Die neuen Ängste - Georg Pieper - E-Book

Die neuen Ängste E-Book

Georg Pieper

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Beschreibung

Aktuell: Die neuen Ängste der Deutschen - woher sie kommen, wie sie wirken und wie wir sie besiegen können

In Zeiten von Gewalt und Terror haben unsere Ängste uns zunehmend im Griff. Der bekannte Traumapsychologe und Experte für Krisenintervention Georg Pieper zeigt, was unsere Ängste auslöst, wie sie wirken und vor allem, welche Gegenstrategien es für uns gibt - als Einzelne und als Gesellschaft. Wir müssen zwar lernen, Unsicherheit als Teil unserer Wirklichkeit zu akzeptieren, doch trotzdem können wir unsere Ängste bezwingen und dabei für uns und unsere Kinder Stärke gewinnen.

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Seitenzahl: 303

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Über das Buch

Wenn die Angst im Kopf festsitzt: Der bekannte Traumapsychologe und Experte für Krisenintervention Georg Pieper analysiert die neuen Ängste, die uns in Zeiten von Gewalt und Terror zunehmend im Griff haben. Er zeigt, was sie auslöst, wie sie wirken und vor allem, welche Gegenstrategien es gibt.

Wir müssen zwar lernen, Unsicherheit als Teil unserer Wirklichkeit zu akzeptieren, doch können wir Ängste aktiv, sehr konkret

Die Autoren

Dr. Georg Pieper, Jahrgang 1953, ist promovierter Psychologe mit eigener psychotherapeutischer Praxis, Schwerpunkt Trauma- und Stressbewältigung, in der Nähe von Marburg. Der international anerkannte Spezialist für Krisenintervention und Traumatherapie betreute Opfer, Angehörige und Einsatzkräfte u. a. nach dem ICE-Unglück in Eschede, beim Amoklauf in Erfurt, nach dem Grubenunglück von Borken. Er behandelte Entführungsopfer und Soldaten, baute zahlreiche Kriseninterventionsteams an Schulen und Flughäfen auf und bildet Traumatherapeuten aus. Viele Jahre vertrat er Deutschland im »Standing Committee on Crisis and Desaster« der europäischen Vereinigung der Psychologenverbände und ist einem großen Publikum aus Expertengesprächen zahlreicher Funk- und Fernsehsender bekannt.

Alexandra Berger, geboren 1964 in Hamburg, ist freie Journalistin und Buchautorin. Sie war in leitender Position für verschiedene Magazine tätig und hat mehrere Sachbücher zu psychologischen Themen verfasst. Alexandra Berger lebt in München.

Vom Autor liegt außerdem vor:

Wenn unsere Welt aus den Fugen gerät

Wie wir persönliche Krisen bewältigen und überwinden

ISBN 978-3-442-74799-3

Umschlaggestaltung: Favoritbuero, München

Umschlagillustration: © erhui1979 / GettyImages

Georg Pieper

DIE NEUEN ÄNGSTE

Für Samuel, Mathis, Line und Novalie.Mögen die guten Mächte Euch in eine sichere Zukunft begleiten.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage Copyright © der Originalausgabe 2017 beim Albrecht Knaus Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Redaktion: Margret Trebbe-Plath Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-21241-4V001www.knaus-verlag.de

Das neue Lebensgefühl: Wenn die Angst im Kopf festsitzt

Im Juni 2016 fuhr ich, wie ich das oft tue, mit dem Regionalexpress. In der Reihe vor mir saß ein Mann von arabischem Aussehen, den ich durch den Schlitz zwischen den Sitzen nur teilweise sehen konnte. Der Mann öffnete seine Tasche und holte ein Gerät heraus. Ich dachte: »Das sieht aus wie eine Pistole!« Der Mann hantierte irgendwie mit dem Ding herum, und da habe ich zum ersten Mal erlebt, wie es bei mir klick machte und eine Alarmreaktion einsetzte. Ich guckte mich um und sah, dass ich allein mit ihm im Abteil war. Sofort überlegte ich, was machst du, wenn der jetzt aufsteht, mit der Waffe in der Hand. Komischerweise habe ich keine Sekunde gedacht, dass er mich angreifen könnte, sondern nur daran, dass er andere Reisende im nächsten Abteil attackieren könnte. Ich stellte mir vor, wie ich ihm in den Rücken fallen und den Arm runterreißen würde.

Das Szenario wurde immer eindrücklicher, von ganz allein kamen immer mehr bedrohliche Bilder hoch, dabei bin ich überhaupt kein ängstlicher Mensch. So etwas passiert mir sonst nicht. Diese Situation hat mich so in Bann geschlagen, dass ich mir irgendwann wie einem Patienten in einer Therapiesitzung gesagt habe: »Stopp! Schluss mit dieser Fantasie! Jetzt stehst du auf, gehst nach vorn und guckst, was der da macht.« Genau in dem Moment packte der Mann das Ding zurück in seine Tasche. Ich sah noch, dass es keine Pistole war, sondern eine Sprühflasche, und auch sonst war alles vollkommen normal. Aber das war der Augenblick, in dem mir klar wurde, selbst bei mir, der, wie ich meine, sehr reflektiert mit dem Thema Terror umgeht und Menschen mit Migrationshintergrund gegenüber eine sehr liberale Haltung vertritt, selbst bei mir ist etwas in Gang gekommen, das nur sehr schwer zu bremsen ist. Das Erlebnis hat einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen. In der Zeit danach habe ich bewusst darauf geachtet, ob auch andere von solchen Angsterlebnissen erzählen. Und da kamen tatsächlich einige Geschichten zum Vorschein.

Es hat sich etwas verändert in unserem Land und in unseren Köpfen. Nach meiner Beobachtung kann man von einem Klima der Angst in Deutschland sprechen. Seit es 2015 in Europa die ersten islamistisch motivierten Anschläge gab und ab Ende August dann Hunderttausende Flüchtlinge aus Syrien und anderen muslimisch geprägten Ländern zu uns kamen, ist das Unsicherheitsgefühl vieler Menschen in Deutschland immens gewachsen.

»2016 ist das Jahr der Ängste«, so das Resümee von Professor Manfred Schmidt, Politologe an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg, aus den Ergebnissen der jährlichen repräsentativen Umfrage der R+V Versicherung zu den Ängsten der Deutschen (www.ruv.de). Nie zuvor in den 25 Jahren, in denen diese Umfrage gemacht wird, seien die Ängste in der deutschen Bevölkerung innerhalb von zwölf Monaten so drastisch in die Höhe geschnellt, erklärte Brigitte Römstedt, Leiterin des Infocenters der R+V Versicherung. Die Umfrageergebnisse bestätigen meine persönliche Einschätzung: Die Ängste der Menschen in Deutschland sind auch nach meiner Wahrnehmung innerhalb eines Jahres so stark gewachsen wie nie zuvor.

Mehr als alles andere macht uns – das zeigen auch viele Gespräche, die ich in den vergangenen Monaten geführt habe – der islamistische Terror zu schaffen. Nach den islamistischen Terroranschlägen in Europa rangiert 2016 die Angst vor Terror bei uns zum ersten Mal an erster Stelle. Die Daten für die Umfrage wurden im April und Mai 2016 erhoben, noch vor den Anschlägen in Nizza, Würzburg und Ansbach und bereits ein Dreivierteljahr vor dem schrecklichen Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt, also bevor es in Deutschland den ersten Terroranschlag mit Toten gab. Schon damals erklärten 73 Prozent der Befragten, »große Angst« vor Terroranschlägen zu haben, das bedeutet im Vergleich zu 2015 einen Anstieg um 21 Prozentpunkte. Gravierend angestiegen sind außerdem unsere Angst vor politischem Extremismus (von 49 auf 68 Prozent) und vor Spannungen durch den Zuzug von Ausländern (von 49 auf 67 Prozent). Ich gehe davon aus, dass diese Werte seit den letzten Anschlägen und vor allem dem in Berlin noch einmal gestiegen sind und dass diese neuen Ängste weiter an Intensität und Wirkungsmacht zugenommen haben. Und dass sie unser Leben wie auch das Klima in unserer Gesellschaft nachhaltig negativ beeinflussen können, wenn wir nicht bewusst dagegen ansteuern.

Die Angst vor weiteren Anschlägen und das Gefühl permanenter Bedrohung machen sich überall bemerkbar. Man hört Männer, die sich laut und scheinbar aggressiv in einer arabisch klingenden Sprache etwas zurufen, und sofort erschrickt man und denkt an ein Gewaltszenario. Man sieht mehrere Polizeiwagen mit Blaulicht zu einem Einsatz fahren und denkt nicht mehr an einen Unfall oder einen Banküberfall, sondern an einen Anschlag und ist von jetzt auf gleich in einem beunruhigenden Angstgefühl gefangen. Beim Anblick eines LKWs in der Stadt oder in der Nähe eines belebten Platzes schaut man sich automatisch nach einer Fluchtmöglichkeit um. Wenn heute ein Mann in den Zug steigt, der einen Rucksack mit einer merkwürdigen Form bei sich trägt, denkt man sofort: »Hoffentlich hat der keine Axt oder ein Schwert oder eine Machete da drin.« Früher hätte man sich gar nichts dabei gedacht oder auf etwas wie eine Fahrradpumpe getippt. Wenn wir den Fernseher einschalten oder auf dem Smartphone Nachrichten anschauen, sitzt immer ein leises Unbehagen im Hinterkopf: Hoffentlich ist nicht wieder etwas passiert … Vor allem bei Großereignissen wie der Fußballeuropameisterschaft in Frankreich, den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro oder während des Oktoberfestes in München war auch bei mir immer der Gedanke präsent: »Hoffentlich passiert nichts! Nicht schon wieder!«

Nach dem Anschlag von Berlin im Dezember 2016 wird sich dieses mulmige Gefühl noch weniger abschütteln lassen. Ich denke, und das lässt sich derzeit beobachten, auch der Staat wird angesichts der hierzulande bislang unvorstellbaren Dimension von terroristischer Gewalt und der Ängste, die diese auslöst, reagieren und verschärfte Sicherheitsmaßnahmen sowie strengere Sicherheitsvorkehrungen auf den Weg bringen. Die Angst verändert so nicht nur unser persönliches Lebensgefühl, sondern zum Beispiel auch das Bild unserer Innenstädte.

Der Terror, die Flüchtlingskrise und die daraus resultierenden gesellschaftlichen und politischen Folgen, wie zum Beispiel Pegida, rechte Gewalt, Veränderungen bei der Abschiebepraxis und eine verschärfte Videoüberwachung, haben auf politischer Ebene, in Talkshows, in den Zeitungen, im Netz, am Arbeitsplatz, im Freundeskreis und in den Familien zu unzähligen Diskussionen geführt. Mein Eindruck als Psychologe ist, geredet wird viel, doch dem einzelnen Menschen und seiner tatsächlichen Befindlichkeit werden die Debatten oft nicht gerecht. Vor allem die Ängste, die durch die Flüchtlingskrise ausgelöst wurden, werden in der öffentlichen Diskussion oft ausgeblendet. Dass diese Ängste aber definitiv vorhanden sind und dass es vielen Menschen nicht gut damit geht, zeigen mir mein Alltag als Therapeut und die Gespräche mit Kollegen.

Ich will es ganz deutlich sagen: Nach meiner Einschätzung lügt sich jeder, der behauptet, überhaupt keine Angst zu haben, selbst etwas in die Tasche. Ich bin davon überzeugt, dass die Angst, oder zumindest ein Unbehagen, jeden von uns in irgendeiner Form gepackt hat und jeden von uns in irgendeiner Weise beschäftigt – ganz gleich ob er zugibt, dieses Angstgefühl zu kennen, oder es nach dem Motto »Es kann nicht sein, was nicht sein darf« von sich weist. Ich mache oft eine interessante Erfahrung: Wenn ich Menschen, die von sich behaupten, angesichts der Terroranschläge und der Flüchtlingskrise keinerlei Angst zu haben, gezielt darauf anspreche, geben sie mir genau das zu. Dann kommt plötzlich so etwas wie »Ich bin wachsamer geworden«, »Ich werde misstrauischer«, »Ich gucke kritischer auf ausländisch aussehende Menschen«, »Ich habe mehr negative Phantasien im Kopf«.

Vor einem fremd aussehenden Menschen Angst zu haben ist für viele Menschen nicht politically correct. Diese Angst entspricht nicht ihrem Ideal, wie sie sein wollen – offen, tolerant, fürsorglich, hilfsbereit, anderen Menschen zugewandt. Aber es kann nicht die Lösung sein, Angst einfach wegzudrängen. Wir müssen uns mit unserem Gefühl der Unsicherheit und mit unseren Ängsten auseinandersetzen. Sie sind nun einmal da, ob sie nun wünschenswert sind oder nicht. Und wenn wir sie nicht ernst nehmen, werden sie stärker und gewinnen immer mehr Macht über unsere Gedanken und Gefühle und damit auch über unser Verhalten.

Beim Schreiben dieses Buches ist mir aufgefallen, dass es schwer ist, nicht politisch Position zu beziehen. Ich will in diesem Buch keine politischen Statements abgeben oder in eine bestimmte politische Richtung beeinflussen. Vielmehr möchte ich als Psychologe wertfrei beschreiben, was ich in jüngster Zeit bei Patienten, Freunden und Bekannten wahrgenommen habe.

Ein Ziel dieses Buches ist es, jene Ängste zu benennen und zu beschreiben, die sich so mancher von uns nicht eingestehen mag. Es geht mir darum, die Menschen in ihren individuellen emotionalen Reaktionen zu betrachten und abzubilden, was in ihnen vor sich geht, wie sie fühlen. Jenseits dessen, wie wir sein müssen oder sein wollen, jenseits aller politischen oder ideologischen Vorstellungen, jenseits der Political Correctness. Es geht aber auch darum, die kollektiven Reaktionsweisen anzuschauen, also zu prüfen, was macht Angst mit unserer Gesellschaft.

In den vielen Gesprächen, die ich für dieses Buch geführt habe, haben die Menschen sich geöffnet und ehrlich und ohne Scheu über ihre Sorgen, Ängste und Erlebnisse berichtet. Sie haben oft Dinge erzählt, die sie sonst nur hinter vorgehaltener Hand in der Familie oder im Freundeskreis oder aber gar nicht aussprechen würden, weil sie befürchten, missverstanden, abgelehnt oder in eine politische Ecke gestellt zu werden. Es ist mir ein wichtiges Anliegen, diese Menschen zu Wort kommen zu lassen. Denn wenn wir keine Chance haben oder uns selbst nicht die Chance geben, unsere Ängste zu benennen, können wir uns nicht aktiv mit ihnen auseinandersetzen. Dann finden wir auch keinen Weg, uns von dem schädlichen Einfluss, den sie auf uns ausüben, zu befreien. Nur aus der offenen Kommunikation, in der man sich traut, von seiner Angst zu sprechen, und in der man sie nicht aus ideologischen Gründen zu verstecken versucht, kann außerdem die Chance entstehen, dass wir als Gesellschaft (wieder) näher zusammenrücken. »Als Gemeinschaft derer, die die Mitmenschlichkeit verteidigen«, wie Bundespräsident Joachim Gauck es unter dem Eindruck des furchtbaren Anschlags von Berlin in seiner Weihnachtsansprache 2016 ausdrückte.

In diesem Buch möchte ich unsere neuen Ängste aber nicht nur offenlegen, sondern auch zeigen, wie wir konstruktiv mit ihnen umgehen können, wie wir sie bewältigen und wie wir daraus etwas Vernünftiges machen können. Denn eines steht für mich fest: Wenn die Angst uns überwältigt und unser Handeln bestimmt, hat das verheerende Folgen für uns und für die ganze Gesellschaft.

Chronologie der Angst: Wie wir das Sicherheitsgefühl verloren haben

München, 22. Juni 2016. Es ist ein ganz normaler Freitagabend. Münchner und Touristen bummeln durch die Innenstadt, sitzen in Restaurants und Wirtshäusern. Feierabendstimmung, Vorfreude aufs Wochenende.

17.51 Uhr. In der Notrufzentrale der Polizei gehen die ersten Anrufe ein: Schüsse im Olympia-Einkaufszentrum (OEZ). Streifenwagen und Zivilpolizei rücken aus. Fast auf den Punkt diese Uhrzeit, 17.52 Uhr, stünde auf ihrem Kassenbeleg, erzählt mir zwei Monate später eine Mutter von zwei Kindern, die sich während des Amoklaufs eines 18-jährigen Deutsch-Iraners im OEZ aufhielt und das Geschehen in den Minuten danach hautnah miterlebte.

Silke erledigt an diesem Freitagabend letzte Einkäufe fürs Wochenende und kauft sich anschließend spontan eine Hose, die sie um 17.52 Uhr bezahlt. Als sie keine Minute später aus dem Modegeschäft tritt, rennt ein Mann im Anzug an ihr vorbei. Sie schaut ihm erstaunt hinterher, da kommt aus der gleichen Richtung ein zweiter Mann angerannt. »Der erste hat vielleicht etwas geklaut, und der hier will ihn jetzt erwischen«, habe sie sich die Situation zu erklären versucht, erzählt Silke. Aber ein Mann im schicken Anzug, der klaut? Im nächsten Moment hört sie laute Stimmen und sieht eine Menge schreiender Menschen auf sich zurennen. »Oh je, mal wieder eine Schlägerei unten vor dem OEZ«, habe sie zunächst gedacht. Aber dafür seien die Schreie zu laut gewesen. Außerdem habe sie noch nie eine so panische Angst in Gesichtern von Menschen gesehen. Silke arbeitet als Sozialpädagogin im Hospiz und beschreibt sich selbst als eher ruhigen, besonnenen Menschen. Diesen Eindruck macht sie auch während unseres Gesprächs. Doch als im Einkaufszentrum die ersten Heranstürmenden rufen: »Lauft! Rennt! Da schießt einer! Der kommt rein!«, denkt sie keine Sekunde nach und läuft einfach los.

Während sie von der panischen Menschenmenge in Richtung Tiefgarage, wo ihr Auto steht, getrieben wird, fällt ihr plötzlich ihr Sohn ein. Der 14-Jährige hatte geplant, gegen 17 Uhr von zu Hause aus zum nahegelegenen OEZ, einem beliebten Treffpunkt für Jugendliche, zu gehen, um Pokémons zu fangen. Bei dem Gedanken, ihr Sohn könnte irgendwo im Gebäude und damit in Lebensgefahr sein, sei sie endgültig in Panik geraten, erinnert sich Silke. Dass in diesem Augenblick der Amokschütze ins OEZ gelaufen kommt und einen weiteren Menschen tötet, rekonstruiert sie erst im Nachhinein. Sie sieht nichts von dem schrecklichen Geschehen, hört aber knallende Geräusche, die sie im Rückblick als Schüsse identifiziert. Die entsetzliche Angst um den Sohn, die panisch schreienden Menschen um sie herum – in dieser Situation habe sie sich real bedroht gefühlt und Todesangst verspürt, schildert die Frau ihren Zustand. Sofort seien all die Bilder von den Anschlägen der letzten Zeit vor ihrem inneren Auge aufgetaucht. Ihr Gedanke in diesem Moment sei gewesen: »Jetzt ist der Terror da!« Silke hat eine Kriseninterventionsausbildung und reagiert in kritischen Situationen normalerweise professionell und besonnen. Jetzt aber sei da nur totale Panik gewesen.

Eine typische Reaktion in solchen emotionalen Ausnahmesituationen ist, dass sich uns die absurdesten Details einbrennen. Silke erinnert sich haargenau an die langen, rot lackierten Fingernägel einer anderen Flüchtenden, die ihr Handy in der Hand hielt und telefonierte. Als sie im Parkhaus ankommt, zahlt sie ihr Parkticket und beobachtet dabei einen Mann am Parkautomaten neben sich, der vor Aufregung so zittert, dass es ihm kaum gelingt, die Münzen in den Schlitz zu stecken. Aus dem Auto ruft sie dann ihren Sohn auf dem Handy an. Zu ihrer großen Erleichterung ist der wohlbehalten zu Hause. Der Sohn erzählt mir später, er habe an der Stimme seiner Mutter sofort gehört, dass etwas Furchtbares passiert sein musste.

18.33 Uhr: Die Polizei bestätigt, es habe im OEZ eine Schießerei gegeben. Es sei wohl »etwas Größeres«, erklärt eine Sprecherin. Die scheinbare Gewissheit, »Jetzt ist der Terror auch bei uns!«, versetzt in den kommenden Stunden ganz München in Angst und Schrecken, löst Hysterie und Massenfluchten aus und führt im Zentrum zum Ausnahmezustand. In der Stadt, die für bayerische Gemütlichkeit, Lebenslust und Selbstbewusstsein steht, verlieren die Menschen die Nerven. Auch die Sicherheitskräfte gehen von einem möglichen Terrorakt aus. 2300 Polizisten und Angehörige von Spezialeinheiten, darunter die GSG9 der Bundespolizei, sind bis weit nach Mitternacht im Einsatz. In der Innenstadt fährt kein Zug, kein Bus, keine Trambahn mehr, der Hauptbahnhof wird gesperrt, die Bürger werden aufgefordert, die Straße zu verlassen und in ihren Wohnungen zu bleiben. Viele, mit denen ich hinterher gesprochen habe, sagen, sie hätten sich gefühlt wie in einem Katastrophenfilm.

Diesen Ausdruck wählte auch eine Kollegin, die an diesem Abend am Hauptbahnhof war. Sie wollte nach einem Seminar mit dem Zug nach Hause fahren und vor der Abfahrt noch etwas bei Burger King im Obergeschoss des Bahnhofs essen. Gerade hatte sie sich mit ihrem Abendessen an einen Tisch gesetzt, als jemand rief: »Da wird geschossen!« Alle seien wie von Sinnen aus dem Lokal gerast, auch das Personal, und die Treppe runter ins Erdgeschoss gerannt. Binnen Sekunden saß meine Kollegin in einem menschenleeren Lokal. Sie packte ihre Sachen und ging ebenfalls ins Erdgeschoss, wo kein Mensch zu sehen war. Alle Schalter und Imbissstände waren verlassen. Da habe sie es mit der Angst zu tun gekriegt und gedacht: »Ich laufe jetzt ganz schnell zum Gleis zu meinem ICE, damit ich hier wegkomme.«

Als sie zum Gleis kam, stand der ICE tatsächlich schon da. Sie dachte: »Gott sei Dank, jetzt bin ich in Sicherheit«, wollte die Tür aufdrücken, und nichts tat sich. Es saßen Leute im Zug, aber offensichtlich hatte der Zugführer aus Sicherheitsgründen die Türen verschlossen. Da stand sie nun allein auf dem gespenstisch leeren Bahnsteig, Panik kroch in ihr hoch, und sie wusste nicht, was tun. Nach etwa zehn Minuten, einigem Klopfen an die Scheiben und Winken wurde der Zug doch noch einmal geöffnet, und sie konnte einsteigen. Es war einer der letzten Züge, die München noch verlassen konnten, kurz darauf wurde der Zugverkehr eingestellt. Dieses Gefühl der Hilflosigkeit auf dem Bahnsteig, das werde sie nicht vergessen, sagte meine Kollegin.

Ich selbst saß an diesem Abend vor dem Fernseher und verfolgte über Stunden die Ereignisse. Auch mir kam es so vor, als hätte sich etwas Schreckliches ereignet, das es so bei uns noch nicht gegeben hat. Lange Zeit bestand ja der Verdacht, dass von mehreren Tätern und mehreren Tatorten auszugehen sei. Dazu die Fernsehbilder, die Spekulationen von Terrorexperten in Sondersendungen und ständig neue Meldungen und Warnungen über Twitter und andere soziale Medien. Die Mitteilungen der Polizei waren besonnen und sachlich, gaben aber bis spät in die Nacht keine Entwarnung. Über Stunden war ich überzeugt, jetzt ist es passiert, jetzt ist der Terror auch bei uns angekommen.

Aus psychologischer Sicht lautet meine Erkenntnis aus diesem Abend: Der 22. Juni 2016 stellt einen Wendepunkt in Deutschland dar. Denn er machte deutlich, dass sich etwas in unserem Land verändert hat. Die Angst steckt uns tief in den Knochen, und sie übernimmt in bedrohlichen Situationen die Regie. Bis Mitternacht gingen bei der Münchner Polizei laut offiziellen Angaben 4310 Notrufe ein, die Polizei rückte zu 67 Einsatzorten aus, weil Schüsse gemeldet wurden. 66 entpuppten sich als Fehlalarme.

Das Phänomen, dass Menschen an verschiedenen Orten der Stadt Schüsse gehört haben wollen, kenne ich aus Erfurt, wo ich im April 2002 nach dem Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium die Schule betreut habe. In dem Gymnasium hatte ein 19-jähriger ehemaliger Schüler 16 Menschen und am Ende sich selbst erschossen. Damals waren mehrere Schüler felsenfest davon überzeugt, gleichzeitig aus dem Erdgeschoss und einem oberen Stockwerk Schüsse gehört zu haben, obwohl durch Rekonstruktionen des Geschehens die Existenz eines zweiten Täters eindeutig widerlegt werden konnte und der Täter nur im Erdgeschoss Schüsse abgegeben hatte. In der Psychologie wissen wir, dass in solch einer Ausnahmesituation Wahrnehmungsverzerrungen entstehen können. Der große Unterschied zu München ist: Die Kinder in Erfurt waren in einer konkreten Gefahrensituation. Sie saßen in einer Schule fest, in der geschossen wurde. In München hingegen waren die wenigsten der Menschen, die in Panik verfielen und von Schüssen berichteten, konkret gefährdet gewesen. Trotzdem hat ihre Wahrnehmung verrückt gespielt. Für mich ein eindrücklicher Hinweis auf das Ausmaß der Angst, die uns in Deutschland dieser Tage im Griff hat.

Die Überreaktion vieler Menschen in München beruhte auf einer hohen inneren Anspannung aufgrund von Angst- und Unsicherheitsgefühlen. Die Panik war oft unbegründet, aber sie war real. Deswegen sollten wir sie nicht einfach als »Hysterie« abhaken und zur Tagesordnung übergehen, sondern wir sollten sie ernst nehmen und nach den Ursachen forschen. Woher kommt diese Angst, die sich an diesem unheilvollen Abend in einer Art Katharsis entlud?

Die kollektive Verunsicherung

Seit einiger Zeit kämen immer mehr Patienten mit einer generalisierten Angststörung zu ihnen in die Praxis, berichten mir Kollegen. Das heißt Menschen mit einer anhaltenden Angst, die nicht auf bestimmte Auslöser in der unmittelbaren Umgebung beschränkt und durch eine große Anzahl von Sorgen und Vorahnungen bestimmt ist. Lässt sich darin ein Indikator für den seelischen Zustand der deutschen Gesamtbevölkerung sehen? Ich meine: Ja. Die Deutschen sind meiner Ansicht nach von einer kollektiven Verunsicherung ergriffen, die sich über die vergangenen Jahre aufgebaut und in 2016 ein alarmierend hohes Niveau erreicht hat. Die Ursachen für dieses Unsicherheitsgefühl sind vielfältig.

Ein wichtiger Aspekt aus psychologischer Sicht ist das Gefühl, nicht mehr Herr über das eigene Schicksal zu sein und sich immer weniger als selbstwirksam zu erleben. Wir leben in einer globalisierten Welt, in der die wirtschaftlichen Zusammenhänge für uns undurchschaubar geworden sind. Ist die Zinspolitik der Europäischen Zentralbank langfristig gut oder schlecht für uns? Bringt das geplante Wirtschafts- und Handelsabkommen zwischen der EU und Kanada, CETA, unserem Land mehr Vor- oder Nachteile? Und was ist mit TTIP, dem heiß diskutierten transatlantischen Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA? Bleiben dabei wirklich Verbraucherschutz- und Umweltstandards auf der Strecke? Oder ist es tatsächlich eine einmalige Chance für die europäische Wirtschaft, um international wettbewerbsfähig zu bleiben? Wer blickt da noch durch? Und spielt es überhaupt eine Rolle, dass wir den Durchblick verloren haben?

An den entscheidenden politischen Schaltstellen scheint das niemanden wirklich zu interessieren. Dieser Eindruck vermittelt sich jedenfalls vielen deutschen Bürgern. Und er verstärkt das beunruhigende Gefühl, kaum noch Einfluss auf wichtige Entscheidungen zu haben, die uns alle betreffen. Wie auch den Eindruck, weniger denn je selbst bestimmen zu können, was mit einem und um einen herum passiert, sondern passives Opfer von Entscheidungen zu sein, die »die da oben« in Berlin oder Brüssel treffen. Diese Mischung aus Überforderung und Fremdbestimmung ist durch die Globalisierung unserer Welt zu einer explosiven Gemengelage geworden, sie verunsichert die Menschen zutiefst und füttert unsere Angst.

Auch die vielen Berichte über drohende Altersarmut und wachsende Ungleichheit in der Gesellschaft lasten den Menschen auf der Seele. Sie lassen die Deutschen mit einem mulmigen Gefühl in die Zukunft blicken, obwohl es ihnen wirtschaftlich so gut geht wie nie zuvor. In einer Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach (IfD) (www.ifd-allensbach.de), die im ersten Halbjahr 2016 durchgeführt wurde, bezeichneten 75 Prozent der befragten 30- bis 59-Jährigen ihre Lebensqualität als gut oder sehr gut. Trotz der komfortablen eigenen Lage sei der Zukunftsoptimismus der sogenannten »Generation Mitte« jedoch steil zurückgegangen, berichtet die Geschäftsführerin des Allensbach-Instituts Renate Köcher.

Nicht nur materielle Zukunftssorgen, auch die Beunruhigung durch die angespannte Weltlage ist bei den 30- bis 59-Jährigen wie in allen Altersschichten stark gewachsen.

Die Welt, in der wir leben, scheint keine sichere mehr zu sein. Die internationalen Krisen nehmen kein Ende, und ihre Auswirkungen werden auch bei uns immer deutlicher spürbar. Die EU steckt in einer finanziellen Dauerkrise. Wie geht es weiter mit dem hoffnungslos verschuldeten Griechenland, was wird aus den anderen schwächelnden EU – Mitgliedsstaaten? Wie stabil ist Europa überhaupt noch?

Der Brexit hat viele Menschen schockiert und verunsichert, zumal sich auch in Nachbarstaaten wie Frankreich, Österreich und den Niederlanden die erstarkenden rechtspopulistischen Parteien für einen EU – Austritt stark machen. Auch bei uns gewinnen Rechtspopulisten an politischem Gewicht. Das, was wir in den letzten Jahrzehnten als selbstverständlich und unantastbar betrachtet haben – Frieden, Freiheit, Demokratie –, scheint plötzlich in Gefahr. Mitten in Europa, in Ungarn und Polen, stehen demokratische Prinzipien, Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit zur Disposition. In der Türkei und Russland bestehen berechtigte Zweifel, ob man überhaupt noch von Demokratie sprechen kann.

Besonders große Angst habe der Krieg in der Ukraine in ihnen auslöst, sagen mir viele Menschen. Er hat uns gezeigt, wie fragil der Frieden und wie unberechenbar politische Konflikte in unserer unmittelbaren Umgebung geworden sind. Doch auch Konflikte und Krisen, die sich früher in sicherer Entfernung abspielten, rücken jetzt nah an uns heran. In Syrien ist ein Ende des furchtbaren Bürgerkriegs mit internationaler Beteiligung heute nicht abzusehen.

Von dort und aus anderen Krisenregionen flüchten die Menschen zu Hunderttausenden und suchen unter anderem in Deutschland Sicherheit und eine gute Zukunft. 890 000 Flüchtlinge sind laut Innenministerium 2015 nach Deutschland gekommen, 2016 noch einmal 280 000. Kann unser Land das bewältigen, fragen sich viele Deutsche. Wie verändert sich Deutschland durch den Zuzug so vieler Menschen aus einem anderen Kulturkreis? Zur selben Zeit hat der Terror des sogenannten »Islamischen Staates« (IS) in Europa Einzug gehalten und 2016 auch Deutschland erreicht. All dies zusammengenommen sorgt bei uns unterschwellig für ein ständiges Gefühl von Bedrohung, das nach und nach immer stärker geworden ist und 2016, wie Umfragen zeigen, seinen vorläufigen Höhepunkt fand.

Die Frage, warum wir uns vor allem durch Terror bedroht fühlen, kann man so beantworten: Wir fühlen uns unsicher, weil niemand mehr vor diesen grauenvollen Taten die Augen verschließen kann, denn jeder ist auf irgendeine Weise damit konfrontiert: durch die Nachrichten über aktuelle Ereignisse, durch Terrorwarnungen, durch eigenes Erleben oder Erlebnisse von Menschen, die man kennt, und schließlich auch durch den Kontakt zu Flüchtlingen, die den Terror im eigenen Land erlebt haben.

Die Angst vor Terror erscheint mir in Deutschland übrigens nicht ausgeprägter als in anderen Ländern, die ich kenne. Im Zusammenhang mit Angst wird ja gerne der Begriff »German Angst« strapaziert. Im Ausland hat man uns lange Zeit für unsere Angst vor der Umweltzerstörung belächelt, genauso wie für unsere kritische Einstellung zur Atomkraft. Unsere Befürchtungen diesbezüglich haben sich ja leider nicht als unbegründet erwiesen. Ich denke aber nicht, dass wir Deutschen generell übermäßig ängstlich sind. Jedenfalls nicht ängstlicher als andere Nationen.

Angst vor dem Terror: Die Schlüsselereignisse

Die erste schwere Erschütterung erfuhr unser Sicherheitsgefühl durch die Anschläge am 11. September 2001 in New York. Seitdem nistet die Angst vor islamistischem Terror in unseren Köpfen. Mit den Jahren wurde sie nur unmerklich größer, dafür gediehen andere Ängste, von denen ich gerade die aktuell wirksamsten beschrieben habe. Ich konnte beobachten, wie wir in dieser Zeit immer dünnhäutiger wurden. Unser Sicherheitsgefühl wies also schon spürbare Risse auf, als der islamistische Terror 2015 plötzlich näher und näher rückte und unser Angstlevel auf ein bislang nicht gekanntes Niveau katapultierte. Mit jedem Anschlag wurde das Bedrohungsgefühl größer.

Dabei haben einige Ereignisse in den vergangenen zwei Jahren unserem Sicherheitsgefühl ganz besonders zugesetzt. Diese Ereignisse möchte ich an dieser Stelle noch einmal in Erinnerung rufen, denn wir sind zwar immer sehr mitgenommen, wenn es einen neuen Gewaltakt gegeben hat, verdrängen das Geschehene aber oft schnell wieder. Das ist eine Art Selbstberuhigung der Psyche.

Im Hintergrund arbeiten diese Ereignisse jedoch weiter in uns und erzeugen so das »unbestimmte« Angstgefühl.

Als der Terror nach Europa kam

Den Beginn des kollektiven Terrorangst-Schubs markiert der islamistisch motivierte Anschlag auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo am 7. Januar 2015 in Paris. Zwei Terroristen erschossen elf Menschen in der Redaktion und später auf der Flucht einen Polizisten, es gab mehrere Verletzte. Der Anschlag erschütterte die Menschen in der gesamten westlichen Welt und erzeugte Abscheu, Mitgefühl mit den Betroffenen und vor allem Wut gegen die Täter. Doch es wurde auch diskutiert. Die Mitarbeiter von Charlie Hebdo provozieren mit ihren Karikaturen auf eine Weise, die viele vor den Kopf stößt. Man müsse bei Satire doch nicht unbedingt so weit gehen, Meinungsfreiheit hin oder her, hörte ich in Gesprächen. Die Macher von Charlie Hebdo seien mit ihrer Mohammed-Karikatur übers Ziel hinausgeschossen und hätten diese Gewalttat damit gewissermaßen herausgefordert. Diese Haltung wirkt ein wenig wie ein Beruhigungsmittel: »Ja, der Anschlag war furchtbar, aber er betrifft eine bestimmte Gruppe, mit der ich nichts zu tun habe.«

Dass der islamistische Terror jeden Einzelnen von uns etwas angeht und jeden treffen kann, wurde beim nächsten Anschlag einige Monate später klar. Der 13. November 2015 hat sich tief ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Bei einer Anschlagserie in Paris töteten islamistische Terroristen 130 Menschen, 352 wurden teilweise schwer verletzt. Die Angriffe richteten sich gegen das Fußballstadion Stade de France in Saint-Denis, gegen Bars, Cafés und Restaurants im Ausgehviertel um den Canal Saint-Martin in der Innenstadt und den Konzertsaal Bataclan. Diese Taten nehmen wir sozusagen persönlich. Wir empfinden sie als eindeutigen Angriff auf unsere freiheitlichen Werte und unseren liberalen Lebensstil. Paris, die Stadt der Liebe, der Leichtigkeit des Lebens, der Vielfalt und Toleranz: Viele Deutsche verbinden mit der französischen Hauptstadt eigene positive Erinnerungen und Sehnsüchte nach einem leichten, lockeren, genussvollen Leben.

Nach den Attentaten herrschte pures Entsetzen. Die Fernsehberichte lösten ein tiefes Mitgefühl bei uns aus, überall versammelten sich Menschen, um ihrer Anteilnahme und Trauer Ausdruck zu verleihen. Vor der französischen Botschaft in Berlin und an öffentlichen Plätzen in zahlreichen deutschen Städten wurden Blumen niedergelegt und Kerzen entzündet. An unzähligen Jacken und Taschen sah man über Wochen »Je suis Paris«-Buttons.

Neben der Trauer beschäftigten viele Menschen angstvolle Gedanken. Kaum jemand, der sich nicht fragte: »Was wäre, wenn so etwas auch bei uns passiert?« Die meisten drängten diese bedrückende Vorstellung allerdings schnell wieder weg und beruhigten sich mit Erklärungsversuchen: In Frankreich gibt es schon lange soziale Probleme, man kennt die Bilder aus den Pariser Vorstädten, mit der Situation in Deutschland ist das ja nicht vergleichbar. Andere – darunter auch ich – begannen, sich Sorgen zu machen. Die Attentäter von Paris hatten teilweise französische und belgische Pässe. Sie gehörten offenbar zu den sogenannten »Angry Young Men«, die für sich in unserer westlichen Gesellschaft keine Chancen sehen, die sich ausgeschlossen und abgehängt fühlen. Bekämen wir es bald auch bei uns in Deutschland mit diesem Problem zu tun, wenn es uns nicht gelingt, die jungen Flüchtlinge erfolgreich zu integrieren?

Dann kam die Silvesternacht 2015/2016. In Köln ereigneten sich zahlreiche sexuelle Übergriffe auf Frauen, verübt durch Gruppen junger Männer, die vornehmlich aus dem nordafrikanischen und arabischen Raum stammen. Aus anderen deutschen Städten wurden ähnliche Vorfälle gemeldet, wenn auch nicht in der Größenordnung von Köln. Mit diesen Übergriffen fanden die schon seit Längerem bei vielen bestehenden Vorbehalte gegen die große Anzahl zu uns gekommener Flüchtlinge eine Bestätigung. Die Menschen in Deutschland empfanden Wut, Hilflosigkeit und Unverständnis. In der emotional aufgeladenen Atmosphäre wurden Flüchtlinge pauschal verurteilt, und weite Teile der Bevölkerung beschlich das ungute Gefühl, sich in Gegenwart von Migranten und Asylsuchenden nicht mehr sicher fühlen zu können. Gegenargumente, auch deutsche Männer seien häufig übergriffig, auf dem Münchner Oktoberfest etwa geschähen jedes Jahr Vergewaltigungen, führten zu hitzigen Diskussionen. Das in der islamischen Welt vorherrschende Frauenbild rückte in den Vordergrund der öffentlichen Debatte. Bei vielen Bürgern sind damals Zweifel entstanden, ob muslimische Flüchtlinge bereit und in der Lage sind, sich in unsere auf Gleichberechtigung der Geschlechter ausgerichtete Gesellschaft zu integrieren.

Als besonders desaströs im Hinblick auf unser Sicherheitsgefühl erweist sich im Rückblick jedoch ein anderer Punkt: Die Kölner Polizei wirkte in dieser Nacht hilflos und überfordert, viele der betroffenen Frauen fühlten sich in ihrer Not nicht ernst genommen und allein gelassen. Die Erfahrung, dass die Kölner Polizei die Situation überhaupt nicht im Griff hatte, die anschließende juristische Aufarbeitung der Übergriffe nur zu wenigen Verurteilungen führte und wir uns dadurch von den zuständigen Behörden nicht geschützt fühlen, hat viele Menschen, insbesondere Frauen enorm und dauerhaft verunsichert.

Wenige Tage später, am 12. Januar 2016, sprengte sich in Istanbul auf dem Platz zwischen Hagia Sophia und Blauer Moschee ein Selbstmordattentäter inmitten einer deutschen Touristengruppe in die Luft. Er riss zwölf Menschen mit in den Tod, 13 wurden verletzt. Zum ersten Mal wurde klar, dass die Islamisten auch Deutschland als Ziel für Attentate im Visier haben.

Für mich selbst rückte das Thema besonders nahe, als sich eine Frau bei mir meldete, die ihren Mann bei dem Anschlag verloren hatte. Der Anblick dieser Frau führte mir die Brutalität und die schwer zu verkraftende Willkür bei solchen Taten eindrücklich vor Augen: Sie hatte schwere Verletzungen an einem Arm und beiden Füßen erlitten und war gezeichnet von mehreren Operationen und Hauttransplantationen. In ihrem Gesicht konnte ich Splitter und Schmutzpartikel sehen, die durch die Druckwelle der Explosion in ihre Haut eingedrungen waren. Ihr Vertrauen in die Welt ist durch diesen Anschlag tief erschüttert. Sie vergießt immer wieder viele Tränen über den Verlust ihres Ehemannes und kann nicht verstehen, warum sein Leben und ihre gemeinsame Zukunft vernichtet wurden, wo sie doch nie etwas mit Politik zu tun gehabt hatten. Diese gefühlte Sinnlosigkeit macht es den Opfern solcher Attentate, aber auch für Unbeteiligte besonders schwer, diese Gewalttaten zu verarbeiten.

Es folgten die Selbstmordattentate am 22. März 2016 in Brüssel. Am Flughafen und in der Innenstadt starben 35 Menschen, darunter drei der islamistischen Attentäter, mehr als 300 Passanten wurden verletzt. Die Angstspirale drehte sich weiter. Durch diesen Anschlag wurden Flughäfen und Bahnhöfe auch für viele Deutsche zu Orten, die man möglichst meidet, um sich keiner Gefahr auszusetzen. Wer trotzdem fliegt oder fliegen muss, tut das seither mit einem unangenehm angespannten Gefühl. Man scannt andere Fluggäste nach Auffälligkeiten ab, beobachtet ihr Verhalten, schaut sich ihr Gepäck genau an. Reisen wird für viele zur emotionalen Belastung.

Bei jedem Anschlag geschieht etwas, das bislang unvorstellbar, undenkbar war. Das zeigte besonders das Attentat am 14. Juli 2016 in Nizza. Dass jemand mit einem Lastwagen absichtlich in eine unbekümmert feiernde Menschenmenge fährt, das kann und darf nicht sein. Doch genau das geschah in Nizza. Ein islamistischer Attentäter tötete am französischen Nationalfeiertag auf der Promenade des Anglais mit einem LKW 86 Menschen und verletzte mehr als 300 zum Teil schwer. Die Fassungslosigkeit und das Entsetzen ob der Brutalität und Abartigkeit dieses Anschlags raubte allen, mit denen ich danach sprach, fast die Sprache. Dass der Täter wahllos Menschen überfuhr, darunter viele Kinder, stellt eine neue Stufe der Perversion dar. Danach wurden im Internet kursierende Videos des IS bekannt, die dazu aufrufen, die »Ungläubigen« mit Messern und Äxten zu töten oder sie zu überfahren. Diese Appelle lösten Bestürzung aus und forcierten unsere Ängste. Was die Angst vor dem islamistischen Terror so stark macht, ist die Willkür, mit der die Täter morden. Es kann theoretisch jeden jederzeit und an jedem Ort treffen. Es gibt keine Regeln, keine Tabus und keine Schutzzonen wie Gotteshäuser oder Krankenhäuser mehr.

»Nicht einmal im Regionalzug ist man mehr sicher!« war der erste Gedanke, der vielen Menschen nach der Gewalttat am 19. Juli 2016 bei Würzburg durch den Kopf schoss. Ein 17-jähriger, vom IS instruierter Attentäter hatte mehrere Menschen mit einer Axt und einem Messer attackiert und verletzt, bevor die Polizei ihn schließlich erschoss. Die Tatsache, dass der junge Flüchtling als gut integriert galt, seit Kurzem in einer deutschen Pflegefamilie lebte und als freundlicher und offener Mensch wahrgenommen worden war, verunsicherte besonders und erschütterte das Vertrauen in Asylsuchende. Selbst diejenigen, die immer wieder betonen, die Mehrzahl der Flüchtlinge sei doch in Ordnung, befällt inzwischen ein mulmiges Gefühl, wenn sie daran denken, was nur ein einziger weiterer vom IS für den Kampf gegen die westlichen Demokratien instrumentalisierter Attentäter anrichten könnte.

Drei Tage später, am 22. Juli 2016, tötete ein 18-jähriger Schüler in München bei einem Amoklauf neun Menschen, verletzte vier weitere und erschoss am Ende sich selbst. Wie beschrieben, brach überall in der Innenstadt Panik aus, obwohl sich der Amoklauf im rund fünf Kilometer entfernten Olympia-Einkaufszentrum ereignete. Die Angst vor einem Terroranschlag war durch die Ereignisse der letzten Monate so angewachsen, dass die vielen Falschmeldungen, Gerüchte und Fehlalarme in klassischen und sozialen Medien auf fruchtbaren Boden fielen. Viele Menschen glaubten an einen islamistischen Anschlag und reagierten panisch. Auf die Rolle der Medienbilder und der sozialen Medien an diesem Abend werde ich an anderer Stelle noch einmal ausführlich eingehen. Sicher aber wäre es nicht zu derart ausgeprägten, massenhaften Panikreaktionen gekommen, wenn die vorherigen Attentate die Angstspirale nicht bereits auf ein extrem hohes Level getrieben hätten. Die schlussendliche Erkenntnis, dass es sich bei der Gewalttat im OEZ