hatten, dreiste und durchtrainierte Jungs, die vor dem Regal-Kino rumalberten und Mädchen anbaggerten. Vielleicht war ihr Vater früher auch einmal so einer gewesen, aber sie konnte es sich nicht vorstellen. Er war still und angespannt, ein großer drahtiger Mann, der nie locker zu sein schien, wie ein Wachhund, die Ohren immer aufgestellt. Er lehnte im Türrahmen, bückte sich dann, um sich die glänzenden schwarzen Stiefel aufzubinden.

«Du siehst ein bisschen grün um die Nase aus», sagte er. «Bist du krank?»

«Bloß Krämpfe», sagte sie.

«Ach. Deine …» Er deutete auf seinen Bauch. «Brauchst du was?»

«Nein», sagte sie. «Warte. Kann ich nachher deinen Laster haben?»

«Wozu?»

«Fahren.»

«Ich wollte sagen, wo willst du hin?»

«Das geht nicht.»

«Was?»

«Dass du fragst, wo ich hinwill. Ich bin fast achtzehn.»

«Ich darf doch wohl noch fragen, wo mein Laster landet!»

«Was glaubst du denn?», fragte sie. «Dass ich ihn in Mexiko lasse?»