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  • Herausgeber: DVA
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2011
Beschreibung

Die arabische Welt im Umbruch

Die arabische Welt ist im Umbruch. Nach Jahrhunderten der Unterdrückung wagen die arabischen Völker die Selbstbefreiung, fordern Demokratie und soziale Gerechtigkeit. Aber wie kam es, dass der Nahe Osten und Nordafrika so lange in Perspektivlosigkeit verharrten? Dass trotz Rohstoffreichtums die Staaten dieser Region meist unproduktiv sind und die Bevölkerung unter Armut und mangelnder Bildung leidet? Woran lag es, dass der Islam, der im Mittelalter mit Macht und Wissen glänzte, auf dem Weg in die Moderne gegenüber dem aufstrebenden Europa immer mehr zurückfiel und schließlich den Anschluss verpasste? Gemeinsam mit renommierten Experten blicken Spiegel-Autoren auf die bewegte Geschichte der arabischen Welt. Dabei verbinden sie die historische Analyse mit dem Blick auf die aktuellen Ereignisse zu einem Porträt dieser Region im Umbruch.

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Seitenzahl: 306

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Inhaltsverzeichnis

VORWORTTEIL I - URSPRÜNGE
Welt aus den Fugen»Glückliches Arabien«CHRONIK 853 V. CHR. BIS 2011 : GLANZ, KRIEGE UND KRISEN
TEIL II - GROSSMACHT ARABIEN
Die Macht der KalifenVersiegelte ZeitLicht aus dem OstenDerwisch für Dänemark
TEIL III - KOLONIALMÄCHTE
Glitzernde FassadeKollision der Kulturen»Der Muslim ist nicht fortschrittlich«Die Wurzel allen Übels
TEIL IV - VERPASSTECHANCEN
GESPALTENE FRONTMohammed und Herr CohenDer Fluch des ÖlsKarawane der MenschheitGestirn des OrientsBlutige AgendaBruder Führer
TEIL V - DER AUFBRUCH
»JETZT IST ES WIEDER UNSER LAND«Liga der LahmenImpulse vom KönigShowtime am MärtyrerplatzOase am TropfDas Märchen vom guten SultanDruckwelle des WandelsZwischen den Welten
ANHANGBuchempfehlungenAutorenverzeichnisDankPersonenregisterCopyright

VORWORT

Als sich im Frühjahr in Tunesien, Ägypten, Libyen, Syrien und im Jemen die lang aufgestaute Wut über Regierungsversagen und mangelnde Demokratie in Volksaufständen entlud, da leuchtete plötzlich das Bild einer neuen arabischen Welt am Horizont.

So lange präsentierten sich Arabien im Stillstand wie in einer versiegelten Zeit, so lange schienen die autokratischen Regime unangreifbar trotz eklatanter Missstände und Menschenrechtsverletzungen. Nun, endlich, gingen die Bürger auf die Straße und forderten Freiheit, bürgerliche Rechte und ihren Anteil am Wohlstand, in Ägypten und Tunesien verjagte die Protestbewegung sogar ihre korrupten Herrscher. Die Druckwelle des Wandels breitete sich fast über die ganze Region aus, die von Mauretanien in Westafrika bis in den Oman im Südosten der Arabischen Halbinsel reicht und von Syrien bis in den Sudan.

Arabien kämpft um seine Zukunft. So vieles liegt im Argen: Bei Fortschritt und Entwicklung hinken die Länder der Arabischen Liga mit rund 360 Millionen Einwohnern den anderen Teilen der Welt weit hinterher. Alle 22 arabischen Staaten zusammen schaffen noch nicht einmal das Bruttoinlandsprodukt eines einzelnen europäischen Landes, das von Italien – trotz ihres opulenten Ölreichtums. Rund ein Fünftel der Araber sind Analphabeten, Armut und Arbeitslosigkeit plagen breite Bevölkerungsschichten.

Wie wurde die arabische Welt zu dem, was sie heute ist? Wie kam es dazu, dass das arabisch-islamische Weltimperium, das einst auch Europa mit seinem Wissen und seiner Kultur befruchtete, derart ins Hintertreffen geriet und zurückfiel? Was ist die Geschichte der arabischen Welt? Dieses Buch schaut zurück in die bewegten Epochen dieser besonderen, fast 3000-jährigen historischen Entwicklung.

Die Geschichte beginnt, lange vor Christi Geburt, im Süden der Arabischen Halbinsel, als dort schon blühende Reiche herrschten und Kamelkarawanen entlang der berühmten Weihrauchstraße die Luxusgüter des Orients ins römische Imperium transportierten. Einem Triumphzug gleich einte der Prophet Mohammed die Araber unter dem Banner des Islam. Ihre Herrschaft erstreckte sich von Spanien bis Pakistan, doch das islamische Imperium scheiterte an Überdehnung und Glaubenskämpfen.

Über Jahrhunderte wurden die Araber nach dem Verfall ihrer Macht dann von fremden Regimen regiert: zunächst von osmanischen Sultanen, dann von christlichen Kolonialherren. Vor allem Briten und Franzosen teilten die arabische Welt unter sich auf; nach dem Ersten Weltkrieg entstand ein Naher Osten am Reißbrett des Westens.

Zwar gelang den arabischen Ländern nach 1945, manchen auch davor, der Sprung in die Unabhängigkeit, doch sie verpassten trotz einiger freiheitlicher Aufbruchbewegungen die Chancen des Neuanfangs. Autoritäre Regime entstanden mit Herrschern, die sich mittels Korruption und brutaler Unterdrückung jahrzehntelang an der Macht hielten. In diesem Buch werden Charismatiker wie der Ägypter Gamal Abd al-Nasser beschrieben, der vom Idol zum Diktator mutierte, Exzentriker wie Muammar al-Gaddafi, aber auch das ausgeklügelte Herrschaftssystem der strenggläubigen saudischen Königsdynastie. Das heikle Verhältnis zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn beleuchtet der israelische Historiker Tom Segev.

SPIEGEL-Korrespondenten haben Ägypten, Marokko und die Golfstaaten bereist und beschreiben in ihren Reportagen vor dem Hintergrund der Landesgeschichte den Widerstreit von Aufbruch und Stagnation. Alexander Smoltczyk schaute hinter die faszinierende Glitzerwelt von Dubai und Abu Dhabi. Juliane von Mittelstaedt hat im Oman den Realitätsgehalt des Märchens vom guten Sultan untersucht. In Marokko traf Helene Zuber viele junge Aktivisten, die ihrem Monarchen zwar Reformen abringen wollen, aber keineswegs seinen Sturz fordern. Im Libanon, den Autor Erich Follath seit Jahrzehnten kennt, erstickte der hoffnungsvolle Neustart der »Zedernrevolution« von 2005 im innenpolitischen Dauerkampf und im Würgegriff der Hisbollah.

Tatsächlich ist noch lange nicht entschieden, in welchem Maße die Selbstbefreiung der arabischen Welt gelingt. Syriens Präsident Baschar al-Assad hält sich – noch – mit brutaler militärischer Gewalt an der Macht, in Libyen steht das Regime des Muammar al-Gaddafi bei Drucklegung dieses Buches nach monatelanger Rebellion kurz vor dem Zusammenbruch. In Ägypten wiederum macht sich längst Frustration breit, seit auch die Armee, selbsternannter Garant des Übergangs, immer wieder zaudert oder gegen Demonstranten vorgeht; schwere Übergriffe gegen Christen haben Konflikte mit den religiösen Ultras angeheizt. »Demokratie ist kein plötzliches Paradies«, warnt der populäre ägyptische Schriftsteller und Regimekritiker Alaa al-Aswani in einem Gespräch.

Auch wenn der Ausgang des »arabischen Frühlings« ungewiss bleibt, so ist doch ein Prozess in Gang gesetzt, der vielleicht immer wieder gebremst werden kann, aber langfristig nicht mehr zu stoppen scheint. Ein neues, hochspannendes Kapitel in der langen Geschichte der Araber hat begonnen.

Hamburg, im August 2011 Annette Großbongardt, Norbert F. Pötzl

TEIL I

URSPRÜNGE

Welt aus den Fugen

Rückständig, zerstritten, unterdrückt – seit Jahrhunderten kommen die arabischen Länder nicht voran. Nun rebelliert das Volk, erringt Siege, doch etliche Regime schlagen zurück. Arabiens Zukunft bleibt ungewiss.

Von Bernhard Zand

Kairo, im Winter 2001. Wie seit Jahrzehnten zogen von den Stahlwerken in Helwan braune Schwaden herein, wie jeden Winter verbrannten die Bauern im Nildelta ihr Reisstroh, beißender Smog lag über der Stadt. Ochsenkarren hielten auf dem Nusha-Boulevard den Verkehr auf, vom Flughafen bis ins Zentrum stauten sich die Autos. Müllmänner kehrten den Sand auf die Straße, damit der Fahrtwind der Autos ihn am nächsten Morgen wieder auf den Gehsteig zurückblies – bevor der nächste Stau begann. Diese Stadt, dieser scheinbar unregierbare, irgendwo im letzten Jahrhundert steckengebliebene Moloch mit 16 Millionen Menschen sollte die Hauptstadt der arabischen Welt sein?

Auf eine Weise war sie das wohl: Kairo war die Hauptstadt des Immergleichen, in der die Beharrungskräfte stärker waren als jeder Ansatz zur Neuerung, das Zentrum einer Welt, die sich offenbar nie veränderte. Seit 20 Jahren regierte damals ein Mann das Land, dessen Amtsperioden sich so zuverlässig zu wiederholen schienen wie einst der Zyklus des Nilhochwassers. Die ägyptische Metropole war eine Hauptstadt des Stillstands.

Kairo, im Frühjahr 2011: Immer noch staut sich auf der Nusha der Verkehr, immer noch ziehen von Helwan die braunen Schwaden herein. Doch im Februar wurde Präsident Husni Mubarak zum Rücktritt getrieben, von seinem eigenen Volk; fast drei Jahrzehnte lang hatte er am Ende regiert, fast zwei Drittel der Ägypter erlebten nie einen anderen Staatschef als den Mann, den sie den »Pharao« nannten. Er zog sich mit seiner Familie in ein Refugium auf dem Sinai zurück. Hier, im milden Klima des Badeortes, wollte er seine letzten Tage verbringen.

Zwei Monate lang, einen Wimpernschlag gemessen an seiner Amtszeit, hat das Volk dies geduldet. Aber dann zog es wieder auf den Tahrir-Platz und verlangte, dass der abgesetzte Präsident zur Rechenschaft gezogen wird. Die vom Militär kontrollierte Übergangsregierung folgte dem Willen der Demonstranten: Mubarak wurde festgesetzt und verhört, seine Söhne landeten im Tora-Gefängnis vor den Toren von Kairo.

Dieselbe Regierung allerdings zeigte sich hilflos, als im Stadtteil Imbaba radikale Islamisten eine koptische Kirche in Brand setzten und zwölf Menschen getötet wurden, ja sie duldete, dass Soldaten junge Demonstrantinnen festnahmen, um in einer erniedrigenden Prozedur festzustellen, ob sie noch Jungfrauen seien.

Gibt es gleichwohl einen Zweifel daran, dass das einst so lethargische Kairo die Hauptstadt eines neuen Arabien ist? Kairo ist zum Zentrum einer Bewegung geworden, die in Tunesien begann, die ganze Region erfasste – und in immer mehr Ländern in immer andere Richtungen auseinanderzustieben scheint.

Von Marokko bis in den Oman, von Syrien bis in den Jemen erheben sich die Völker gegen ihre autokratischen Präsidenten, ihre Könige, Sultane und Militärdiktatoren. Zwei dieser Machthaber sind zurückgetreten, andere haben Zugeständnisse gemacht.

Etliche Despoten aber schlagen zurück: In Libyen und in Syrien bombardieren die Regime ihre eigene Bevölkerung, im Jemen sind seit Beginn der Proteste Hunderte ums Leben gekommen, in Bahrain haben sogar die Armeen der Nachbarstaaten eingegriffen, um den Aufstand niederzuschlagen. Selbst in Tunis, das sich als erste arabische Hauptstadt vom Autokraten befreite, foltert der alte Machtapparat weiter. Und in Kairo ist so offen wie überall in dieser aus den Fugen geratenen Region, ob der »arabische Frühling« die Hoffnungen der Menschen erfüllt oder ihre Ängste bestätigt.

Dass es auch nur so weit kommen würde, damit hatte seit Jahrzehnten niemand mehr gerechnet. »Zum ersten Mal in 1000 Jahren nehmen Araber ihr Schicksal selbst in die Hand«, sagt der amerikanische Publizist Fareed Zakaria. »Seit dem 11. Jahrhundert haben Mongolen, Perser und Türken Arabien kontrolliert. Im 19. Jahrhundert teilten die Europäer diesen Weltteil untereinander auf, und im Kalten Krieg waren es die Supermächte, welche ihre bevorzugten Regime unterstützten.« Auch wenn es zuvor schon Befreiungsbewegungen gab wie im Ägypten der zwanziger oder im Algerien der sechziger Jahre – erst die arabische Erhebung beende, so Zakaria, das Zeitalter der Fremdbestimmung und die Epoche jener, die nur kraft ihrer mächtigen Schutzherren an der Macht bleiben konnten.

So unabsehbar der Ausgang dieser Erhebung für die Herrschenden wie die Beherrschten ist – für Arabien ist es das Ende einer historischen Anomalie, der Ausbruch aus einer Jahrzehnte währenden Unmündigkeit, für die Arabiens Regime verantwortlich sind. Ihre Bilanz ist vernichtend. Nicht nur die Staaten der arabischen Welt traten ja unter schwierigen Bedingungen in das 20. Jahrhundert ein, das galt auch für Europa, Lateinamerika und viele asiatische Staaten. Doch von Schwarzafrika abgesehen, hat keine Weltregion so wenig aus ihren Möglichkeiten gemacht.

Die arabische Welt liegt heute in fast allen Parametern, mit denen Fortschritt, Entwicklung und Produktivität gemessen werden, hinter anderen Regionen zurück: Rund 20 Prozent der Araber sind Analphabeten, zwei Drittel davon sind Frauen, deren Lebenserwartung im Übrigen unter dem globalen Durchschnitt liegt. Alle 22 arabischen Staaten zusammen erzielen ein Bruttoinlandsprodukt, das niedriger ist als das von Italien.

In Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Kuwait, Ägypten, Syrien und Jordanien wurden zwischen 1986 und 2000 nur 367 Patente angemeldet; allein in Israel waren es in dieser Zeit 7652. Und jährlich werden fünfmal so viele Bücher ins Griechische übersetzt wie ins Arabische. Seit fast zehn Jahren sind diese Zahlen aus dem »Human Development Report« der Vereinten Nationen bekannt. Dass die arabischen Regierungen dagegen nichts unternommen haben, bezahlten sie in Tunesien, Ägypten und Libyen bereits mit ihrem Sturz.

Viele im Westen allerdings, die aus diesen Zahlen den Schluss zogen, die arabische Welt sei hoffnungslos an der Moderne gescheitert, stehen heute vor einer anderen Frage: Woher kommen die Hunderttausende junger Aktivisten, die mit Leidenschaft, Cleverness und Beharrlichkeit diese Revolution ins Werk gesetzt haben? Und was hat sich in den vergangenen Jahren verändert, dass eine Bewegung zustande kam, welche die scheinbar unüberwindbare Stagnation der arabischen Welt überwunden, scheinbar ewige Wahrheiten zertrümmert und scheinbar unantastbare Autokraten gestürzt hat?

Arabische Despoten: Saddam Hussein (Irak, um 1998),Zine el-Abidine Ben Ali (Tunesien, 2009), ...

Im Winter 2001 kam ich als Korrespondent nach Kairo. Eine der ersten Wendungen, die ich im ägyptischen Dialekt aufschnappte, war »ala tuul« – ein schlichter, täglich millionenfach gebrauchter, zur örtlichen und zeitlichen Orientierung in jeder Sprache unverzichtbarer Ausdruck. »Ala tuul« bedeutet »geradeaus«, »sofort«, »unverzüglich«. Muss ich zur Nilbrücke noch einmal abbiegen? »Nein, einfach die Straße runter, ala tuul.« Den Tee erst mit der Nachspeise oder sofort? »Ala tuul, jetzt gleich.«

Mit diesem neuerworbenen Begriff flog ich Anfang 2002 zum ersten Mal nach Bagdad. Die Iraker, damals noch von Saddam Hussein regiert und auf die ägyptischen Schwarzweißfilme im Staatsfernsehen angewiesen, lächelten, als ich ihnen mit »ala tuul« kam. Sie kannten den Ausdruck natürlich, aber sie verwendeten ihn nicht: »Wir sagen ›gubal‹ für geradeaus.«

Mit »gubal« versuchte ich es ein paar Wochen später in Beirut. Dort leben viele Schiiten, deren Prediger traditionell im Südirak studieren. »Gubal? Ah, du meinst doghri! Geradeaus!« Am Golf, erfuhr ich später in Bahrain, gebrauchen sie weder »gubal«, »ala tuul« noch »doghri«, dort sagen sie »siida«. Die Algerier verwenden das aus der französischen Besatzungszeit übriggebliebene »tout droit«, die Tunesier sagen »tawali«.

Im modernen Hocharabischen heißt die betreffende Wendung »ila l-amam«. Modernes Hocharabisch sprechen allerdings nur Sprachschüler, Fernseh- und Radiomoderatoren. In ihrer Alltagssprache haben die Araber keinen gemeinsamen Ausdruck für die einfachste, grundlegendste aller Richtungsangaben: geradeaus.

So lehrt das Beispiel eines einzigen Begriffs eine nachhaltige Lektion. Wenige Völker, die kulturell so vieles teilen, unterscheiden sich in ihren Redewendungen, aber auch in ihren Ressentiments, ihrem Weltbild so stark voneinander wie die Araber.

Als »tribes with flags«, Stämme mit Flaggen, werden sie vielfach bezeichnet. Was nach beduinischer Folklore klingt, ist in Wahrheit eine der historischen Ursachen für die arabische Malaise, welche die jungen Aktivisten in Tunis, Kairo, Manama und Sanaa heute überwinden wollen: die Selbstbezogenheit einzelner Clans. In nomadischer Vorzeit vielleicht ein Überlebensmechanismus, hat sie sich auf dem Weg in die Moderne als Fluch erwiesen.

Das Stammesdenken hat verhindert, dass aus den meisten arabischen Staaten, die im letzten Jahrhundert nach und nach die Unabhängigkeit erlangten, auch Nationen wurden. Im Irak, klagte etwa der von den Briten eingesetzte König Faisal 1931, gebe es gar »kein Volk, sondern eine unvorstellbare Masse von Menschen, jeder patriotischen Vorstellung abhold, getränkt von religiösen Absurditäten, durch keine Gemeinsamkeit verbunden, anfällig für die Anarchie«.

Husni Mubarak (Ägypten, Anfang 2011),Baschar al-Assad (Syrien, 2011)

An dieser Entwicklung war der Westen nicht unbeteiligt – und nicht alle Verschwörungstheorien der arabischen Welt sind so absurd wie jene, die sich um die Hintergründe der 9/11-Anschläge drehen, oder die Behauptung, hinter jedem bedeutenden Ereignis in der arabischen Welt stecke der israelische Geheimdienst.

Großbritannien und Frankreich, die in den Jahren 1915 bis 1925 die Grundlagen des modernen Nahen Ostens schufen, haben auf dem Gebiet des untergegangenen Osmanischen Reiches Grenzen gezogen, die ihren eigenen Interessen, nicht aber der Überlebensfähigkeit der so geschaffenen Staaten dienten. Die heutige Grenzlinie zwischen Syrien und dem Irak etwa geht auf ein Abkommen zurück, in dem Paris und London 1916 das Zweistromland und die Levante untereinander aufteilten. »Richtig behandelt«, schrieb der britische Geheimagent Thomas Edward Lawrence, der 1916 den arabischen Aufstand gegen die Osmanen entscheidend vorantrieb, würden die Araber »über das Stadium eines politischen Mosaiks nicht hinauswachsen, ein Gewebe kleiner, eifersüchtiger Fürstentümer, unfähig zum Zusammenhalt«.

Genau so ist es gekommen, und am Ergebnis krankt die Region bis heute: Nur zwei Staaten der arabischen Welt verfügen über eine stabile, gewachsene Identität: das 5000-jährige Ägypten, dessen stolze Erben ihre Besucher aus den Golfstaaten herablassend »Araber« nennen, weil deren Ahnen schließlich erst vor 1400 Jahren am Nil auftauchten – und Marokko, dessen Königshaus immerhin seit dem 17. Jahrhundert regiert und seine Abstammung auf den Propheten Mohammed zurückführt. Wie sehr es anderen Staaten an echter Staatlichkeit gebricht, erkennt man daran, wie aufdringlich etwa das junge »Haschemitische Königreich Jordanien« stets den Namen seiner alten Dynastie betont oder wie penetrant sich die Golf-Emirate Kuwait und Katar »Der Staat Kuwait« und »Der Staat Katar« nennen.

Welche fatalen Folgen die willkürliche Gründung von Staaten wie dem Libanon und dem Irak mit ihren tiefen ethnischen und konfessionellen Bruchlinien haben sollte, haben jahrelange Bürgerkriege dort blutig bewiesen. Ähnliche Konflikte könnten Libyen bevorstehen, noch schlechter ist die Prognose für den Jemen, dessen zahlreiche Krisen durch extreme Armut verschärft werden.

Die arabische Welt hat nie ernsthaft den Versuch unternommen, ihre Probleme gemeinsam zu lösen – nicht die krassen Wohlstandsunterschiede, nicht die Jugendarbeitslosigkeit, nicht die Benachteiligung der Frauen. Die Geschichte der Arabischen Liga bestätigt dieses Versagen eindrucksvoll.

Immer wieder schoben die Regime die Schuld an den Missständen dem Westen zu, am liebsten als imperialistische Verschwörung. Dass diese alten Feindbilder aber nicht mehr funktionieren, offenbarte sich etwa, als Syriens bedrängter Präsident Baschar al-Assad vergebens versuchte, die Proteste als Komplott des Auslands abzutun.

Schon die ersten Monate des Umsturzes zeigen eine neue Tendenz – die ihren Ursprung gewiss nicht erst im Januar 2011 hat, sondern auf eine grundlegende Erfahrung der Globalisierung zurückgeht. Die jungen Aktivisten in Kairo, Tunis, Amman und Aleppo kommunizieren längst über die Grenzen hinweg, welche von den Briten und Franzosen gezogen und von den Autokraten nachher so eifersüchtig bewacht wurden. Das bringt das Werkzeug ihrer Bewegung zwangsläufig mit sich: Twitter, Facebook und SMS-Nachrichten kennen keine geografischen Grenzen – und die kulturellen, über Jahrhunderte gewachsenen, scheinen sich allmählich aufzulösen: Für das Wort »geradeaus« hat sich in der panarabischen SMS-Sprache, welche die im lateinischen Alphabet nicht darstellbaren Laute des Arabischen mit Zahlen wiedergibt, ein ägyptischer Ausdruck durchgesetzt: » 3ALA TOOL«.

Nach dem Sturz von Saddam Hussein im April 2003 besuchte ich Alaa, den »Murafik«, den Aufpasser, den mir das Regime seinerzeit an die Seite gestellt hatte, zum ersten Mal zu Hause. Er hatte sich wie die meisten Iraker nach dem Ende der Zensur einen Stapel zuvor verbotener Filme besorgt, und als ich seine Wohnung betrat, lief dort eine Komödie mit dem Titel »al-Saïm«, »Der Führer«.

Ungläubig und befreit lachend saßen Alaa, seine Brüder, sein Vater und seine Mutter vor dem Fernseher und sahen sich diese Satire auf den arabischen Personenkult an. »Al-Saïm« persifliert den zackigen Auftritt und das pompöse Gehabe eines Mannes, in dem die Tunesier auf Anhieb Zine el-Abidine Ben Ali, die Ägypter Mubarak, die Libyer Muammar al-Gaddafi und die Iraker Saddam Hussein erkannten: seine schillernden Uniformen, seine wechselnden Launen, seine katzbuckelnden Hofschranzen – und seine lächerliche Berufung auf die vermeintliche Revolution, die ihn einst an die Macht brachte. »Wozu haben wir damals eigentlich eine Revolution gemacht?«, fragt im Film einer der Untergebenen den Führer. »Ich kann mich nicht mehr erinnern«, antwortet der. »Ich war auf dem Klo.«

So harmlos die Satire auf den westlichen Betrachter wirken mochte – bei den Irakern löste sie kathartische Wonne aus. Sie rechnete ab mit einem Herrschaftssystem, gegen das sich die Nordafrikaner, die Syrer und Jemeniten acht Jahre später erheben sollten: das als »Sozialistische« oder »Arabische Republik«, gar als »Volksmassenstaat« getarnte Regime, an dessen Spitze ein korrupter Despot stand, der sich nur mit Hilfe der Geheimpolizei an der Macht hielt.

Es waren diese Regime, welche die Entstehung eines bürgerlichen Selbstbewusstseins, einer Zivilgesellschaft jahrzehntelang unterdrückten. Es war der arabische Polizei- und Folterstaat, der die Bildung einer säkularen Opposition verhinderte und Zehntausende von Unzufriedenen dem militanten Islamismus zutrieb – weil die Moschee, ähnlich wie in den einstigen kommunistischen Diktaturen die Kirche, den einzigen Freiraum für Dissens bot.

Eines allerdings übersahen viele im Westen, welche diese zwar undemokratischen, aber vermeintlich stabilen Systeme einer Machtübernahme der Islamisten vorzogen: Sie waren nicht mehr stabil. Die meisten dieser Regime waren innen hohl und ihre Parteiapparate vielfach nur mehr Patronage-Netzwerke, die der ungerechten Verteilung der bescheidenen Staatseinkünfte zu ihren eigenen Gunsten dienten. Nun lösen sich politische, gar ideologische Loyalitäten.

Das galt auch im Irak, dem brutalsten der arabischen Regime. So klar er die Gefahr des islamistischen Extremismus erkannte, die seinem Land drohte – Alaa, der Aufpasser, hatte mir schon vor dem Irak-Krieg angedeutet, dass er und seine Kollegen, alles scheinbar treue Mitglieder der sozialistischen Baath-Partei, hofften, Saddam möge auf den Vorschlag des Scheichs von Abu Dhabi hören und ins Exil gehen.

Dass die arabische Welt auch auf einem anderen Feld in Bewegung geraten war, erfuhr ich im Frühjahr 2006. Ich war gerade aus dem Irak zurückgekehrt, wo der Konfessionskrieg zwischen Sunniten und Schiiten kurz vor seinem Höhepunkt stand: Mitunter kamen dort im Monat 3000 Menschen ums Leben. Nun saß ich am Schreibtisch von Abdullah al-Mulla, dem jungen Chef der »Dubai Media City«, um mich als Korrespondent zu akkreditieren. Mulla, in eine weiße, akkurat gebügelte Dischdascha gekleidet, stets in Eile, zählte mir die Dokumente auf, die ich ihm vorlegen sollte, und blätterte in seinem Kalender, um einen passenden Termin zu suchen.

»Dienstag, den 11. April«, sagte er, »hätte ich noch Zeit.« Seine Assistentin unterbrach ihn: »Dienstag ist aber der Geburtstag des Propheten.« Mulla stutzte. »Prophetengeburtstag? Haben wir den nicht verschoben?«

Es war eine beiläufige Bemerkung, die im Ägypten, im Libyen, im Saudi-Arabien jener Tage allerdings undenkbar schien. Im Irak ermordeten einander Sunniten und Schiiten – auch weil sie sich über so vermeintlich banale Dinge wie religiöse Feiertage nicht einig waren. Doch dieser Business-Scheich hatte in seiner Firma den Geburtstag des Propheten kurzerhand auf das folgende Wochenende verlegt. »Wozu die Arbeitswoche unterbrechen?«, fragte er. »Wir können doch auch am Freitag beten.«

Mullas Bemerkung machte deutlich, dass in manchen arabischen Staaten fünf Jahre nach dem 11. September eine Generation in den Hierarchien aufrückt, die, ohne areligiös zu sein, ein sehr pragmatisches Verhältnis zu ihrem Glauben hat, ja dass Religion und Innovation, Islam und Fortschritt kein grundsätzlicher Gegensatz sein musste.

Zu den wenigen, die diesen Wandel früh erkannten, gehörte die US-Journalistin Robin Wright, eine der besten Kennerinnen des Nahen Ostens. Sie war die Erste, welche die drei zentralen Begriffe des Umsturzes von 2011 – »Revolution«, »Jugend« und »Facebook« – in einer Reportage zusammenführte. Eine »sanfte Revolution« zeichne sich ab, schrieb sie schon 2009: Arabiens Jugend habe es satt, von 9/11 in Geiselhaft genommen zu werden. Stattdessen dränge sie auf mehr Bildung, Zugang zu moderner Technik und wirtschaftlicher Mobilität. Eine Generation habe sich auf den Weg gemacht, die »entschieden anti-dschihadistisch und ambivalent in ihrer Haltung zu islamistischen Parteien« sei.

Davon war 2006 noch wenig zu sehen, der Aufruhr um die dänischen Mohammed-Karikaturen lag erst wenige Monate zurück. Entschieden ist die religiöse Frage in der arabischen Welt auch heute nicht. Den Sieg über den militanten Dschihadismus auszurufen wäre verfrüht – auch wenn die Tötung Osama Bin Ladens und der bislang ausgebliebene Aufschrei der Empörung in der arabischen Welt eher auf ein Ende dieser Epoche hindeutet als auf eine neue Runde im blutigen Kulturkampf.

Aber die Gewichte haben sich verschoben. In den vergangenen zehn Jahren hatte es den Anschein, als habe die arabische Welt nur die Wahl zwischen den autoritären Regimen und dem politischen Islam. Doch diese von den Autokraten selbst forcierte und vom Westen übernommene »binäre Definition« des Nahen Ostens, so der »New York Times«-Kolumnist Roger Cohen, überzeugt nicht mehr.

Selbst fünf Monate nach Beginn des arabischen Frühlings zeichnet sich in keinem der betroffenen Länder eine Figur ab, die sich mit Ajatollah Ruhollah Chomeini messen könnte, der vor mehr als 30 Jahren die iranische Revolution inspirierte. Die islamistischen Bewegungen sind nur zögernd in den Umsturz gezogen. Und größer als die Gefahr, dass radikale Islamisten den Umsturz kapern, scheint im Augenblick die Beharrungskraft der alten Regime. Sie gehen in Libyen, Syrien und in Bahrain mit so brutalen Mitteln gegen die Protestbewegungen vor, dass diese Länder eher von einer Konterrevolution bedroht scheinen als von einem Durchmarsch der religiösen Fundamentalisten. Können die Machthaber in Tripolis, Damaskus und Manama das Ende ihrer Herrschaft mehr als hinauszögern, können sie es wirklich verhindern? Die Wurzeln des Aufstands scheinen längst tiefer zu reichen als die ihrer Systeme. Der Ausgang des Kampfes wird auch davon abhängen, wie groß die Ausdauer der Revolutionäre ist und wie stark der Widerstand der Seilschaften, die von den alten Systemen profitieren.

In Dubai und auch später in Deutschland waren mitunter die Töchter ägyptischer Freunde für ein paar Wochen bei uns zu Gast – vier junge Frauen, von denen sich zwei für das Kopftuch entschieden hatten, die beiden anderen dagegen. Batta, Rana, Omima und Amani redeten am liebsten über ihre Arbeit, ihr Studium und darüber, was ihnen in Dubai und in Deutschland so gefiel. Wenn die Sprache auf Ägypten kam, beklagten sie sich – über das mühsame Leben in Kairo, über die mangelnde Qualität ihrer Ausbildung, über ihre schlechten Berufsaussichten und die niedrigen Gehälter, die sie zu erwarten hätten. Wenn der Name des Mannes fiel, der zeit ihres Lebens für das System stand, in dem sie aufgewachsen waren, verdrehten sie die Augen: »Solange Mubarak da ist, wird sich an all dem nichts ändern.«

Vor allem Rana, die gerade ihr Medizinstudium abgeschlossen hatte, als sie nach Dubai kam, war frustriert. »Wie kommt es eigentlich, dass jeder, der Protektion von oben hat, ohne Mühe einen tollen Job bekommt«, fragte sie, »während ich für umgerechnet 30 Euro in der Notaufnahme schuften und froh sein muss, dass ich überhaupt Arbeit gefunden habe? Wie soll ich mit diesem Gehalt heiraten und eine Familie gründen?«

Nächtelang saß sie am Computer, um Bewerbungsschreiben für Kliniken in Dubai aufzusetzen – ohne Erfolg. Zu jung, schrieb man ihr zurück, zu wenig Erfahrung. Resigniert kehrte sie Ende 2008 nach Arisch auf dem Sinai zurück – wo sie noch heute für 30 Euro im Monat in der Notaufnahme schuftet.

Ranas Frust, daran besteht heute kein Zweifel, war das Grundgefühl, aus dem die Aufstände von 2011 entstanden. Denn sie teilte ihre Perspektivlosigkeit nicht nur mit Amani, die noch jahrelang auf eine Anstellung als Lehrerin warten sollte, mit deren Schwester Omima, die inzwischen mit ungewissen Aussichten Tourismus studiert, und mit Batta, die als Kindergärtnerin arbeitet. Sie teilte sie mit Millionen von jungen Arabern – und einem gewissen Mohammed Bouazizi, der sich am 17. Dezember 2010 im tunesischen Sidi Bouzid mit Benzin übergoss und sich das Leben nahm.

Aus welchen Gründen auch immer die arabische Welt die Moderne verschlafen hat – ob es der Tribalismus war, das Erbe der Kolonialzeit, der militante Islam, die brutalen Diktatoren oder die Schrecken des Bürgerkriegs: Am Ende aber war es eine soziale Revolution, eine Jugendbewegung, die Arabien aus dem Winterschlaf gerissen hat. Es war die Gesamtheit aller Schikanen und Erniedrigungen, welche die Bevölkerung einfach nicht mehr ertrug. Denn anders als ihre Eltern und Großeltern wissen und sehen die Jugendlichen in Bengasi und Manama, in Kairo, Tunis und Damaskus, wie ihre Zeitgenossen in Paris, in Sydney, in Los Angeles leben.

Der Schlaf der Regime ist vorüber, die Zeit der Unwissenheit ist vorbei – und die der ewigen Gewissheiten auch.

Als Arabien-Korrespondent des SPIEGEL lebte Bernhard Zand mit seiner Familie acht Jahre im Nahen Osten – zunächst in Kairo, dann im Emirat Dubai.

»Glückliches Arabien«

Die Weihrauchstraße ist eine der ältesten Handelsrouten der Welt, bei den Römern war das duftende Harz begehrt. Hier, zwischen Königreichen und Beduinenland, beginnt die Geschichte der arabischen Stämme.

Von Claudia Stodte

Der sagenhafte Reichtum des alten Arabien beruhte auf dem Kamel und zwei wohlgehüteten Geheimnissen: der Kenntnis der Monsunwinde und der Herkunft von Weihrauch und Myrrhe. Viele Jahrhunderte bevor die Griechen etwa um Christi Geburt den halbjährlichen Rhythmus des Monsuns im Indischen Ozean erkannten, kreuzten die Jemeniten bereits mit seiner Hilfe nach Indien, Südostasien und Ostafrika. Auf ihren hölzernen Segelschiffen brachten sie Pfeffer, Zimt, Edelsteine, Seide, Porzellan oder Sklaven in ihre Heimat.

In den Hafenstädten wurde die kostbare Fracht in die Packtaschen Hunderter Dromedare umgeladen, die als »Schiffe der Wüste« die nächsten Etappen des Fernhandels übernahmen. Neben Waren aus Indien und China schleppten sie auch zwei Luxusgüter aus Südarabien: Weihrauch und Myrrhe. So entstand die »Weihrauchstraße«, eine der ältesten Handelsrouten der Welt.

Das goldgelbe Harz, das beim Verglühen einen aromatischen Duft ausströmt, wurde überwiegend im heutigen Oman gewonnen. Im alten Ägypten, in Mesopotamien, Rom und Byzanz war es für religiöse Riten und als desinfizierendes Heilmittel heiß begehrt. Allein im babylonischen Baal-Tempel verbrannte man im 6. Jahrhundert v. Chr. alljährlich zweieinhalb Tonnen Weihrauch, berichtet der griechische Historiker Herodot.

Die Römer kauften das Harz nicht nur für kultische Zwecke: Mit seinem Duft versuchten sie den bestialischen Gestank in den Gassen der imperialen Hauptstadt zu überdecken. Fast ebenso begehrt war das Baumharz Myrrhe. Es war Bestandteil des heiligen Salböls, diente als Betäubungsmittel – oder der Verführung: Iranische und palästinensische Frauen räucherten damit ihre Kleider ein. Auch die »Heiligen Drei Könige« brachten dem Kind in der Krippe neben Gold die beiden luxuriösesten Wohlgerüche des Orients.

Die Hauptroute der Weihrauchstraße führte mehr als 3000 Kilometer durch den Westen der Arabischen Halbinsel bis nach Gaza ans Mittelmeer. Dromedare, seit dem 2. vorchristlichen Jahrtausend gezähmt, schleppten die Lasten auf wochenlangen Märschen. Das Rote Meer hielten die Jemeniten wegen seiner Riffe und Strömungen noch für unbefahrbar.

Um die 10 000 Lastkamele und etwa hundert Tagesmärsche benötigte man, um die rund 1500 Tonnen Weihrauchharz, die Rom jährlich verbrauchte, nach Gaza zu befördern. Der Karawanenführer, von den Römern »Praefectus deserti« genannt, hatte Zölle und Schutzgelder auszuhandeln. Die Kosten für diesen aufwendigen Transport waren enorm: Seefahrer, Karawanenführer, Kameltreiber, der bewaffnete Begleitschutz und Zwischenhändler mussten bezahlt werden. Die Händler in Rom oder Byzanz wussten wenig vom Ursprungsgebiet der Duftharze. Sie kannten nur die astronomischen Preise, vermuteten in Altsüdarabien sagenhaften Reichtum und nannten die Region »Arabia felix«, »glückliches Arabien«.

Hier, auf der riesigen Halbinsel, beginnt die Geschichte der Araber. Wie ein gigantisches Rechteck schiebt sich das Land zwischen den Mittelmeerraum und den Indischen Ozean. Es ist größer als der Indische Subkontinent und vom gebirgigen jemenitischen Hochland bis zu den Perlenmuschelbänken im Persischen Golf hin geneigt; das Gefälle beträgt über 3700 Meter. Jahrhundertelang war die Halbinsel Handelsbrücke und kulturelles Bindeglied zwischen Südostasien und Europa. Im fruchtbaren Südwesten entstanden in der Antike blühende Königreiche. Sie lebten von dem lukrativen Transithandel, der spätestens seit dem 8. Jahrhundert v. Chr. boomte. Niederschläge von über 500 Millimeter im Jahr sowie ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem sorgten für eine florierende Landwirtschaft.

Das berühmteste dieser Reiche war das Königreich von Saba mit seiner Hauptstadt Marib. Ob die vielzitierte Königin von Saba je gelebt hat (und wenn ja, ob im Jemen oder in Äthiopien), ist bis heute umstritten. Bei ihrem Besuch in Jerusalem soll die schöne Sabäerin König Salomo zentnerweise Gold, Balsam und Edelsteine geschenkt haben, heißt es im Alten Testament. Auch im Koran wird sie erwähnt, ebenso wie der berühmte Staudamm von Marib, der als größtes technisches Bauwerk und »Wunder von Arabien« galt.

Die sabäische Götterwelt orientierte sich an den Gestirnen. Der Mondgott war der höchste unter ihnen, dann folgten die Sonnengottheit Schams (noch im modernen Arabisch das Wort für Sonne) und der Venusgott Attar. Um die Götter günstig zu stimmen, wurden ihnen Tier- und Trankopfer dargebracht. Es ging um Buße und Reue – man flehte um Vergebung für Verfehlungen, auch um Gesundheit und eine reiche Ernte.

Als »Araber« verstanden sich die Träger dieser hochentwickelten Kultur nicht. Diesen Stempel drückten ihnen erst die Griechen um 500 v. Chr. auf: Seit der Umsegelung Arabiens durch einen Admiral Alexanders des Großen dehnten sie die geografische Bezeichnung »Arabien« auf die gesamte Halbinsel aus; damit wurden für sie auch die Bewohner Altsüdarabiens Araber. Der Begriff »Aribi« taucht erstmals in Inschriften aus dem 9. Jahrhundert auf – die Nachbarn Nordarabiens, wie Assyrer und Hebräer, bezeichneten damit die Nomaden, die auf ihren Kamelen den Assyrern als Hilfstruppen dienten. Auch im Alten Testament kommen Araber allgemein als »Wüstenbewohner« vor.

Den größten Teil der Halbinsel mit seinen riesigen Wüsten und Steppengebieten nannten die Römer »Arabia deserta«. In den nördlichen Wüstensteppen lebten semitische Nomaden, die ihren Unterhalt mit Viehhaltung, Pferdezucht und Raubzügen bestritten – im Arabischen heißen sie »Beduinen« (von arab. badija, »Wüste«). Landwirtschaft war nur in Oasen möglich. Bauern pflanzten dort Dattelpalmen, Pfirsich- und Zitronenbäume und bauten Getreide an. In den größeren Oasen entwickelte sich städtisches Leben mit Handwerk, Handel und regelmäßigen Märkten.

Die antike Gesellschaft Nordarabiens unterschied sich von der Altsüdarabiens: Hier existierten Stadtkultur, Landwirtschaft und Nomadentum in einer engen Wechselbeziehung. Die Nomaden lieferten Milch, Fleisch, Felle, Häute und Wolle, dazu Reit- und Lasttiere. Im Tausch erhielten sie Produkte des täglichen Bedarfs. In der Hierarchie der Beduinen standen die Kamelnomaden und Pferdezüchter an der Spitze. Sie blickten auf die sesshaften Bauern und Städter herab und priesen ihre Ideale: Ehre, Stolz, Freiheitsliebe und Gastfreundschaft. »Die Sesshaften sind in ihrem Wohlleben erschlafft, ihr Charakter ist verdorben; bei den bescheiden lebenden Beduinen dagegen haben sich Tugend und Manneszucht erhalten«, schreibt noch Ibn Chaldun, der große arabische Historiker des 14. Jahrhunderts.

Vor allem in Krisenzeiten kam es zu handfesten Konflikten: Bei Dürren oder politischen Wirren griffen die Nomaden die sesshafte Bevölkerung an oder überfielen Handelskarawanen – das Wort »Razzia« stammt aus dem Arabischen. Die Oasenbauern ihrerseits versuchten oft, ihre Anbaugebiete auf Kosten der Nomaden zu erweitern.

Sowohl die Beduinen als auch die Städter und Bauern waren in Stämmen organisiert, die sich aus Familien und Clans zusammensetzten. Ein Stamm konnte einige Hundert bis zu vielen Tausend Menschen umfassen. Verbunden fühlten sie sich durch den gleichen arabischen Dialekt und durch ihre gemeinsame Abstammung, die sie auf einen oft legendären Stammvater zurückführten. Zentral für den Zusammenhalt eines Stammes waren jedoch die wirtschaftlichen Interessen. Der Scheich führte den Stamm, bei Streitigkeiten bemühte man oft geachtete Männer als Schlichter: Auch der Prophet Mohammed übernahm diese Rolle, als er in die Oasenstadt Jathrib (Medina) übersiedelte.

Nur selten schlossen sich arabische Stämme zu größeren und dauerhaften Bündnissen zusammen. Eine Ausnahme war das Königreich der Nabatäer, deren Hauptstadt Petra zu großer Blüte gelangte. Sie beherrschten den Fernhandel von Ägypten bis zum Zweistromland – bis das Reich 106 n. Chr. zur römischen Provinz »Arabia Petraea« wurde. Auch der Stamm der Kinda konnte für zwei Jahrhunderte im heutigen Saudi-Arabien ein Nomadenkönigreich errichten, das bis 528 n. Chr. bestand.

Der Grabtempel al-Dair, etwas außerhalb des Zentrums von Petra, ist heute Teil des Unesco-Weltkulturerbes.

Das Recht orientierte sich in Nordarabien am »Brauch der Väter« (arab. Sunna). Es war nicht religiös begründet, so die Berliner Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer: »Das Recht beruhte auf dem Grundsatz von Schädigung und Entschädigung, sprich: Vergeltung, Blutrache und Blutgeld.« Eine übergeordnete Obrigkeit gab es nicht – der Einzelne war auf den Schutz der Familie oder des Clans angewiesen. In ihrer überaus reichhaltigen Sprache mit einer Vielzahl an Dialekten sieht Krämer die »größte kulturelle Leistung der vorislamischen Araber«.

Von der Religion der Beduinen und Oasenbauern ist, anders als in Altsüdarabien, wenig bekannt. Sie beschränkte sich wohl auf die Verehrung von heiligen Steinen und Bäumen, die man als Verkörperungen männlicher und weiblicher Naturgottheiten auffasste. Wesentlich war der Glaube an Geister und Dämonen (arab. Dschinn). Wahrsager versuchten, mit dem Losorakel die Zukunft zu deuten.

Seit dem 1. Jahrhundert n. Chr., vor allem aber im 4. Jahrhundert, ließen sich Juden und Christen auf der Halbinsel nieder, eingewandert über Syrien oder Äthiopien. Größere jüdische Gemeinden entstanden, in Medina herrschten Juden sogar zeitweise über die Araber. Einige arabische Stämme traten zum Christentum über, im Süden verbreitete sich die Religion stark im Königreich Himjar, das dem Reich der Sabäer folgte.

Der Niedergang des einst so glänzenden Altsüdarabien hatte da bereits begonnen. Die Entdeckung der Monsunwinde sowie die ptolemäisch-ägyptische Erschließung des Seeweges durch das Rote Meer hatten das jemenitische Handelsmonopol beendet und den Verfall der alten Hochkulturen eingeleitet. Ende des 6. Jahrhunderts, so der Berner Alttestamentler Axel Ernst Knauf, brach die altsüdarabische Zivilisation gänzlich zusammen, der Jemen wurde nun von nordarabischen Beduinen »arabisiert«. Mekka stieg neben Jathrib zur bedeutendsten Handelsstadt der Halbinsel auf, zentral auch als Wallfahrtsort mit der Kaaba, an der Hunderte von Götterstatuen aufgestellt waren; verehrt wurden auch drei weibliche Gottheiten.

Längst strahlten nun im Norden glanzvolle Reiche, vor allem das der Lachmiden mit der Hauptstadt Hira im heutigen Südirak, das von christlichen Nestorianern und iranischen Mazdaisten geprägt war. Hier entwickelte sich vom 4. Jahrhundert an eine Frühform der arabischen Schrift, hier lag auch ein Zentrum altarabischer Dichtkunst. Die am höchsten geschätzte Gedichtform war die Ode, die stets mündlich vorgetragen wurde. Die Dichter priesen das beduinische Leben, die Solidarität und Tapferkeit ihres Stammes, besangen die Vergänglichkeit.

Beduinen wie Städter liebten die Poesie, und die altarabische Dichtung wurde zu dem einheitsstiftenden Element Arabiens. Erst durch sie bildete sich im 3. und 4. Jahrhundert eine gemeinsame nordarabische Hochsprache heraus – und das unbestimmte Gefühl einer arabischen Einheit. Der lachmidische König Imru al-Kais war der Erste, der sich 323 n. Chr. selbst als »Araber« bezeichnete: Seine Grabinschrift preist ihn als »König aller Araber«. Doch erst der Islam sollte die heterogene Bevölkerung Arabiens einen – sowie den Sieg über die angrenzenden Großmächte Byzanz und Sasanidenreich erringen, denen es nie gelungen war, in Arabia Fuß zu fassen.

CHRONIK 853 V. CHR. BIS 2011 : GLANZ, KRIEGE UND KRISEN

853 v. Chr.

Erste Erwähnung von Arabern in einer Inschrift

168 v. Chr.

Die Nabatäer, ein Verbund nordwestarabischer Nomadenstämme, bilden ein Königreich mit der Hauptstadt Petra.

622

Aus Mekka verjagt, gründet Mohammed in Jathrib (Medina) das erste islamische Gemeinwesen.

632

Mohammed stirbt, nachdem er die traditionell verfeindeten Stämme Arabiens erstmals geeint hat – im Namen des Islam.

634 – 644

Unter dem zweiten Kalifen erobern die Araber riesige Gebiete.

661

Von Syrien aus übernimmt die Dynastie der Umajjaden die Macht im arabisch-islamischen Reich.

711

Die arabische Expansion erreicht Spanien.

750

Die Abbasiden-Revolution ethnischer Minoritäten und nichtprivilegierter Araber stürzt die Umajjaden.

813 – 833

In Bagdad blühen Wissenschaft und Kultur.

973

Schiitische Fatimiden machen Kairo zur Hauptstadt.

1099

Christliche Kreuzfahrer fallen in Jerusalem ein, das unter der Herrschaft der Fatimiden steht.

1187

Sultan Saladin erobert Jerusalem zurück.

1258

Die Mongolen verwüsten Bagdad, Ende des abbasidischen Kalifats.

1260

Nach ihrem Sieg über die Mongolen herrschen die Mamluken-Sultane offiziell im arabischen Reich.

1517

Die Osmanen erobern Syrien und Ägypten, zerschlagen das Mamluken-Sultanat.

1798

Napoleon in Ägypten

1830

Die Franzosen marschieren in Algier ein.

1882

Die Briten besetzen Ägypten und später den Sudan.

1917

Die Briten erobern Palästina und den Irak.

1920

Konferenz von San Remo; der Völkerbund unterstellt daraufhin 1922 Syrien und den Libanon französischem, Palästina und den Irak britischem Mandat. Ägypten wird Königreich.

1945

In Kairo wird die Arabische Liga gegründet.

1948

Gründung Israels, das britische Mandat endet. Arabisch-israelischer Krieg.

1954 – 1962

Unabhängigkeitskrieg in Algerien

1956

Ägyptens Präsident Gamal Abd al-Nasser verstaatlicht den Suezkanal.

1967, 1973

Arabisch-israelische Kriege

1979

Frieden zwischen Ägypten und Israel

1981