Die verschwindende Hälfte - Brit Bennett - E-Book
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Die verschwindende Hälfte E-Book

Brit Bennett

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Beschreibung

Mallard heißt der kleine Ort im ländlichen Louisiana, der auf keiner Karte verzeichnet ist. Seine Bewohner blicken mit Stolz auf eine lange Tradition und Geschichte, und vor allem auf ihre Kinder, die von Generation zu Generation hellhäutiger zu werden scheinen. Hier werden in den 1950ern Stella und Desiree geboren, Zwillingsschwestern von ganz unterschiedlichem Wesen. Aber in einem sind sie sich einig: An diesem Ort sehen sie keine Zukunft für sich. In New Orleans, wohin sie flüchten, trennen sich ihre Wege. Denn Stella tritt unbemerkt durch eine den weißen Amerikanern vorbehaltene Tür - und schlägt sie kurzerhand hinter sich zu. Desiree dagegen heiratet den dunkelhäutigsten Mann, den sie finden kann. Und Jahrzehnte müssen vergehen, bis zu einem unwahrscheinlichen Wiedersehen. Mit kaum 26 gelangte Brit Bennett 2016 aus dem Stand an die Spitze der US-Bestsellerlisten, und auch bei uns wurde sie gefeiert für die Entschiedenheit, die Anmut und Nonchalance, mit der sie in die großen literarischen Fußstapfen einer Toni Morrison getreten war. "Die verschwindende Hälfte" ist die eindrucksvolle Bestätigung solcher Erwartungen: die Generationen umspannende Geschichte einer Emanzipation - von Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht - und eine mitreißende Lektüre.

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Brit Bennett

Die verschwindende Hälfte

Roman

Aus dem Englischen von Isabel Bogdan und Robin Detje

Über dieses Buch

Mallard heißt der kleine Ort im ländlichen Louisiana, der auf keiner Karte verzeichnet ist. Seine Bewohner blicken mit Stolz auf eine lange Tradition und Geschichte, und vor allem auf ihre Kinder, die von Generation zu Generation hellhäutiger zu werden scheinen.

Hier werden in den 1950ern Stella und Desiree geboren, Zwillingsschwestern von ganz unterschiedlichem Wesen. Aber in einem sind sie sich einig: An diesem Ort sehen sie keine Zukunft für sich. In New Orleans, wohin sie flüchten, trennen sich ihre Wege. Denn Stella tritt unbemerkt durch eine den weißen Amerikanern vorbehaltene Tür – und schlägt sie kurzerhand hinter sich zu. Desiree dagegen heiratet den dunkelhäutigsten Mann, den sie finden kann. Und Jahrzehnte müssen vergehen bis zu einem unwahrscheinlichen Wiedersehen.

Mit kaum 26 gelangte Brit Bennett 2016 aus dem Stand an die Spitze der US-Bestsellerlisten, und auch bei uns wurde sie gefeiert für die Entschiedenheit, die Anmut und Nonchalance, mit der sie in die großen literarischen Fußstapfen einer Toni Morrison getreten war. «Die verschwindende Hälfte» ist die eindrucksvolle Bestätigung solcher Erwartungen: die Generationen umspannende Geschichte einer Emanzipation –von Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht – und eine mitreißende Lektüre.

 

«Mit brutaler Härte, anmutiger Eleganz und unverkrampfter Nonchalance tritt die 1990 geborene afroamerikanische Schriftstellerin Brit Bennett mit ‹Die Mütter› fast mühelos in die großen literarischen Fußstapfen einer Toni Morrison.» (Rolling Stone)

 

«Den neuen Roman von Brit Bennett darf sich niemand entgehen lassen.» (The Week)

 

«Eines der am sehnlichsten erwarteten Bücher dieses Jahres.» (Library Journal)

 

«Brit Bennett ist eine der wichtigsten jungen Stimmen der US-Literatur.» (Die Welt)

Vita

Brit Bennett wuchs im südlichen Kalifornien auf und studierte an der Stanford University und an der University of Michigan. Ihre Arbeiten erschienen in «The New Yorker», «The New York Times Magazine», «The Paris Review» und «Jezebel». «Die Mütter», ihr erster Roman, wurde unter anderem für den PEN/Robert W. Bingham Prize und den Prix Femina étranger nominiert.

 

Isabel Bogdan studierte in Heidelberg und Tokyo. Heute lebt sie in Hamburg und übersetzt unter anderem Jane Gardam und Nick Hornby. 2016 und 2019 erschienen ihre eigenen Romane «Der Pfau» und «Laufen».

 

Robin Detje lebt als Autor und Übersetzer in Berlin. Er ist Teil der Künstlergruppe bösediva. Für seine literarischen Übersetzungen wurde er mit dem Preis der Leipziger Buchmesse und dem Preis der Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Stiftung ausgezeichnet.

Für meine Familie

Teil IDie verlorenen Zwillinge

1968

Eins

An dem Vormittag, als einer der verlorenen Zwillinge nach Mallard zurückkehrte, kam Lou Lebon mit der Nachricht ins Diner gelaufen, und selbst heute noch, viele Jahre später, können sich alle an den Schock erinnern, als der schweißnasse Lou sich durch die Glastüren drängte, schwer atmend, um den Hals herum dunkel angelaufen vor lauter Anstrengung. Die Gäste, die noch nicht ganz wach gewesen waren, zeterten um ihn herum, es waren an die zehn, obwohl später viele lügen und behaupten würden, sie wären auch dabei gewesen, um so zu tun, als hätten sie ein Mal etwas wirklich Aufregendes erlebt. In dieser kleinen Ackerbürgerstadt geschah nie etwas Überraschendes, nicht seit die Vignes-Zwillinge zehn Jahre zuvor verschwunden waren. Aber an jenem Vormittag im April 1968 entdeckte Lou auf dem Weg zur Arbeit Desiree Vignes, wie sie die Partridge Road herunterspazierte, einen kleinen Lederkoffer in der Hand. Sie sah noch genauso aus wie damals, als sie mit sechzehn verschwunden war – der Teint noch immer hell, von der Farbe angefeuchteten Sandes. Ihre schmale Gestalt erinnerte ihn an einen vom Wind durchgeschüttelten Ast. Sie hatte es eilig, ging mit gesenktem Kopf, und – hier legte Lou geschickt eine Kunstpause ein – an der Hand hielt sie ein kleines Mädchen, das acht Jahre alt sein mochte. Es war rabenschwarz.

«Blauschwarz», sagte er. «Wie frisch aus Afrika eingeflogen.»

In Lou’s Egg House hoben ein Dutzend Gespräche gleichzeitig an. Der Koch bezweifelte, dass es wirklich Desiree gewesen war, schließlich wurde Lou im Mai sechzig und war noch immer zu eitel, seine Brille zu tragen. Die Kellnerin war überzeugt, dass sie es doch war – die Vignes-Schwestern konnte man selbst als Blinder sehen und auch, dass es nicht die andere von beiden gewesen war. Den Gästen, die Spiegelei und Grütze auf dem Tresen stehenließen, war dieses Vignes-Theater egal – aber wo kam denn bitte das dunkelhäutige kleine Mädchen her? War das am Ende Desirees?

«Wessen Kind soll es denn sonst sein?», sagte Lou. Er schnappte sich eine Handvoll Papierservietten und tupfte sich den Schweiß von der Stirn.

«Ein Waisenkind vielleicht, zur Pflege.»

«Ich kann mir nicht vorstellen, dass aus Desiree etwas so Schwarzes rauskommt.»

«Glaubst du, Desiree schafft sich Pflegekinder an?»

Natürlich nicht. Desiree war ein selbstsüchtiges Mädchen. Wenn sie überhaupt noch etwas von ihr wussten, dann das, und an viel mehr erinnerten die meisten sich nicht. Die Zwillinge waren jetzt Jahre fort, fast genauso lange, wie man sie überhaupt gekannt hatte. Nach dem Stadtgründerfest hatten sie sich aus dem Bett geschlichen, während nebenan die Mutter schlief. Den einen Tag drängelten die Zwillinge sich noch vor dem Badezimmerspiegel, vier identische Mädchen, ganz mit ihren Haaren beschäftigt. Am anderen Morgen war das Bett leer, die Decke zurückgeschlagen wie immer, straff auf Stellas und zerknautscht auf Desirees Seite. Der Ort suchte den ganzen Vormittag nach ihnen, rief in den Wäldern ihre Namen, fragte sich töricht, ob sie entführt worden waren. Ihr Verschwinden kam so plötzlich wie die Entrückung, und auf einen Schlag waren alle Sünder von Mallard allein.

Die Wahrheit war natürlich weder mystisch noch geheimnisvoll; die Zwillinge tauchten bald in New Orleans wieder auf, einfach selbstsüchtige Mädchen, die sich vor der Verantwortung davongestohlen hatten. Sie würden nicht lange fortbleiben. Das Stadtleben würde sie mürbe machen. Das Geld würde ihnen ausgehen und auch die Unverfrorenheit, und bald würden sie der Mutter wieder schniefend am Rock hängen. Aber sie kamen nicht zurück. Stattdessen zerstreuten die Zwillinge sich nach einem Jahr und lebten ihre Leben so säuberlich getrennt, wie sie einst das Ei geteilt hatten. Stella wurde weiß, und Desiree heiratete den dunkelsten Mann, den sie finden konnte.

Nun war sie zurück, warum, wusste allein der Herr. Heimweh vielleicht. Sehnsucht nach der Mutter, nach all den Jahren, oder weil sie mit ihrem dunkelhäutigen Kind angeben wollte. In Mallard heiratete man nicht schwarz. Man zog auch nicht weg, aber das hatte Desiree ja schon getan. Nur dann auch noch einen dunkelhäutigen Mann heiraten und dessen blauschwarzes Kind durch die Stadt schleifen – das ging zu weit.

Die Versammlung in Lou’s Egg House löste sich auf, der Koch zog sich das Haarnetz über, die Kellnerin zählte auf dem Tisch das Kleingeld, Männer in Overalls schlürften ihren Kaffee, bevor es hinaus in die Raffinerie ging. Lou lehnte sich an das schmutzige Fenster und starrte auf die Straße. Eigentlich musste er Adele Vignes anrufen. Von der eigenen Tochter so überfallen zu werden, nach allem, was sie durchgemacht hatte, das war nicht in Ordnung. Und dann noch dieses dunkle Kind. Mein Gott. Er griff nach dem Telefon.

«Glaubst du, sie will sich hier niederlassen?», fragte der Koch.

«Wer weiß? Sie schien es jedenfalls eilig zu haben», sagte Lou. «Wo sie wohl so schnell hinwollte?»

«Hochnäsig ist sie. Völlig ohne Grund.»

«Mein Gott», sagte Lou. «Ich habe noch nie ein so schwarzes Kind gesehen.»

 

Ein seltsamer Ort.

Mallard, benannt nach den Enten, die in den Sümpfen und Reisfeldern lebten. Eine Stadt, die, wie alle anderen auch, mehr Gedanke und Vorstellung war als Ort. Gedanke und Vorstellung Alphonse Decuirs, wie er im Jahr 1848 auf den Zuckerrohrfeldern stand, geerbt von seinem Vater, dem auch er einst gehört hatte. Nun, da der Vater tot und er befreit war, wollte der Sohn auf diesem Land etwas bauen, das die Jahrhunderte überdauerte. Eine Stadt für Menschen wie ihn, die nie als Weiße akzeptiert werden würden und sich trotzdem nicht wie Negroes behandeln lassen wollten. Einen dritten Ort. Seiner Mutter, Friede ihrer Asche, war seine Hellhäutigkeit verhasst gewesen; als Kind hatte sie ihn in die Sonne gestoßen und ihn angefleht, doch nachzudunkeln. Vielleicht hatte ihn das von der Stadt träumen lassen. Hellhäutigkeit war, wie alles zu einem hohen Preis Ererbte, ein Geschenk, das einsam machte. Er heiratete eine Mulattin, die noch hellhäutiger war als er. Sie war zum ersten Mal schwanger, und er stellte sich die Kinder seiner Kindeskinder noch lichter vor, wie eine Tasse Kaffee, die man immer weiter mit Sahne verdünnt. Immer perfektere Negroes. Eine Generation hellhäutiger als die andere.

Bald kamen mehr dazu. Bald waren Gedanke und Ort untrennbar miteinander verbunden, und Mallard wurde im Rest des Bezirks St. Landry zum Begriff. Farbige erzählten sich staunend davon. Weiße konnten nicht glauben, dass es die Stadt gab. Als im Jahr 1938 die Kirche St. Catherines erbaut wurde, schickte die Diözese einen jungen Priester aus Dublin, der sich bei seiner Ankunft verloren fühlte. Hatte der Bischof ihm nicht gesagt, Mallard sei eine Farbigenstadt? Wer waren dann diese Leute, die dort herumliefen? Hell und blond und rothaarig, der Schwärzeste von ihnen nicht dunkelhäutiger als ein Grieche. Galt das etwa in Amerika, wo die Weißen unter sich bleiben wollten, als farbig? Wie sollte man überhaupt den Unterschied erkennen?

Als die Vignes-Zwillinge geboren wurden, war Alphonse Decuir schon lange tot. Aber seine Ururururenkelinnen trugen sein Erbe weiter, ob sie wollten oder nicht. Sogar Desiree, die vor jedem tadtgründerpicknic jammerte und die Augen verdrehte, wenn der Gründer in der Schule zur Sprache kam, so als hätte das alles nichts mit ihr zu tun. So behielt man sie in Erinnerung, als die Zwillinge verschwunden waren: Desiree, die nie hatte dazugehören wollen und ihr Geburtsrecht verleugnete. Die glaubte, man könne die Geschichte abschütteln wie eine Hand auf der Schulter. Eine Stadt konnte man hinter sich lassen, aber nicht sein eigen Blut. Aber die Vignes-Zwillinge glaubten wohl irgendwie, beides zu schaffen.

Und dennoch, wenn Alphonse Decuir durch den Ort geschlendert wäre, der einst seine Idee gewesen war, hätte der Anblick seiner Ururururenkelinnen ihn entzückt. Zwillinge mit sahniger Haut, Haselnussaugen, lockigem Haar. Jedes Kind ein wenig vollkommener als die Eltern – was könnte herrlicher sein?

 

Die Vignes-Zwillinge verschwanden am 14. August 1954, gleich nach dem Stadtgründerfest, was, wie später allen klarwurde, ihr langgehegter Plan gewesen war. Stella, die Schlaue, hatte bestimmt vorhergesehen, dass die Stadt abgelenkt sein würde. Müde vom langen Grillen in der Sonne auf dem Platz, wo Willie Lee, der Schlachter, Gestelle mit Rippchen, Ochsenbrust und Würstchen räucherte. Nach dem Räuchern kam die Rede von Bürgermeister Fontenot, die Segnung des Essens durch Pfarrer Cavanaugh; die Kinder wurden schon zappelig und pickten sich Fetzen knuspriger Hühnchenhaut von den Tellern, die ihre betenden Eltern in Händen hielten. Ein langer, festlicher Nachmittag mit Blasmusik, am Abend dann Tanz in der Turnhalle, und nach ein paar Stunden auf der Tanzfläche, die die Altvorderen zart wieder mit ihrem jüngeren Selbst vertraut gemacht hatten, und ein paar Gläsern zu viel von Trinity Thierrys Punsch torkelten sie heim.

In jeder anderen Nacht hätte Sal Delafosse vielleicht aus dem Fenster geblickt und die zwei Mädchen im Mondschein gesehen. Adele Vignes hätte die Dielen knarren hören. Selbst Lou LeBon hätte die Zwillinge vielleicht durch die beschlagenen Fenster erspäht, als er sein Diner zumachte. Aber am Stadtgründertag war Lou’s Egg House lang schon geschlossen. Sal hatte einen Anfall von Rüstigkeit und schaukelte sich mit seiner Frau in den Schlaf. Adele schnarchte punschselig und träumte von einem Tanz mit ihrem Mann, damals auf dem Schulball. Niemand sah, wie die Zwillinge sich davonschlichen, genau wie geplant.

Mädchen, die eine verlassene Landstraße entlanghuschten, mit zwei kleinen Taschen. Mädchen, die sich ganz außer Atem umdrehten und glaubten, die Scheinwerfer herannahender Autos zu sehen. Es war keineswegs Stellas Einfall gewesen – Desiree hatte in diesem letzten Sommer beschlossen, nach dem Picknick wegzulaufen. Was vielleicht nicht verwunderlich war. Hatte sie nicht seit Jahren jedem, der es wissen wollte, erzählt, sie könne es nicht erwarten, aus Mallard wegzukommen? Vor allem Stella, die sie gewähren ließ, mit der Geduld derer, die an Wahnvorstellungen dieser Art schon lange gewöhnt sind. Mallard zu verlassen, das war für Stella so phantastisch wie nach China zu fliegen. Technisch möglich, was nicht bedeutete, dass sie sich auch nur ansatzweise vorstellen konnte, es zu tun. Desiree aber hatte seit Jahren laut vom Leben jenseits dieses Bauerndorfs geträumt. Als sie in Opelousas Ein Herz und eine Krone im Kino sahen, konnte sie bei dem ganzen Lärm der anderen farbigen Kinder auf der Empore, die vor Langeweile die Weißen im Parkett wild mit Popcorn bewarfen, kaum die Dialoge verstehen. Aber sie drückte sich fasziniert ans Geländer und sah sich selbst über den Wolken auf einen fernen Ort wie Paris oder Rom zugleiten. Nicht einmal in New Orleans war sie je gewesen, nur zwei Stunden entfernt.

«Rohheit ist alles, was dich da draußen erwartet», pflegte ihre Mutter immer zu sagen, was Desiree natürlich nur noch weiter anstachelte. Die Zwillinge kannten ein Mädchen namens Farrah Thibodeaux, das vor einem Jahr in die Stadt geflüchtet war, und das hatte so einfach geklungen. Wie schwierig konnte es sein abzuhauen, wenn Farrah es geschafft hatte, die nur ein Jahr älter war als sie? Desiree malte sich aus, wie sie in die Stadt entkam und Schauspielerin wurde. Sie hatte nur ein Mal in einer Theateraufführung die Hauptrolle gespielt – Romeo und Julia, neunte Klasse –, aber als sie die Bühne für sich gehabt hatte, war es ihr kurz so vorgekommen, als wäre Mallard nicht der ödeste Ort Amerikas. Die ganze Klasse jubelte ihr zu, Stella war in den Schatten der Turnhalle verschwunden, und Desiree fühlte sich endlich ganz wie sie selbst, nicht wie ein Zwilling, nicht wie eine Hälfte, der die andere fehlte. Aber im Jahr darauf ging die Rolle der Viola in Was ihr wollt nicht an sie, sondern an die Tochter des Bürgermeisters, der in letzter Sekunde der Schule eine Schenkung gemacht hatte, und nach einem Abend des Schmollens auf der Seitenbühne, während Mary Lou Fontenot strahlend in die Menge winkte, erklärte Desiree ihrer Schwester, sie könne nicht mehr länger warten und müsse raus aus Mallard.

«Das sagst du immer», antwortete Stella.

«Weil es immer stimmt.»

Es stimmte aber nicht ganz. Sie hasste Mallard nicht, der Ort war einfach so eng, dass sie sich in der Falle fühlte. Ihr Leben lang hatte sie dieselben Feldwege abgelaufen; sie hatte ihre Initialen auf die Unterseite von Schultischen geritzt, an denen schon ihre Mutter gesessen hatte und an denen eines Tages ihre Kinder sitzen und die Scharten mit den Fingern entlangfahren würden. Und die Schule war im selben Haus wie von alters her, alle Jahrgänge unter einem Dach, sodass selbst der Aufstieg in die Mallard High School sich nicht wie ein Aufstieg anfühlte, war einfach ein Umzug auf die andere Seite des Flurs. Vielleicht hätte sie das alles ertragen, wenn nicht alle so von der Hellhäutigkeit besessen gewesen wären: Syl Guillory und Jack Richard, die sich beim Friseur darum stritten, wessen Ehefrau den helleren Teint hatte, oder ihre Mutter, die sie nicht ohne Kopfbedeckung nach draußen lassen wollte, oder Menschen, die an lachhafte Dinge glaubten, zum Beispiel, dass Kaffeetrinken oder Schokoladeessen in der Schwangerschaft ein Baby dunkelhäutig werden ließen. Die Haut ihres Vaters war so hell gewesen, dass sie an einem kalten Morgen die blauen Venen sah, wenn sie seinen Arm umdrehte. Nur hatte das keine Rolle gespielt, als die Weißen ihn holen kamen. Wie sollte sie da noch mit Hellhäutigkeit etwas am Hut haben?

Sie konnte sich inzwischen kaum noch an ihren Vater erinnern; das machte ihr ein wenig Angst. Das Leben vor seinem Tod kam ihr vor wie eine Geschichte, die sie erzählt bekommen hatte. Aus einer Zeit, als Mutter noch nicht bei Sonnenaufgang aufgestanden war, um mit dem Bus in die Häuser von Weißen zu fahren, als sie an den Wochenenden noch nicht zu Hause Wäsche angenommen und im Wohnzimmer kreuz und quer Wäscheleinen gespannt hatte. Die Zwillinge hatten immer gern zwischen den Steppdecken und Laken Verstecken gespielt, bis Desiree merkte, wie erniedrigend es war, immer die schmutzigen Sachen von Fremden im eigenen Heim zu haben.

«Wenn das so ist, dann solltest du etwas dagegen unternehmen», sagte Stella.

Sie dachte immer ganz praktisch. Sonntagabends bügelte Stella ihre Wäsche für die ganze Woche, anders als Desiree, die jeden Morgen auf der Jagd nach einem sauberen Kleid war und noch die Hausaufgaben fertig machen musste, die zerknittert unten in der Schultasche lagen. Stella ging gern zur Schule. Ihre Mathe-Noten waren schon in der Vorschule hervorragend gewesen, und in der zehnten Klasse ließ Mrs. Belton sie sogar ein paar Stunden lang die Jüngeren unterrichten. Sie hatte Stella ein zerlesenes Lehrbuch zur Infinitesimalrechnung gegeben, aus ihrer eigenen Zeit am Spelman College in Atlanta, und Stella lag wochenlang im Bett und versuchte, die seltsamen Formen und langen Ketten aus Zahlen und Klammern zu entschlüsseln. Desiree hatte das Buch auch einmal durchgeblättert, aber die Gleichungen lagen vor ihr wie Hieroglyphen, und Stella schnappte es ihr wieder weg, als hätte Desiree es schon durch ihre Blicke irgendwie besudelt.

Stella wollte irgendwann selbst Lehrerin an der Mallard High werden. Aber wenn Desiree sich eine Zukunft in Mallard ausmalte, wo das Leben einfach immer so weiterging, wurde es ihr eng um die Brust. Und wenn sie davon sprach, die Stadt zu verlassen, wollte Stella davon nichts wissen.

«Wir können Mama nicht allein lassen», sagte sie dann immer, und die zurechtgewiesene Desiree schwieg. Sie hat schon so viel verloren, das war der Teil, der nie ausgesprochen werden musste.

Am letzten Tag der zehnten Klasse kehrte ihre Mutter von der Arbeit heim und erklärte, dass die Zwillinge im Herbst nicht wieder in die Schule gehen würden. Sie hätten Schulbildung genug, sagte sie und ließ sich vorsichtig auf das Sofa sinken, um die schmerzenden Füße auszuruhen, und jetzt müssten sie arbeiten gehen. Da waren die Zwillinge sechzehn, und sie waren entsetzt, obwohl Stella vielleicht hätte auffallen können, dass immer mehr Rechnungen kamen, und Desiree sich hätte fragen sollen, warum ihre Mutter sie allein im vergangenen Monat zweimal zu Fontenot geschickt hatte, um einen höheren Kredit zu erbitten. Aber jetzt starrten die Mädchen einander schweigend an, während ihre Mutter sich die Schuhe auszog. Stella sah aus, als hätte man ihr einen Schlag in den Magen versetzt.

«Aber ich kann arbeiten und trotzdem zur Schule gehen», sagte sie. «Das kriege ich hin.»

«Das geht nicht, mein Schatz», sagte ihre Mutter. «Du musst tagsüber hier sein. Du weißt, dass ich das nicht tun würde, wenn es nicht nötig wäre.»

«Ich weiß, aber …»

«Und Nancy Belton hat dich sogar schon selbst unterrichten lassen. Was willst du da noch lernen?»

Sie hatte ihnen schon Arbeit in Opelousas gefunden, und am nächsten Morgen sollten sie als Putzfrauen anfangen. Desiree hasste es, ihrer Mutter beim Putzen zu helfen. Die Hände in schmutziges Abwaschwasser zu tauchen, sich über Wischtücher zu beugen und zu wissen, dass auch ihre Finger irgendwann dick und rau sein würden, weil sie den Weißen die Kleider schrubbte. Aber wenigstens keine Klassenarbeiten mehr, kein Lesen und Pauken, keine gähnende Langeweile beim Anhören von Referaten. Sie war jetzt erwachsen. Endlich begann das richtige Leben. Trotzdem schwieg sie bedrückt, als sie zu kochen anfingen und Stella in der Spüle die Karotten putzte.

«Ich habe gedacht …», sagte sie. «Ich glaube, ich dachte …»

Sie wollte eines Tages aufs College gehen, und natürlich würde sie auf das Spelman oder die Howard University können, oder wohin sie auch wollte. Der Gedanke hatte Desiree immer erschreckt – dass Stella ohne sie nach Atlanta ziehen könnte oder nach Washington D.C. Ein winziges Stück weit war sie erleichtert; jetzt würde Stella sie nicht mehr verlassen können. Dass ihre Schwester traurig war, sah sie trotzdem nicht gern.

«Du kannst ja trotzdem hin», sagte Desiree. «Später, meine ich.»

«Wie denn? Man braucht einen Highschoolabschluss.»

«Den kannst du auch später machen. Abendschule oder so. Schaffst du ganz schnell, das weiß ich jetzt schon.»

Stella verfiel wieder in Schweigen und schnitt die Karotten für den Eintopf. Sie wusste, wie verzweifelt ihre Mutter war, und würde sich nie offen gegen ihre Entscheidung stellen. Aber sie war so fassungslos, dass ihr das Messer ausrutschte und sie sich in den Finger schnitt.

«Scheiße!», flüsterte sie so laut, dass Desiree neben ihr zusammenzuckte. Stella fluchte kaum und noch seltener, wenn ihre Mutter mithören konnte. Sie ließ das Messer fallen, und aus ihrem Zeigefinger floss ein dünnes Rinnsal Blut. Ohne nachzudenken, nahm Desiree Stellas Finger in den Mund, wie früher, als sie klein waren, wenn Stella nicht aufhören wollte zu weinen. Sie wusste, dass sie jetzt viel zu alt dafür waren, und trotzdem behielt sie Stellas Finger im Mund, mitsamt dem metallischen Blutgeschmack.

«Wie eklig», sagte Stella, ohne den Finger wegzuziehen.

 

Den ganzen Sommer lang fuhren die Zwillinge morgens mit dem Bus nach Opelousas und meldeten sich in einem riesigen weißen Haus, verborgen hinter Eisentoren mit weißen Marmorlöwen darauf, zum Dienst. Der Anblick war so theatralisch und absurd, dass Desiree am ersten Tag in Gelächter ausbrach, aber Stella war auf der Hut, als könnten die Löwen jeden Augenblick zum Leben erwachen und sie zerfleischen. Die Mutter hatte ihnen gesagt, dass die Familie reich und weiß sein würde. Aber mit einem Haus wie diesem hatte Desiree nicht gerechnet: mit einem Kristallglas-Lüster an der Decke, die so hoch war, dass sie ganz nach oben auf die Leiter klettern musste, um ihn abzustauben; einer langen Wendeltreppe, auf der ihr schwindelig wurde, wenn sie das Geländer mit einem Putztuch entlangfuhr; einer großen Küche, der sie an Geräten vorbeifeudelte, die so futuristisch und neu aussahen, dass sie nicht hätte sagen können, wie man sie benutzte.

Manchmal verlor sie Stella aus den Augen und musste nach ihr suchen. Sie wollte sie rufen, aber sie hatte Angst, ihr Name würde von der Decke widerhallen. Einmal hatte sie Stella beim Polieren der Kommode im Schlafzimmer entdeckt, versunken in ihren Anblick im Schminkspiegel, vor dem winzige Cremedöschen aufgereiht waren. Sie sah wehmütig aus, als wollte sie sich dort hinsetzen, auf das edle Bänkchen, und sich mit duftender Handcreme einreiben, so wie vielleicht Audrey Hepburn. Sich selbst bewundern – als lebte sie in einer Welt, in der Frauen so etwas taten. Aber dann war Desiree hinter ihr im Spiegel aufgetaucht, und Stella senkte den Blick, beinahe verschämt, weil sie dabei ertappt worden war, sich überhaupt nach etwas zu sehnen.

Die Familie hieß Dupont. Eine Frau mit federzarten blonden Haaren, die den ganzen Nachmittag über herumsaß, gelangweilt, mit schweren Augenlidern. Ein Mann, der bei der St. Landry Bank & Trust arbeitete. Zwei Jungen, die einander vor dem Farbfernseher herumschubsten – Desiree hatte noch nie einen gesehen und stand gebannt da, während grünes Gras den Bildschirm füllte –, und ein zu Koliken neigendes, kahlköpfiges Baby. Mrs. Dupont wirkte ständig erschöpft, obwohl sie nie wirklich etwas zu tun schien. Am ersten Tag sah sie sich die Zwillinge kurz von Kopf bis Fuß an und sagte dann geistesabwesend zu ihrem Mann: «So hübsch, die Mädchen. Ganz hellhäutig, nicht wahr?»

Mr. Dupont nickte nur. Er war unbeholfen, tollpatschig und trug eine Brille mit so dicken Gläsern, dass seine Augen klein wie Stecknadelköpfe wirkten. Immer wenn er an Desiree vorbeikam, legte er fragend den Kopf schief.

«Welche bist du gleich wieder?», sagte er dann.

«Stella», antwortete sie dann manchmal, aus Spaß. Sie war schon immer eine hervorragende Lügnerin gewesen. Der einzige Unterschied zwischen Lügen und Schauspielen war schließlich, dass beim Schauspielen das Publikum eingeweiht war; Theater war beides. Stella dagegen wollte nie die Rollen tauschen, sie glaubte fest, dass sie erwischt werden würden. Aber das Lügen – oder Schauspielen – funktionierte nur, wenn man ganz dabei war.

Desiree hatte Jahre damit zugebracht, Stella zu studieren. Wie sie mit ihrem Rocksaum spielte, wie sie sich die Haare hinter die Ohren strich oder zögernd aufblickte, bevor sie hallo sagte. Sie konnte ihre Schwester spiegeln, ihre Stimme nachahmen, im eigenen Körper die Schwester sein. Sie hielt sich für etwas Besonderes – sie konnte so tun, als wäre sie Stella, aber Stella konnte niemals Desiree sein.

Den ganzen Sommer über bekam man die Mädchen kaum noch zu Gesicht. Keine Zwillinge mehr, die über die Partridge Road spazierten, sich bei Lou an den Tisch ganz hinten quetschten oder mit den anderen Mädchen zum Football-Feld gingen, um den Jungen beim Training zuzugucken. Allmorgendlich verschwanden sie im Haus der Duponts und kamen abends wieder heraus, erschöpft und mit geschwollenen Füßen. Auf dem Heimweg lehnte Desiree sich im Bus ans Fenster. Der Sommer war fast vergangen, und ihr graute vor dem Herbst: Badezimmerböden wischen, während ihre Freundinnen im Speisesaal tratschten und den Schulball planten. Würde ihr ganzes Leben so aussehen? An ein Haus gefesselt, das sie verschluckte, sobald sie den Fuß über die Schwelle setzte?

Einen Ausweg gab es. Das wusste sie – sie hatte es immer gewusst –, aber ab August saß New Orleans ihr gnadenlos im Kopf. Als sie am Morgen des Stadtgründerfests mit der Aussicht aufgewacht war, wieder ins Haus der Duponts zu müssen, stieß sie Stella neben sich an und sagte: «Auf geht’s.»

Stella ächzte und warf sich im Bett herum, die Füße in der Decke verknotet. Sie war im Schlaf schon immer wild gewesen und neigte zu Albträumen, über die sie nicht reden wollte.

«Wohin?», fragte Stella.

«Du weißt, wohin. Ich habe keine Lust mehr, nur darüber zu reden. Auf geht’s.»

Sie hatte das Gefühl, dass sich ein Notausgang vor ihr aufgetan hatte, und wenn sie noch länger wartete, schloss er sich vielleicht für immer. Aber ohne Stella konnte sie nicht fort. Sie war nie ohne ihre Schwester gewesen, und ein Teil von ihr war sich nicht sicher, dass sie eine Trennung überstehen konnte.

«Komm schon», sagte sie. «Willst du etwa dein Leben lang den Duponts hinterherputzen?»

Was für Stella am Ende den Ausschlag gab, würde sie nie wirklich wissen. Vielleicht langweilte ihre Schwester sich genauso wie sie. Vielleicht war Stella, praktisch, wie sie war, klargeworden, dass sie in New Orleans mehr Geld verdienen und Mutter besser helfen konnte, wenn sie es ihr nach Hause schickte. Vielleicht aber hatte sie auch gesehen, wie der Notausgang sich langsam wieder schloss, und erkannt, dass es alles, was sie wollte, nur außerhalb von Mallard gab. Aber war es nicht egal, warum sie ihre Meinung änderte? Was zählte, war nur, dass Stella endlich sagte: «Okay.»

Den ganzen Nachmittag über hingen die Zwillinge beim Stadtgründerpicknick herum, und Desiree hatte das Gefühl, sie würde platzen, so schwer war es, das Geheimnis für sich zu behalten. Stella dagegen wirkte ruhig wie immer. Sie war der einzige Mensch, dem Desiree ihre Geheimnisse je anvertraut hatte. Stella wusste von den Klassenarbeiten, die Desiree verhauen hatte, und wie sie die Unterschrift ihrer Mutter auf der Rückseite gefälscht hatte, anstatt sie ihr zu zeigen. Sie wusste alles über den Krimskrams, den Desiree im Geschäft der Fontenots geklaut hatte – ein paar Knöpfe, einen Lippenstift, einen silbernen Manschettenknopf –, einfach so, weil es ihr, wenn die Tochter des Bürgermeisters vorüberflatterte, guttat zu wissen, dass sie ihr etwas weggenommen hatte. Stella hörte zu, gab manchmal ihr Urteil ab, verriet sie aber nie, und das war das Wichtige. Stella ein Geheimnis zu verraten war, wie es in ein Glas zu sprechen, das man dann fest verschloss. Nichts kam mehr heraus. Sie hatte sich nur nie vorstellen können, dass Stella ihre eigenen Geheimnisse hatte.

Als die Vignes-Zwillinge Mallard verlassen hatten, trat der Fluss über die Ufer und verwandelte alle Wege in Schlamm. Wenn sie einen Tag später aufgebrochen wären, hätte das Unwetter sie ans Licht gespült. Wenn nicht der Regen, dann der Schlamm. Auf der Partridge Road hätten sie sich auf halbem Weg gedacht: Vergiss es. Sie waren keine abgehärteten Mädchen. Sie hätten niemals fünf Meilen auf einer schlammigen Landstraße überstanden – sie wären nach Hause gekommen, völlig durchnässt, und wieder in ihr Bett gekrochen. Desiree hätte eingestanden, dass sie unbesonnen gewesen war, und Stella hätte behauptet, sie wäre aus Loyalität mitgegangen. Aber in jener Nacht regnete es nicht. Der Himmel war klar, als die Zwillinge von zu Hause weggingen, ohne einen Blick zurück.

 

An dem Vormittag, als Desiree zurückkam, verlief sie sich halb auf dem Weg zum Haus ihrer Mutter. Sich halb zu verlaufen war schlimmer als ganz – es war unmöglich zu sagen, welcher Teil von dir den Weg wusste. Die Partridge Road führte in den Wald, und dann? In welche Richtung am Fluss? Wenn man nach langer Zeit zurückkam, sah eine Stadt verändert aus, wie ein Haus, in dem die Möbel um drei Zentimeter verrückt worden waren. Man hält es nicht plötzlich für das Haus eines Fremden, aber man schlägt sich ständig an den Kanten die Schienbeine an. Am Waldrand machte sie halt, überwältigt von der endlosen Masse der Kiefern. Sie rückte sich das Halstuch zurecht. Durch das hauchdünne blaue Tuch konnte man den Bluterguss kaum noch sehen.

«Mama?», sagte Jude. «Sind wir bald da?»

Sie sah mit großen Augen zu ihr auf und ähnelte Sam so sehr, dass Desiree den Blick abwenden musste.

«Ja», sagte sie. «Ganz bald.»

«Wie lange noch?»

«Nur noch ein bisschen, Kleines. Gleich hinter dem Wald. Mama muss sich nur orientieren, weißt du.»

Als Sam sie das erste Mal geschlagen hatte, war ihr die Rückkehr in den Kopf gekommen. Da waren sie drei Jahre verheiratet gewesen, aber sie kam sich noch immer vor wie in den Flitterwochen. Wenn Sam ihr Zuckerguss vom Finger leckte oder ihr den Nacken küsste, wenn sie für den Lippenstift eine Schnute zog, erschauderte sie. Washington, D.C., war langsam eine Art Heimat geworden, und sie konnte sich vorstellen, dort den Rest eines Lebens ohne Stella zu verbringen. Dann, eines Frühlingsabends vor sechs Jahren, hatte sie vergessen, ihm einen Knopf anzunähen, und als er sie daran erinnerte, hatte sie gesagt, sie sei mit dem Abendessen beschäftigt, er solle es selber machen. Sie war müde von der Arbeit; aus dem Wohnzimmer hörte sie schon die Ed Sullivan Show, Diahann Carroll trällerte «It had to be you». Sie schob das Hühnchen in den Ofen, und als sie sich umdrehte, klatschte Sam ihr scharf die Hand auf den Mund. Sie war vierundzwanzig Jahre alt. Noch nie hatte ihr jemand ins Gesicht geschlagen.

«Lass ihn sitzen», riet ihre Freundin Roberta ihr am Telefon. «Wenn du bleibst, glaubt er, dass er damit durchkommt.»

«So einfach ist das nicht», sagte Desiree. Sie warf einen Blick in Richtung Kinderzimmer und legte die Hand an die geschwollene Lippe. Plötzlich hatte sie Stellas Gesicht vor Augen – ihr eigenes, unverletzt.

«Warum nicht?», sagte Roberta. «Du liebst ihn? Und er liebt dich so sehr, dass er dir den Kopf von den Schultern haut?»

«So schlimm war es nicht», sagte sie.

«Willst du abwarten, bis es so schlimm ist?»

Als Desiree den Mut zu gehen fand, hatte sie lange nicht mit Stella gesprochen, nicht seitdem die Schwester die Seiten gewechselt hatte. Sie wusste nicht, wie sie sie erreichen sollte, nicht einmal, wo sie jetzt wohnte. Aber als sie sich ihren Weg durch die Union Station bahnte, die verwirrte Tochter an der Hand, wollte sie nichts anderes als ihre Schwester anrufen. Stunden zuvor, als sie gerade wieder stritten, hatte Sam sie an der Kehle gepackt und seine Pistole auf ihr Gesicht gerichtet, mit einem Blick, so leuchtend wie beim ersten Kuss. Irgendwann würde er sie umbringen. Das blieb ihr bewusst, auch als er sie losgelassen und sie sich keuchend von ihm weggedreht hatte. An diesem Abend tat sie, als würde sie neben ihm einschlafen, dann packte sie, zum zweiten Mal in ihrem Leben, im Dunkeln ihre Sachen. Am Bahnhof lief sie mit dem Geld, dass sie Sam aus der Brieftasche gestohlen hatte, zum Fahrkartenschalter, die Tochter fest an der Hand und so schwer atmend, dass sie Bauchschmerzen bekam.

Was nun, fragte sie Stella in Gedanken. Wo soll ich hin? Aber natürlich antwortete Stella nicht.

Und natürlich konnte es nur ein Ziel geben.

«Wie weit ist es noch?», fragte Jude.

«Noch ein kleines Stückchen, Kleines. Wir sind fast da.»

Fast zu Hause, aber was bedeutete das? Vielleicht würde ihre Mutter sie noch am Fuß der Treppe abweisen. Einen einzigen Blick auf Jude werfen und sie wieder auf die Straße schicken. Natürlich hat dieser dunkelhäutige Mann dich geschlagen. Was hast du denn erwartet? Eine Ehe aus Trotz kann ja nichts werden. Desiree bückte sich, nahm ihre Tochter auf und setzte sie sich auf die Hüfte. Sie ging jetzt ohne nachzudenken, einfach um in Bewegung zu bleiben. Vielleicht war die Rückkehr nach Mallard ein Fehler gewesen. Vielleicht hätte sie sich eine neue Heimat suchen sollen, neu anfangen. Aber jetzt war es zu spät. Sie konnte schon den Fluss hören. Sie ging darauf zu; ihre Tochter hing ihr schwer am Hals. Der Fluss würde alles richten. Sobald sie am Ufer stand, würde sie wissen, wohin.

 

In Washington hatte Desiree Vignes gelernt, Fingerabdrücke zu lesen.

Sie hatte nicht einmal gewusst, dass man so etwas lernen konnte, bis zum Frühjahr 1956, als sie auf der Canal Street im Schaufenster einer Bäckerei eine Stellenanzeige der Regierung gesehen hatte. Sie hatte in der Tür haltgemacht und den Aushang angestarrt. Da war Stella sechs Monate fort gewesen, und die Zeit zog sich, zäh wie Gummi. Manchmal vergaß sie es auch, so merkwürdig das klang. Sie hörte in der Straßenbahn einen Witz oder kam an einer gemeinsamen Freundin von früher vorbei, und sie wollte sich zu Stella umdrehen: «Hey, hast du …», und erst dann fiel ihr wieder ein, dass sie fort war. Dass Stella sie allein gelassen hatte.

Und trotzdem hatte Desiree die Hoffnung auch nach sechs Monaten nicht aufgegeben. Stella würde anrufen. Sie würde einen Brief schicken. Aber jeden Abend griff sie in den leeren Briefkasten und wartete an einem Telefon, das nicht klingeln wollte. Stella kam nicht zurück. Sie baute sich ein neues Leben, ohne Desiree, die unglücklich dort geblieben war, wo Stella sie verlassen hatte. Und so schrieb sie sich die Telefonnummer auf dem gelben Aushang ab und suchte gleich nach der Arbeit das Einstellungsbüro auf.

Die Personalreferentin, die schon bezweifelt hatte, dass sich in dieser Stadt überhaupt ein guter, geeigneter Mensch finden ließ, war überrascht, als diese artige junge Frau vor ihr Platz nahm. Sie warf einen Blick auf die Bewerbung und stutzte dort, wo das Mädchen «farbig» eingetragen hatte. Dann klopfte sie mit dem Kugelschreiber auf das Feld «Geburtsort».

«Mallard?», sagte sie. «Nie davon gehört.»

«Ein kleines Nest», sagte Desiree. «Nördlich von hier.»

«Kleinstädte mag Mr. Hoover. Aus den Kleinstädten kommen die besten Menschen, sagt er immer.»

«Na ja», sagte Desiree, «kleiner als Mallard geht wohl nicht.»

 

In Washington versuchte sie, ihr Unglück zu vergessen. Die einzige andere farbige Frau in der Erkennungsdienstlichen Abteilung, Roberta Thomas, vermietete ihr ein Zimmer. Im Grunde war es ein Keller – dunkel und fensterlos, aber dafür sauber und, was das Wichtigste war, bezahlbar.

«Macht nicht viel her», hatte Roberta an ihrem ersten Arbeitstag zu ihr gesagt. «Aber wenn du wirklich was brauchst.» Das Angebot hatte zögerlich geklungen, als hätte sie gehofft, dass Desiree nein sagen würde. Sie war müde, drei Kinder und alles, und ehrlich gesagt, Desiree wirkte selbst wie ein Pflegefall. Aber das Mädchen, gerade erst achtzehn, allein in einer neuen Stadt, tat ihr leid, also kam es in den Keller: mit Einzelbett, Kommode und einer Heizung, die Desiree jeden Abend in den Schlaf knatterte. Sie redete sich ein, dass dies ein Neuanfang war, aber sie dachte inzwischen noch häufiger an Stella und fragte sich, was sie von dieser Stadt halten würde. Sie war aus New Orleans weg, um Stella zu vergessen, aber sie konnte noch immer nicht einschlafen, ohne im Bett nach ihr zu tasten.

Beim FBI lernte Desiree alles über Endstücke, Haken oder Gabelungen. Sie lernte, daumenseitige von kleinfingerseitigen Schleifen zu unterscheiden. Einfache Wirbel von doppelten Wirbeln. Einen jungen Finger von einem alten, dessen Papillarleisten von den Jahren verschliffen waren. Sie lernte, einen Menschen unter Millionen anderen zu identifizieren, an Weite, Form, Poren, Kontur, Rissen und Falten. Auf ihrem Schreibtisch, allmorgendlich: Fingerabdrücke, abgenommen von gestohlenen Autos und Patronenhülsen, Fensterglasscherben, Tür- und Messergriffen. Sie verarbeitete die Abdrücke von Kriegsgegnern und identifizierte gefallene Soldaten, die in Eis eingelegt zu Hause eingetroffen waren. Als Sam Winston das erste Mal bei ihr vorbeikam, untersuchte sie Abdrücke von einer gestohlenen Waffe. Er trug eine lavendelblaue Seidenkrawatte mit passendem Einstecktuch, und das Leuchten der Krawatte und die Verwegenheit des pechschwarzen Brothers, der unverschämt genug war, sie zu tragen, waren wie ein Schock für Desiree. Später, als sie ihn gemeinsam mit den anderen Staatsanwälten beim Mittagessen sah, drehte sie sich zu Roberta um und sagte: «Ich wusste gar nicht, dass es schwarze Strafverfolger gibt.»

Roberta schnaubte. «Natürlich gibt es welche. Das ist hier nicht so ein Provinznest wie dein Heimatdorf.» Auch Roberta hatte noch nie von Mallard gehört. Das hatte niemand außerhalb des Bezirks St. Landry, und als Desiree Sam von dem Ort erzählte, konnte er es kaum glauben.

«Was soll das denn heißen?», sagte er. «Eine ganze Stadt voller Leute mit einem Teint wie du?»

Er hatte sie eines Nachmittags zum Lunch eingeladen, nachdem er sich, über die Wand ihrer Bürowabe gebeugt, nach einem Satz Fingerabdrücke erkundigt hatte. Später gestand er ihr, dass die Abdrücke gar nicht so dringend gewesen waren, er hatte nur einen Vorwand gesucht, um sich ihr vorzustellen. Jetzt saßen sie im National Arboretum und sahen den Enten zu, die über den Teich glitten.

«Sogar welche mit noch hellerem Teint», sagte sie und dachte an Mrs. Fontenot, die immer damit angegeben hatte, ihre Töchter seien hell wie Sauermilch.

Sam lachte. «Na, das musst du mir irgendwann mal zeigen», sagte er. «Diese hellhäutige Stadt muss ich mit eigenen Augen sehen.»

Aber er wollte nur flirten. Er stammte aus Ohio und hatte sich noch nie weiter als bis Virginia vorgewagt. Seine Mutter hatte ihn aufs Morehouse College in Atlanta schicken wollen, aber er blieb Ohio treu und wurde ein «Buckeye» an der Ohio State University, damals, bevor die Rassentrennung in den Wohnheimen aufgehoben wurde. In den Seminarräumen verweigerten die weißen Professoren ihm die Antworten auf seine Fragen. Jeden Winter kratzte er pissgelben Schnee von seiner Windschutzscheibe. Ging mit hellhäutigen Mädchen aus, die nicht öffentlich mit ihm Händchen halten wollten. Der Rassismus des Nordens war ihm vertraut. Den der Südstaaten, den sollten sie behalten. Seine Leute hatten ihre Gründe gehabt, aus dem Süden zu flüchten – wie käme er dazu, ihr Urteilsvermögen in Frage zu stellen? Diese Rednecks würden ihn wahrscheinlich nicht wieder nach Hause lassen, witzelte er immer. Er würde auf Besuch runterfahren und am Ende den Rest seines Lebens Baumwolle häckseln.

«Mallard würde dir nicht gefallen», sagte sie.

«Warum?»

«Darum. Die sind komisch da unten. Farbversessen. Deshalb bin ich weg.»

Das stimmte nicht ganz, aber sie wollte ihn glauben machen, dass sie ganz anders war als der Ort ihrer Herkunft. Er sollte alles glauben, nur nicht die Wahrheit – dass sie einfach nur jung und erlebnishungrig gewesen war und ihre Schwester in eine Stadt gezerrt hatte, wo sie sich selbst verlorengegangen war.

Er schwieg einen Augenblick lang, dachte nach, dann hielt er ihr die Tüte mit den Brotkrumen hin. Er hatte die Kruste seines Sandwichs zerbröselt, damit sie die Enten füttern konnten, die Art von kleiner Galanterie, die sie an ihm lieben lernen würde. Sie lächelte und langte hinein.

Sie sei noch nie mit einem Mann wie ihm zusammen gewesen, erzählte sie ihm, aber in Wahrheit war sie überhaupt noch nie mit einem Mann zusammen gewesen. Und so überraschte und entzückte er sie bis ins Kleinste: Sam, der sie in Restaurants mit weißen Tischtüchern und Silberbesteck ausführte; Sam, der sie ins Theater einlud und sie mit Karten für Ella Fitzgerald überraschte. Als er sie zum ersten Mal mit zu sich nach Hause nahm, spazierte sie durch seine Junggesellenbude, fasziniert von seinem nach Farbe sortiertem Kleiderschrank, seinem großen, breiten Bett. Sie hätte fast geweint, als sie in Robertas Kellerkammer zurückmusste.

Er bat sie nicht wieder, ihn mit in ihre Heimat zu nehmen, und sie würde es ihm nie anbieten. Dass sie Mallard hasse, hatte sie ihm gleich zu Anfang gesagt.

«Das glaube ich dir nicht», sagte er. Sie lagen in seinem Bett und lauschten dem Regen.

«Was gibt es da zu glauben? Ich habe dir einfach gesagt, wie es mir damit geht.

«Wir Negroes lieben unsere Heimat», sagte er. «Obwohl wir immer aus schrecklichen Orten stammen. Nur Weiße haben die Freiheit, ihre Heimat zu hassen.»

Er war in den Sozialwohnungswüsten von Cleveland aufgewachsen und liebte die Stadt mit der Entschlossenheit eines Menschen, der sonst nicht viel Liebenswertes zu sehen bekommen hatte. Sie hatte nur einen Ort, aus dem sie immer hatte fliehen wollen, und eine Mutter, die ihr klargemacht hatte, dass sie dort nicht mehr willkommen war. Von Stella hatte sie Sam noch nichts erzählt – das wäre nur noch etwas an Mallard, was er nicht verstehen würde. Aber als der Regen auf die eiserne Feuertreppe prasselte, drehte sie sich zu ihm hin und erzählte ihm von der Zwillingsschwester, die ein anderer Mensch hatte werden wollen.

«Irgendwann hat sie das Theater satt», sagte er. «Dann kommt sie wieder angelaufen, so groß mit Hut. Du bist viel zu süß, niemand möchte lange ohne dich sein.»

Er küsste sie auf die Stirn, und sie umarmte ihn fester, sein Herz schlug an ihrem Ohr. Das war damals, am Anfang, bevor seine Hände sich zu Fäusten ballten, bevor er sie hochnäsige gelbe Bitch nannte oder genauso verrückt wie deine Schwester oder jetzt denkt sie wieder, sie ist weiß. Damals, als sie langsam anfing, ihm zu vertrauen.

 

Als sie viele Jahre später langsam das Augenlicht verlor, machte sie dafür die langen Stunden verantwortlich, die sie mit zusammengekniffenen Augen über Bögen mit Fingerabdrücken verbracht hatte. Einmal hatte Roberta ihr erzählt, das gesamte Fingerabdruck-System würde bald von Maschinen betrieben werden. Die Japaner hätten die Technologie schon erprobt. Aber wie sollte eine Maschine einen Fingerabdruck besser prüfen als das geschulte Auge?

Desiree entdeckte Muster, die den meisten entgingen. Sie konnte einem Menschen das ganze Leben an den Fingerspitzen ablesen. Während der Ausbildung hatte sie an ihren eigenen Fingerabdrücken geübt, dieser komplizierten Maserung, die sie als einzigartig auszeichnete. Stella hatte am linken Zeigefinger eine Narbe, dort hatte sie sich einmal mit dem Messer geschnitten, einer von vielen Unterschieden.

Es konnten ganz kleine Dinge sein, die bestimmten, wer man war.

 

Adele Vignes wohnte in einem weißen, einstöckigen Haus, halb versteckt am Waldrand, erbaut vom Stadtgründer selbst und dann, Generation um Generation, bewohnt von Decuirs. Kurz nach ihrer Hochzeit war ihr frischgebackener Ehemann, Leon Vignes, durchs Haus gewandert und hatte die uralten Möbel in Beschau genommen. Er war ein einfacher Handwerker, der Tischler hatte werden wollen, und fuhr mit dem Finger die feinen Möbelfüße ab. Er hatte nie damit gerechnet, einmal in einem so geschichtsträchtigen Haus zu wohnen, aber er hatte auch nie damit gerechnet, einmal eine Decuir zu heiraten. Ein Mädchen, das ein Erbe trug. Seine Familie stammte von einer Reihe französischer Weinbauern ab, die in der Neuen Welt ein Weingut hatten aufbauen wollen, nur um zu entdecken, dass es dafür in Louisiana zu heiß war, weshalb sie auf Zuckerrohr umsattelten. Große Pläne, von der Realität durchkreuzt – das war sein Erbe. Seine Eltern hatten realistischere Ziele verfolgt und während der Prohibition am Ortsrand von Mallard eine Flüsterkneipe namens Surly Goat betrieben. Die gottesfürchtigeren Menschen von Mallard würden den Ursprung aller Tragödien später in diesem sündigen Geschäft suchen: vier Vignes-Brüder, die alle die dreißig nicht überlebten. Und Leon, der Kümmerling des Wurfs, musste als Erster sterben.

Man sah dem Haus an, dass viel Zeit vergangen war, aber irgendwie sah es noch genauso aus, wie Desiree es erinnerte. Sie trat auf die Lichtung, packte ihre Tochter fester, und jeder Schritt stach ihr in die Schultern. Die Messingsäulen, das blaugrüne Schindeldach, die schmale Veranda, wo die Mutter auf einem Schaukelstuhl saß und über einer Schüssel Wasser Brechbohnen putzte. Die Mutter war noch immer schmal, das Haar bedeckte ihren Rücken und war an den Schläfen jetzt grau. Desiree hielt inne, ihre Tochter hing ihr schwer am Hals. Die Jahre stießen sie zurück wie ein Schlag gegen die Brust.

«Hab mich schon gefragt, wann ihr hier mal ankommt. Weißt du, Lou hat schon angerufen und erzählt, dass er dich gesehen hat.» Die Mutter sprach mit ihr, starrte dabei aber das Kind auf ihrem Arm an. «Ganz schön groß zum Auf-den-Arm-Nehmen.»

Endlich setzte Desiree ihre Tochter ab. Ihr Rücken schmerzte, aber wenigstens war der Schmerz ein vertrautes Gefühl. Ein schmerzender Körper machte wach, und Wachheit und Wachsamkeit waren besser als die Taubheit, die sie im Zug empfunden hatte. Sie gab ihrer Tochter einen kleinen Stoß.

«Geh und gib deiner Großmama einen Kuss», sagte sie. «Geh schon, sie tut dir nichts.»

Die Tochter klammerte sich an ihre Beine, zu schüchtern, um sich zu rühren, aber sie stupste sie noch einmal an, bis sie brav die Stufen erklomm und der Großmutter nach kurzem Zögern die Arme umlegte. Adele trat einen Schritt zurück, um sie besser sehen zu können, und berührte ihr zerzaustes geflochtenes Haar.

«Geh und nimm ein Bad», sagte sie. «Ihr riecht ja alle nach Draußen.»

Im Badezimmer kniete Desiree auf den gesprungenen Fliesen vor der Wanne mit den Löwenfüßen. Mit einem Gefühl, als würde sie träumen, prüfte sie die Wassertemperatur. Der Spiegel war oben an der Ecke schwarz angelaufen, das muschelförmige Waschbecken war angeschlagen, die Dielen knarrten an Stellen, über die hinwegzusteigen sie gelernt hatte, um sich auch nach der Ausgangssperre wieder ins Haus schleichen zu können. Ihre Mutter putzte auf der Veranda grüne Bohnen, als wäre nichts gewesen. Dabei hatten sie kein Wort mehr miteinander gewechselt, seit Stella verschwunden war. Da hatte Desiree die Tränen heruntergeschluckt und zu Hause angerufen, und ihre Mutter hatte gesagt: «Das ist deine Schuld.» Was sollte sie da sagen? Es stimmte ja, sie hatte Stella dazu gedrängt, mit ihr von zu Hause wegzulaufen. Und was hatte sie davon gehabt? Eine Schwester, die lieber weiß sein wollte, und eine Mutter, die ihr alle Schuld gab, weil sie Stella keine mehr geben konnte.

In der Küche sank sie auf einen Stuhl und merkte im nächsten Augenblick, dass sie auf ihrem Stammplatz saß, mit Stellas leerem Stuhl neben sich. Ihre Mutter machte sich am Herd zu schaffen, und einen langen Augenblick starrte Desiree ihr auf den steif gewordenen Rücken.

«Das hast du also getrieben», sagte ihre Mutter.

«Wie meinst du das?»

«Du weißt genau, was ich meine.» Ihre Mutter drehte sich um, Tränen in den Augen. «So sehr hasst du uns also.»

Desiree stieß sich vom Tisch ab. «Ich wusste, dass es falsch war herzukommen.»

«Setz dich hin.»

«Wenn du mir nicht mehr zu sagen hast …»

«Was erwartest du denn? Du kommst von Gott weiß woher und schleppst irgendein Kind an, das kein bisschen nach dir aussieht.»

«Wir gehen», sagte Desiree. «Mir kannst du böse sein, so viel du willst, Mama, aber zu meiner Kleinen darfst du nicht gemein sein.

«Setz dich hin, hab ich gesagt», sagte ihre Mutter, ruhiger diesmal. Sie schob ein gelbes Eck Maisbrot über den Tisch. «Ich bin einfach überrascht. Darf ich nicht überrascht sein?»

Wie oft Desiree sich vorgestellt hatte, zu Hause anzurufen. Als sie in Washington angekommen war, sich in Robertas Keller eingerichtet hatte und ihre Mutter sie unmöglich erreichen konnte. Oder nach Sams Heiratsantrag, als sie unter den blühenden Kirschbäumen Verlobungsfotos gemacht hatten. Sie hatte einen Abzug in einen Umschlag gesteckt, ihn sogar adressiert, aber es nicht über sich gebracht, ihn abzuschicken. Nicht weil sie sich seiner geschämt hätte – das war Sams Interpretation gewesen –, sondern weil es so sinnlos war, gute Nachrichten mit einer Frau zu teilen, die sich nicht mit einem freuen konnte. Sie wusste schon, was ihre Mutter ihr sagen würde. Du liebst diesen dunkelhäutigen Mann gar nicht wirklich. Du heiratest ihn nur aus Trotz, und einem trotzigen Kind darf man auf gar keinen Fall Aufmerksamkeit schenken. Das wirst du schon noch merken, wenn du selber ein Kind hast. Nach der Hochzeit, als die Torte angeschnitten worden war, als ihre Freunde schnapsselig und lachend auf die Straße verschwunden waren, war sie im Festsaal in ihrem rüschigen weißen Kleid zusammengesunken und hatte geweint. Sie hätte nie gedacht, dass sie einmal ohne Schwester oder Mutter an ihrer Seite heiraten würde.

Auch nachdem sie im Freedmen’s Hospital ein Mädchen zur Welt gebracht hatte, hätte sie fast angerufen. Nach der Geburt von Jude hatte die farbige Schwester kurz gezögert, bevor sie das Neugeborene in eine rosa Decke wickelte. «Es bringt Glück», hatte sie dann gesagt, «wenn ein Mädchen nach dem Papa kommt.» Dann hatte sie aufmunternd gelächelt, wohl im Glauben, dass die junge Mutter es nötig hätte. Aber Desiree hatte dem Baby ins Gesicht geschaut und war entzückt gewesen. Eine andere Frau hätte enttäuscht sein können, dass die eigene Tochter so gar nicht nach ihr aussah – Desiree empfand Dankbarkeit. Das Letzte, was sie wollte, war, ein Wesen zu lieben, das genauso aussah wie sie.

«Wenn ich gewusst hätte, dass du kommst, hätte ich mehr vorbereitet», sagte ihre Mutter.

«Das war irgendwie kurzfristig», sagte Desiree.

Sie hatte im Zug kaum etwas gegessen, bloß ein paar Cracker geknabbert und schwarzen Kaffee getrunken, bis das Koffein sie zittrig machte. Sie brauchte einen Plan. Mallard, und dann? Wohin dann? Sie konnten unmöglich dortbleiben, aber sie wusste nicht, wohin sonst. Jetzt sah sie sich in der verwohnten Küche um und vermisste ihre Wohnung in Washington. Ihre Arbeit, ihre Freunde, ihr eigenes Leben. Vielleicht hatte sie überreagiert – die Unruhen hatten alle nervös gemacht. Vor einer Woche hatte sie Sam weinen sehen, als Walter Cronkite die Nachricht bekanntgab, und als sie ihn auf dem Sofa in die Arme nahm, hatte er gezittert. Der Schütze sei ein Irrer, vielleicht, oder ein Geheimagent des Militärs, vielleicht sogar vom FBI, im Regierungsauftrag. Vielleicht waren auch Negroes beteiligt, die für die falsche Seite arbeiteten? Er faselte alles Mögliche, und sie hielt ihn im Arm, bis die Sendung vorüber war. In dieser Nacht machten sie krampfhaft Liebe, auf seltsame Art vielleicht zu Ehren des Reverends, und sie war nicht ganz bei sich, überwältigt von der Trauer um einen Mann, den sie nicht gekannt hatte.

Am Morgen kam sie an verwüsteten Geschäften vorbei; SOUL BROTHER stand auf mit Brettern vernagelten Schaufenstern, daneben fanden sich hastige, mit Filzern gekritzelte Gefolgschaftsbekenntnisse. Das FBI schickte sie an diesem Tag früher nach Hause.

u dem Weg von der Bushaltestelle wollte ein verängstigter farbiger Junge – so dünn wie der Baseballschläger, den er umklammerte – ihre Handtasche. «Her damit, du weiße Bitch!», schrie er und schlug den Baseballschläger aufs Pflaster, als könnte er damit bis in den Erdkern bohren. Sie nestelte an dem ledernen Tragriemen herum, zu verschreckt, ihn zu berichtigen, und sah in seinem Schrecken und Zorn sich selbst, als Sam mit erhobenen Armen vor sie hinsprang und sagte: «Das ist meine Frau, Brother.» Der Junge verschwand im allgemeinen Getöse. Sam zog sie schnell in die Wohnung und drückte sie an seine Brust, wo sie in Sicherheit war.

Vier Nächte lang brannte die Stadt. Und in der letzten Nacht packte Sam ihren nackten Leib und flüsterte: «Machen wir noch eins.» Sie brauchte eine Weile, bis sie verstanden hatte, dass er ein Baby meinte. Sie zögerte. Das war keine Absicht, aber der Gedanke, noch ein Baby könnte sie mit ihm verbinden, ein Baby, um das sie sich bei jedem seiner Wutausbrüche sorgen musste – auf keinen Fall konnte sie noch ein Kind von ihm bekommen.

Das sagte sie ihm natürlich nicht, aber ihr Zögern hatte sie verraten, und als Sam sie später an der Kehle packte, wusste sie genau, warum. Sie hatte ihm weh getan, als er noch in Trauer war. Kein Wunder, dass er wütend geworden war. Also machte er ein bisschen auf großen Macker. Wie konnte man ihm das vorwerfen, in einer Welt, die ihn als Mann nicht respektierte? Was riss sie da das Maul auf? Sie musste für den Hausfrieden sorgen. Und hatte nicht derselbe Mann sich zwischen sie und den Baseballschläger des zornigen Jungen gestellt? Der Mann, der sie geliebt hatte, während ihre Schwester sie verlassen hatte und ihre Mutter nicht einmal ihre Anrufe entgegennahm? Er konnte ihr nicht wirklich weh tun wollen, wo er sich doch so sehr bemühte, sie zu beschützen.

Vielleicht war es noch nicht zu spät. Sie war nur zwei Tage fort gewesen. Sie konnte Sam immer noch anrufen und ihm sagen, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Sie habe ein wenig Zeit gebraucht, um den Kopf klarzubekommen, mehr nicht, ernsthaft verlassen wollte sie ihn nie. Ihre Mutter schob ihr den Teller wieder hin.

«Was für Ärger hast du denn?», fragte sie.

Desiree quälte sich ein Lachen ab. «Ich habe keinen Ärger, Mama.»

«Ich bin ja nicht blöd. Glaubst du, ich weiß nicht, dass du vor diesem Mann da wegläufst?»

Desiree starrte auf die Tischplatte und bekam feuchte Augen. Ihre Mutter goss Milch auf das Maisbrot und zerdrückte alles mit einer Gabel zu Brei, so wie Desiree es als Kind gegessen hatte. «Jetzt bist du ihn los», sagte sie. «Iss dein Maisbrot.»

 

Spät am gleichen Abend, über einhundert Meilen südöstlich von Mallard, wurde Early Jones ein Job angeboten, der sein Leben verändern sollte. Das wusste er damals nicht. Für ihn war jeder Auftrag einfach nur ein Job, und als er ins Ernesto’s kam und den Hals nach Big Ceel reckte, war seine einzige Sorge, ob er Geld genug für einen Drink hatte. Er klimperte mit den Münzen in seiner Tasche. Scheine wollten einfach nicht bei ihm bleiben. Vor zwei Wochen hatte er für Ceel etwas erledigt, und irgendwie hatte er das ganze Geld schon verprasst, für alles, was ein alleinstehender junger Mann zum Leben brauchte: Kartenspiel, Schnaps und Frauen.

Jetzt suchte er wieder einen Job. Aus Geldnot, gewiss, aber auch weil er nicht stillsitzen konnte, und zwei Wochen ohne Action, das war für ihn viel zu lang.

Er war kein Mann, der sich niederließ. Verschwinden, das konnte er gut. Als Kind ohne Wurzeln hatte er es darin zur Meisterschaft gebracht. Seine Kindheit – wenn man es so nennen konnte – hatte er als Landarbeiter in Janesville und Jena verbracht, und im Süden in New Roads und Palmetto. Seine Eltern hatten ihn mit acht an Tante und Onkel abgegeben, weil die keine Kinder hatten und sie hatten zu viele. Er wusste nicht, wo sie heute lebten und ob, und behauptete, er denke nie an sie.

«Die sind weg», sagte er, wenn er gefragt wurde. «Weg ist weg.»

Aber in Wahrheit war es so: Als er damit angefangen hatte, Menschen zu jagen, die sich versteckten, hatte er zuallererst versucht, seine eigene Familie aufzuspüren. Er scheiterte schnell und auf demütigende Weise; er wusste so wenig über seine Eltern, dass er nicht den kleinsten Ansatzpunkt besaß. Wahrscheinlich war es besser so. Als Junge hatten sie ihn nicht gewollt – was sollten sie da um Himmels willen mit ihm als erwachsenem Mann anfangen? Aber die Niederlage ließ ihn nicht los. Nachdem er Menschenjäger geworden war, hatte er jeden gefunden, nur seine Eltern nicht.

Wer verschwinden und nicht wiedergefunden werden wollte, durfte nichts lieben. Immer und immer wieder war Early fasziniert, was einen auf der Flucht zurücktrieb in die Heimat. Frauen, meistens. In Jackson schnappte er einen wegen Mordes gesuchten Mann, weil der seine Frau nachholen wollte. Eine Neue ließ sich überall finden, aber aus irgendeinem Grund waren die gewalttätigsten Männer auch die emotionalsten. Reinstes Gefühl, in beide Richtungen. Was ihn wirklich mitnahm, waren Männer, die wegen irgendwelcher Besitztümer zurückkamen. Da gab es mehr Autos, als er zählen konnte, immer war da irgendeine Schrottkarre, die einer jahrelang gefahren hatte, weshalb er sich nicht trennen konnte. Und in Toledo hatte er einen Mann geschnappt, der wegen eines alten Baseballs zurückgekommen war.

«Weiß auch nicht, Mann», sagte er, in Handschellen auf dem Rücksitz von Earlys El Camino. «Ich liebe das Teil einfach.»

Die Liebe hatte Early nie irgendwo hingezwungen. Sobald er einen Ort verließ, vergaß er ihn. Namen verblassten, Gesichter verschwammen, Gebäude verwischten zu ununterscheidbaren Ziegelklötzen. Er vergaß die Namen der Lehrer all seiner Schulen, die der Straßen, an denen er gewohnt hatte, sogar wie seine Eltern aussahen. Das war seine Gabe, ein schlechtes Gedächtnis. Ein gutes Gedächtnis konnte einen in den Wahnsinn treiben.

Seit sieben Jahren übernahm er jetzt immer wieder mal einen Job für Ceel. Er wollte nicht, dass die Menschen glaubten, er arbeitete für die Gesetzeshüter. Verbrecher fasste er nur aus einem Grund: um des Geldes willen, und die Weißenjustiz war ihm wirklich scheißegal. Wenn er einmal einen Mann gefasst hatte, interessierte ihn nicht, ob die Geschworenen ihn schuldig sprachen und ob er seine Haft überlebte. Er vergaß ihn völlig. Und obwohl er einmal in einer Bar wiedererkannt worden war und die Narben von den Messerstichen noch immer als Souvenir auf dem Bauch trug, war das Vergessen für ihn der einzige Weg, seine Arbeit zu tun. Die Jagd auf Verbrecher gefiel ihm. Aber wenn Ceel ihn wegen eines vermissten Kindes oder eines zahlungsunwilligen Vaters ansprach, schüttelte er jedes Mal den Kopf.

«Hab keine Ahnung von solchen Leuten», sagte er dann und kippte seinen Whiskey runter.

Im Ernesto’s zuckte Ceel jetzt die Achseln. Er hatte ein reguläres Büro im Siebten Bezirk, aber dort traf Early sich nicht gern, auch wegen der Kirche gegenüber, der ganzen weihevollen Menschen, die ihn anstarrten, wenn sie die Stufen heruntertrampelten. Diese Bar war nach Earlys Geschmack: ein wenig zwielichtig, geschützt. Ceel war schwer gebaut, pappfarbene Haut und seidenweiche schwarze Haare. Beim Reden ließ er ein silbernes Feuerzeug durch die Finger gleiten. Schon als er Early das erste Mal angesprochen hatte, vor sieben Jahren in einer Bar wie dieser, hatte er mit dem Feuerzeug gespielt. Early hatte wenig begeistert zugehört und dem Glitzern des Silbers nachgeblickt, das sich auf dem Tresen widerspiegelte.

«Hast du Lust, dir ein bisschen was dazuzuverdienen?», fragte Ceel.

Er sah nicht nach Gangster oder Zuhälter aus, aber er besaß die Schmierigkeit eines Menschen, der am Rande der Legalität operiert. Er war Kautionsagent auf der Suche nach einem neuen Kopfgeldjäger, und Early war ihm aufgefallen.

«Du bist eher der stille Typ», sagte er. «Das ist gut. Bei mir muss ein Mann hinschauen und zuhören können.»

Early war damals vierundzwanzig, frisch aus dem Gefängnis entlassen, allein in New Orleans, einer Stadt, die ihm für einen Neuanfang so geeignet vorkam wie jede andere. Er nahm den Job an, weil er Arbeit brauchte. Nie hätte er gedacht, dass er so gut darin sein würde, so gut, dass Ceel ihm sogar Jobs anbot, die nichts mit Kautionen zu tun hatten.

«Du hast von denen genau so viel Ahnung, wie ich dir gebe», sagte Ceel. «Und ich hab noch nicht mal angefangen.»

«Ich mische mich einfach nicht gern in die Angelegenheiten fremder Leute ein. Hast du sonst nichts für mich?»

Ceel lachte. «Du bist wirklich der Einzige, von dem ich so was höre. Alle anderen wären dankbar, wenn sie mal kein fieses Arschloch jagen müssten.»

Wie ein Gesuchter dachte, konnte Early zumindest verstehen. Seine Erschöpfung, seine Verzweiflung, die reine Egozentrik des Überlebens. Die anderweitig Verschwundenen machten ihn ratlos. Eheleute verstand er schon gar nicht, da wollte er sich auf keinen Fall einmischen. Andererseits, ein Job war ein Job. Er hatte gerade zwei Wochen damit zugebracht, einem Mann bis halb nach Mexiko nachzuspüren; mitten in der Wüste war ihm das Auto liegengeblieben, und er hatte nicht gewusst, ob er da draußen sterben würde, auf der Jagd nach einem Mann, dessen Bestrafung ihm egal war. Wenn er das gleiche Geld bekam, warum dann nicht auch mal einen einfachen Job annehmen?

«Greifen tue ich sie mir nicht», sagte er.

«Darum geht es auch nicht. Du rufst einfach an, wenn du sie gefunden hast. Ihr Alter sucht nach ihr. Sie ist mit seinem Kind abgehauen.»

«Warum ist sie weg?»

Ceel zuckte die Achseln. «Geht mich nichts an. Der Mann will sie auftreiben. Sie kommt aus einem kleinen Nest im Norden, Mallard. Schon mal gehört?»

«Bin ich als Junge mal durchgekommen», sagte Early. «Komische Leute. Hochnäsig.»

Er wusste nicht mehr viel von der Stadt, außer dass alle hellhäutig und von oben herab gewesen waren, und in der Kirche hatte ein großer bleichgesichtiger Mann ihn einmal geschlagen, weil er den Finger vor seiner Frau ins Weihwasser getaucht hatte. Damals war er sechzehn gewesen, geschockt vom plötzlichen Brennen im Nacken. Sein Onkel blickte zu Boden, auf die gesprungenen Fliesen, und entschuldigte sich. Einen ganzen Sommer hatte er dort verbracht, am Ortsrand auf dem Feld gearbeitet und Lebensmittel ausgeliefert, um sich noch etwas dazuzuverdienen. Er hatte keine Freunde gefunden, sich aber hoffnungslos in ein Mädchen verknallt, dem er die Einkäufe auf die Veranda getragen hatte. Er fragte sich, warum sie ihm plötzlich wieder in den Kopf kam. Als sie einander begegnet waren, war er so jung gewesen; er hatte sie kaum gekannt; im Herbst war er schon wieder weggezogen,