Race the Wind - Lauren St John - E-Book

Race the Wind E-Book

Lauren St John

4,9

Beschreibung

Nach ihrem Sieg im berühmten Turnier von Badminton stehen für Casey die Zeichen auf Erfolg. Was läge näher, als gleich für die nächste Stufe des Grand Slam, das Kentucky Derby, zu trainieren? Aber jetzt gerät Caseys Vater in Verdacht. Und ihr Freund Peter scheint Zweifel an ihm zu haben. Zu allem Überfluss ist auch die Harmonie zwischen Casey und ihrem geliebten Pferd Storm Warning empfindlich gestört. Aber Casey gibt so schnell nicht auf.

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Lauren St John

RACE THE WIND

Roman

Aus dem Englischen vonChristoph Renfer

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Danksagung

Impressum

Für meine Schwester Lisa und in Erinnerung anMorning Star und Cassandra

1

Lange bevor sich irgendein Mensch regte, sah das Pferd die Gefahr kommen. Es starrte in die Dunkelheit hinaus. Auf der Landstraße, über die nachts um 03:35 Uhr nur selten ein Auto fuhr, waren zwei winzige Lichtpunkte zu sehen, die nach und nach größer wurden.

Storm Warning rumorte in seiner Box. Er verspürte einen leichten, wenn auch nicht unangenehmen Schmerz in den Muskeln. Der Jubel der Zuschauer, der ihn vor wenigen Stunden noch zum Sieg getragen hatte, hallte in seinen Ohren nach. Er hatte alles gegeben, bis sein Herz, das doppelt so groß wie ein normales Pferdeherz war, beinahe in seiner Brust explodiert wäre. Dennoch würde er es heute nicht anders machen, wenn er könnte. Denn für ihn gab es nur eines, was er noch lieber tat, als über Hindernisse zu fliegen: Galoppieren. Es mit dem Wind aufnehmen.

Ungeduldig presste er seine Schulter gegen die Stalltür. In zwei Stunden würden die Vögel mit ihrem Gezwitscher den Morgen begrüßen und die Sonne die Blätter der alten Eichen, denen das White Oaks Equestrian Centre seinen Namen verdankte, mit goldener Farbe überziehen. Kurz darauf würde Morag, die Leiterin des Reiterhofs, eine Frau, der er weder freundlich noch unfreundlich gesinnt war, mit ihren scheppernden Eimern in den Stall poltern. Und schließlich würden die verschlafenen Helfer mit zerzaustem Haar aus ihren Zimmern, die sich über dem Betriebsbüro befanden, die Treppe heruntergestakst kommen.

Doch das alles war nicht der Grund für Storms Unruhe. Er wartete ungeduldig auf den Moment, in dem das Mädchen, für das er schwärmte, über die vom Tau weißen Felder herankommen würde, begleitet von der alten Frau, die nach fremden Ländern duftete und Hände mit magischen Heilkräften hatte. Wenn Casey und Mrs Smith morgens in seinem Stall auftauchten, war seine Welt in Ordnung.

Doch heute fühlte sich irgendetwas nicht richtig an. Irgendetwas war nicht in Ordnung. Auf der Höhe des Eingangstors zu White Oaks bremste der Wagen auf Schritttempo ab, und das Licht der Scheinwerferaugen erlosch. Wie ein Panther schlich er über den Fahrweg, um schließlich vor dem Peach Tree Cottage zum Stillstand zu kommen. Drei dunkle Gestalten stiegen aus dem Fahrzeug.

Casey Blue war in einen tiefen Traum versunken. Sie lag in ihrem Bett im Peach Tree Cottage, dem kleinen Landhaus inmitten der grünen Grafschaft Kent. Ein Lächeln ging über ihre Lippen. Sie griff mit beiden Händen nach der Siegertrophäe der Badminton Horse Trials, einer beeindruckenden Skulptur, bestehend aus drei silbernen Pferden auf einem massiven rotblauen Sockel. Um sie herum toste der Jubel, brandete der Applaus.

Durch die Lautsprecher schallte die Stimme des Ansagers: «Was für eine großartige Leistung von Casey Blue, der jüngsten Gewinnerin eines der weltweit härtesten Vielseitigkeitsturniere!»

Er erwähnte mit keinem Wort, dass dies noch in anderer Hinsicht überraschend war. Aber vermutlich dachte er es. Wer hätte schon von einem aus ärmlichen Verhältnissen stammenden und in einer düsteren Sozialsiedlung aufgewachsenen Teenagermädchen erwartet, dass es auf einem 1-Dollar-Pferd, das eigentlich dem Schlachthof geweiht war, die besten Vielseitigkeitsreiter schlagen könnte? So etwas kam normalerweise nicht vor. Und dennoch war das Unmögliche möglich geworden. Denn beim Springen, das am dritten und letzten Turniertag anstand, hatte sich Storm für Casey trotz der unheimlichen Strapazen der Geländeprüfung am Vortag so kräftig und selbstsicher angefühlt wie nie zuvor.

Im Traum zog sich das Lächeln so breit über Caseys Gesicht, dass es sie beinahe schmerzte. Doch im Augenblick, als sich ihre Hände auf die Trophäe legten, wurde sie ihr entrissen. Eine Gruppe von Funktionären umstellte sie.

«Es liegt ein Fehler vor», sagte einer. «Du hast nicht gewonnen. Du verdienst es nicht, die Meistertrophäe nach Hause zu tragen.»

«Was soll das», gab Casey zurück. «Warum nicht?»

«Dein Vater ist ein Einbrecher. Ein gemeiner Dieb.»

«Das stimmt nicht!», entfuhr es Casey wie ein Schrei. «Das dürfen Sie nicht sagen. Er hat einmal einen Fehler gemacht. Das war vor langer, langer Zeit. Und er hat längst gebüßt dafür. Er musste ins Gefängnis und hat seine Zeit abgesessen. Haben Sie nie einen Fehler gemacht? Und überhaupt: Warum sagen Sie das? Es geht hier nicht um meinen Vater, sondern um mich und Storm. Wir haben die Dressur- und Geländeprüfungen bestritten. Die Zeiten und Wertungen auf der Anzeigetafel sind unsere Leistungen. Das ist unser Leben. Und das ist alles, was hier zählt.»

Doch die Funktionäre ließen sie stehen und marschierten mit der Trophäe davon. Die Tribünen hatten sich beinahe vollständig geleert. Die wenigen verbleibenden Zuschauer warfen ihr über die Schulter letzte scheele Blicke zu.

«Wir haben gewonnen», rief Casey protestierend. Tränen liefen ihr über das Gesicht. «Wir haben gewonnen! Alle wissen das!»

Ein lautes Hämmern riss sie aus dem Schlaf. Sie blieb bewegungslos liegen und versuchte, Wirklichkeit und Albtraum voneinander zu trennen. Hatten sie und Storm Badminton gewonnen oder nicht? Natürlich! Sie war um Mitternacht nach der Siegesfeier ins Bett gegangen und erschöpft eingeschlafen. Die Siegertrophäe stand inmitten von leer getrunkenen Champagnergläsern auf dem Küchentisch.

Erleichtert ließ sie sich in die Kissen zurückfallen. Sie lächelte. Vor ihr lagen nur schöne Dinge. An allererster Stelle das Kentucky Three Day Event, für das sie als Siegerin von Badminton automatisch qualifiziert war: Das war nach dem schönsten Tag ihres Lebens das Tüpfelchen auf dem i gewesen.

Wieder hämmerte es, und diesmal klickten bald darauf die Lichtschalter, und Treppenstufen knarrten unter hastigen Schritten. Doch Casey rührte sich immer noch nicht. Draußen war es noch völlig dunkel. Der Wecker zeigte 03:46 Uhr. Selbst wenn heute Turniertag gewesen wäre, hätte sie es gehasst, so früh aufzustehen.

Außerdem waren genügend andere Leute im Haus. Ihr Vater war ebenso ein Frühaufsteher wie Peter, Storms Hufschmied und ihr … Freund. Sie musste sich erst noch an dieses Wort gewöhnen. Denn seit gestern war er ihr Freund. Und da war auch noch Angelica Smith, ihre dreiundsechzigjährige Trainerin, die unter Schlaflosigkeit litt und nachts ohnehin mehr Zeit damit verbrachte, Chai-Tee zu trinken als zu schlafen.

Aus der Küche drangen Stimmen nach oben. Erst waren sie gedämpft, nach und nach wurden sie immer lauter. Dann kamen Schritte die Treppe herauf. Durch die Tür hörte sie Peters Stimme: «Casey, bist du wach?»

Sie setzte sich auf und wischte sich das Haar aus der Stirn. «Dreimal darfst du raten.»

Peter öffnete die Tür. Licht drang ins Zimmer. Er hatte das Hemd nicht zugeknöpft, sodass Casey einen Blick auf seinen gebräunten Waschbrettbauch erhaschen konnte. Trotz der frühen Stunde spürte sie Schmetterlinge im Bauch.

Sie erinnerte sich an den Vorabend und errötete. Er hatte sie geküsst und gesagt, dass er sie liebe. Doch heute Morgen sprach aus seinen Augen nicht Liebe, sondern Besorgnis.

«Was ist los?», fragte sie. «Schon wieder der Bauer? Es scheint ihm Spaß zu machen, uns vor Tau und Tag aus dem Bett zu holen. Oder ist es Morag mit einem Fohlenproblem?»

«Casey, du solltest dich anziehen und runterkommen. Es ist die Polizei.»

«Die Polizei?» Plötzlich war Casey hellwach. «Warum? Ist etwas mit Storm? Bitte sag mir nicht, dass er entführt wurde.»

«Nein, Casey, die Polizei ist wegen deinem Vater da. Du musst rasch runterkommen.» Sagte es und stürmte wieder die Treppe hinab.

Voller Panik sprang sie aus dem Bett und schlüpfte hastig in ihre Jeans. Ihre Hände zitterten, als sie sie zuknöpfte. Vor lauter Aufregung zog sie sich den Pullover verkehrt herum an. Tausende von Gedanken jagten durch ihren Kopf.

Sie war vierzehn gewesen, als Roland Blue wegen Einbruchs und Körperverletzung verhaftet worden war. Dass er eigentlich keiner Fliege etwas zuleide tun konnte, hatte die Sache nur noch schlimmer gemacht. Der Vater, den sie kannte, war immer nur liebevoll, lustig und herzlich gewesen. Vor Gericht hatten ihn seine Freunde und ehemaligen Arbeitgeber samt und sonders als ehrlich und loyal bezeichnet.

Aber er strotzte nicht gerade vor Selbstvertrauen und ließ sich leicht übertölpeln. Er sah immer nur das Gute in den Menschen, mit denen er zu tun hatte. Leider stand diesem durchaus positiven Wesenszug kein kritisches Urteilsvermögen entgegen.

Ein paar Jahre zuvor war er in schlechte Gesellschaft geraten. Man hatte ihm eingeredet, ein Multimillionär könne ohne Weiteres auf ein paar Tausender verzichten. Leider aber zog ausgerechnet er dem Millionär eine Lampe über den Schädel, nachdem dieser aufgewacht und mit einem Schürhaken auf ihn losgegangen war. Genau in dem Augenblick tauchte die Polizei auf. Seine Komplizen hatten längst das Weite gesucht, als es brenzlig geworden war.

Weil Roland sich geweigert hatte, seine Kumpel zu verpfeifen, wurde ihm vom Gericht die gesamte Strafe – achtzehn Monate Gefängnis – aufgebrummt.

Seither hatte er sich nichts mehr zu Schulden kommen lassen. Nach einer Ausbildung zum Schneider ging er in seinem neuen Beruf völlig auf. Mit großer Hingabe hatte er für Casey einen Frack geschneidert und ihn ihr zusammen mit einem Zylinder zur Dressurprüfung in Badminton geschenkt. Schulterpartie und Ärmelaufschläge bestickte er mit einem kunstvollen Rosenmotiv, um sie an ihre Mutter zu erinnern, die Casey im Alter von nur zwei Jahren verloren hatte. Rosen waren die Lieblingsblumen ihrer Mutter gewesen. Casey, die ihren Vater trotz all seiner Fehler über alles liebte, war über alle Maßen stolz auf ihn.

Doch was nun?

Sie polterte die Treppe hinunter und platzte in die Küche. Was sie sah, erschien ihr wie ein lebendes Gemälde mit eingefrorenen Figuren.

Mrs Smith stand in ihrem alten seidenen Morgenmantel gegen den Gusseisenherd gelehnt; aus ihren Augen sprach nackte Wut. Und genau das machte Casey am meisten Angst, denn es gab kaum etwas, das Mrs Smith aus dem Gleichgewicht bringen konnte. Neben ihr stand Peter. Er wollte gerade einen Schritt vorwärts machen, da hielt ihn Mrs Smith mit einer leisen Bemerkung zurück.

Ihrem Vater gegenüber saß am Tisch, auf dem immer noch die Badminton-Trophäe stand, ein massiger Mann mit bläulich-schwarzem Haar. Sein Gesicht war von Pockennarben übersät, und er hatte ein ausladendes Mehrfachkinn. Eine seltsame, düstere Anziehungskraft ging von seiner ganzen unbeweglichen Gestalt aus. Er ließ kurz seine Augen über Casey schweifen, als sei sie ein Kühlschrank oder sonst ein Küchenmöbel. Dann nahm er wieder ihren Vater ins Visier, der dieselben zerknitterten Kleider trug wie am Vorabend.

Roland Blue war von zwei Männern flankiert. Der eine war schwarz und sportlich, der andere – ein Mittfünfziger – klein und stämmig, hatte eine ungepflegte Pilzkopffrisur und kaffeebraune Augen. Seine blasse Hautfarbe war typisch für einen Mann, der zu wenig schlief und zu viel Koffein und Fastfood konsumierte. Aber sein konzentrierter Blick verriet eine gute Portion Intelligenz.

«Kriminalinspektor Lenny McLeod», sagte er und streckte ihr die Hand entgegen. «Das hier sind meine Kollegen, Wachtmeister Dex Higgins (dabei deutete er auf den schwarzen Polizisten) und Hauptkommissar Bill Grady. Sie sind bestimmt Casey. Bitte entschuldigen Sie die Störung, aber die Sache duldete keinen Aufschub.»

Casey ließ seine Hand in der Luft hängen. Eigentlich wollte sie zu ihrem Vater eilen, aber die Haltung der beiden Polizisten hielt sie davon ab. «Was geht hier vor?», fragte sie energisch. «Welche Sache? Und warum duldet sie keinen Aufschub? Lassen Sie meinen Vater in Ruhe. Er hat nichts verbrochen.»

«Darüber muss der Richter entscheiden», warf Grady ein. «Wir haben jede Menge Beweise für das Gegenteil.»

Roland Blue gab ein trockenes Lachen von sich. «Das ist eine Lüge. Was soll dieses Material beweisen? Ich bin in ungekündigter Stellung als Schneider erwerbstätig und ansonsten ein Musterbürger. Was haben sie mir vorzuwerfen? Habe ich vielleicht in der Hackney High Street einen Kaugummi auf den Bürgersteig gespuckt?»

Higgins legte die Stirn in Falten. «Nein, es ist schon eine etwas ernsthaftere Sache.»

«Ein Knöllchen vielleicht? Nein, ganz ernst jetzt. Wenn Sie eine Referenz brauchen, sprechen Sie doch bitte mit meinem Arbeitgeber Ravi Singh. Er wird Ihnen sagen …»

«Das haben wir bereits getan, Mr Blue. Können Sie uns sagen, wo Sie sich am 27. April zwischen Mitternacht und 01:15 Uhr aufgehalten haben?»

Ein Schauer durchfuhr Casey, als würde sie von einem kalten Winternebel umhüllt, der sie bis ins Knochenmark erstarren ließ.

«Ich war zu Hause in meiner Wohnung, 414 Redwing Tower. Sprechen Sie mit Ravi. Wir beide haben zwei Nächte durchgearbeitet, um eine Reitjacke für Casey fertigzustellen. Ich kann sie Ihnen gerne zeigen.»

«Mr Singh hat in der Tat bestätigt, dass er am 26. bei Ihnen war», sagte McLeod. «Allerdings habe er ihre Wohnung kurz vor Mitternacht verlassen, als er zu müde war zum Weiterarbeiten. Sie sollen ihn ermuntert haben, nach Hause zu gehen, da er dringend Schlaf benötigte.»

«Meine Herren, ohne Anwesenheit eines Anwalts muss dieses Gespräch sofort abgebrochen werden», mischte sich Mrs Smith ein. «Ich glaube, wir haben mehr als genug gehört. Und ich denke, es ist Zeit, dass Sie gehen, bevor Sie hier noch mehr Unruhe stiften.»

Roland lächelte. «Besten Dank, Mrs Smith. Aber ich habe nichts zu verbergen.» Zu den Polizisten gewandt, fügte er hinzu: «Und wenn ich ihm geraten habe, nach Hause zu gehen? Ist es verboten, einem Freund zu sagen, er soll jetzt lieber schlafen gehen?»

«Nein, aber uns geht es eher um einen Überfall auf ein Lagerhaus, der in den frühen Morgenstunden stattfand, als Sie allein waren», sagte Grady. «Bei diesem Überfall wurden Schüsse auf einen Wachmann abgegeben. Gestern ist er seinen Verletzungen erlegen. Seither ermitteln wir in einer Mordsache.»

Roland wurde leichenblass.

Casey stieß einen Schrei aus und stürzte auf ihren Vater zu. Doch Higgins hielt sie am Arm zurück.

«Lassen Sie sie sofort los», herrschte ihn Peter an.

Grady drehte sich zu ihm um. «Eine Bewegung, mein Junge, und du landest in einer Haftzelle, bevor du weißt, wie dir geschieht. Du bleibst jetzt ganz ruhig, wo du bist, und machst keinen Pieps, verstanden?»

Mit bösem Blick sagte Mrs Smith: «Sie wissen ganz genau, dass Mr Blue das Recht auf einen Anwalt hat, Herr Hauptkommissar, und auf eine respektvolle Behandlung!»

Grady stemmte sich hoch und warf ein Blatt Papier auf den Tisch. «Klar, Sie dürfen alle Anwälte dieser Welt rufen, aber für den Moment hat unser Haftbefehl Vorrang. Und was die respektvolle Behandlung angeht, so sparen wir uns die für jene auf, die sie verdienen. Dex, lesen Sie Mr Blue bitte seine Rechte vor.»

McLeod bedachte Casey mit einem warnenden Blick und schob sie in Peters Richtung.

Darauf verkündete Wachtmeister Higgins: «Roland James Blue, ich verhafte Sie wegen Verdachts auf Mord. Sie haben das Recht zu schweigen, aber ich mache Sie darauf aufmerksam, dass eine Aussageverweigerung später gegen Sie verwendet werden kann. Alles, was Sie sagen, kann oder wird vor Gericht …»

«Was soll das? Ich glaub’, ich bin im falschen Film. Ich bin der falsche Mann. Casey, du glaubst mir doch? Ich bin unschuldig.»

«Natürlich glaube ich dir, Dad. Das ist alles eine schreckliche Verwechslung. Wir stellen das richtig. Das versprech’ ich dir.»

«Auf jeden Fall», bekräftigte Mrs Smith.

«So, jetzt haben wir aber genug Zeit verschwendet», knurrte Grady. «Dex, legen Sie ihm Handschellen an, und dann ab in die Zelle, wo er auch hingehört.» Dann schob er Higgins und Blue in die Dunkelheit hinaus.

Casey ließ die Schultern hängen. Auf einmal fiel ihr ganzes Leben wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

Im Vorbeigehen deutete McLeod auf die Trophäe. «Ich habe in den Nachrichten gehört, dass du gestern bei den Badminton Horse Trials gesiegt hast. Als jüngste Reiterin in der Geschichte des Turniers. Hut ab, das ist eine tolle Leistung. Es tut mir leid, dass dir diese Sache die Freude darüber verdirbt. Ich hoffe, du verstehst, dass wir nur unsere Pflicht tun. Und … äh … herzlichen Glückwunsch!»

Die Tür knallte ins Schloss. Ein Motor heulte auf. Und weg waren sie.

2

Casey beugte sich so tief über Storms Hals, dass seine Mähnenhaare sie im Gesicht kitzelten. Schneller, drängte sie ihn. Schneller.

Sie wusste nur zu genau, dass es kaum etwas Dümmeres gab, als Storm knapp zwei Tage nach Badminton über ein vom Regen seifig gewordenes Terrain zu jagen, aber sie wollte so lange galoppieren, bis die Erlebnisse des letzten Tages in ihrem Kopf so verschwommen waren wie die regnerische Landschaft in ihren Augen.

Sie hatte ihren Vater erst am Montagnachmittag erreicht. Zuvor hatte man ihn vierundzwanzig Stunden zum Verhör festgehalten. Seine Worte hallten in ihren Ohren nach.

«Du fliegst nach Kentucky, das ist ein Befehl», hatte er ihr über eine rauschende Telefonverbindung aus einer Londoner Polizeiwache gesagt. «Ist doch klar, dass du dir mit einem Sieg in Kentucky die Chance auf den Grand Slam eröffnest. Du musst dann nur noch die Burghley Horse Trials gewinnen, um in die Geschichte einzugehen, Casey Blue.»

Ihr Blut war in Wallung geraten. Wie konnte er nur so etwas sagen? Wie konnte er überhaupt daran denken? Was zählte ein sportlicher Erfolg schon, wenn ihr Vater wegen eines Verbrechens, das er nicht begangen hatte, hinter Gittern saß?

«Haben Sie das gehört?», hatte sie hinter vorgehaltener Hand Mrs Smith gefragt, die das Gespräch über den eingeschalteten Lautsprecher mit verfolgte. «Vor knapp einer Stunde wurde Dad wegen Totschlags angeklagt, doch er will, dass ich das alles vergesse, in die USA fliege und beim Kentucky Three Day Event mitreite. Wenn man ihn so hört, könnte man meinen, eine Falschanklage wegen Totschlags sei für ihn nichts Schlimmeres als eine hundsgewöhnliche Erkältung.»

«Hallo, bist du noch dran?», war die Stimme ihres Vaters durch die Leitung gekommen. Er klang erschöpft. «Und ja, ich will, dass du nach Kentucky fliegst.»

Mrs Smith hatte den Kopf geschüttelt. «Roland, das ist wirklich Unsinn. Sie können doch nicht ernsthaft davon ausgehen, dass wir in dieser Situation, wo wir Ihnen hier beistehen und Ihre Unschuld beweisen sollten, zu einem Turnier in die USA reisen. Wenn wir Sie diesem Grünschnabel von einem Anwalt überlassen, den man Ihnen zugewiesen hat, sind Sie erledigt.»

«Dad», hatte Casey ihn angefleht, «sei bitte vernünftig.»

«Casey, es bleibt mir nur noch eine Minute Sprechzeit an diesem Telefon. Hör mir also gut zu. Ich habe keine Ahnung, wer mir diese Sache angehängt hat oder wer dahintersteckt, aber es sieht nicht gut aus für mich. Die Polizei hat jede Menge Beweise. Natürlich sind sie alle falsch und manipuliert, aber sie lassen sich auch nicht über Nacht widerlegen. Das braucht Zeit. Und du hast diese Zeit nicht. Kentucky findet in dreieinhalb Wochen statt. Deshalb will ich, dass du mir jetzt versprichst, in die USA zu fliegen, und dass du diese ganze Sache hier vergisst und dein Bestes gibst. Mein eigensinniges und törichtes Verhalten hätten dir beinahe den Start in Badminton gekostet. So was darf nicht noch mal passieren.»

Und dann fing es an, in der Telefonleitung zu piepsen.

«Du musst mir versprechen, Casey …»

«Dad, bist du noch dran? Warten wir doch die Kautionsverhandlung von morgen ab, Dad. Wenn der Richter auch nur einen Funken Vernunft hat, lässt er dich gegen Kaution frei und …»

«Und wenn er es nicht tut?»

Es knackte, und die Leitung war tot.

«Schneller», spornte Casey Storm an. «Schneller.»

Storms Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Das Rennpferd in ihm wurde wach. Ein Platzregen hatte sein silbergraues Fell schwarz gefärbt, und seine geblähten Nüstern waren tiefrot. Er schoss nur so davon. Casey konnte sich mit knapper Not an seinem Hals festklammern. Der Wind pfiff in ihren Ohren.

Als sie mit einem Schlenker knapp das Gattertor passierten, das als Start des Geländeparcours von White Oaks galt, überkamen sie für einen Augenblick Zweifel. Was, wenn sie auf dem morastigen Boden ausrutschten?

Davon war bei Storm nichts zu spüren. Wild entschlossen steuerte er auf das erste Hindernis, einen halbhohen Baumstamm, zu und nahm es, als handle es sich um ein harmloses Bodenrick. Doch das zweite, eine an sich unproblematische Stange, streifte er prompt. Zuerst flog er unbeeindruckt weiter, scheute dann aber vor dem Wassergraben, um ihn schließlich mit einem unbeholfenen Satz zu überspringen, der Casey beinahe abgeworfen hätte.

Es hatte wieder zu regnen begonnen. Die Tropfen traktierten ihr Gesicht wie spitze Nadeln. Sie gab zwei halbe Paraden, doch Storm reagierte nicht. Er war offensichtlich erregt und wollte nur Tempo machen. Sein Gleichgewicht stimmte nicht, er galoppierte lang, kurz und auf der Vorhand. Die Durchlässigkeit, die sie in Badminton erreicht hatten, war wie verschwunden.

Dann ging es die Böschung hoch, mit einem kleinen Ausrutscher über die Kante und auf der anderen Seite voll in eine Pfütze. Caseys Magen fühlte sich vor lauter Anspannung bleischwer an. Doch Storms unaufhaltsamer Vorwärtsdrang hatte auch etwas Betäubendes.

Als sie über den Trakehnergraben flogen, wurde Casey blitzartig in die Schlussphase des Springreitens von Badminton zurückversetzt. Mitten im Sprung hatte sie sich da bei dem Wunsch ertappt, für immer mit Storm so in der Luft hängen zu bleiben – an diesem Ort der vollendeten Glückseligkeit. Frei von den Zwängen des Lebens und den Launen der Liebe. Frei von Ängsten, Abweisungen oder Verletzungen. Frei.

Seither waren keine zwei Tage vergangen. Doch sie fühlten sich an wie ein ganzes Leben.

Storm übersprang das nächste Hindernis, eine Hecke, mühelos und galoppierte weiter. Caseys tränende Augen juckten. Da vorne baute sich der Oxer vor ihnen auf. Viel zu schnell hielten sie auf ihn zu, doch Casey fehlte die Kraft, ihr Pferd zu zügeln. Storms Hufschläge hallten in ihren Ohren wider.

Sie zwang sich zu vollster Konzentration. Der Regen war stärker geworden und verschleierte ihren Blick auf den Parcours. Wenn sich Storm bloß nicht verletzte. Noch ein Sprung und dann würde sie es sein lassen. Noch ein Sprung und dann würde sie ihn in den Stall zurückbringen und die Zukunft ins Auge fassen, was immer sie auch bringen mochte.

Storm hetzte weiter über den Parcours, dass der Morast hinter ihm nur so aufspritzte. Wieder versuchte Casey, ihn zu beruhigen, doch Storm war nicht auf Empfang. Nun konzentrierte sie sich ganz darauf, Hände und Körper völlig still zu halten. Es brachte nichts, gegen ihn anzukämpfen. Schließlich würde sie ohnehin nur seine Mähne im Gesicht zu spüren bekommen.

Erschreckend rasch näherten sie sich nun dem Oxer. Nur keine Angst haben. Positives Denken ist der Schlüssel zum Erfolg beim Geländereiten. Beim Springreiten bewältigt Storm Hindernisse, die drei Mal so schwierig sind wie dieser Oxer.

Storm stellte die Ohren auf. Als habe er ihre Gedanken gelesen, wurde er langsamer. Aus dem Augenwinkel nahm Casey eine kleine Bewegung war. Sie drehte den Kopf.

Eine schwarze Gestalt sprang auf den Parcours.

Storm trat auf die Bremsen. Casey wurde aus dem Sattel katapultiert wie ein Kampfpilot auf einem Schleudersitz. Im Bruchteil einer Sekunde schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf: Wenn das bloß nicht böse endet. Dann spürte sie einen stechenden Schmerz in der Schulter, und alles wurde dunkel.

3

«Casey? Casey! Hörst du mich?»

Casey öffnete die Augen. Peter und Storm blickten auf sie herab. Regen tropfte von ihren Nasen auf sie herunter. Sie wusste nicht so richtig, wer von beiden besorgter dreinblickte. Kichernd sagte sie: «Meine Ohren funktionieren noch, also bin ich wohl nicht tot …»

Jetzt prasselten die Erinnerungen an die Ereignisse vor ihrem Sturz wieder auf sie ein. Sie versuchte, sich aufzurichten, doch ein höllischer Schmerz in ihrer Schulter hinderte sie daran. «Ist Storm verletzt? Oh, mein Gott, wenn er sich verletzt hat, werde ich mir das nie verzeihen. Ich bin ja so ein Dummkopf.»

Mit der Hand ihres heilen Arms griff sie nach den Nüstern ihres geliebten Pferdes und streichelte sie.

Mittlerweile war Peters sorgenvolle Miene einem Grinsen gewichen. Er umarmte sie, was sie zusammenzucken ließ. «Storm geht es gut. Ich habe ihn mehrmals durchgecheckt, während du im Land der Träume warst. Die Zügel sind gerissen, und er ist natürlich geschockt, aber vor allem scheint er sich um dich Sorgen zu machen. Da ist er in guter Gesellschaft. Casey, du hättest dir das Genick brechen können. Als ich mit dem Kombi hergefahren kam, habe ich …, habe ich gedacht …, du wärst …»

Und dann fügte er mit einer für ihn untypischen Heftigkeit hinzu: «Warum in aller Welt hast du keinen Helm getragen?»

Doch Casey hörte ihm nicht zu. Das Gesicht des Mannes in Schwarz, seine Horrorfratze, hatte sich aus ihrer Erinnerung zurückgemeldet. Sie zog sich an einem nassen Steigbügelriemen hoch. «Peter, hast du jemanden gesehen? Als du hergefahren bist, hast du einen völlig schwarz gekleideten Mann gesehen? Ist dir auf dem Hof irgendein Verdächtiger aufgefallen? Er hatte so ein … äh … schreckliches Gesicht. Er ist uns direkt über den Weg gelaufen, sodass Storm abrupt abbremsen musste. Das ist das Letzte, woran ich mich erinnere.»

«Keine Menschenseele. Mich erstaunt, dass du überhaupt etwas sehen konntest. Es regnete doch wie aus Kübeln. Bist du sicher, dass es keine optische Täuschung war? Vielleicht hast du eine Gehirnerschütterung und siehst Gespenster.»

«Vielleicht», sagte Casey unsicher.

Sie machten sich langsam auf den Weg zum Haus. Casey versuchte, die Messerstiche in ihrer Schulter zu ignorieren, aber ihr tat einfach alles weh. Peter hatte sie inständig gebeten, sie mit dem Auto zurückfahren zu dürfen. Doch davon hatte sie nichts wissen wollen, weil Storm dann allein zurückgeblieben wäre, bis eine der Helferinnen ihn hätte holen können. So führte Peter nun Storm mit der einen Hand und stützte Casey mit dem anderen Arm.

«Hat dir eigentlich schon jemand gesagt, dass du unheimlich stur bist?»

Casey quälte sich ein Lächeln ab und gab zurück: «Oh, das höre ich höchstens sieben Mal die Woche.»

Sie schmiegte sich an ihn. Sie waren beinahe zwei Jahre befreundet gewesen, bevor ihr Peter seine Gefühle gestanden hatte. Sie war ihm gegenüber immer noch sehr zurückhaltend, und doch brauchte sie seine Nähe. Peters positives Wesen war das pure Gegenteil der schlechten Energie, die von dem Monster ausgegangen war, das ihren Sturz herbeigeführt hatte. Ihr Unfall war kein Zufall gewesen. Davon war sie überzeugt. Der Mann in Schwarz hatte ihr direkt in die Augen geblickt, als er auf den Parcours getreten war.

Aber warum hatte er das getan? Und wer war er? Ein geistig verwirrter Wanderer? Ein Pferdehasser? Ein Stalker? Sie musste an Anna Sparks denken, die nichts unversucht gelassen hatte, sie in Badminton zu schlagen. Mittlerweile war sie vor einen Disziplinarausschuss zitiert worden und musste mit einer lebenslangen Sperre rechnen. Anna hatte viele ihrer schmutzigen Tricks von ihrem Stallburschen Raoul ausführen lassen. Vielleicht steckte Raoul auch hinter dieser Geschichte. Vielleicht wollten sie sich so an ihr rächen.

Es hatte jetzt aufgehört zu regnen. Goldene Dunstwolken hingen über den Feldern. In jeder anderen Situation hätte sich Casey über die romantische Stimmung gefreut. Doch nun suchte sie die Landschaft nur nach dem Mann in Schwarz ab. Eigentlich sollte sie mit Peter oder Mrs Smith darüber reden. Doch was würde es bringen? Es würde sie nur beunruhigen. Und dass sie der Polizei nicht vertrauen konnte, wusste sie ja schon.

Als sie den Hof erreichten, fühlte sie sich sicher. Morag schimpfte zwar mit ihr, weil sie keinen Helm getragen hatte, aber sonst kam sie mehr oder weniger ungeschoren davon. Gerade als sie dabei war, die Stalltür zu schließen, legte Peter seine Arme um sie. Wie er jetzt so auf sie herabblickte, wurde ihr zum hundertsten Mal klar, was für eine gute Ausstrahlung er hatte. Er war nicht schön im herkömmlichen Sinn, wie etwa ein Filmstar. Aber stark und gut. Und dann waren da noch seine schmachtenden dunklen Augen, die in Casey eine Sehnsucht weckten nach …

«Casey, ich hätte es nicht ausgehalten, wenn dir etwas zugestoßen wäre.»

Vielleicht wartete er ja darauf, dass sie ihm ihre Gefühle offenbarte, was sie bisher nicht getan hatte – zumindest nicht wortwörtlich.

Es war ihr innigster Wunsch, ihm zu gestehen: «Peter, ich liebe dich. Was immer geschehen mag, ich will nicht, dass die Verhaftung meines Vaters einen Keil zwischen uns treibt.» Aber irgendwie brachte sie die Worte nicht heraus. Sie waren zu egoistisch. Zu selbstsüchtig! Ihr Vater steckte in einem Polizeigefängnis, und sie hatte nur ihre dämliche Liebe im Kopf!

Und aus diesem Schuldgefühl brach es plötzlich aus ihr heraus: «Peter, wir sind jetzt knapp eineinhalb Tage zusammen, und du tust so, als wären wir längst verheiratet. Danke, dass du mich gerettet hast, aber du solltest dir deine Energie eher für meinen Vater aufsparen. Er braucht dich nötiger als ich.»

Jetzt ging bei Peter der Laden runter. «Klar. Bitte entschuldige. Ich glaube, Morag erwartet mich. Ich habe ihr gesagt, ich würde heute noch zwei ihrer Ponys beschlagen.»

Als sich seine Fußtritte über die Pflastersteine entfernten, durchfuhr Casey ein Schauer. Plötzlich fühlte sie sich sehr allein.

«Wenn du im Streckbett liegst, bist du eine große Hilfe für deinen Vater.» Das war alles, was Mrs Smith trocken sagte, als sie abends auf der Radiologie des Kreiskrankenhauses auf die Ergebnisse einer Computertomografie warteten, die der Notfallarzt veranlasst hatte, um zu ermitteln, ob sich Casey bei dem Sturz Kopfverletzungen zugezogen hatte.

«Ich weiß, ich bin ein Dummkopf», sagte Casey, die stechende Kopfschmerzen hatte. Die Schulter fühlte sich mittlerweile viel besser an, nachdem sie von einem Osteopathen wieder eingerenkt worden war. «Bitte glauben Sie mir, alle diese Vorwürfe habe ich mir schon selbst gemacht. Es tut mir leid. Und es wird auch ganz sicher nicht mehr passieren.»

«Das will ich dir geraten haben. Und sollte es doch wieder einmal passieren, dann bitte mit Helm», gab Mrs Smith nüchtern zurück.

Genau dazu hatte sie auch der Notfallarzt ermahnt, allerdings in dramatischeren Worten. Er hatte schwere Hirnverletzungen, Komazustände und düstere Statistiken an die Wand gemalt. Casey hatte nur schuldbewusst genickt. Was hätte es gebracht, ihm zu sagen, dass sie nie zuvor in ihrem Leben ohne Helm ausgeritten war und dass man ihr eigentlich mildernde Umstände zugestehen müsste?

Als sie eine Stunde später entlassen wurde und mit Mrs Smith über den düsteren Krankenhausparkplatz ging, sah sie wieder den Mann in Schwarz. Er sprach gerade – leicht von ihr abgewendet – mit einer Person in einem marineblauen Ford.

Caseys Puls schoss in die Höhe. «Schnell», sagte sie zu Mrs Smith, die nach dem Autoschlüssel kramte. «Schnell. Wir müssen nach Hause.»

Mit stoischer Gelassenheit stellte Mrs Smith ihre Handtasche auf der Kühlerhaube des Autos ab, um im Schein einer nahen Straßenlaterne nach dem Schlüssel zu suchen. «Weshalb diese plötzliche Hast?»

«Einfach so», sagte Casey und versuchte, die Tasche an sich zu reißen, um den Schlüssel selbst ausfindig zu machen. «Storm ist jetzt schon zu lange allein. Was, wenn er sich beim Sturz doch verletzt und jetzt Schwellungen oder Schmerzen hat …»

«Mrs Smith!», kam eine Stimme aus der Dunkelheit. «Ich habe ganz London nach Ihnen durchkämmt – ohne Erfolg. Und kaum bin ich in diesem entlegenen Winkel von Kent angekommen, wen treffe ich da? Sie! Bitte schenken Sie mir ein paar Minuten, Mrs Smith, ich muss mit Ihnen sprechen.»