Miss Mystery – Der Tanz der Schlange - Lauren St John - E-Book

Miss Mystery – Der Tanz der Schlange E-Book

Lauren St John

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Beschreibung

Miss Mystery löst ihren zweiten FallGroße Aufregung in Bluebell Bay: Nach einem Erdrutsch wurde das Skelett eines Dinosauriers freigelegt, und der idyllische Ort quillt plötzlich über vor Wissenschaftlern, Journalisten und Schaulustigen. Kat ist außer sich vor Freude, als sie einen neuen Tiersitterauftrag nach dem anderen bekommt, und hat alle Hände voll zu tun, Hunde, Pferde, Katzen und nicht zuletzt eine echte Pythonschlange zu versorgen. Doch als in dem Geröll auch noch ein menschlicher Schädel auftaucht, ist sie alarmiert. Zusammen mit ihrer Freundin Hanna beginnt sie nachzuforschen. Und alle Spuren führen zu einem geheimen Netzwerk von skrupellosen Tierhändlern …Der zweite Band der neuen Mädchendetektiv-Serie der preisgekrönten Bestsellerautorin Lauren St John – für alle, die Tiere und Abenteuer lieben. Am besten draußen lesen!Alle Bände der Serie "Miss Mystery":Band 1: Der Schrei des PapageisBand 2: Der Tanz der Schlange

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Seitenzahl: 344

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Lauren St John

Miss Mystery

Der Tanz der Schlange Band 2

Aus dem Englischen von Anne Braun

FISCHER E-Books

Inhalt

»So folgt Schnee auf [...]Sieben Monate zuvor …1 Nachbeben2 Dreizehn Sekunden3 Eine historische Sensation4 Die Entdeckung des Jahrhunderts5 Geisterzimmer6 Glanzvolle Stars7 Tiny macht Probleme8 Stand nicht in der Jobbeschreibung9 Unverhofft kommt oft10 Mr Bojangles11 Tod durch Unfall?12 Ein Polizist steht vor der Tür13 Abenteuer im Cyberspace14 Wie hypnotisiert15 Ausreißerkönige16 Hamilton Park17 Monster18 Nächtlicher Ausritt19 Verborgene Drachen20 Killer-Moves21 Kauernde Tiger22 Der Mann von der Tierkontrolle23 Außenseiter und Engel24 Knochenkrieg25 Tiny auf der Flucht26 Dragon Boy27 Wildkatzen28 Drachentinkturen29 Wahrer Mut30 Selbst Drachen …31 Ärger im ParadiesSechs Wochen späterAnmerkung der AutorinDanksagung

»So folgt Schnee auf Feuer, und selbst

Drachen finden ihr Ende.«

J.R. R. Tolkien, Der Hobbit

Sieben Monate zuvor …

Zentrum für Östliche Heilung, Chinatown, London

 

Nachdem der letzte Patient gegangen und im Regen untergetaucht war, half Kai seinem Vater beim Aufräumen und Saubermachen. Er platzierte die Akupunkturnadeln sorgfältig in den eigens dafür vorhandenen Abfallbehälter, wischte den Fußboden und staubte das Schränkchen aus Walnussholz ab, in dem Dr. Liu seine Vorräte an chinesischen Kräuterarzneien aufbewahrte.

An den meisten Tagen half er nach der Schule gern in der Praxis seines Vaters mit. Dr. Liu war ein weit über London hinaus bekannter chinesischer Heiler mit einer großen Schar dankbarer Patienten, die ihn geradezu vergötterten. Ein berühmter Patient hatte in The Sunday Times berichtet, Dr. Liu könne quasi Tote wieder zum Leben erwecken. Wenn Kai erwachsen war, wollte er denselben Beruf ausüben wie sein Vater.

An diesem Tag aber war ihm sein Kampf gegen Drachen wichtiger.

»Hŭ zĭ, ich muss schnell noch etwas erledigen. Leg dein Spiel weg und mach deine Hausaufgaben.«

»Dad, ich bin nicht mehr dein kleines Tigerbaby«, beschwerte sich Kai, ohne von dem kleinen Display aufzublicken. »Du musst mit diesen kindischen Spitznamen aufhören. Ich bin fast dreizehn.«

»Das spielt in Eltern-Kind-Beziehungen keine Rolle, Hŭ zĭ. Du wirst auch mit fünfzig noch mein kleines Tigerbaby sein. Leg dein Handy weg und schließ die Tür hinter mir ab. Für heute ist Schluss.«

Kai ließ das Smartphone in seiner Hosentasche verschwinden, doch kaum war sein Vater weg, zog er es wieder heraus. Mit einem genialen Trick war es ihm gelungen, den Drachen herbeizubeschwören, der nun drohend seine Kreise zog. Kais Adrenalinspiegel schoss in die Höhe, als die Bestie ihm einen Schwall ihres violetten Drachenatems entgegenblies. Wenn er dieses Untier einfing, könnte er –

Als plötzlich die Glocke über der Eingangstür bimmelte, setzte sein Herz fast aus. Er war so in seine Schlacht gegen den Drachen vertieft, dass er, ohne aufzublicken, rief: »Wir haben geschlossen! Kommen Sie morgen wieder!«

»Ganz bestimmt nicht.«

Die Tür schwang auf, und Regengischt wehte herein. Glänzende schwarze Schuhe näherten sich. Genervt hob Kai den Blick von dem Drachen auf seinem Display und erschrak. Der Besitzer der Schuhe war maskiert. Schwarze Lederhandschuhe ragten aus den Ärmeln des langen schwarzen Mantels. Ein Hut war tief in die Stirn gezogen.

»Wo ist dein Vater?«

Kai dachte hektisch nach. Wenn er dem Fremden – der vermutlich ein Räuber war – sagte, dass sein Vater jede Minute zurückkommen konnte, würde ihn das in die Flucht schlagen oder die Sache schlimmer machen?

»Tut mir leid, Dr. Liu ist außer Haus«, sagte er ausweichend. »Kann ich Ihnen weiterhelfen?«

Möglichst unauffällig hatte er seine Hand mit dem Handy unter der Empfangstheke verschwinden lassen. Er tastete nach der 9 und tippte sie zweimal an. Doch die dritte 9, die die Polizei herbeigerufen hätte, schaffte er nicht mehr, weil ihm das Handy aus den Fingern gerissen wurde. Mit Entsetzen musste er mit ansehen, wie es mit einer Brechstange zertrümmert wurde.

»Keine weiteren faulen Tricks mehr, falls du den morgigen Tag noch erleben willst«, sagte der Fremde mit erstaunlich freundlicher Stimme. »So, und jetzt sagst du mir, wo dein Vater seine Wundermittel aufbewahrt!« Weil Kai vor Schreck keinen Laut über die Lippen brachte, zog der Eindringling hektisch ein paar Schubladen auf und kippte den Inhalt achtlos auf den Boden. »Stell dich nicht dumm – du weißt genau, was ich meine.«

Eine weitere Schublade fiel krachend zu Boden, und das pinkfarbene Fünf-Aromen-Pulver flog in alle Richtungen.

»Aufhören!« Kai vergaß vor Wut seine Angst, als er sah, wie das Lebenswerk seines Vaters von diesem Verbrecher verwüstet wurde. »Ich weiß nicht, was für ein Wundermittel Sie meinen! Wenn Sie krank sind, machen Sie einen Termin. Mein Vater kann Ihnen sicher helfen. Er ist der Beste!«

Der Mann stieß ein trockenes Lachen aus. »Das wissen wir. Deshalb bin ich ja hier.«

In diesem Moment flog erneut die Tür auf, und Dr. Liu trat ein und schüttelte seinen Schirm aus. »Du wirst es nicht glauben, Hŭ zĭ, aber ich habe mein Portemonnaie vergessen.« Er erstarrte, als er die aufgerissenen Schubladen und den maskierten Fremden mit der Brechstange erblickte. »Was ist hier los? Hŭ zĭ, bist du verletzt?«

»Bis jetzt ist niemand verletzt, und falls Sie vernünftig sind und kooperieren, wird es auch so bleiben, Dr. Liu. Geben Sie mir, was ich brauche, und ich bin ruck, zuck wieder weg.«

Als Kai zu seinem Vater laufen wollte, versperrte der Fremde ihm den Weg. Er war so groß, dass sein Hut fast die Decke streifte.

Dr. Liu umklammerte seinen Schirm, als wolle er damit zuschlagen. Doch dann besann er sich, legte ihn weg und hob die Hände, zum Zeichen, dass er sich ergab. »Mein Portemonnaie liegt auf dem Schreibtisch im Behandlungsraum. Bitte nehmen Sie es und gehen Sie!«

Der Fremde grinste höhnisch. »Ich habe es nicht auf Ihr Geld abgesehen, Doktor, sondern auf Ihr Wundermittel. Nicht für mich, bewahre! Sondern für eine befreundete Person.«

»Was hat diese Person?«

»Eine tödliche Krankheit, aber das werden Sie ändern.«

Dr. Liu stieß ein nervöses Lachen aus. »Guter Mann, ich fürchte, da täuschen Sie sich. Ich bin ein einfacher Kräuterkundler und Akupunkteur.« Er zuckte zusammen, als die Brechstange auf ein Tablett mit Glasgefäßen niedersauste, die allesamt zersplitterten. Mit zittriger Stimme fuhr er fort: »Falls ich die Symptome oder das Leiden dieser Person lindern kann, wäre es mir eine Ehre. Aber zuerst muss ich sie sehen.«

»Völlig ausgeschlossen. Sie müssen sich mit ihrer Krankenakte zufriedengeben.«

Ein Bündel Papiere wurde auf die Theke geknallt. Kai sah, dass die Namen des Patienten und des behandelnden Arztes geschwärzt waren.

Er versuchte, sich alles einzuprägen, um es später der Polizei zu berichten, doch abgesehen davon, dass der Mann sehr groß war und akzentfrei Englisch sprach, fiel ihm eigentlich nichts auf. Er konnte weder Haut- noch Augenfarbe erkennen, denn der Hut, die Handschuhe und die Maske verbargen sie. Er sah auch kein Label an der Kleidung oder irgendwelche Narben. Das einzig Auffällige waren die Schnürsenkel, die sich himmelblau von dem glänzenden schwarzen Leder abhoben.

Sein Vater überflog die Krankenakte mit zunehmendem Entsetzen und schleuderte sie dann auf die Theke. »Was Sie von mir verlangen, ist jenseits dessen, was ein Arzt vermag! Das Schicksal dieser Person liegt in den Händen der Götter!«

Der Fremde blieb völlig ungerührt. »Dann sag ich Ihnen jetzt, wie es abläuft, Dr. Liu. Sie werden mir Ihr bestes Wundermittel geben. Am Ersten jeden Monats werden Sie eine neue Lieferung im Hyde Park hinterlegen. Wo genau, erfahren Sie noch. Und jeden Monat, den der Patient überlebt, wird auch Ihr Sohn am Leben bleiben. Wenn Patient X stirbt, stirbt auch Ihr Sohn.«

»Nein!«

»Ich fürchte, doch.« Der Eindringling warf einen Blick auf die Wanduhr. »Meine Zeit ist um. Geben Sie mir, was ich brauche – sonst müssen Sie mit den Konsequenzen leben!«

Dr. Liu zögerte keine Sekunde mehr. Er schloss eine nicht beschriftete Schublade ganz unten im Wandschrank auf, mit einem Schlüssel, von dem er Kai gegenüber behauptet hatte, er sei verschollen. Er zog sie auf, nahm einen Beutel heraus und kippte den Inhalt – unförmige braune, violette und graue Klumpen – auf die Verkaufstheke.

Der Fremde nickte zufrieden. »Ist es das, was ich denke?«

»Long chi. Drachenzähne.«

Kai kam es so vor, als sei er in einer realen Version seines Computerspiels gelandet. Sein Vater wählte zwei Zähne aus, zermalmte sie zu Pulver und mischte sie dann in eine Tinktur aus Kräutern, Ingwer und Ginseng. »Sagen Sie … sagen Sie dem Patienten, er solle jeweils sechs Tropfen davon unter die Zunge geben, immer um Punkt zwölf Uhr, zweimal täglich.«

Eine schwarz behandschuhte Hand ließ das Fläschchen in der Manteltasche verschwinden. »Sie sind bekannt für Ihr Entgegenkommen, Dr. Liu. Wenn Ihnen an Ihrem Sohn liegt, wäre es klug von Ihnen, weiterhin zu kooperieren und niemandem von unserer … ähm, kleinen Abmachung zu erzählen.«

Die Glocke über der Tür bimmelte erneut, als der Mann wieder hinaus in die regnerische Dunkelheit trat. Kai klammerte sich so fest an seinen Vater, wie er es nicht mehr getan hatte, seit er fünf gewesen war. Das Herz seines Vaters hämmerte an sein Ohr.

»Drachenzähne?«, stammelte Kai. »Aber es gibt doch gar keine Drachen, Dad. Diese Fossilien in dem Beutel, wo kommen sie her?«

Sein Vater schien in diesen wenigen Minuten um zehn Jahre gealtert zu sein. »Das erzähle ich dir ein andermal, Sohn. Wichtig ist nur, dass die Long-chi-Tinktur diesem Patienten hilft!«

Kai fröstelte. »Wird sie es?«

»Es gibt Gerüchte, dass Drachenzähne Wunder bewirken … Wir müssen hoffen, dass sie wahr sind.«

»Und was, wenn nicht?«

Sein Vater griff nach seiner Hand. »Hŭ zĭ, du wirst mir vertrauen müssen. Ich werde alles Menschenmögliche tun, damit dir nichts passiert. Wirklich alles!«

1Nachbeben

Bluebell Bay, Juraküste, England

 

»Hältst du es wirklich für eine gute Idee?«, fragte Kat Wolf.

»Definitiv«, schnaufte Hanna Fox und ging unbeirrt weiter den Küstenweg hinauf. »Sonst bekomme ich das mysteriöse Traumhaus, von dem du mir schon so viel erzählt hast, nie zu sehen. Hast du nicht gesagt, dass man nur über diesen steilen Weg hinaufkommt?«

»Ja, aber –«

Kat schnappte entsetzt nach Luft, als Hanna an der gefährlichsten Stelle plötzlich stolperte – dem Abschnitt des Anstiegs, wo das Geländer zu Ende war und man direkt am Klippenrand stand. Da es hier nichts zum Festhalten gab, brauchte man nur auszurutschen oder zu stolpern, und schon stürzte man kopfüber in sein Verderben. Als Kat einen Satz machte, um ihre beste Freundin festzuhalten, konnte sie einen flüchtigen Blick auf die Wellen erhaschen, die tief unter ihnen schäumend an den Fuß der Klippen donnerten. Ihr wurde fast schwindelig.

»Wir können doch auch nächste oder übernächste Woche hinaufgehen«, schlug sie vor und zog Hanna unsanft auf die sichere Seite des Pfads, was ihr allerdings ein paar Kratzer des Brombeergestrüpps einbrachte. »Wir haben die ganzen Sommerferien noch vor uns. Und Avalon Heights läuft uns nicht weg.«

Ihre amerikanische Freundin putzte sich die Gischtspritzer von der Brille, bevor sie darauf antwortete. Hanna war vor dreieinhalb Monaten von ihrem Rennpferd Charming Outlaw abgeworfen worden, was ihr zwei Beinbrüche eingebracht hatte. Deshalb war sie noch immer etwas schwach auf den Beinen und ermüdete leicht. Doch obwohl ihr Herz so heftig schlug, dass es ihr beinahe aus der Brust hüpfte, und obwohl sämtliche Muskeln in ihren untrainierten Beinen schmerzten, wollte sie keineswegs aufgeben.

Als die beiden Mädchen ihren ersten Fall lösten, hatte Hanna zu Hause auf dem Sofa herumsitzen müssen, im Paradise House, in dem sie mit ihrem Paläontologen-Vater und ihrer englischen Haushälterin Nettie wohnte. Ihre Mutter war schon vor Jahren gestorben.

Kat war damals nach Bluebell Bay gezogen, weil ihre Mutter die Tierarztpraxis in diesem idyllischen Städtchen an der Südküste Englands übernommen hatte. Um ihr Taschengeld aufzubessern, hatte Kat sofort eine Tiersitteragentur gegründet, woraufhin Hannas Vater sie angeheuert hatte, um Charming Outlaw auszureiten, solange seine Tochter krankheitsbedingt ans Haus gefesselt war.

Kat und Hanna hatten sich schnell angefreundet und waren inzwischen fast unzertrennlich.

Auch Kats zweiter Tiersitterauftrag hatte nicht lange auf sich warten lassen. Sie sollte sich in Avalon Heights um einen Amazonenpapagei kümmern, dessen Besitzer für einige Zeit verreisen wollte. Hanna konnte sich noch bestens erinnern, wie Kat ihr ihren ersten Besuch in dem einsam auf den Klippen gelegenen Haus beschrieben hatte. Sie war bei kaltem Nebelwetter den glitschigen Küstenweg hinaufgegangen, hatte eine offen stehende Haustür vorgefunden und einen verängstigten, kauderwelschenden Papagei im Inneren. Von Ramón, seinem Besitzer, weit und breit keine Spur. Und weil eine Menge seltsamer Umstände zusammenkamen, war Kat schnell davon überzeugt, dass der Besitzer des Papageis einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein musste. Da sie in dem Städtchen sonst noch niemanden kannte, hatte sie es nur Hanna erzählen können, die spontan versprochen hatte, ihr bei der Aufklärung dieses mysteriösen Falls zu helfen. Das war der Beginn eines Abenteuers gewesen, das die beiden Mädchen beinahe Kopf und Kragen gekostet hätte.

An diesem Tag aber war der Himmel herrlich blau und wolkenlos. Die Julisonne schien angenehm warm auf sie herab. Trotzdem jagte Hanna ein kalter Schauer über den Rücken, als sie nun den Kopf hob und zu dem futuristisch aussehenden Haus hinaufblickte, das nur aus Stahl und Glas zu bestehen schien und dessen Sonnenterrasse wie ein riesiger Kiefer auf den Ozean hinausragte.

»Erde an Hanna. Sollen wir umkehren?«, fragte Kat.

»Warum? Hast du Schiss?«

»Was?! Natürlich nicht! Du etwa?«

Hanna grinste. »Heute nicht. Alles, was du mir damals von Avalon Heights erzählt hast, fand ich so gruslig, dass ich es im Leben nicht betreten wollte. Aber meine Angst ist wie weggeblasen. Ich bin total gespannt und kann kaum erwarten zu sehen, ob es wirklich so aussieht, wie ich es mir immer vorgestellt habe.«

Beherzt nahm sie das letzte steile Wegstück in Angriff, obwohl sie bei jedem Schritt die Zähne zusammenbeißen musste. Aber sie war fest entschlossen, nicht zu jammern. Kat blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.

Eine Minute später standen die beiden Freundinnen auf den Stufen, die zur Haustür von Avalon Heights führten. Ein Schild mit der Aufschrift ZUVERMIETEN schaukelte quietschend und einsam im Wind.

Kat drückte auf die Türklingel.

Hanna starrte sie an. »Hey, hast du nicht gesagt, das Haus steht leer?«

»Tut es auch. Die Immobilienmaklerin war gestern in unserer Tierklinik, um Welpenfutter zu kaufen. Und sie hat zu meiner Mum gesagt, es sei nicht einfach, den richtigen Mieter zu finden. Ich wollte nur überprüfen, ob nicht doch jemand hier ist. Vielleicht hat die Agentur ja eine Putzfrau oder einen Handwerker hochgeschickt.«

Sie läutete ein zweites Mal.

Doch Hanna hatte plötzlich Bedenken. »Was, wenn wir erwischt werden? Meinst du, dann werden wir verhaftet?«

»Kann ich mir nicht vorstellen.« Kat tippte den Zugangscode ein. »Es ist nichts mehr da, was das Haus geheim oder speziell gemacht hat. Aber es ist immer noch Privateigentum. Deshalb könnten wir Ärger kriegen wegen unerlaubten Betretens oder so. Wir müssen also schnell sein. Nur kurz rein und wieder raus. Und denk daran, ja nichts anzufassen!«

Stirnrunzelnd starrte sie auf das Türschloss und versuchte es mit anderen Zahlenkombinationen.

Ein scharfer Windstoß ließ Hanna erneut frösteln. Warum um alles in der Welt hatte sie zu Kat gesagt, sie würde vor Neugier sterben, wenn sie nicht endlich einen Blick in das Haus werfen könne, das in ihrem letzten mysteriösen Fall eine so wichtige Rolle gespielt hatte? Im Moment aber wünschte sie sich nur noch eins: zu Hause im Paradise House auf dem Sofa zu liegen. Aus der Nähe betrachtet, hatte Avalon Heights etwas Kaltes, Abweisendes.

»Du, ich hab es mir anders überlegt. Gehen wir!«

Stahlriegel schnappten zurück. Die schwere Tür schwang auf. Kat verschwand im Inneren. Hanna blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Sie zog ebenfalls ihre Sneaker aus und stellte sie im Flur neben die von Kat.

Kaum hatte sie sich wieder aufgerichtet, war alle Nervosität auf einen Schlag vergessen. Vergessen war auch der Gedanke, dass es noch lange nicht okay war, den Türcode zu benutzen, nur weil der frühere Bewohner ihn Kat damals verraten hatte. Vergessen war alles andere außer diesem umwerfenden Haus mit der riesigen Glasfront und dem atemberaubenden Ausblick. Das schimmernde indigoblaue Meer schien sich in einer sonnenbeschienenen Welle ins Haus zu ergießen.

»Oh, Kat, das ist ja noch toller, als ich es mir vorgestellt hatte! Mein absolutes Traumhaus hoch zehn! Ich würde noch heute hier einziehen, wenn es ginge. Sieh dir dieses Heimkino an und – herrje, ist das ein Fitnessraum? Hey, was ist los?«

Kat stand am Fuß der Stahltreppe und starrte nach oben. Ihr sommersprossiges Gesicht wirkte verstört. Sie legte sich einen Finger an die Lippen und flüsterte: »Hast du das gehört?«

»Was gehört?«, raunte Hanna zurück.

»Eine Art gequältes Stöhnen.«

Hanna hatte nur das gedämpfte Rauschen der Wellen gehört. Jetzt, wo sie hier war, fand sie das Haus kein bisschen furchteinflößend mehr. »War vielleicht ein Vogel auf dem Dach oder ein Wasserrohr«, meinte sie, nun wieder in normaler Lautstärke. »Das kann passieren in Häusern, die eine Zeitlang leer stehen. Jetzt sei kein Angsthase, Kat, und zeig mir alles!«

Sie wirbelte durch das riesige Wohnzimmer, schlaksig wie ein neugeborenes Fohlen.

Kat blickte noch einmal die Treppe hoch, beschloss dann aber, dass sie sich bestimmt verhört hatte. In ihren Socken rutschte sie über das Parkett zu ihrer Freundin an der Glasfront, kam kurz vor ihr zum Stehen und machte eine theatralische Verbeugung. Hanna tänzelte vor ihr her in die Küche und trällerte dabei fröhlich vor sich hin.

»Achtung!«, rief Kat lachend und machte einen Satz, um eine Vase zu retten, die Hanna um ein Haar umgeworfen hätte. »Wenn wir etwas kaputtmachen, könnten wir es nur schwer erklären.«

Sie spähte unter die Küchentheke. »Erinnerst du dich daran, dass ich hier eine Aktenmappe im Army-Stil gefunden habe? Ich bin mir sicher, dass sie aus irgendeinem Geheimfach fiel. Ich habe sie immer noch, weißt du. Aber es war nichts Interessantes drin, nur ein paar alte –«

Plötzlich gab es einen Knall. Kat richtete sich so ruckartig auf, dass sie sich beinahe den Kopf angeschlagen hätte. »Mensch, Hanna! Was hast du jetzt wieder angestellt?«

Auf einem Regal, auf dem mehrere Dinosaurierbecher in einer Reihe standen, klaffte plötzlich eine Lücke. Tyrannosaurus Rex lag in Scherben auf dem Boden. Hanna rief verdutzt: »Ich war’s nicht, Ehrenwort! Ich war nicht mal in der Nähe!«

»Aha, dann war’s wohl ein Geist – willst du das behaupten?«

»Vermutlich derselbe Geist, den du oben stöhnen und ächzen gehört hast«, entgegnete Hanna. »Ehrlich, Kat, ich stand schon hier, als der T-Rex plötzlich einen Satz machte, als hätte er ’nen Düsenantrieb. Aber halb so wild. Diese Becher gibt’s im Deli, und ich kaufe mit meinem Taschengeld einen neuen, und wir werden herausfinden –«

Erschrocken klammerte sie sich plötzlich an die Küchentheke. »Was ist jetzt los?«

Der Fußboden und die Regale bebten. Pfannen und Töpfe klapperten aneinander, und die Becherreihe klirrte wie verrückt. Der Kronleuchter im Wohnzimmer klimperte wie ein Windspiel während eines Sturms.

Und genauso abrupt, wie es angefangen hatte, hörte das Beben wieder auf – aber erst, nachdem das Regal einen weiteren Dino abgeworfen hatte.

»Der arme Stegosaurus!« Hanna stieß mit dem Fuß an die Porzellanscherben. »Mein Lieblings-Dino!«

Kat stand mit weit aufgerissenen Augen da. »Vergiss den Dino und sag mir lieber, was das eben war!«

»Etwas Ähnliches habe ich zuletzt bei einem Erdbeben in San Francisco erlebt. Nach kalifornischen Maßstäben war es zwar nur ein Klacks, aber mir persönlich hat’s gereicht.«

»Hier in England haben wir eigentlich keine Erdbeben – zumindest keine gefährlichen«, konnte Kat sie beruhigen. »Im Westen von Dorset gab’s letztes Jahr zwar eine kleine Erschütterung, doch Mum sagt, davon hätte kein Ei auch nur einen Sprung gekriegt. Vielleicht halten sie drüben in der Militärbasis gerade eine Parade ab oder machen eine Übung? Die Soldaten lassen ja öfter was hochgehen. Wenn es etwas Größeres gewesen wäre, hätte es ein Nachbeben gegeben.«

»Hier oben? Oben auf der Klippe? Der Truppenübungsplatz liegt auf der anderen Seite von Bluebell Bay!« Hanna war skeptisch. »Kat, was meinst du? Vielleicht spukt’s hier im Haus wirklich?«

»Spuken Gespenster nicht lieber in alten Gemäuern?«, witzelte Kat, obwohl sie in Wahrheit auch erschrocken war. »Komm, wir verschwinden von hier, bevor noch mehr kaputtgeht. Am Ende gibt man uns noch die Schuld.«

»Wir können nicht weggehen, bevor ich nicht draußen auf der Terrasse war!«, protestierte Hanna. »Oh, bitte, Kat! Darauf habe ich mich am meisten gefreut!«

Kat blickte zum Kronleuchter. Als sie das letzte Mal hier war, hatte eine geschickt versteckte Überwachungskamera jede ihrer Bewegungen aufgezeichnet. Die Kamera war nicht mehr da, aber trotzdem wurde Kat das Gefühl nicht los, dass sie beobachtet wurden.

»Na schön, aber mach schnell!« Sie ging schon mal zur Haustür und zog ihre Sneaker an, weil sie unbedingt wegwollte.

»Klar, ganz schnell!« Hanna zog sich ebenfalls die Schuhe an und humpelte dann durchs Wohnzimmer zur Glasfront zurück. »Ich bin schneller als das Licht.« Sie schob die Glastür auf und trat auf die Terrasse hinaus. »Wow! Doppel-Wow! Ich stelle mir gerade vor, wie ich in diesem Whirlpool hier liege und aufs Meer hinausblicke.«

»Können wir jetzt gehen?«, beharrte Kat.

»Gleich!« Hanna drückte ein Auge ans Teleskop und drehte das Sehrohr langsam. Sie sah die sanft geschwungene Linie der Juraküste, die üppig grünen Wiesen und die mit NATO-Draht eingezäunten Wachtürme der Garnison, bevor schließlich die türkisblaue Bucht in ihr Blickfeld kam, die Bluebell Bay seinen Namen gegeben hatte. Das hübsche Städtchen mit den pastellfarbenen Häusern schmiegte sich wie ein Halbmond um die Bucht.

»Mann, Kat, ich wusste gar nicht, dass man von hier oben ganz Bluebell Bay überblicken kann! Ein Wahnsinn! Auf dem Truppenübungsplatz sind allerdings keine Soldaten zu sehen, deshalb kann die Erschütterung vorhin nicht die Folge einer Schießübung sein. Und ein Erdbeben war es auch nicht, weil Edith, unsere Lieblingsbibliothekarin, vor dem Club der Sesselabenteurer steht und sich ganz friedlich mit ein paar Kindern unterhält. Sie wirken kein bisschen besorgt. So wenig wie das frisch verheiratete Paar, das gerade vor dem Grand Hotel Majestic aus einem Rolls Royce steigt. Mein Dad war neulich zu irgendeiner Veranstaltung dorthin eingeladen und total begeistert von dem Hotel, obwohl ihn normalerweise nichts begeistern kann, was nicht mindestens hundert Millionen Jahre alt ist.«

Kat hatte nur mit halbem Ohr zugehört. Sie wünschte, sie wären nie hergekommen. »Ich zähle jetzt bis drei, dann bin ich weg – mit dir oder ohne dich.«

»Okay, okay, jetzt mach dir mal nicht ins Hemd.« Hanna konnte sich offenbar nicht von dem grandiosen Ausblick losreißen, denn sie rührte sich nicht vom Fleck.

»Eins … zwei …«, begann Kat ungeduldig.

»Hey, was ist das denn?« Das Teleskop schwenkte abrupt nach unten.

»Weiß ich nicht, und ist mir auch egal.« Kat war mit ihrer Geduld am Ende. »Ich gehe jetzt. Tschüs!«

»Da ist ein Hund. Ich glaube, er ist über die Klippe gefallen.«

»Ein Hund? Lass sehen! Ist er verletzt?«

Wie ein geölter Blitz sauste Kat zu Hanna und presste ihr Auge an den Sucher. Und tatsächlich: Hinter einem Stechginsterbusch neben den abgesperrten alten Klippenstufen bewegte sich etwas – etwas Braun-Weißes, Pelziges. Sie drehte am Rädchen, um die Bildschärfe besser einzustellen, doch da hatte das Tier sich offenbar hingelegt, und Kat sah nur noch ein Ohr. Eindeutig ein Hundeohr!

Sie rannte seitlich ans Geländer, um einen besseren Blick auf die alten Stufen zu haben, die im Zickzack die Klippe hinunterführten. Minuten vergingen, ohne dass sich dort unten etwas regte. »Meinst du, der Hund ist von allein wieder hochgekommen?«, rief sie über ihre Schulter Hanna zu.

»Ihm ist sicher nichts passiert«, rief Hanna zurück, mit mehr Hoffnung als Überzeugung. »Wahrscheinlich läuft er im Moment schon durch Bluebell Bay und klaut Würstchen.«

Da drang ein Schmerzensgeheul durch die Luft. Hanna war sofort klar, dass jetzt nur noch eine atomare Katastrophe Kat davon abhalten konnte, ohne diesen Hund wieder nach unten ins Städtchen zu gehen. Nicht, dass Hanna sich das gewünscht hätte. Es war nur so, dass es zwei Möglichkeiten gab, das Tier zu retten, und sie wusste augenblicklich, dass ihr die Möglichkeit, für die Kat sich entscheiden würde, ganz und gar nicht gefallen würde.

»Kat, warte!«

Doch es war bereits zu spät. Kat war blitzschnell an der Feuerleiter hinuntergeklettert, die sich seitlich am Geländer befand, rannte am Klippenrand entlang und lehnte sich an dem Warnschild vorbei über die Absperrung oberhalb der abbröckelnden Stufen.

»Da ist er!«, rief sie über die Schulter. »Dürfte ein Border Collie sein. Ich glaube, er steckt irgendwie fest. Ich klettere jetzt runter und versuche, ihn zu befreien.«

»Spinnst du?!«, rief Hanna von der Terrasse aus. »Diese Stufen zu betreten ist nicht ohne Grund verboten. Sie können jeden Augenblick abbröckeln und ins Meer fallen. Und falls der Hund verletzt ist, ist er vielleicht aggressiv und beißt dich. Oder was, wenn er die Tollwut hat? Rühr dich nicht vom Fleck. Ich komme!!!«

Hanna nahm den Weg durch die Haustür und eilte zu Kat. »Du, wir rufen deine Mutter an. Sie weiß sicher, was zu tun ist.«

»Mum ist gerade am Operieren. Bis sie die Nachricht hört und die Feuerwehr oder wen auch immer angerufen hat, kann es zu spät sein – besonders falls der Hund blutet oder ernsthaft dehydriert ist. Bei einem Notfall zählt jede Minute!«

»Wie wär’s dann mit Sergeant Singh?«, schlug Hanna hektisch vor. »Falls er nicht gerade irgendwelchen Einbrechern nachläuft, könnte er schnell hierhersprinten und dir helfen.«

Kat schüttelte den Kopf. »Der Hund ist bestimmt sowieso schon nervös, und mehrere Personen machen die Sache nur schlimmer. Hanna, diese Stufen sind seit Jahren gesperrt. Sie sind zugewachsen mit Grasbüscheln und vielen Stechginstersträuchern und werden in den nächsten zehn Minuten bestimmt nicht zerbröseln. Je schneller ich runtergehe, desto schneller bin ich wieder zurück.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, drückte sie sich an dem Warnschild und der Absperrung vorbei und hastete die windschiefen Stufen hinunter. Gleich nach der ersten Biegung war sie nicht mehr zu sehen.

Als Hanna plötzlich allein war, wurde ihr ganz mulmig. Was, wenn Kat stolperte und hinfiel? Fünfzig Meter unterhalb der Stufen donnerten die Wellen mit unbändiger Wucht an den Fuß der Klippe. Sie versuchte, sich mit dem Gedanken zu trösten, dass es die Klippe nun schon seit Millionen von Jahren gab und sie schon vorbeitrampelnde Dinosaurier überstanden hatte. Doch es half nichts. Sie konnte nur noch daran denken, wie Kat von herabstürzenden Felsbrocken erschlagen werden und platt wie eine Flunder darunterliegen würde.

»Kat! Komm zurück. Bitte, lass uns einen Notdienst anrufen!«

Kat war zwar nicht mehr zu sehen, doch ihre Stimme drang herauf, ruhig und sanft, in dem Tonfall, mit dem sie immer auf verängstigte Tiere einredete. »Hanna, ich bin gleich bei ihm, deshalb muss ich jetzt still sein, damit er keine Panik kriegt. Mach dir also keine Sorgen, wenn du nichts mehr von mir hörst.«

Mach dir also keine Sorgen, wenn du nichts mehr von mir hörst.

Tja, das war leichter gesagt als getan.

2Dreizehn Sekunden

Ein gutes Stück weiter unten, an der Klippenwand, war Kat keineswegs so zuversichtlich, wie sie getan hatte. Schon von weitem sah sie, dass der Collie herrenlos sein musste. Sein glanzloses, verfilztes Fell spannte sich über die Rippen, als er knurrend versuchte, sich aufzurichten. Dunkle Blutflecke zeigten ihr, wo das arme Tier sich die Stufen hinuntergeschleppt hatte, bis es schließlich unter einem Stechginsterbusch liegen geblieben war.

Der Hund war in einem erbärmlichen Zustand. Obwohl es jetzt am späten Nachmittag noch so heiß war, dass man auf einem Stein ein Ei hätte braten können, zitterte er am ganzen Leib – ein sicheres Anzeichen für Fieber und eine Infektion. Und obwohl er eindeutig sehr geschwächt war, sträubte er die Nackenhaare, was zeigte, dass er im Angriffsmodus war.

Das Vertrauen von Tieren zu gewinnen, die vor Schmerzen und Angst in Panik und somit sehr gefährlich sind, war Kats besondere Gabe, doch solche Tiere zu beruhigen, kostete einige Zeit, und die hatte sie im Moment nicht. Sie würde blitzschnell ein paar Hundeflüstertechniken anwenden müssen und hoffen, dass sie Wirkung zeigten, bevor es zu spät war.

Die uralten Stufen waren wacklig, uneben und zum Teil zerbrochen. Zudem war Flut, und die schäumenden Wellen unter ihr fühlten sich bedrohlich nah an. Ein einziger falscher Schritt würde ausreichen, damit sie nach unten stürzte und von diesen Wellen mitgerissen werden würde. Je schneller sie wieder sicheren Boden unter den Füßen hatte, desto besser.

Aber zuerst musste sie dem Collie beweisen, dass sie keine Bedrohung für ihn war, und das tat sie, indem sie sich in seiner Nähe auf eine der Stufen setzte und die Arme um ihre Beine schlang. Sie schloss auch die Augen, während sie auf ein Zeichen wartete, dass der Hund ihr erlaubte, sich ihm zu nähern. Das stellte ihre Geduld auf eine harte Probe.

Dann endlich hörte sie es – ein verzweifeltes Winseln.

Als Kat dem Collie den Kopf zudrehte, sah sie ihn zusammengesunken auf der Seite liegen, als wenn sein kurzer Anfall von Misstrauen ihn seine letzte Kraft gekostet hätte. Er rührte sich kaum, als Kat ihm behutsam über den Kopf strich. Auf einem silbrigen Anhänger an seinem schmuddeligen Halsband stand der Name: Pax.

Kat musste gegen Tränen ankämpfen, als sie das Problem erkannte. Pax hatte sich mit einer Vorderpfote in einer rostigen, an einem Metallpflock befestigten Drahtschlinge verfangen. Und je heftiger er versucht hatte, sich zu befreien, desto tiefer hatte der Draht sich in sein Fleisch gegraben. Kat sah außerdem, dass der Collie offene Wunden an der Flanke hatte.

Sie zog an dem Metallpflock, doch der war bombenfest im Beton verankert. Deshalb konnte sie nur versuchen, die Pfote aus der Schlinge zu ziehen, doch da riskierte sie, von dem Hund gebissen zu werden. Noch bevor sie einen Versuch machen konnte, gab Pax ein wütendes Knurren von sich. Heißer Atem streifte Kats Gesicht.

Schockiert wich Kat zurück. Sie hatte in ihrem Leben schon so manche leichten Bisse und Kratzer abbekommen, aber sie war noch nie von einem Tier angegriffen worden! Erst als Pax anfing zu bellen, wurde ihr klar, dass der Zorn des Collies nicht ihr galt, sondern etwas, das draußen auf dem Meer war.

Was war dort? Im selben Moment sah Kat einen grellroten Lichtstrahl über das Meer zucken. Gleich darauf schien die ganze Klippenwand zu beben, während gleichzeitig ein fürchterliches Grollen ertönte, das sich fast anhörte, als sei in einer unterirdischen Höhle ein urzeitliches Monster zum Leben erwacht. Kat und Pax wurden gegeneinander geworfen und wie Popcorn durchgerüttelt. Erdklumpen und abgerissene Stechginsterzweige zerkratzten ihre Haut.

Dann plötzlich, mit einem Mal, war alles wieder ruhig.

Mühsam richtete Kat sich auf. Oben am Klippenrand schrie Hanna ihren Namen. Da Pax noch benommen dalag, konnte Kat ihm die Drahtschlinge von der Pfote streifen. Der Collie wimmerte schwach, schnappte aber nicht nach ihr. In aller Eile band Kat eine ihrer Socken um seine Fleischwunde. Jetzt musste sie den Hund nur noch überreden, auf drei Beinen die vierzig Stufen hinaufzuhumpeln, bevor die Klippenwand abrutschen und sie in die Tiefe reißen würde.

»Es wird weh tun, aber du musst mir vertrauen«, schärfte sie dem Hund ein, während sie ihm half, sich auf die Pfoten zu stellen.

Die Beine des Collies zitterten vor Schmerz und Anstrengung, doch er folgte Kat bereitwillig, was ihre Vermutung bestätigte, dass er früher mal ein gut ausgebildeter Hund mit einem vermutlich liebevollen Besitzer gewesen war. Außerdem war er noch recht jung. Wenn sie beide dieses Abenteuer hier überlebten, würde Pax bestimmt wieder gesund werden.

Hunger und Blutverlust hatten das arme Tier allerdings ziemlich geschwächt. Auf halber Höhe begann es zu schwanken. Kat begann, den Collie von Stufe zu Stufe hochzuheben, doch sie geriet schnell außer Atem. In ihrer Brust verklumpte sich ein harter Knoten der Panik. Schiefergestein und aus dem Untergrund gerissene Wurzeln rutschten an ihnen vorbei.

Was, wenn sie und der Hund es nicht bis nach oben schafften?

»Ich komm euch entgegen und helfe dir!«, rief Hanna.

»NEIN!« Kat schrie es fast. »Bleib, wo du bist, falls wir doch einen Notdienst rufen müssen. Drei auf diesen Stufen könnten einer zu viel sein!«

Hanna sagte nichts mehr, doch Kat wusste, was ihr durch den Kopf ging. Was, wenn schon zwei auf den Stufen zu viel waren?

Noch einundzwanzig Stufen … siebzehn … sechzehn … fünfzehn … vierzehn …

Pax’ Beine knickten ein, und er brach ohnmächtig zusammen. Der Collie hatte seine letzte Kraft aufgebraucht. Er hatte keine mehr.

Plötzlich schoss Kat das Bild eines Feuerwehrmanns durch den Kopf. Im Fernsehen hatte sie mal gesehen, wie einer sich einen Verletzten um die Schultern gelegt hatte. Auf diese Weise könne man auch sehr große oder stark übergewichtige Menschen schleppen, wurde gesagt. Gut, dann müsste sie es doch auch mit einem mageren Collie schaffen, oder? Sie ging in die Hocke und legte sich Pax um die Schultern. Mit einiger Mühe richtete sie sich dann wieder auf und hielt mit einer Hand die Vorderpfoten, mit der anderen die Hinterläufe fest. So erklomm sie die nächste Stufe.

Noch dreizehn Stufen. Würde sie es in dreizehn Sekunden schaffen? Würde es ausreichen?

Zwölf … elf … zehn … neun … acht …

Da kam von oben ein orangefarbener Rettungsring. Kat packte ihn und war froh, als Hanna am anderen Ende des Seils zog. »DU SCHAFFST ES, KAT!«, rief ihre Freundin von oben. »Gleich bist du oben!«

Sieben … sechs … Keuchend musste Kat eine kleine Pause einlegen. Ihre Beine fühlten sich an, als würden sie von einem Flammenwerfer verglüht werden.

»Nicht aufgeben!«, schrie Hanna. »Deine Mum braucht dich! Tiny braucht dich! Ich brauche dich!«

Fünf … vier … drei …

Hanna bekam ihre Arme zu fassen, genau in dem Moment, als ein Riss durch die letzte Betonstufe schoss, so blitzschnell wie eine zubeißende Schlange. Ein letzter Kraftakt, und Mädchen und Hund waren sicher oben.

Kat richtete sich mühsam auf. »Lauf! Lauf um dein Leben!«

Doch das ging nicht. Kat trug den Collie, und Hanna war gerade mal zu schnellem Humpeln fähig.

Erst als sie in sicherem Abstand zum Klippenrand waren, blickten sie zurück. Und kamen sich sofort dumm vor. Nichts hatte sich verändert. Avalon Heights stand noch da. Die Stufen des Klippenwegs waren noch vorhanden. Es hatte weder einen Klippenrutsch noch sonst eine Naturkatastrophe gegeben.

Unter ihnen lag Bluebell Bay noch immer verschlafen im Sonnenschein: Auf der Hauptstraße drängten sich Passanten mit Einkaufstüten, am Hafen spielten Kinder mit einem Frisbee, und im Park saßen etliche picknickende Personen in der Sonne.

»Sag mal, war das eben real oder habe ich halluziniert?«, fragte Hanna kopfschüttelnd. »Ich dachte sogar, ich hätte einen riesigen Hai an der Klippe vorbeischwimmen sehen.«

Sie hatte kaum ausgesprochen, als eine Möwe sich kreischend vom Dach von Avalon Heights in die Lüfte schwang. Die Klippe gab einen leisen, fast menschlich klingenden Seufzer von sich, brach dann plötzlich wie ein zerbrechender Keks der Breite nach durch und stürzte nach unten ins Meer. Weißer Schaum auf der Wasseroberfläche war alles, was die Stelle markierte, an der ein Teil der Klippenwand im Meer versunken war.

Die Mädchen starrten wie benommen in die Tiefe.

Bis zu diesem Moment hatten sie sich noch einreden können, dass das, was sie getan hatten, zwar extrem riskant, aber nicht wirklich lebensgefährlich gewesen war. Doch nachdem sie jetzt gesehen hatten, wie das Meer die altersschwachen Stufen verschluckt hatte, die Kat und Pax gerade heraufgekraxelt waren, mitsamt dem Klippenrand, über den Hanna sich gebeugt hatte, wurde ihnen bewusst, dass sie alle drei um Haaresbreite ebenfalls mit in die Tiefe hätten gerissen werden können.

Schließlich stammelte Hanna benommen: »D-du warst gerade … ich hätte … Ähm, wir hätten beide sterben können.«

»Ja, sind wir aber nicht«, erklärte Kat mit fester Stimme. »Und nur das zählt. Wir sind noch da und quicklebendig.« Sie zögerte. »Du denkst doch nicht, dass wir es meiner Mum oder deinem Dad erzählen sollten, oder?«

»Spinnst du? Nie im Leben! Mal ehrlich, sie würden ausflippen!«

»Stimmt. Warum sie erschrecken, wo wir doch heil davongekommen sind?« Kat schauderte. »Aber erinnere mich in Zukunft daran, dass wir besser keinen Fuß mehr in leerstehende Spukhäuser setzen sollten!«

»Oder auf abrutschende Klippen«, ergänzte Hanna.

Kat besänftigte den Collie, der langsam wieder zu sich kam. »Wenn wir Pax dadurch retten konnten, war es den Schreck wert.« Sie überlegte kurz. »Du, ich glaube, ich habe hinter dem Haus eine Schubkarre gesehen. Damit können wir ihn in Rekordzeit in die Tierklinik bringen. Aber wir erzählen besser keinem, wo wir ihn gefunden haben!«

»Keine Angst, ist schon von meiner Festplatte gelöscht«, murmelte Hanna, wohl wissend, dass das nur ein frommer Wunsch war.

3Eine historische Sensation

Als Kat am nächsten Morgen vom Rotorengewusche eines Hubschraubers erwachte, war ihr erster, hoffnungsvoller Gedanke, der Dunkle Lord würde auf eine Stippvisite vorbeikommen.

Es war leicht nachvollziehbar, wie ihr Großvater – Lord Hamilton-Crosse, seines Zeichens Verteidigungsminister von Großbritannien – zu seinem Spitznamen gekommen war. Wann immer er in den Nachrichten auftauchte, gaben sein Falkengesicht und sein stählerner Blick selbst hartgesottenen Interviewpartnern das Gefühl, herumstotternde Blödmänner zu sein. Reporter vergaßen ihre Fragen. Politische Gegner mutierten zu stammelnden Trotteln. Außerdem war da sein geheimnisumwobener Beruf. Soweit Kat wusste, hatte ihr Großvater landauf, landab Feinde.

Bis vor wenigen Wochen waren er und ihre Mutter sich ebenfalls spinnefeind gewesen. Bei Kats Geburt hatte er sich geweigert, sie als Tochter seines einzigen Sohns Rufus anzuerkennen, der zu diesem Zeitpunkt bereits beim Surfen einer riesigen Welle ums Leben gekommen war. Der Dunkle Lord war auf die Entbindungsstation gestürmt und hatte Ellen Wolf vorgeworfen, sie habe es nur auf das Milliardenvermögen der Familie Hamilton-Crosse abgesehen. Nichts wäre abwegiger und weiter von der Wahrheit entfernt gewesen, aber trotzdem hatte er elf Jahre gebraucht, bis er endlich zugab, dass er sich damals getäuscht hatte, und noch länger, bis er sich dafür entschuldigt hatte.

Wären Kat und ihre Mutter nicht von London nach Bluebell Bay gezogen, hätten sich ihre Wege möglicherweise nie wieder gekreuzt. Zum Glück taten sie das dann aber doch, derweil der erste Fall von Kat und Hanna als selbsternannte Detektivinnen sich als brandgefährlich und sogar potenziell tödlich herausgestellt hatte und er und Kat sich gegenseitig das Leben gerettet hatten. Dadurch hatten sie beide widerwillig Respekt füreinander entwickelt. Aber keiner von beiden dachte auch nur im Traum daran, das jemals zuzugeben.

»Ich sehe dich dann wieder, wenn ich dich sehe, Kat Wolf«, hatte der Dunkle Lord zum Abschied ausweichend gesagt, nachdem sie sich im Frühling kennengelernt hatten.

»Oder ich sehe dich zuerst«, hatte sie leise geantwortet.

Aber das hatte er damals vermutlich gar nicht mehr gehört. Oder vielleicht doch, wer weiß, sagte sie sich nun. Gesehen hatten sie sich seither jedenfalls nicht mehr. Das war das Problem, wenn zwei Menschen einander nicht deutlich sagten, dass ihnen am anderen etwas liegt, sondern mit einem flapsigen Spruch auf den Lippen auseinandergingen.

Aus den Zeitungen wusste Kat, dass er während der letzten Monate öfter mal in offizieller Mission in der nahegelegenen Militärbasis gewesen war. Aber kein einziges Mal war er auf einen Sprung und auf eine Tasse Tee in der Summer Street Nummer 5 vorbeigekommen. Gut, er war ein vielbeschäftigter und wichtiger Mann, aber trotzdem tat es weh. Und letzte Woche war der lange versprochene Wochenendbesuch in Hamilton Park, dem berühmten Landsitz ihres Großvaters, erneut verschoben worden, nur Stunden bevor Kat hätte hinfahren sollen.

»Nimm es nicht so schwer, Schatz.« Tröstend hatte Dr. Wolf ihre Tochter in den Arm genommen. »Dein Großvater hätte dich schrecklich gern gesehen. Aber wie so oft hat ihm der Premierminister einen Strich durch die Rechnung gemacht. Falls es dich tröstet: Dein Großvater hat versprochen, dass du dafür das nächste Mal besonders lange bei ihm bleiben darfst.«

Man musste kein Sherlock Holmes sein, um zu wissen, dass Dr. Wolf diesen letzten Satz frei erfunden hatte, aber Kat wusste es zu schätzen, dass ihre Mutter versuchte, ihre Enttäuschung abzumildern, indem sie ihr vorgaukelte, der Dunkle Lord sei – allen Gegenbeweisen zum Trotz – ein warmherziger, liebevoller Großvater. Dr. Wolf sah stets in jedem das Beste – selbst in ihm!

Der Hubschrauber war zurück, offenbar in Begleitung eines zweiten. Die beiden Helis wirbelten so dicht über Kats Zimmer im Dachgeschoss hinweg, dass Tiny, der bisher friedlich auf ihrer Brust geschlummert hatte, sich mit zuckendem Schwanz und mit der Schnelligkeit eines Gepards, der eine Spur gewittert hatte, in den Schrank flüchtete.

Als Dr. Wolf sich um die Leitung der Bluebell-Bay-Tierklinik beworben hatte, war eine der Bedingungen gewesen, dass die Wolfs Tiny adoptierten, einen F1-Savannahkater, für dessen Haltung man eine Wildtierlizenz brauchte. Eine offenbar schwere Kindheit hatte ihn sehr misstrauisch werden lassen. Nur mit viel Liebe und Geduld hatte Kat es geschafft, sein Vertrauen zu gewinnen. Aber auch jetzt noch geriet er in Anwesenheit von Fremden oder bei lauten Geräuschen in Panik. Im Moment konnte Kat von ihm nur eines seiner grünen Augen sehen, das durch den Türspalt ihres Schranks spähte.

»Warum will ein Hubschrauber der BBC-News ausgerechnet in eurem Garten landen?«, jammerte Hanna da von der Schlafcouch aus. Kat, die im ersten Moment ganz vergessen hatte, dass ihre Freundin bei ihr übernachtete, zuckte zusammen. »Wie soll ein Mädchen da zu seinem Schönheitsschlaf kommen?«

»BBC-News?« Kat sprang von ihrem Futonbett und merkte erst nachträglich, dass sie sich nach den Strapazen vom Vortag noch fühlte, als hätte sie mit einem Grizzlybären gekämpft. Ihr wurde so schwindelig, dass sie sich schnell hinsetzen musste. Erst da fiel ihr alles wieder ein: der abgerutschte Klippenrand, der Wettlauf gegen die Zeit, um Pax noch rechtzeitig in die Tierklinik zu bringen, und die Erleichterung, als sie sah, wie ihre Mutter mit zarten, geschickten Händen den Collie wieder zusammengeflickt und medikamentös versorgt hatte. Pax, übrigens eine Hundedame, hatte die Nacht in einer der Boxen in der Tierklinik verbracht, um dort wieder zu Kräften zu kommen. Kat konnte es kaum erwarten, ihren Findling zu besuchen.