Die Nacht der Delfine - Lauren St John - E-Book

Die Nacht der Delfine E-Book

Lauren St John

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Beschreibung

Als sie bei einer Schulexkursion vor der afrikanischen Küste in einen Sturm geraten, passiert die Katastrophe: Martine und ihre Mitschüler müssen im Meer um ihr Leben kämpfen. Delfine tragen sie zu einer kleinen Insel. Aber wie sollen die Gestrandeten dort überleben? Und werden Martines geheime magische Kräfte ausreichen, um Menschen und Tiere zu retten, wenn ihnen tödliche Gefahr droht? Denn auch die Delfine sind in Not – durch die Technik der Menschen. Gekonnt verwebt Lauren St John eigene Erfahrungen mit Tieren und aktuelle zoologische Erkenntnisse mit magisch-mystischen Elementen zu einer atemberaubenden Geschichte, auf die viele begeisterte LeserInnen ihres ersten Buches "Die weiße Giraffe" schon sehnsüchtig warten.

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Seitenzahl: 320

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Mit Illustrationen von David Dean

Aus dem Englischen vonChristoph Renfer

Verlag Freies Geistesleben

Für meinen Patensohn Francis,

der zwar noch etwas zu jung ist,

um dieses Buch zu lesen,

dafür aber Delfine und Haie

mit «farfen Pfähnen» liebt.

• 1 •

Als Miss Volkner ihrer Klasse eröffnete, dass sie eine Studienfahrt unternehmen würden, um die «Sardinenwanderung» zu beobachten, musste Martine Allen sofort an silberne, mit Tomatensauce bedeckte Dosensardinen denken – doch in ihrer kuriosen Vorstellung waren die Sardinen noch ganz und wanderten in silbernen Knickerbockern und roten Kniestrümpfen die südafrikanische Küste entlang.

Damit lag sie allerdings völlig falsch. Die Sardinenwanderung war laut Miss Volkner eines der großartigsten Naturereignisse der Welt – eine Wanderung im Meer. Jedes Jahr im Juni und Juli zogen Millionen von Sardinen aus den seichten Gewässern vor Kap Aghulas, der südlichsten Spitze Afrikas, in einer kalten Strömung gegen Osten. Mit weit geöffneten Mäulern verfolgten sie ihre Lieblingsspeise, das nährstoffreiche Plankton, und verschlangen es, während sie unbeirrbar weiterschwammen. Die Sardinen wiederum wurden von Zehntausenden von hungrigen Delfinen, Schwarzhaien, Schildzahnhaien, Kupferhaien und großen Schwärmen von Kaptölpeln mit ihren Jungen verfolgt.

Martine und ihre Mitschüler würden sich also dieser Meereskarawane anschließen und mit der Sardinenwanderung die Küste von KwaZulu-Natal entlangfahren, um schließlich weiter nördlich Dugongs zu zählen.

«Was sind Dugongs?», fragte Martine flüsternd Sherilyn Meyer, woraufhin diese sie aufklärte, dass es sich dabei um «süße, graue Pummel» handelte, «so was Ähnliches wie eine Kreuzung zwischen Flusspferd und Robbe.Früher haben die Seeleute geglaubt, Dugongs wären Meerjungfrauen.»

Die Klasse konnte sich vor lauter Begeisterung kaum einkriegen. Zehn freie Tage mitten im Schuljahr und das auf einem Kreuzfahrtschiff. Auch Martine war außer sich vor Freude, bis Miss Volkner ein Merkblatt verteilte. Ganz oben auf der Packliste für die Klassenfahrt stand: 1 Badeanzug.

Martine streckte die Hand in die Höhe. «Entschuldigen Sie, Miss Volkner, aber warum brauchen wir einen Badeanzug?»

Ein Gekicher ging durch das Klassenzimmer, und auch Miss Volkner konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

«Das Ganze nennt sich Seefahrt, weil wir zur See fahren, Martine», sagte sie. «Nie wieder wirst du so viel Gelegenheit zum Schnorcheln, Tauchen und Herumplanschen haben. Und ich glaube kaum, dass du das so ganz ohne Badeanzug tun möchtest!»

Allgemeines Gelächter.

«Aber, äh …», Martine rang nach den passenden Worten, «… was ist denn, wenn einer von uns nicht schwimmen will?»

«Weshalb in aller Welt solltest du nicht schwimmen wollen?», fragte Miss Volkner überrascht. «Die Riffe sind wunderschön. Ich versichere dir, Martine, wenn du erst einmal im offenen Meer draußen geschwommen bist, den Meeresgrund fast ein Kilometer unter dir, werden wir dich kaum noch aus dem Wasser kriegen.»

Irgendjemand stellte eine weitere Frage. So fiel es denn auch niemandem auf, dass Martines Gesicht aschfahl wurde und ihre Knie unter dem Pult zu zittern begannen.

In dieser Nacht kamen die Haie zum ersten Mal. In dreidimensionalen Albträumen umkreisten sie Martine, die kalten, tief liegenden Augen auf ihre strampelnden blassen Gliedmaßen gerichtet, mit denen sie sich in der stürmischen See über Wasser zu halten versuchte. Woche für Woche kamen die Träume immer häufiger und immer heftiger, sodass Martine schließlich Angst davor hatte einzuschlafen. Zwei Tage vor der geplanten Abreise setzte sie sich sogar mit einem Stapel Bücher auf dem Kopf aufrecht ins Bett, damit diese sofort zu Boden krachten, sollte sie einnicken. Doch beim dritten Mal war sie bereits so erschöpft, dass sie gar nicht mehr hörte, wie die Bücher auf den Fußboden polterten. Sie versank einfach in den Bettlaken und ergab sich den gefräßigen Meeresräubern.

Wild zappelnd wehrte sich Martine gegen das Ertrinken und die gefräßigen Haie in einem Ozean, der so eiskalt war, dass sich ihre Beine wie gelähmt anfühlten, als sie eine Stimme aus dem Nichts aus dem Traum holte. «Aufwachen, Martine! Wir müssen bald los, wenn wir früh am Strand sein wollen.»

Martine zwang sich dazu, richtig wach zu werden. Es war Morgen, und auf ihrer Bettkante saß eine verschwommene Gestalt. Als sie blinzelte, wurde das Bild scharf. Ihre Großmutter, wie immer in Jeans, jedoch in einer hellblauen Bluse anstelle des khakifarbenen Arbeitshemdes mit Löwensignet auf der Brusttasche, musterte sie mit ihren stahlblauen Augen.

«Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst nicht bei offenem Fenster schlafen?», sagte sie leicht vorwurfsvoll. «Kein Wunder, dass du Albträume hast. Du frierst bestimmt. Juni ist Winter in Südafrika, Martine. Das solltest du doch mittlerweile wissen.»

Martine versuchte, sich aus den kalten Tentakeln ihres Traums zu befreien. «Ich war dabei zu ertrinken», sagte sie verschlafen. «Die Haie verfolgten mich, und ich rang nach Luft.»

«Aber sicher doch, du warst dabei zu ertrinken», sagte Gwyn Thomas, während sie sich vorlehnte und mit einem Griff zum Fenster die nach Antilopen riechende Luft aussperrte. «Du hast dich in den Bettlaken verfangen. Doch was sollen die ganzen Bücher auf dem Fußboden?»

Martine befreite sich aus dem Gewirr des Bettzeugs und setzte sich auf. Sie wollte ihrer Großmutter mit ihren Albträumen keine Sorgen bereiten. «Ich habe nach einer guten Bettlektüre gesucht.»

«Und so hast du dir zuerst Das Große Handbuch der Modelleisenbahnen und dann Jeep-Reparaturen – leicht gemacht zu Gemüte geführt?»

Martine antwortete nicht. Sie war zu sehr von dem Bild gefangen, das sich durch das Schlafzimmerfenster hinter dem auslaufenden Strohdach auftat. In der Ferne trotteten ein paar Elefanten wie graue Geistergestalten im winterlichen Morgennebel um das Wasserloch. Obwohl sie jetzt schon seit sechs Monaten in Sawubona war, konnte sie immer noch nicht glauben, dass sie auf einem Wildreservat in Südafrika lebte. Jeden Morgen beim Aufwachen durchfuhr sie ein Schauer, wenn sie die Augen öffnete, sich auf einen Ellenbogen stützte und über die wilde Savanne blickte, die zu ihrer Heimat geworden war. Doch selbst dies vermochte den Knoten der Trauer nicht aufzulösen, der sich in ihrem Magen gebildet hatte, seit ihre Eltern an Silvester beim Brand ihres Hauses im englischen Hampshire ums Leben gekommen waren. Aber es half ihr zumindest dabei.

Es half ihr auch, dass sie eine neue Familie hatte. Es war keine Ersatzfamilie, denn niemand würde je ihre Eltern ersetzen können, die sie mehr liebte als alles auf dieser Welt. Aber wenigstens fühlte sie sich nicht mehr isoliert. Neben ihrer Großmutter war da der hünenhafte Zulu Tendai, der vor Kurzem vom Fährtenleser zum Wildhüter befördert worden war. Tendai weihte sie in die Geheimnisse des Busches ein, gab ihr Tipps für das Überleben in der wunderschönen, aber hochgefährlichen afrikanischen Wildnis und nahm sie zum Frühstück am Lagerfeuer auf einem Plateau hoch über Sawubona mit. Martine verehrte und bewunderte Tendai, doch auch mit seiner Tante Grace verband sie eine ganz besondere Beziehung. Grace war nicht nur eine Sangoma, eine afrikanische Naturärztin und Heilerin, sondern gleichzeitig auch die beste Köchin der Welt. Ihre Vorfahren stammten aus Afrika und der Karibik, und Grace allein kannte das Geheimnis von Martines besonderer Gabe, mit Tieren zu kommunizieren.

Doch das Allerwichtigste für Martine war ihre weiße Giraffe Jemmy (eine Kurzform von Jeremiah). Sie hatte Jemmy gezähmt und war mit ihm über die Savanne geritten. Und da war auch noch Ben, der Junge, der ihr geholfen hatte, Jemmy zu befreien, als dieser entführt worden war. Martine betrachtete Ben und Jemmy als ihre besten Freunde, auch wenn sie ihr das nicht wirklich bestätigt hatten, denn Jemmy konnte nicht sprechen und Ben gab nur selten ein Wort von sich.

«Irgendwann heute noch, wenn es geht», sagte Gwyn Thomas spitz. Martine erinnerte sich, dass sie eigentlich aufstehen sollte. Als sie auf den Wecker blickte, konnte sie nur mit Mühe einen Seufzer unterdrücken. 6 Uhr! Was hatte ihre Großmutter nur gegen ein gemütliches Ausschlafen am Sonntagmorgen?

Als Gwyn Thomas Martines Gesichtsausdruck sah, blitzten ihre Augen belustigt auf. Es hatte mal eine Zeit gegeben, als diese Augen Martine immer nur kalt und feindselig musterten. Doch in diesen Tagen war ihr gebräuntes Gesicht meist von Lachfalten geprägt.

«Du bist bestimmt sehr aufgeregt, morgen mit deiner Klasse wegzufahren», sagte sie. «Zehn ganze Tage auf hoher See. Zehn ganze Tage voll gepackt mit Geschichte und Natur und einer Prise Abenteuer, nehme ich an. Ich beneide dich. Wirklich. Am liebsten würde ich gleich mitkommen.»

«Wollen wir tauschen?»

Gwyn Thomas lachte. «Einen Moment lang klang das beinahe echt, Martine. Du freust dich doch bestimmt auf die Reise, oder etwa nicht?»

«Natürlich», sagte Martine mit dem größten Maß an Überzeugung, das sie aufbringen konnte, und unterdrückte ein Gähnen. «Ich kann es kaum noch erwarten.»

«Ich bin froh, das von dir zu hören. In den letzten Tagen warst du nämlich etwas blass. Die frische Seeluft wird dir bestimmt guttun. Also, dann sehen wir uns gleich unten. Ich mache nur schnell das Picknick für unsere Strandwanderung fertig.»

«Okay, bis gleich», sagte Martine in munterem Ton. Doch sobald sich die Zimmertür hinter ihrer Großmutter geschlossen hatte, vergrub sie den Kopf in den Händen und schloss die Augen. Sie wusste genau, weshalb sie in ihren Träumen von Haien heimgesucht wurde, und es hatte nichts damit zu tun, dass sie bei offenem Fenster schlief, sich in den Bettlaken verwickelte oder vor dem Schlafengehen Käse aß. Diese und alle anderen fadenscheinigen Gründe, die man allgemein für die Entstehung von Albträumen verantwortlich machte, waren aus der Luft gegriffen. Sie hatte die Albträume wegen etwas, das sich vor fast genau einem Jahr ereignet hatte.

Sie war mit ihren Eltern nach Cornwall in Urlaub gefahren. Am letzten Ferientag musste ihr Vater, der Arzt war, zu einem Noteinsatz, weil sich ein paar Jungen bei einem Sturz von einem Felsen verletzt hatten. Martines Mutter, die dabei war, sich von einer Grippe zu erholen, hielt gerade ein Mittagsschläfchen. Da er sie nicht um ihre Ruhe bringen wollte, fragte er Martine, ob es ihr etwas ausmachen würde, während seiner Abwesenheit etwas zu lesen oder zu zeichnen.

Doch es war ein brütend heißer Sommertag, und nach einer Weile langweilte sich Martine und beschloss, zum Strand hinunterzulaufen, um ein kurzes Fußbad zu nehmen. Das sollte sie schaffen, bevor ihre Mutter wieder aufwachte. Als sie am Strand ankam, war das Meer so einladend, dass es nicht beim Fußbad blieb, und so stand sie schon bald bis zur Hüfte im Wasser. Doch dann türmte sich plötzlich wie aus dem Nichts eine Welle vor ihr auf, warf sie um, riss sie mit und schleppte sie über den Meeresboden, sodass Martine sich – wie im Schleuderprogramm einer Waschmaschine – immer wieder überschlug. Gerade als sie glaubte, gleich ertrinken zu müssen, spuckte die Welle sie wieder aus, woraufhin sie sich halb schwimmend, halb kriechend wieder an den Strand zurückkämpfen konnte.

Etwa zur gleichen Zeit hatte ein Fischer einen Riesenhai an Land gezogen. Martine hatte seine düsteren Umrisse im Sand gesehen, als sie über den Strand heimwärts taumelte. Und irgendwie hatten sich die beiden Dinge – der Hai und die Waschmaschinenwelle – zusammen tief in ihre Erinnerung gegraben. Wenig später lag sie in den Armen ihrer Mutter, die sie bereits verzweifelt gesucht hatte und so erleichtert und überglücklich war, sie unbeschadet wiederzusehen, dass es ihr gar nicht in den Sinn kam, sie zu schelten. Weil sie ihre Mutter mit der Geschichte nicht belasten wollte, beschloss Martine, ihr nichts davon zu erzählen, dass sie beinahe ertrunken wäre. Sich selbst aber schwor sie, nie wieder im Meer zu baden, wenn sie es irgendwie vermeiden konnte.

Seither hatte sich auch gar keine Gelegenheit dazu ergeben. Sie waren am nächsten Tag aus Cornwall abgereist. Und im folgenden Winter waren ihre Eltern bei dem Brand ums Leben gekommen. So hatte keiner entdeckt, was Martine nie einer anderen Menschenseele anvertraut hatte, weil sie es sich selbst nicht eingestehen mochte: dass sie panische Angst vor tiefem Wasser hatte.

• 2 •

In den sechs Monaten, die Martine bisher in Südafrika verbracht hatte, war sie nicht ein einziges Mal zum Strand gefahren, da ihre Großmutter das Reservat höchst selten verließ und außerdem gar nichts davon hielt, sich unter einer dicken Schicht Sonnenschutzcreme in einem gestreiften Liegestuhl zu räkeln. Martine war das natürlich nur recht. Und sie war ziemlich überrascht gewesen, als Gwyn Thomas ihr am vorigen Abend eröffnet hatte, sie würden morgen in aller Herrgottsfrühe zu einem Spaziergang an der Kapküste aufbrechen. Glücklicherweise war es viel zu kalt zum Schwimmen, und so konnte sich Martine leichter mit dem Gedanken anfreunden, als es im Sommer der Fall gewesen wäre.

Sie freute sich sogar, als sie an diesem Sonntagmorgen kurz vor acht in Uiserfontein eintrafen und sich der weite Ozean vor ihnen ausbreitete. Die Sonne warf ein golden glitzerndes Band über die wild wogende blaue Welt. Lilafarbenes Heidekraut erstreckte sich bis dicht an die Küste. Als sie aus dem Auto stieg, erfasste eine steife Brise ihr Halstuch, und der salzige Geruch von Meerwasser drang in ihre Nase.

Es war alles andere als warm. Martine war froh, dass ihre Großmutter auf Wollmütze, Anorak und Handschuhe als Schutz gegen die Kälte bestanden hatte. Abgesehen von ein paar Möwen war draußen in der Bucht einzig ein Kitesurfer zu sehen. Gebannt verfolgte Martine von den Dünen aus, wie er, einem Wagenlenker gleich, über die Wogen flog. Immer wenn er wieder hinter einem Wellenberg verschwand, war nur noch der aufgeblähte bunt gestreifte Schirm seines Lenkdrachens zu sehen. Manchmal blieb er so lange unsichtbar, dass sie glaubte, er sei von der Unterströmung erfasst worden, doch dann wurde er unvermittelt wieder von einem Brecher ins Bild hineinkatapultiert.

Der Wind peitschte die Wellen zu schäumenden Gischtfahnen, die aus der Ferne wie Schimmelmähnen aussahen. Die Wellen schleuderten den Surfer und sein Brett in die Luft, wo er von seinem Drachen erfasst und immer höher gezogen wurde. Mit furiosen Salti und wilden Schlenkern schien er mühelos die Schwerkraft zu überwinden. Dann ließ er sich wieder hinabgleiten, bis er wieder hinter einer Woge verschwand.

Am Strand war wegen des pfeifenden Windes ein Gespräch beinahe unmöglich, und so blieb Martine keine andere Wahl, als Gedanken über die bevorstehende Studienreise zu wälzen. Eigentlich klang ja alles fantastisch – wenn da nur nicht ihre panische Angst vor dem Schwimmen gewesen wäre. Miss Volkner hatte ihnen erzählt, die Sardinenwanderung sei eines der großartigsten Naturereignisse der Welt. Sie verglich es mit der Gnuwanderung in Ostafrika, bei der jedes Jahr mehr als eine Million Gnus mit ihren geschwungenen Hörnern in einer endlosen schwarzen Masse durch die gelbe Serengeti zogen, immer auf der Flucht vor Löwen, Hyänen, den nur als gefleckte Goldstreifen erkennbaren Geparden und träge blinzelnden, in heimtückischen Flüssen liegenden Krokodilen. Bei der Sardinenwanderung würden sich einzelne Sardinenschwärme manchmal über eine Fläche von fünfzehn Kilometer Länge und drei Kilometer Breite erstrecken. Dazu gesellten sich Delfinherden, die bis zu tausend Tiere stark waren.

Am meisten freute sich Martine auf die Delfine. Bisher hatte sie erst einen lebenden Delfin gesehen. Das war in einem düsteren Aquarium in England gewesen, das sie mit der Klasse ihrer nicht minder düsteren Mittelschule Bodley Brook in England besucht hatte. Ein Delfintrainer hatte dem armen Tier in einem schäbigen Schwimmbecken mit Wasserbällen und Gummiringen ein paar Tricks abgerungen. Die Kinder durften den Delfin mit Fischen – wahrscheinlich Sardinen – aus einem Eimer belohnen. Doch Martine hielt sich zurück. Als sich der Delfin einmal dem Rand des Schwimmbeckens näherte, fiel ihr auf, dass er seine Mundwinkel zu einem ständigen Lächeln verkrampft hatte. Sie wurde den Eindruck nicht los, dass der Delfin nur eine Grimasse machte – wie ein lächelnder Clown unter einem Strom von Tränen.

Das Erlebnis mit dem Delfin erinnerte sie an ein anderes Tier, das von Menschen ausgenutzt wurde – ihre weiße Giraffe Jemmy. Das Gute an Jemmys plötzlichem Ruhm nach seiner Rettung war, dass kein Jäger mehr an ihm Interesse hatte. Als einzige weiße Giraffe der Welt war er zwar immer noch sehr wertvoll, aber nicht annähernd so wertvoll wie damals, als er eine sagenumwobene Legende gewesen war. Außerdem war Jemmy zu groß, um von Wilderern unbemerkt gefangen genommen und wegtransportiert zu werden, ganz zu schweigen von der Schwierigkeit, ihn mit einer Tarnfarbe zu versehen.

Das Schlechte an Jemmys plötzlichem Ruhm war, dass alle ihn sehen wollten. Früher hatte er tagsüber in seinem geheimen Refugium geschlafen und es nur nachts verlassen. Jetzt schlief er nachts in seinem Versteck und streifte tagsüber durch das Reservat. Gwyn Thomas führte Touristengruppen auf der Suche nach der weißen Giraffe durch Sawubona. Sie hatte sogar Kaffeetassen und T-Shirts mit dem Motiv der weißen Giraffe herstellen lassen.

Über die letzten Monate hatte sich die Beziehung zwischen Martine und ihrer Großmutter in geradezu unglaublichem Maße verbessert, aber die Führungen, die den Reservatbesuchern einen Blick auf die weiße Giraffe versprachen, blieben ein Zankapfel zwischen den beiden. Zwar organisierte Gwyn Thomas diese Fotosafaris äußerst umsichtig, um Jemmy keinem Stress auszusetzen, doch Martine war allein schon der Gedanke, dass kamerabehängte Touristen Jemmy begafften, unerträglich. Sie machte denn auch keinen Hehl aus ihrer Ablehnung. Sie flehte ihre Großmutter an, diesen Besichtigungen ein Ende zu setzen, und wurde nicht müde, immer wieder zu betonen, dass Jemmy ein hochsensibles und ganz besonderes Geschöpf sei. Doch Gwyn Thomas blieb unnachgiebig und beharrte darauf, dass es für Jemmy am besten sei, wenn die Menschen ihn in einem kontrollierten Rahmen besichtigen könnten, ganz abgesehen davon, dass Sawubona die neu erschlossene Einnahmequelle dringend benötigte.

«Es ist ganz einfach, Martine», sagte sie. «Je mehr Geld wir einnehmen, desto mehr Tiere können wir retten.»

Dagegen konnte Martine nichts einwenden, denn Sawubona war tatsächlich nicht gerade auf Rosen gebettet, und auch sie wollte so viele Tiere wie möglich retten.

Ein Fäustling tippte gegen ihren Arm. Martines Großmutter versuchte ihre Aufmerksamkeit zu erregen.

«Ganz ehrlich, manchmal habe ich das Gefühl, dass du noch schlechter hörst als ich. Ich habe meine Brille zu Hause vergessen. Was ist das dort vorne am Strand? Eine Robbe? Oder nur ein seltsam geformter Fels?»

Martine legte die Hand über die Augen, um sie vor dem gleißenden Sonnenlicht zu schützen, und sagte nach Luft ringend: «Ich glaube … Ich glaube, es ist ein Delfin.»

Martine war als Erste beim Delfin. Später sollte Gwyn Thomas sagen, sie hätte es nie für möglich gehalten, dass ihre Enkelin, die außer dem Giraffenreiten mit Sport sonst gar nichts am Hut hatte, so schnell laufen konnte, wenn sie es nicht mit ihren eigenen Augen gesehen hätte. Auf den letzten Metern verlangsamte Martine ihren Lauf, um den Delfin nicht zu erschrecken, sollte er noch am Leben sein.

Er war noch am Leben, würde es allerdings nicht mehr lange sein, wenn sie sich auf ihr Urteilsvermögen verlassen konnte.

Als Martine sich am Wasser niederkauerte, geschahen zwei Dinge. Sie blickte in die dunkelblauen Augen des Delfins und hatte das Gefühl, tief in sie hineinzustürzen – in eine unergründliche Weisheit und grenzenlose Unschuld. Außerdem hatte sie das Gefühl, das Tier wolle mit ihr in Verbindung treten. Gleichzeitig fuhr sie mit den Händen über seinen glänzend grauen Körper und erwartete ein kaltes, zähes Gefühl. Stattdessen spürte sie einen samtweichen und gleichzeitig muskulösen Körper, aus dem ein elektrischer Stromstoß ihre Arme hochschoss, genauso wie damals, als sie zum ersten Mal die weiße Giraffe berührt hatte. Unvermittelt zog sie die Hände zurück, als habe sie sich verbrannt.

«Das arme Tier ist gestrandet», sagte ihre herbeieilende Großmutter. «Niemand weiß, warum ihnen das passiert, aber es kommt immer häufiger vor. Gerade letzte Woche habe ich in der Zeitung von 300 gestrandeten Delfinen an der Küste von Sansibar gelesen. Martine? Martine, ist dir nicht gut? Du bist kreidebleich. Wenn dich das hier zu sehr belastet, kannst du im Auto warten, während ich mich um Hilfe kümmere.»

Martine fand ihre Stimme wieder. «Was sollen wir tun? Wie können wir ihn retten? Er kann doch nicht atmen.»

«Delfine sind Säugetiere, keine Fische. Sie atmen Sauerstoff – wie wir. Sie sterben am Schock und weil sie nicht mehr im Wasser sind. Wir müssen seine Haut feucht halten. Im Auto ist ein Eimer. Du bist viel jünger und fitter als ich. Lauf los, hol ihn und bring auch gleich mein Handy mit. Ich rufe die Küstenwache. Ist es nicht wie verhext, dass man das Handy nie dabei hat, wenn man es braucht?»

Martine erhob sich widerwillig. Der Delfin lag im Sterben und er hatte sie gewissermaßen um Hilfe angefleht. Wenn sie der Aufforderung ihrer Großmutter Folge leistete, würde wertvolle Zeit verstreichen – Zeit, die zwischen Leben und Tod entscheiden könnte. Wenn sie versuchen würde, den Delfin selbst zu retten, könnte sie sofort beginnen. Doch dabei standen ihr zwei Hindernisse im Weg. Erstens hatte sie noch nie versucht, einen Delfin zu heilen. Was, wenn sie es nicht schaffen würde und eine wichtige halbe Stunde, in der man die Küstenwache hätte alarmieren können, verloren ginge und der Delfin wegen ihr sterben würde? Zweitens wusste ihre Großmutter nichts von ihrer Gabe. Sie kannte zwar die Zululegende, die besagte, dass das Kind, das auf der weißen Giraffe reitet, Macht über alle Tiere hat, doch sie hatte Martines Gabe nie mit eigenen Augen gesehen und wusste eigentlich auch nicht genau, was sie bedeutete.

Oft hatte sie ihr scherzend gesagt: «Wie schade, dass die Kräfte, die dir verliehen wurden, dir nicht dabei helfen, in deinem Zimmer Ordnung zu halten.»

Nicht einmal Martine wusste, was es mit der Legende auf sich hatte. Sie wusste einzig und allein, dass sie ihre Großmutter loswerden musste.

«Martine, das ist ein Notfall!», sagte Gwyn Thomas eindringlich.

In diesem Moment sah Martine eine Familie mit drei sehr lebhaften Labradoren über den cremefarbenen Strand auf sie zukommen.

«Diese Leute haben vielleicht ein Handy dabei», sagte Martine. «Wir könnten Zeit gewinnen, wenn sie für uns die Küstenwache alarmieren.»

«Gute Idee, Martine. Lauf zu ihnen und bitte sie darum.»

«Das kann ich nicht», sagte Martine kleinlaut und ließ ihren Kopf absichtlich hängen, als würde sie sich schämen. «Ich bin schüchtern. Kann ich nicht hier beim Delfin bleiben?»

Ein Hauch von Misstrauen flog über das Gesicht der Großmutter. «Du bist schüchtern?»

«Ja.»

«Dann wäre dies die Gelegenheit, für einmal … Ach lassen wir das. Versuche, ihn zu beruhigen, während ich weg bin.»

Erst als ihre Großmutter schon beinahe bei den Spaziergängern mit den Labradoren war, legte sie ihre Hände wieder auf den seidenweichen Körper des Delfins. Wieder zuckte sie zusammen, als der Strom knisternd durch ihre Arme schoss, aber diesmal traf es sie nicht unerwartet. Sie ließ die Hände auf den Flanken des Delfins ruhen und entschuldigte sich in Gedanken bei ihm, dass sie nicht wusste, wie man Delfine heilte. Zuerst geschah gar nichts. Doch dann wurden ihre Hände wärmer und bald kochend heiß, ihr Herz drohte zu zerspringen und eine Vision drängte in ihren Geist. Im Gegensatz zu früheren Erfahrungen sah sie dieses Mal keine Stammesleute in Tiermasken durch Rauchschwaden tanzen und auch keine großen Büffel- und Giraffenherden. Jetzt sah sie eine Insel mit einem weißen Sandstrand. Und sie sah auch sich selbst im kristallklaren Wasser, das die Insel umgab, mit Delfinen schwimmen.

«Ist er tot?»

Abrupt landete Martine wieder in der Realität. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihre Jeans völlig durchnässt waren, als hätte sie bis zu den Hüften im Wasser gestanden. Über ihr stand der Kitesurfer. «Entschuldigung?», murmelte sie geistesabwesend.

«Ist er tot?», wiederholte der Surfer leicht ungeduldig.

Martine schüttelte den Kopf, als wollte sie sich selbst aus ihrer Trance herauskatapultieren. Sie hörte sich selbst sagen: «Nein, er ruht sich nur aus. Würden Sie mir bitte helfen, ihn wieder ins Meer zurückzubringen?»

Der Surfer war ein kräftiger Mann und er nahm die Leinen seines Drachens zu Hilfe, um den Delfin von der Stelle zu bewegen, dennoch mussten die beiden auch das letzte Quäntchen ihrer vereinten Kräfte einsetzen, um ihn ziehend, stoßend und rollend wieder dem Meer zu übergeben. Als sein Körper ganz im Wasser eingetaucht war, machte er keine Anstalten zu schwimmen, sondern versank wie ein Stein.

Und mit ihm sank Martines Mut.

«Hast du nicht gesagt, er habe sich nur ausgeruht?», sagte der Kitesurfer in leicht vorwurfsvollem Ton.

Der Delfin zuckte erst zaghaft, dann etwas energischer mit der Schwanzflosse. Dann tauchte er auf, legte sich seitwärts auf die Wasseroberfläche und blickte Martine forschend an. Dann klatschte er mit einer Flosse, quietschte und schnalzte vergnügt in ihre Richtung, um schließlich als schimmernder Streifen im Meer zu verschwinden. Sie sah ihn erst wieder, als er weit draußen wie ein Akrobat in der Brandung tanzte.

Der Kitesurfer sagte belustigt: «Ist es nicht seltsam mit diesen Delfinen – ihr Lächeln wirkt irgendwie ansteckend.»

Dann nahm er sein Surfbrett, warf ihr einen freundlichen Gruß zu und ging davon. Martine watete aus dem eiskalten Wasser und wrang die Hosenbeine ihrer durchnässten Jeans mit klammen Händen aus. Sie war voller freudiger Erregung. Dank ihrer Gabe hatte sie einen wilden Delfin gerettet. Doch sie hatte das Gefühl, dass die Gabe nicht ihr gehörte. Sie war nur dazu bestimmt, sie sorgsam zu hüten und in die richtigen Bahnen zu lenken.

Sie beobachtete den ausgelassen über die Wellen springenden Delfin und fand, dass der Kitesurfer recht hatte. Auch sie war von diesem Lächeln angesteckt worden. Als jedoch Gwyn Thomas wieder in ihr Blickfeld kam, beeilte sie sich, eine neutrale Miene aufzusetzen.

«War das eine Zeitverschwendung», sagte die Großmutter im Näherkommen, den Eimer schwingend. «Die Leute hatten kein Handy, also musste ich doch zum Wagen zurück. Es wäre wirklich nicht zu viel verlangt gewesen, wenn du an meiner Stelle gegangen wärst. Ich bin nicht mehr so fit wie früher. Um Himmels willen, du bist ja pitschnass! Du kannst doch nicht mitten im Winter im Meer baden. Bestimmt hast du dir eine Lungenentzündung geholt.»

Erst dann fiel es ihr auf. Sie musste zweimal hinschauen. «Wo ist der Delfin?»

Martine deutete aufs Meer. «Dort», sagte sie. Sie konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.

«Aber … äh … wie …?», fragte die Großmutter verwirrt. «Ich verstehe das nicht.»

Martine zuckte mit den Schultern. «Der Kitesurfer hat mir geholfen, den Delfin ins Meer zurück zu bugsieren. Und dann ist er halt davongeschwommen.»

«Einfach so? Er ist einfach so davongeschwommen?»

«Ja.»

«Hmm?»

Gwyn Thomas musterte sie mit einem Blick, in dem sich Verwirrung und Bewunderung mit etwas anderem, Untergründlichem mischten, das sie mit einem warmen Gefühl erfüllte. Es war nicht zu übersehen, dass ihre Großmutter gerne weiter gebohrt hätte. Aus irgendwelchen Gründen konnte sie jedoch dem Drang widerstehen. Sie sagte einzig: «Gut, dann ist es höchste Zeit, dass du aus den nassen Sachen kommst.»

Erst als sie beinahe beim Auto angelangt waren, wurde es Martine klar, dass sie – wenn sie bis zur Hüfte nass war – während ihrer Trance im Meer herumgewatet oder -geschwommen sein musste. Seltsam war nur, dass sie keine Angst gehabt hatte. Überhaupt keine.

• 3 •

Die Heimfahrt nach Sawubona war für Martine eigentlich das Beste an der Delfinrettung. Ihre Großmutter wusste, dass etwas geschehen war; doch sie wusste nicht genau was. Die unsichtbare Schranke zwischen ihnen, die mit schmerzhaften Erinnerungen an die Vergangenheit – vor allem in Zusammenhang mit Martines Mutter – zu tun hatte, war verschwunden, während sich ihre Gemeinsamkeit, die Tierliebe, gleichzeitig verstärkte. Immer wieder ahmte Gwyn Thomas Martine nach: «Und dann … dann ist er halt davongeschwommen.» Und immer wieder brachen beide in Gelächter aus.

Diese Nähe zwischen ihnen hielt sich genau bis 17:47 Uhr, als Martine in Jeans und Stiefeln aus ihrem Zimmer herunterkam und verkündete, sie werde einen Ausritt auf der weißen Giraffe machen.

Beinahe ohne von ihrer Zeitung aufzublicken, sagte die Großmutter beiläufig: «Nicht jetzt, Martine. Ich denke, für heute hast du genug Aufregung gehabt.»

«Aber ich kann doch nicht auf die Sardinenwanderung gehen, ohne mich von Jemmy zu verabschieden», sagte Martine, die nicht glauben konnte, dass ihre Großmutter es ernst meinte. «Ich muss ihn sehen. Unbedingt!»

«Dann hättest du das früher tun müssen», sagte Gwyn Thomas und wandte sich wieder ihrer Zeitung zu.

«Aber ich habe doch nicht gemerkt, dass es schon so spät ist», sagte Martine flehend.

Doch ihre Großmutter blieb unnachgiebig. «Martine, es ist schon bald dunkel, und du weißt, was ich von Ausritten nach Sonnenuntergang halte.»

Jetzt kochte Martine vor Wut. Dass sie nachts nicht mit Jemmy ausreiten durfte, war seit langer Zeit ein Zankapfel zwischen ihnen gewesen. Für Gwyn Thomas lauerten nachts zu viele Raubtiere im Reservat, als dass sie ihrer Enkelin erlauben würde, zu später Stunde auf der weißen Giraffe durch die Gegend zu reiten. Auch Martines Erklärung, sie sei auf Jemmys Rücken völlig sicher, weil die anderen Tiere sie so sahen, als sei sie eins mit der Giraffe, ließ sie nicht gelten.

«Abgesehen davon», fuhr sie fort, «hast du nicht einmal gepackt. Und schau mich bitte nicht so an. Ich weiß, dass du enttäuscht bist, aber ich verspreche dir, ich werde Jemmy einen Abschiedsgruß von dir ausrichten. Und damit hat sich’s. Du bist total übermüdet, und wenn du jetzt keine ordentliche Nachtruhe bekommst, bist du morgen nicht in der Verfassung, zu dieser fantastischen Reise aufzubrechen, die Miss Volkner für euch organisiert hat. Das wäre doch wirklich jammerschade.»

Martine wusste aus eigener schmerzhafter Erfahrung, dass ihre Großmutter kein Argument gelten ließ, wenn sie einmal diesen Ton angeschlagen hatte. Doch der Gedanke, zehn Tage wegzugehen, ohne auf Jemmy zu reiten oder sich von ihm zu verabschieden, war einfach unerträglich. Während des ganzen Abendessens kochte sie innerlich und schob das Brathähnchen lustlos auf dem Teller herum. Als Gwyn Thomas schließlich sagte, sie solle mit dem Schmollen aufhören, riss sie sich zusammen, setzte sich aufrecht hin und machte ein freundliches Gesicht. Innerlich schmiedete sie jedoch einen Plan. Schon seit Monaten hatte sie sich nie mehr nach Mitternacht davongeschlichen, um mit Jemmy auszureiten, und sie vermisste die Aufregung dieser Mondscheinritte sehr. Vor allem aber fehlte ihr das Gefühl, Afrika zu spüren. Auf ihren Streifzügen mit der weißen Giraffe und den anderen Wildtieren war es, als hätte sie eine Tür zu einem anderen Afrika aufgestoßen, das nur den allerwenigsten Menschen offen stand.

Während sie Soße über die Bratkartoffeln löffelte, genoss sie die Aufregung über ihren rebellischen Plan. Bisher war sie nie erwischt worden, nicht einmal, als sie noch nicht mit Sawubona und den Gewohnheiten ihrer Großmutter vertraut gewesen war. Jetzt kannte sie beide in- und auswendig. Also konnte gar nichts schiefgehen.

Die Vorfreude machte sie fast schwindlig. Um die Großmutter abzulenken, brachte sie das Gespräch wieder auf den Delfin und fragte, warum sich diese Tiere an den Strand und in den beinahe sicheren Tod spülen ließen.

Glücklich über diese Entspannung, war Gwyn Thomas nur zu gerne bereit, nochmals über das Stranden der Delfine zu sprechen. Sie sagte, sie wisse nicht, warum es immer wieder geschehe, aber es müsse damit zu tun haben, dass das Leben im Meer für sie unerträglich geworden sei. «Vielleicht hat es mit der Meeresverschmutzung oder dem vermehrten Seeverkehr zu tun», sagte sie. «Es gibt Gebiete der Weltmeere, die sind zu regelrechten Städten von Frachtschiffen, Trawlern und Marinebooten geworden.»

Martine hörte aufmerksam zu und versuchte, sich an alles zu erinnern, was sie je über die Intelligenz von Delfinen und über die heilsame Wirkung, die sie auf den Menschen ausübten, gehört hatte. Sie dachte an den elektrischen Strom, der durch sie hindurch gelaufen war, als sie den gestrandeten Delfin berührt hatte. Irgendwie und ohne ein Wort zu sagen, hatte das Tier sie darum gebeten, ihm zu helfen. Und irgendwie und ohne ein Wort zu sagen, war sie dazu bereit gewesen.

In der Regel erzählte Martine ihrer Großmutter, was diese wissen musste. Das Geheimnis der unhörbaren Hundepfeife, mit der sie die weiße Giraffe herbeirief, hatte sie allerdings für sich behalten. So konnte sie ohne Angst, entdeckt zu werden, im Fenster ihres Zimmers stehen und pfeifen, bis Jemmy bei dem kahlen Eukalyptusbaum am Wasserloch auftauchte.

Als das Licht im Schlafzimmer ihrer Großmutter ausging, zog sie ihren Schlafanzug aus und schlüpfte in Jeans, Stiefel, Sweatshirt und Anorak. Sie holte Messer und Taschenlampe aus dem Überlebensbeutel, den sie hinter dem Bücherregal versteckt hatte, und schlich die Treppe hinunter. Jemmy wartete beim Eingangstor zum Reservat auf sie. Sein weißes Fell leuchtete gespenstisch durch die dunkle Nacht. Er legte sich hin, damit sie auf seinen steilen, samtweichen Rücken klettern konnte. Als sie sicher saß, sagte sie: «Los Jemmy!» Darauf erhob er sich und galoppierte mit ihr davon.

Der Winterwind schlug Martine ins Gesicht. Aber das störte sie ausnahmsweise nicht. Die Aufregung über den verbotenen Ritt hatte sie in einen Rausch versetzt. Das Reiten während des Tages hatte zwar auch sein Gutes. Es war weit weniger gefährlich, und sie musste sich nicht aus dem Haus stehlen. Andererseits konnte sie tagsüber nicht so wild reiten. Ihre Großmutter wäre fassungslos gewesen, hätte sie gesehen, wie schnell Jemmy durch das Reservat preschte, wenn man ihn nur ließ. Aber tagsüber musste sie sich vor allem von Jemmys Refugium, dem Geheimen Tal, fernhalten, in das die weiße Giraffe als Waise von einem Elefanten gebracht und so vor Wilderern gerettet worden war.

Genau in dieses Geheime Tal wollte Martine heute Nacht mit Jemmy. Sie wusste nicht weshalb, aber sie musste die Höhle, die den Schlüssel zu ihrem Schicksal in sich barg, noch einmal sehen, bevor sie Sawubona verließ. Leider war die Höhle im Geheimen Tal schlecht zugänglich. Der Eingang zum Tal war eine von dornigen Kriech- und Schlingpflanzen verborgene Felsspalte hinter einem knorrigen Baum. Es gab nur eine Möglichkeit, durch die Spalte zu gelangen: Jemmy musste mit höchster Geschwindigkeit auf den Baum zureiten und dann genau im richtigen Winkel zu einem weiten Sprung ansetzen. Martine hatte immer die größte Mühe, sich während des Sprungs auf Jemmys Rücken zu halten. Auch dieses Mal war es nicht anders. Die Dornenranken kratzten und stachen sie, und sie hatte keine andere Wahl, als ihr Gesicht in Jemmys Mähne zu verstecken und sich an seinem Hals festzuklammern. Sie hoffte nur, dass die Dornen keine auffälligen Kratzwunden in ihrer Haut hinterlassen würden, für die sie am nächsten Morgen eine Erklärung erfinden müsste.

Im Tal hing immer noch der Duft von Orchideen, obwohl diese längst nicht mehr blühten. Durch eine enge Öffnung war ein kleines Stück Sternenhimmel zu sehen, das dem dunklen Grasboden einen gespenstisch bläulichen Schimmer gab. Martine rutschte von Jemmys Rücken hinunter und gab ihm einen Dankeskuss. Sie war erst zum dritten Mal im Tal, und der Gedanke, gleich in die gruselige Höhle zu kriechen, machte sie nervös. Jemmy blickte ihr mit zuckenden Ohren hinterher.

In dem engen Durchgang roch es nach Moder und Raubtier, als hätte noch vor Kurzem ein Leopard dort gehaust. Martines Taschenlampe warf einen dünnen, flackernden Strahl über die zerklüfteten Wände. Nach einer Weile wurde der Höhlengang breiter und machte einen Bogen. Jetzt wusste Martine, dass sie im Inneren des Berges war. Mit Mühe erklomm sie die steil ansteigenden, moosbewachsenen Stufen, die in die Vorkammer der großen Halle führten. Martine ärgerte sich über sich selbst, weil sie keinen Plan ausgeheckt hatte, um ihre Jeans sauber zu halten. Sie hätte ja Abfallsäcke um die Hosenbeine wickeln können. Sie besaß nur zwei paar Jeans, die sie beide am nächsten Morgen auf die Reise mitnehmen musste.

Kurz bevor sie oben ankam, schaltete sie ihre Taschenlampe aus. Beim ersten Mal in der Höhle hatte sie die mit gefalteten Flügeln von der Decke baumelnden Fledermäuse derart aufgescheucht, dass sich die klebrigen Tiere in ihren Haaren verfingen. Diesmal hatte sie Glück. Die Fledermäuse blieben regungslos hängen.

Als Martine die «Gedächtnishalle», wie sie von den Älteren genannt wurde, betrat, knipste sie die Taschenlampe wieder an und atmete tief ein. Sie mochte die Schwere der Luft. Es war, als könnte sie darin noch etwas von vergangenen Generationen spüren. Überall an den Wänden waren Malereien, die das Leben und die Erinnerungen eines untergegangenen Stammes von Buschmännern, den San, darstellten. Rote, schwarze und ockerfarbene Zeichnungen von großen Wildtierherden und Jägern mit Pfeil und Bogen erwachten im Lichtkegel ihrer Taschenlampe zum Leben, als seien sie erst gestern gemalt worden. Martine fühlte sich geehrt, die über die Wände galoppierenden Tiere bestaunen zu dürfen. Immer wenn sie in der Höhle war, hatte sie den Eindruck, ihre eigene, private Kunstgalerie zu besuchen.

Sie ging zu den Zeichnungen mit der weißen Giraffe. Obwohl sie die Darstellungen seit Monaten nicht mehr gesehen hatte, war es ihr, als trage sie sie immer in ihrem Herzen mit sich herum. Nur auf einer der drei Zeichnungen war das auf einer weißen Giraffe reitende Kind zu sehen. Dem Buschmann, der das Bild gemalt hatte, war eine so vollkommene Darstellung von Jemmys edlem Fell gelungen, dass es glänzte wie ein echtes.

In ihren Gedanken war sie oft in die Halle zurückgekehrt. Deshalb fiel ihr zunächst gar nicht auf, dass sich die Bilder etwas verändert hatten. Wie betäubt starrte sie auf die Höhlenwand. Es dauerte eine Weile, bis sie verstand, was sich ihren Augen darbot. Die Bilderfolge war um zwei Darstellungen ergänzt worden.

Martine überlegte sich, ob sie diese beiden Bilder bei ihren früheren Besuchen vielleicht einfach übersehen hatte. Nein, das konnte nicht sein. Sie waren zwar teilweise von einem pyramidenförmigen Steinbrocken verdeckt, doch sie hatte die Malereien schon zweimal eingehend und aus nächster Nähe betrachtet. Beim zweiten Mal war Grace mit ihr gewesen, und auch Grace hatte nichts bemerkt. Oder vielleicht doch?

«Die Antworten auf deine Fragen stehen hier an den Wänden», hatte die Sangoma gesagt. «Aber erst Zeit und Erfahrung werden dich lehren, sie zu sehen mit den richtigen Augen.»

Als Martine die Wand berührte, spürte sie eine seltsame Energie. Der Lichtschein ihrer Taschenlampe fiel auf ein Rinnsal, das aus einem Felsspalt lief. Vielleicht konnte das Wasser eine – wenn auch nicht vollends überzeugende – Erklärung liefern. Womöglich waren die Malereien von einem feinen Staub bedeckt gewesen, der mit der Zeit vom hinabströmenden Regenwasser weggewaschen wurde. So kam das darunterliegende Bild zum Vorschein. Das war zumindest eine Möglichkeit. Doch Martine mochte nicht daran glauben. Sie war eher geneigt, Grace zu vertrauen, dass erst Zeit und Erfahrung sie lehren würden, das zu sehen, was sie sehen musste.

Auf dem ersten Bild lagen einundzwanzig Delfine nebeneinander an einem Strand. Aus dem Ohr eines Delfins floss Blut. Das zweite Gemälde bestand eher aus einem Muster als einer Darstellung. Es zeigte unzählige Ringe von Delfinen – auf den ersten Blick waren es Hunderte –, die von einem größeren Ring von Haien umgeben waren. In der Mitte war noch etwas zu sehen. Martine hob die Taschenlampe und ging näher heran. Es war ein schwimmender Mensch. Ein schwimmender Mensch, umgeben von Haien und Delfinen.

Martines Herz geriet für einen schmerzhaften Augenblick ins Stocken. Sie befand sich inmitten einer uralten Weissagung. Das Schicksal, das die Vorfahren vorausgesagt oder geplant hatten (sie wusste nie, was eher zutraf), war einmal mehr in Bewegung geraten und riss sie wie ein Laubblatt auf einem reißenden Strom mit. Martine fragte sich, ob es möglich war, dem Schicksal zu entrinnen. Ihre Eltern hatten es versucht – mit katastrophalen Folgen. Aber vielleicht konnte sie ihm einfach ausweichen. Sie würde mitfahren, aber nicht schwimmen und das Wasser meiden – da konnten sich die anderen auf den Kopf stellen. Die Haie würden wohl kaum über die Reling klettern, um nach ihr zu schnappen.