Die neue Schweigespirale - Ulrike Ackermann - E-Book

Die neue Schweigespirale E-Book

Ulrike Ackermann

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Beschreibung

Es gärt im Wissenschaftsbetrieb. Die Trends der Identitätspolitiken sind längst an den deutschen Hochschulen angekommen. Schon zeichnet sich eine Entwicklung ab, die den Spaltungsprozessen der Gesellschaft Vorschub leistet. Neue kollektive Identitäten, die sich aus Geschlecht, Ethnie oder Religion ableiten, verhängen lautstark Redeverbote und stellen den Universalismus der Aufklärung infrage. Ulrike Ackermann plädiert für eine breite gesellschaftliche Debatte ohne Denkverbote und ideologische Scheuklappen. Pluralismus statt Lagerbildung lautet das Gebot der Stunde. Es zählt das Argument, nicht die Herkunft der Sprecher, denn Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit sind das Lebenselixier unserer liberalen Demokratie.Weil unsere Freiheiten von außen wie von innen bedroht werden, fordert sie einen neuen antitotalitären Konsens.

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Seitenzahl: 255

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

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wbg Theiss ist ein Imprint der wbg.

© 2022 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.

Lektorat: Christina Kruschwitz, Berlin

Satz: Arnold & Domnick GbR, Leipzig

Einbandgestaltung: Vogelsang Design, Aachen

Einbandabbildung: shutterstock.com, © Peter Hansen

Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-8062-4423-6

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:

eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-4441-0

eBook (epub): ISBN 978-3-8062-4442-7

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Innentitel

Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Informationen zur Autorin

Impressum

Inhalt

Einleitung

1. Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit: Lebenselixier der Demokratie und der offenen Gesellschaft

Die neue Schweigespirale

Von den alten Griechen bis zur Aufklärung

Meinungs- und Gedankenfreiheit: Motor für Demokratie und Freiheit

2. Kulturkampf an den Universitäten

Wissenschaftsfreiheit in Gefahr

Machtkampf oder Wahrheitssuche?

Frankreich

Großbritannien

Deutschland

Safe Spaces: Sicherheitszonen anstelle des freien Diskurses

Militanter Aktivismus gegen Rede-, Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit

Fallbeispiele

3. Etablierung der Identitätspolitik

Die neue Woke Culture: Diversität – Gerechtigkeit – Inklusion

Diskriminierung und Opferdiskurs

Grüße aus Amerika oder wie man Geschichte umschreibt

4. Rassismus in der politisch-ideologischen Arena

Das neue Dogma: Critical Race Theory

Rassismus-Debatte in Deutschland oder Rassismus ohne Rassen

Rassismus in Theorie und Praxis

5. Angriff auf die Aufklärung – Abschied vom Universalismus

Vordenker des Postkolonialismus

Die »westlich-eurozentristische« Tätergesellschaft am Pranger

Das Programm der Dekolonialisierung

6. Die großen Übel der Welt: Kolonialismus, Kapitalismus, Patriarchat

Postcolonial Studies und Gender Studies als Speerspitze der Transformation

Die Intersektionalität auf dem Vormarsch

Von der Frauenforschung zu den Gender Studies

Kampf für Gleichberechtigung

Gleichheit versus Differenz

Institutionalisierung der Frauenforschung

Geschlecht als soziale und kulturelle Konstruktion

Die Verabschiedung des biologischen Geschlechts

7. Politisierung der Sozial- und Geisteswissenschaften

Wie normativ darf Wissenschaft sein?

Zurück zu den Anfängen: Max Weber und die Freiheit der Wissenschaft

Der Streit um Werturteile: Der Positivismusstreit der 1960er-Jahre. Karl R. Popper versus Theodor W. Adorno

8. Studentenbewegung und die Folgen

Tumulte auf dem Deutschen Soziologentag 1968 in Frankfurt

Der Siegeszug der Frankfurter Schule

Die Neue Linke

9. Die Geister, die ich rief …

Von der Kritischen Theorie zum Postmodernismus

»French Theory«: Foucault in Amerika

Critical Social Justice Theories: Die neuen Wissenschaften von der kulturellen, ethnischen, sexuellen und religiösen Identität

Sozialphilosophische Flankierung der Identitätspolitik

10. Was läuft falsch an den Universitäten?

Mainstreaming von Forschung und Lehre

Empirische Studie zur Wissenschaftsfreiheit

11. Wie die identitätspolitische Agenda in die Gesellschaft eindringt

Sprachpolitik: Antidiskriminierungsprogramm oder »Umerziehung« der Bevölkerung?

Reinigung der Sprache vom Bösen

Identitätspolitik in der Kultur

Identitätspolitik in der politischen Arena

Identitätspolitik in der Gesellschaft

Schluss: Wie können wir unsere Freiheiten verteidigen?

Danksagung

Anmerkungen

Literatur

Einleitung

Einer lautstarken Minderheit ist es über die Jahre gelungen, Debattenräume bei uns einzuschränken und die Grenzen des Sagbaren enger zu ziehen. Der moralische Druck der Political Correctness und Cancel Culture hat nicht nur die Lage an den Hochschulen verändert, sondern Einzug in alle gesellschaftlichen und politischen Felder gehalten. Er hat eine neue Schweigespirale in Gang gesetzt, die immer mehr Menschen vorsichtig werden lässt mit dem, was sie öffentlich sagen. Woher kommt dieser Konformitätsdruck? Wer zieht nach welchen inhaltlichen Eckpunkten die Grenzen für das, was politisch korrekt erlaubt ist oder nicht? Was gesagt werden darf und worüber tunlichst geschwiegen werden soll? Gesellschaftskritik gab es immer, und sie ist erwünscht. Doch wie tief darf oder soll sie Wissenschaft prägen, den gesellschaftlichen Diskurs bestimmen und leitende politische Agenda sein? Was passiert, wenn sie hegemonial wird und den Pluralismus der Meinung, der Forschung und Lehre gefährdet?

Identitätspolitiken sind seit einiger Zeit in den Fokus der öffentlichen Debatte gerückt. Inzwischen ertönt die Anklage der weißen, patriarchalischen Tätergesellschaft und ihr angeblich struktureller Rassismus nicht nur aus dem universitären Raum und dem Kulturbetrieb. Sie hat auch die politischen Parteien erreicht. Immer mehr gesellschaftliche Bereiche und Systeme sind mittlerweile von der identitären Agenda erfasst. Entstanden sind die Identitätspolitiken an den Universitäten. Sie wurden in den letzten Jahrzehnten insbesondere in den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften gepflegt und dann in diversen Kritischen Theorien wie den Gender Studies, den Critical Whiteness Studies oder der Critical Race Theory weiterentwickelt. Einher ging dies mit tiefgreifenden Paradigmenwechseln und einer immensen Politisierung der Wissenschaft. Welche Ideen oder Ideologien stehen hinter dieser Identitätspolitik? An welche Denktraditionen konnten sie anschließen? Wie und warum gewinnen sie solch immensen Einfluss und welche praktisch-politischen Folgen haben sie? Aus den Universitäten dringen sie in die Gesellschaft ein und wollen sie transformieren. Um zu verstehen, warum eine kleine Minderheit über Jahrzehnte derartig einflussreich werden konnte, lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit: Woher kommen diese Ideen und wie sind sie sozialgeschichtlich einzuordnen? Wie normativ darf oder soll Wissenschaft sein? Was passiert, wenn Wissenschaftler die Transformation der Gesellschaft auf ihre wissenschaftliche Agenda setzen? Wann schlägt Wissenschaft in Ideologie um?

Inzwischen nimmt die Sorge über eine zunehmende Verengung von Fragestellungen und Themen in der akademischen Forschung zu. Denn die Toleranzschwelle für abweichende Positionen und Meinungen sinkt, wenn sie an den Rand gedrängt oder gar moralisch sanktioniert werden. Häufig zählt nicht mehr das vorgetragene Argument, sondern die Herkunft des Sprechers. Cancel Culture und Political Correctness gefährden zunehmend eine freie und kontroverse Debatte sowie den Pluralismus in Forschung und Lehre. Diese besorgniserregende Entwicklung berührt jedoch nicht nur die Lage an den Hochschulen. Die identitätspolitischen Ansätze haben sich längst in anderen gesellschaftlichen Bereichen ausgebreitet: in der politischen Bildung und den NGOs, in öffentlichen Verwaltungen, im kulturellen Sektor, im Medienbetrieb und natürlich der Politik. Es geht um Deutungsmacht, um die Erlangung von Diskurshoheit und Ressourcen, und letztlich um die Eroberung von Institutionen. Sprach- und Quotenpolitik flankieren diese Entwicklung.

Die Universität ist die zentrale Lern- und Lehreinrichtung für zukünftige Leistungsträger. Zudem nehmen wissenschaftliche Akteure als Teil der intellektuellen Eliten und Funktionseliten eine Scharnierstelle zwischen Gesellschaft und Politik ein; sie sind Protagonisten im Feld der Wissenschafts- wie auch der Meinungsfreiheit. Das wirft wichtige Fragen auf: Wie wird über Geschichte, Zustand und Zukunft der Gesellschaft geforscht, gelehrt und gedacht an den Hochschulen? In welcher Weise fließen diese Erkenntnisse und Deutungen in die Gesellschaft zurück? Wie prägen sie gesellschaftliche Debatten und die Durchsetzung neuer Normen? Auf der einen Seite gibt es eine kosmopolitisch orientierte, gut ausgebildete obere Mittelschicht, Eliten aus Politik, Kultur und Wirtschaft, wo man gendert, Ökologie und Einwanderung preist – während sich auf der anderen Seite der heterogene, als »rückständig« angesehene Rest der Bevölkerung findet, der ratlos bis verärgert auf die diversen moralisch-politischen Erziehungsversuche und normativen Neujustierungen reagiert.

Die Identitätspolitik von rechts strebt ein ethnisch homogenes Volk an, jene vonseiten des politischen Islams führt den Kampf gegen den ungläubigen Westen, und die von links kämpft gegen die weiße, patriarchale, kolonialistische Tätergesellschaft. Alle drei attackieren die freiheitlichen Errungenschaften der Moderne, die Aufklärung und den Universalismus der Menschenrechte und sind militant antiliberal.

In diesem Buch geht es vor allem um die linke Variante der Identitätspolitik, ihre Wirkmacht im akademischen Betrieb und die Folgen für Politik und Gesellschaft. Manche hegen die Hoffnung, es möge sich nur um eine Generationenfrage handeln, es sei ein zeitgeistiges Phänomen, das bald wieder mit der Einkehr der Vernunft verschwinden würde, dem Satz von Winston Churchill folgend: »Wer mit 20 Jahren nicht Sozialist ist, der hat kein Herz, wer es mit 40 Jahren noch ist, hat kein Hirn.«

Ich fürchte allerdings, so schnell werden wir die Geister der Identitätspolitik nicht mehr los, es sind eben nicht nur akademische Hirngespinste, die vom Wesentlichen ablenken. Ganz im Gegenteil, denn sie berühren den Kern unserer liberalen Ordnung. Aus diesem Grund machen wir uns im Folgenden auf eine Reise aus der Gegenwart in die Vergangenheit und wieder zurück und passieren dabei wichtige Stationen der Ideen- und Sozialgeschichte, um zu begreifen, was hier eigentlich vor sich geht.

1. Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit:Lebenselixier der Demokratie und der offenen Gesellschaft

Erinnern Sie sich noch an die spektakuläre Aktion #allesdichtmachen von 50 namhaften deutschen Schauspielern und Schauspielerinnen im Frühjahr 2020? Die Stimmung im Land war tief gesunken, die Bevölkerung frustriert und zunehmend gereizt angesichts des politischen Corona-Krisenmanagements. Planlosigkeit der Akteure, die der Entwicklung ständig hinterherliefen, Ideenlosigkeit, mangelnder Pragmatismus und Behördenversagen auf vielen administrativen Ebenen sorgten für immer größeren Unmut. Im Internet war damals eine Reihe von Kurzfilmen zu sehen, in denen die Schauspieler in Einzelbeiträgen zu Wort kamen und ironisch bis sarkastisch die Freiheitseinschränkungen im Zuge des Lockdowns kritisierten. Anlass waren ihnen nicht zuletzt die Folgen der viele Monate währenden Stillstellung des gesamten Kulturbetriebs für ihre eigene berufliche Arbeit. Unter ihnen waren bekannte Fernsehschauspieler wie Heike Makatsch, Jan Josef Liefers, Martin Brambach oder Christine Sommer.

Ein Shitstorm brach in den sozialen Medien los und entfachte eine Debatte. Kaltherzigkeit, Geschmacklosigkeit und Zynismus wurde der Schauspielertruppe vorgeworfen. Besonders die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten und viele Leitmedien konnten der ironischen Aktion keinerlei Spaß abgewinnen. Die filmischen Einlassungen waren unterschiedlicher Qualität, einige bewegten sich tatsächlich hart an der Grenze zwischen Zynismus und Geschmacklosigkeit. Sofort erhoben sich viele moralische Zeigefinger und der Vorwurf, mit der AfD, Corona-Leugnern und Querdenkern, die sich immer wieder zu Protestdemonstrationen gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen in den großen Städten versammelten, gemeinsame Sache zu machen. Diese sogenannte Kontaktschuld ist als Vorwurf sehr beliebt in Deutschland. Es ist der Versuch, den anderen moralisch zu delegitimieren und auszugrenzen. Der Druck auf die Schauspielergruppe wurde immer größer, sodass sich einige genötigt sahen, sich für ihre öffentliche Einlassung zu entschuldigen oder ihr Video zurückzuziehen. Die bekannte Tatort-Schauspielerin Ulrike Folkerts etwa räumte ein, ihre Beteiligung an dieser Aktion sei ein Fehler gewesen. Sie hätte geglaubt, mit ihren »Kolleg*innen ein gewinnbringendes Gespräch in Gang« zu bringen, das Gegenteil sei passiert. Die Heftigkeit, mit der die beteiligten Schauspieler an den Pranger gestellt wurden, war beängstigend.

In ähnlicher Weise, wie der Begriff Political Correctness und die praktischen Folgen daraus sich von den USA ausgehend Zug um Zug bei uns ausbreiteten, geschieht dies nun auch mit der sogenannten Cancel Culture. Sie trifft Personen, die sich vermeintlich politisch unkorrekt äußern oder verhalten und die aufgrund dessen aus den sozialen Medien heraus unter starken Druck gesetzt und geächtet werden sollen. Deplatforming heißt das heute. Verlangt werden Entschuldigungen oder Rücktritte; in jedem Fall soll die Meinungsäußerung der Betroffenen keinen Ort mehr finden und sie selbst möglichst aus ihren Positionen entfernt werden. Der öffentliche Raum soll gereinigt werden von angeblich unstatthaften, politisch unkorrekten und unerwünschten Meinungen und von Personen, die diese vertreten. Sie werden gestrichen wie die Flüge auf der Anzeigentafel ›flight canceled‹ und sollen verbannt werden aus der Politik, aus dem Kulturbetrieb oder der Universität: Publikationsverbot, Auftrittsverbot oder Redeverbot, sozialer Ausschluss aus dem Justemilieu.

Dieser moralische Druck der Cancel Culture auf unliebsame Personen und ihre Äußerungen wird in unseren liberalen Demokratien in der Regel nicht vom Staat oder der Mehrheit der Bevölkerung ausgeübt, sondern von kleinen sozialen Minderheiten und Aktivisten, die sich als Diskurspolizisten gerieren. Allerdings zeigt sich immer häufiger, wie effektiv dieser Druck sein kann. Eigentlich selbstbewusste Schauspieler sahen sich zu Selbstzensur genötigt und beugten sich. Womöglich spielte nicht zuletzt die Sorge eine Rolle, in Zukunft bei der Vergabe von Fernsehspiel- und Filmrollen bei den öffentlichrechtlichen Sendeanstalten nicht mehr ausreichend berücksichtigt zu werden.

In den USA ist der Feldzug der selbsternannten Sittenwächter mit ihrer Methode der Cancel Culture inzwischen überaus erfolgreich. Die New York Times, ehemals eine angesehene linksliberale Zeitung, hat aufgrund des Drucks aus sozialen Netzwerken und Aktivistengruppen Redakteure entlassen, wie beispielsweise Donald McNeil. Er hatte das verbotene N-Wort in didaktischem Zusammenhang verwendet – und sein Kopf »rollte«. Eine junge Garde von Redakteuren, die politisch korrekt an den amerikanischen Hochschulen sozialisiert wurde, führt nun das Regiment in einer Zeitung, die lange Zeit für Meinungsfreiheit und offene Debatten stand. Auch Bari Weiss ist aus diesem Grund als Meinungsredakteurin des Blatts zurückgetreten. An den Universitäten haben schon viele Lehrende, weil sie vermeintlich unbotmäßig waren, ihre Stellung verloren. Solch spektakuläre Fälle von Entlassungen oder Rücktritten gab es in Deutschland noch nicht. Doch die Reaktionen auf die Schauspieleraktion #allesdichtmachen lässt Ähnliches befürchten. Wenn die Freiheit der Meinung immer häufiger durch vorgebliche, reale oder potenzielle Kränkungen infrage gestellt wird, ist dieses über Jahrhunderte hart erkämpfte Gut ernstlich in Gefahr. Weltweit ist die Meinungsfreiheit in den letzten Jahren immer stärker unter Druck geraten – was in Diktaturen und autoritären Regimes nicht verwundert. Doch dass auch in den westlichen liberalen Demokratien die Grenzen des Sagbaren immer enger gezogen werden und sich Vorsicht breitmacht im öffentlichen Raum, ist höchst beunruhigend.

Den gewaltsamen Auftakt konnten wir beobachten, als 2006 der Streit um die in der dänischen Zeitung Jyllandsposten erschienenen Mohammed-Karikaturen losbrach. Es breitete sich in Windeseile ein von Islamisten angestifteter weltweiter Furor aus, der mit verletzten religiösen Gefühlen der Muslime gerechtfertigt wurde. Das war im Übrigen auch die Begründung für die Ermordung der Redakteure der französischen Zeitschrift Charlie Hebdo 2015 in Paris. Seitdem entzündet sich immer wieder der Streit über die Grenzen der Meinungsfreiheit und ihre Einschränkung zugunsten verschiedener Opfergruppen.

Um vermeintlich verletzte Gefühle, scharf gezeichnete Täter- und Opferprofile, die sich scheinbar unversöhnlich gegenüberstehen, geht es auch in unseren derzeitigen Debatten. Der Begriff des »antimuslimischen Rassismus« etwa hat sich ausgehend von vielen Aktivisten in Aufrufen und Kampagnen innerhalb und außerhalb der Universitäten verbreitet und Eingang gefunden in Redaktionsstuben und Kulturinstitutionen. Auch vom unentrinnbaren »strukturellen Rassismus« und dem »Diktat der Heteronormativität« ist plötzlich immer häufiger die Rede. Weiße, vor allem alte weiße Männer, sollten sich endlich ihrer jahrhundertealten Privilegien bewusst werden und »woke« sein. Sie sollen ihre »Schuldigkeit« anerkennen und eingestehen und Platz machen für andere. Auf öffentlichen Podien und in Talkshows, in universitären Diskussionen und Auswahlverfahren ist auf einmal weniger die inhaltliche Argumentation und Positionierung relevant als vielmehr das Geschlecht, die Hautfarbe oder die Religionszugehörigkeit. Wer sprechen darf, was ausgesprochen werden darf und was nicht und wie tunlichst gesprochen werden soll, unterliegt inzwischen ganz neuen sozialen Regeln, die niemals offiziell ausgerufen oder demokratisch legitimiert wurden.

Dieses neue Regime, das sich in alle gesellschaftlichen Felder ausbreitet, erzeugt einen Konformitätsdruck, der in den letzten Jahren immens gestiegen ist. Das kann man innerhalb der Volksparteien, im Öffentlichen Dienst und in Unternehmen ebenso beobachten wie besonders ausgeprägt im Kultur- und Wissenschaftsbetrieb. Die Bezeichnung »umstritten« hat längst ihre ursprüngliche Bedeutung verloren, nämlich die eines Streits um einen Inhalt, der von verschiedenen Positionen aus argumentativ geführt wird. Erst recht die so bezeichnete Person hat bereits vor dem Streit verloren und soll geächtet werden. Der Schriftsteller und Jurist Bernhard Schlink hat schon vor zwei Jahren die »Engführung des Mainstreams« beklagt. Der Raum für freie, mutige Rede, unkonventionelle Sichtweisen und die tatsächliche Pluralität der Standpunkte ist mittlerweile noch enger geworden.

Die Studien des John Stuart Mill Instituts haben bereits gezeigt, dass seit einigen Jahren die veröffentlichte Meinung in den führenden Printmedien und in den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten auf der einen Seite und die Meinung der Bevölkerung andererseits immer stärker auseinanderdriften.1 Der sogenannte Mainstream in den Medien repräsentiert immer weniger die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung, und das Unbehagen darüber in der Bevölkerung wächst.

Das Institut für Demoskopie Allensbach, das auch am Freiheitsindex des John Stuart Mill Instituts mitgewirkt hat, untersucht regelmäßig und seit vielen Jahren, wie es um die freie Meinungsäußerung in Deutschland bestellt ist. Die Kurve zugunsten der freien Meinungsäußerung stieg über die Jahrzehnte seit 1953. Im Jahr 1991 waren 78 Prozent der Meinung, sie könnten ihre Meinung frei sagen. Und 16 Prozent waren nicht dieser Meinung. Im Jahr 2021 waren nur noch 45 Prozent der Bevölkerung der Meinung, man könne sich frei äußern, und 44 Prozent waren der Meinung, es sei besser, vorsichtig zu sein. Das ist ein höchst alarmierendes Zeichen: Die politische Meinungsfreiheit ist in Deutschland in den letzten Jahren immer mehr unter Druck geraten. Zudem werden sogenannte heikle Themen, »mit denen man sich den Mund verbrennen könnte«, heute von erheblich mehr Menschen als gefährlich eingestuft. 1996 waren 15 Prozent der Befragten der Meinung, das Thema Muslime und Islam sei heikel, im Sommer 2021 waren es 59 Prozent.

Auch zum Thema der gendergerechten Sprache hat das Allensbacher Institut Erstaunliches herausgefunden. Die Meinung und Sprache der Bevölkerung unterscheiden sich deutlich von der veröffentlichten Meinung. In den Leitmedien und den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, an den Universitäten und in den Verlautbarungen des Öffentlichen Dienstes wird schon länger gendergerecht gesprochen und auf die Vorbildrolle gepocht. Die Allensbacher Forscher wollten in ihrer repräsentativen Erhebung wissen: »Wenn jemand sagt: ›Man sollte in persönlichen Gesprächen immer darauf achten, dass man mit seinen Äußerungen niemanden diskriminiert oder beleidigt. Daher sollte man zum Beispiel neben der männlichen auch die weibliche Form benutzen.‹ Sehen Sie das auch so, oder finden sie das übertrieben?« Das sahen 19 Prozent der Befragten auch so. Hingegen antworteten 71 Prozent, ein solches Verhalten sei übertrieben. Interessanterweise teilten diese Einschätzung auch 65 Prozent der Frauen. Jetzt könnte man meinen, dass die jüngere Generation dies ganz anders sieht. Doch auch die Befragten unter 30 waren zu 65 Prozent der Ansicht, der gendergerechte Sprachgebrauch sei übertrieben. Selbst bei den Grünen-Anhängern sprachen sich 65 Prozent dagegen aus. Obwohl doch gerade diese Partei mit größtem Einsatz für die gendergerechte Sprache unterwegs ist.2

Die neue Schweigespirale

Elisabeth Noelle-Neumann verdanken wir den Begriff der Schweigespirale.3 Die Kommunikationswissenschaftlerin beschrieb damit 1980 eine soziale Dynamik, die ich heute mit Konformitätsdruck bezeichnen würde. Jeder hat das Bedürfnis, nicht in soziale Isolation zu geraten, und beobachtet deshalb, wie das eigene Verhalten und die eigenen Aussagen bei anderen Menschen ankommen. Insofern orientieren die Menschen ihr Verhalten daran, welche Verhaltensweisen und Meinungen in der Öffentlichkeit gut ankommen beziehungsweise abgelehnt werden. Oftmals ist zu beobachten, dass bereits vor einer potenziellen Konfrontation oder Ablehnung die eigene Meinung zurückgehalten wird, um Missfallen zu vermeiden. Das heißt also: lieber schweigen, um zu gefallen, um opportun zu sein, als aufzufallen, an den Rand gedrängt oder gar geächtet zu werden. Diejenigen hingegen, die sich zumindest relativ sicher sind, dass sie mit ihrer Meinungsäußerung öffentliche Unterstützung ernten, äußern in der Regel ihre Meinung deutlich und breit vernehmbar. Die Schweigespirale kommt in Gang, wenn lautstarke Meinungsäußerungen auf Schweigen treffen. Diese Dynamik können wir bei besonders kontroversen und emotional besetzten Themen beobachten. Sie funktioniert unabhängig von der realen Stärke der Meinungslager. Deshalb können auch kleine Minderheiten, die lautstark ihre Anliegen propagieren, den Eindruck erwecken, es würde sich um eine Mehrheitsmeinung handeln, obwohl dies mitnichten zutrifft. Mit der Mobilisierungskraft der sozialen Netzwerke gelingt dies natürlich noch viel schneller als in Zeiten der analogen Öffentlichkeit.

Die neue Schweigespirale funktioniert deutlich drastischer als das, was wir bisher kannten. Sie greift weitaus radikaler in das gesellschaftliche Gefüge ein und hat enormes Spaltungspotenzial, wie wir seit einigen Jahren beobachten können. Es sind hochprofessionelle Akteure in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern unterwegs, nicht nur als erfolgreiche Influencer im Netz.

Es geht deshalb in den folgenden Kapiteln um den Einfluss von Ideen und Praktiken, die direkt beziehungsweise vermittelt aus den Universitäten in die Gesellschaft eindringen und diese transformieren wollen. Denn heute stehen Studienabgänger, die die zukünftige Leistungs- und Funktionselite repräsentieren, einer großen Mehrheit der Bevölkerung gegenüber, die viele dieser Ideen befremdlich findet. Das gilt besonders für eine gendergerechte Sprache und neue soziale Regeln, die ihren Ursprung auf dem Campus oder in Aktivistengruppen haben. Auf der einen Seite beobachten wir eine überschaubare Minderheit, die mittels Sprache die Menschen »umerziehen« und die Gesellschaft in ihren Macht- und Privilegienstrukturen »dekonstruieren« und verändern will. Auf der anderen finden wir die große Mehrheit, deren Unmut über eine derartige Pädagogisierung und Gängelung wächst und zuweilen in Zorn umschlägt.

Dieses Spannungsverhältnis und die daraus folgenden sozialen Dynamiken werden uns in den nächsten Kapiteln ausführlich beschäftigen. Um sie besser verstehen und einordnen zu können, ist der Blick auf die Wissenschaft und den Wissenschaftsbetrieb von großer Bedeutung (siehe Kapitel 2). Denn von dort kommen maßgebliche Impulse für die Gesellschaft – unabhängig davon, ob man diese begrüßt oder ablehnt. Nicht nur Studierende und Studienabgänger tragen das an der Universität Gelernte in die Gesellschaft hinein. Auch die wissenschaftlichen Akteure aus den unterschiedlichen Sektionen des Wissenschaftsbetriebs sind ja nicht nur an der akademischen, sondern auch an der gesellschaftlichen Meinungsbildung einflussreich beteiligt. Es ist wichtig, diese Schnittstelle zwischen der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und dem Wissenschaftsbetrieb im Blick zu behalten, weil sie einigen Aufschluss über gesamtgesellschaftliche Entwicklungen liefert. In ihrer Avantgarde-Rolle sind diese Akteure samt ihrer Institutionen maßgeblich an der Formung des Zeitgeistes beteiligt. Auch wenn sie verglichen mit dem Rest der Bevölkerung eine Minderheit darstellen, sind sie einflussreich und sprachgewaltig. Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, den Eklat zwischen dem Kabarettisten Dieter Nuhr und der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) 2020 noch einmal anzuschauen, weil er ein interessantes Licht auf das Verhältnis von Meinungsfreiheit und Wissenschaftsfreiheit wirft.

Die DFG wollte den hundertsten Geburtstag ihrer Vorgängerorganisation feiern und dies zum Anlass nehmen, in einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Sie ist die größte Förderinstitution in der wissenschaftlichen Forschungslandschaft Deutschlands und erhält dafür im Jahr stattliche 3,3 Milliarden Euro aus Steuergeldern. Sie fördert auf Antrag damit Tausende von Forschungsprojekten an Hochschulen und Forschungsinstituten. Die groß angelegte Kampagne der DFG hatte den Titel »Für das Wissen entscheiden«. Sie wolle damit »die Prinzipien einer freien und unabhängigen Wissenschaft sowie deren Wert für eine offene und informierte Gesellschaft prominent öffentlich sichtbar machen«. Ein hehres Unterfangen, dass sogar mit einem durch das ganze Land tourenden Bus sowie einer Schauspielergruppe umgesetzt werden sollte. Der Lockdown im Zuge der Corona-Krise vereitelte diese Live-Auftritte vor Publikum. Stattdessen entschloss sich die DFG für Audio- beziehungsweise Videobotschaften, versammelt in der Online-Aktion #fürdasWissen. Das Ganze stand nicht unbedingt im Licht der großen Aufmerksamkeit, auch wenn Prominente, Schauspieler und Kabarettisten zu Wort kamen. Offensichtlich um der Sache mehr Pep zu geben, luden die Kampagnenplaner den Kabarettisten Dieter Nuhr zu einem Video-Statement ein. Er hatte zuvor mehrmals in seinen Sendungen mit beißendem Humor die »Klimahysterie« aufs Korn genommen. In seiner 36 Sekunden dauernden Botschaft für die DFG sagte er: »Wissen bedeutet nicht, dass man sich zu 100 Prozent sicher ist – sondern dass man über genügend Fakten verfügt, um eine begründete Meinung zu haben. Weil viele Menschen beleidigt sind, wenn Wissenschaftler ihre Meinung ändern: Nein, nein, das ist normal! Wissenschaft ist gerade, dass sich die Meinung ändert, wenn sich die Faktenlage ändert. Wissenschaft ist nämlich keine Heilslehre, keine Religion, die absolute Wahrheiten verkündet. Und wer ständig ruft: Folgt der Wissenschaft!, der hat das offensichtlich nicht begriffen. Wissenschaft weiß nicht alles, ist aber die einzige vernünftige Wissensbasis, die wir haben. Deshalb ist sie so wichtig.«4

Das ist eine kluge, kurze Definition von Wissenschaft, wie wir sie spätestens seit der Renaissance und Aufklärung begreifen, also eigentlich eine Selbstverständlichkeit, möchte man meinen: Neugierde, Skepsis und Infragestellung als Antriebskräfte auf der Suche nach Erkenntnis, Wahrheit und evidenzbasierter Forschung. Das Ergebnis ist offen und jederzeit falsifizierbar und revidierbar, wenn neue Entdeckungen hinzukommen. ›Trial and Error‹ nannte dies später der Philosoph Karl Popper. Und dennoch brach ein kleiner Shitstorm los, nachdem der Nuhr-Beitrag im Netz auf der DFG-Seite online war. Es ging dabei kaum um den Inhalt seiner Einlassung, sondern vielmehr um seine Person, die vielen als »umstritten« galt. Bereits früher hatte er mit seinen Auftritten zu anderen Themen, etwa Migrationspolitik, Corona-Krisenmanagement oder Identitätspolitik, gerne gegen die Gebote der politischen Korrektheit verstoßen und dafür heftige Kritik auf sich gezogen, vornehmlich von linker und grüner Seite. Verglichen damit waren die eingegangenen Reaktionen, die sich über die Präsenz seiner Person auf der DFG-Seite mokierten, überschaubar. Doch reichte es aus, die für die Kampagne Zuständigen ernsthaft zu beunruhigen, zumal noch weitere Beschwerden per Anruf und E-Mails aus der wissenschaftlichen Community eingingen.

Diese Kritik an ihrem Engagement des Kabarettisten veranlasste die DFG, den Auftritt kurzerhand zu canceln, von der Website zu nehmen und dies auf Twitter kundzutun. Dieter Nuhr erfuhr durch einen Journalisten von der Streichung. Nun brach, auch in den großen Printmedien, tatsächlich eine heftige Debatte über Meinungsfreiheit und ihre Einschränkung selbst im wissenschaftlichen Sektor los. Von links wurde nun befürchtet, Nuhr könne sich als Opfer der Cancel Culture stilisieren – was er ja tatsächlich war. Die DFG hatte angesichts der heftigen Reaktionen auf ihre Reinigungsaktion ein Einsehen und lud Nuhrs Auftritt wieder auf ihrer Website hoch. Die Präsidentin der DFG, Katja Becker, entschuldigte sich und räumte das Canceln als Fehler ein. Ein paar Wochen später kam es sogar noch zu einer persönlichen Aussprache zwischen ihr und Nuhr bei der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Anja Karliczek. Doch zeigt dieses Fallbeispiel eindrücklich, wie anfällig auch der Wissenschaftsbetrieb für Konformitätsdruck ist. Dies beunruhigt seit einigen Jahren eine inzwischen wachsende Anzahl von Hochschulangehörigen, die die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit ernstlich gefährdet sehen.

Das im Februar 2021 gegründete Netzwerk Wissenschaftsfreiheit zählt inzwischen über 600 Mitglieder. Auch der Deutsche Hochschulverband (DHV) ist seit geraumer Zeit beunruhigt. Auf seiner Jahresversammlung im April 2019 verabschiedete er eine Resolution »Zur Verteidigung der freien Debattenkultur an Universitäten«. Beklagt wird darin, dass die Toleranz gegenüber anderen Meinungen sinke und dies Auswirkungen auf die gesamte Debattenkultur an den Universitäten habe. Eigentlich müsste jedem, der die Welt der Hochschulen betritt, klar sein, dass man dort mit Ideen und Vorstellungen konfrontiert wird, die den eigenen zuwiderlaufen können. Dieser Lageeinschätzung stimmten 90 Prozent zu und unterstützen den Weckruf. Dies ist kein unwesentliches Votum. Denn der Hochschulverband verzeichnet 32 000 Lehrende und wissenschaftlichen Nachwuchs als Mitglieder. Der Präsident des DHV, Bernhard Kempen, Staatsrechtler an der Universität Köln, hebt hervor, der Aufruf wende sich ausdrücklich auch an die Leitung der Hochschulen, »die manchmal ein erstaunliches Maß an Unsicherheit erkennen lassen, wenn es darum geht, Flagge zu zeigen und deutlich zu machen, das es gerade die Aufgabe von Hochschulleitungen ist, sich schützend vor diejenigen zu stellen, die ihre wissenschaftlichen Thesen an der Universität kundtun wollen«5. Kempen spricht von einer Diskursverengung, die er auch insgesamt im politischen Feld beobachtet. Im Sommer 2021 wurde er noch deutlicher: »Die Freiheit der Wissenschaft ist in Gefahr. Es ist nicht der Staat, der sie bedroht, es sind die Akteure des Wissenschaftssystems selbst, die einen schleichenden Aushöhlungsprozess in Gang gesetzt haben. Er zeigt sich an der Engführung des wissenschaftlichen Diskurses auf einigen Forschungsfeldern. … Der Deutsche Hochschulverband verzeichnet eine signifikante Häufung von Fällen, in denen sich Wissenschaftler in ihrer Freiheit durch wissenschaftsimmanente Mechanismen oder Political Correctness zunehmend eingeengt fühlen. Der Staat ist an alledem unbeteiligt. Es sind Studenten und Wissenschaftler in allen Stadien ihrer universitären Karrieren, die ihrer eigenen Freiheit ein Grab schaufeln.«6

Von den alten Griechen bis zur Aufklärung

Angesichts dieser prekären Lage lohnt es, sich an eine Denk- und Kommunikationstradition zu erinnern, die bis zu den alten Griechen zurückreicht, das sogenannte Sokratische Gespräch.

In der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts vor Christus hat der Philosoph Sokrates auf dem Marktplatz in Athen mit den Bürgern Zwiegespräche besonderer Art geführt, so ist es von seinem Schüler Platon überliefert. Seine eindringlichen Fragen und das insistente Nachfragen dienten dazu, dass sich derjenige, der eine Meinung vertrat, im Klaren darüber werden sollte, warum er diese Meinung vertrat und warum seine Meinung möglicherweise richtig oder auch falsch sei. Es ging also um die Begründung von Meinungen und Argumenten. Auch bei Aristoteles finden wir die Methode, die Leserschaft anzuregen, die eigene Meinung darauf zu überprüfen, ob sie der Faktenlage standhält und begründbar ist. In diesem wechselseitigen Prozess von Fragen und Antworten, der Nennung von Beispielen und Gegenbeispielen, geht es um die Klärung und Verfeinerung der Ausgangsposition, die vorgetragen wurde. Hält sie nach dieser Überprüfung stand oder muss sie verworfen werden? Diese Weise des Erkenntnisgewinns ermöglicht erst, zwischen wahr und falsch unterscheiden zu lernen, Irrtümer zu realisieren, Fehlschlüsse zu revidieren. Es ist letztlich die Voraussetzung für die Herausbildung und Erlangung vernünftiger Urteile. Dazu müssen alle Argumente und Einwände zulässig sein. Diese kluge Methode der Suche nach Wahrheit und nach Erkenntnis prägte in der Folge die weiteren Jahrhunderte der europäischen Zivilisationsgeschichte und ist Movens der Aufklärung: aus Glauben wurde Wissen.

Über die Jahrhunderte befreite sich das Denken Zug um Zug aus den Verstrickungen alter, vornehmlich religiöser Autoritäten. Im Verlauf dieses Säkularisierungsprozesses wurden lange Zeit gültige Gewissheiten zunehmend infrage gestellt. Das eigenständige Nachdenken, Beobachten und Analysieren der Prozesse der äußeren Natur beförderte ein ganz neues Selbstbewusstsein der Menschen: eine Selbstermächtigung durch Wissen.

Der Verstand, der Intellekt und vor allem die Vernunft waren dafür die elementarsten Instrumente. Für die Aufklärer war der menschliche Fortschritt unmittelbar verknüpft mit der Vernunft. Nur damit könne man Aberglauben, Vorurteilen und Ideologien begegnen und die Welt zu ihrem Besseren verändern. Um die Welt tatsächlich zu begreifen und ihre Gesetzmäßigkeiten zu ergründen, war die Vernunft unverzichtbar. Auch in den Naturwissenschaften setzte sich dieses Denken fort. Galileo Galilei und später Isaac Newton verknüpften in ihrer neuen Physik die empirische Erfahrung mit der Vernunft.

Angetrieben von Neugierde, Wissensdurst und dem Wunsch, die Welt, ihre Entstehung und Entwicklung wissenschaftlich zu erklären, entstand in Frankreich erstmalig eine große Enzyklopädie. Der Anspruch war hoch. In vereinter Kraft wollten Schriftsteller und Wissenschaftler alles verfügbare Fachwissen, das ihnen zugänglich war, zusammenbringen und veröffentlichen. Im Jahr 1750 trafen sie sich erstmals. Es fanden sich 138 Mitarbeiter, auch Voltaire und Jean-Jacques Rousseau waren dabei. Federführend waren der Schriftsteller Denis Diderot und der Mathematiker und Philosoph Jean Baptiste le Rond d’Alembert. Das in vereinter Kraft entstandene Werk erschien im Jahr 1751. Im Vorwort der Ausgabe finden sich die bemerkenswerten Sätze: »Bei der lexikalischen Zusammenfassung alles dessen, was in die Bereiche der Wissenschaften, der Kunst und des Handwerks gehört, muss es darum gehen, deren gegenseitige Verpflichtungen sichtbar zu machen und mithilfe dieser Querverbindungen die ihnen zugrunde liegenden Prinzipien genauer zu erfassen.« Es ging ihnen darum, die entfernteren und näheren Beziehungen der Dinge aufzuzeigen, um »ein allgemeines Bild der Anstrengungen des menschlichen Geistes auf allen Gebieten und in allen Jahrhunderten zu entwerfen«. Sie verfolgten ein universalistisches Programm. Diderot ging es darum, die auf der ganzen Erde verstreuten Kenntnisse zu bündeln, zu ordnen und sie den Zeitgenossen, mit denen sie zusammenlebten, zugänglich zu machen. Ausdrücklich betonte er, wie wichtig die Überlieferung dieses Wissens an die nachfolgenden Generationen sei, damit die Arbeit und der Fortschritt der vergangenen Jahrhunderte nicht umsonst wäre und verloren gehen würde. Ihre Enkel sollten nicht nur gebildeter als sie selbst, sondern darüber hinaus auch tugendhafter und glücklicher werden. Es verwundert nicht, dass die geistlichen und weltlichen Herrschaften darin einen massiven Angriff auf ihre als unumstößlich empfundene Autorität erblickten und die Enzyklopädie in den ersten Jahren als ein Dokument der Gottlosigkeit anprangerten. Da in Amsterdam bereits ein freierer Geist wehte, wurden die ersten Ausgaben des Werks dort zur Drucklegung gebracht. Alle Einschüchterungsversuche konnten nicht verhindern, dass die Enzyklopädie immer weitere Verbreitung fand.

Der sich etablierende Buchdruck und die Gründung zahlreicher Verlage, Zeitungen und Zeitschriften waren die Grundpfeiler der entstehenden bürgerlichen Öffentlichkeit. Immer eindringlicher wurden die absolutistischen Autoritäten infrage gestellt. In Kaffeehäusern, Salons und den beliebten Lesegesellschaften nahm die bürgerliche Gesellschaft Konturen an. Mit neuem Selbstbewusstsein trat der Dritte Stand dem Adel und Klerus gegenüber und forderte Reformen, Freiheit, Bürgerrechte und Eigentum sowie einen neuen Gesellschaftsvertrag, der die Machtverhältnisse neu regeln sollte. Das Bürgertum wollte endlich an der Macht partizipieren und demokratisch gewählt repräsentiert sein.

Die mutigen Aufklärer um Diderot, d’Alembert, Voltaire und Rousseau waren entscheidende Wegbereiter der Französischen Revolution. Immanuel Kant hat in seiner