Die noch guten Zeiten (1905-1932) - Fred H. Meyer - E-Book

Die noch guten Zeiten (1905-1932) E-Book

Fred H. Meyer

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Beschreibung

“Seit ich das Land, das meine Heimat war, verlassen habe, wurde mir überall, wohin ich gereist bin und gelebt habe, die gleiche Frage gestellt: Wie konnte es zu einem Hitler kommen, im Land der Dichter und Wissenschaftler und Denker, im Land der Musik und der Künste, im Land des Überflusses, im Land der Ordnung und Effizienz, der Sauberkeit und Zuverlässigkeit, im Land der Menschlichkeit selbst?” Der 1905 als deutscher Jude in Hannover geborene Fred Harry Meyer (1905-1969) floh 1937 mit seiner neuen christlichen Braut in letzter Minute in die USA. Seine Autobiografie zeichnet ein lebendiges und detailliertes, zugleich aber auch bewegtes Bild des Lebens, das er in Deutschland bis 1932 zurückgelassen hat, und der Ereignisse, die zum Nationalsozialismus, dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust führten.

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Seitenzahl: 191

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ibidem-Verlag, Stuttgart

 

 

 

 

 

 

 

Meinem Vater zugeeignet

 

aber ebenso

meiner Mutter Hildegard

 

und Zel, der späten Liebe meines Vaters,

und ihrem Sohn Sheldon („Alasom“, wie ihn mein Vater nannte [fast mein eigener Sohn]),

 

und

meiner eigenen Familie (Marc, Eric, Tanya und Kim), auf die er so stolz gewesen wäre.

Inhaltsverzeichnis

Zeittafel

Zum Geleit

Kapitel 1: Der familiäre Rahmen

Kapitel 2: Das gesellschaftliche Umfeld

Kapitel 3: Der große Krieg (1914 – 1918)

Kapitel 4: Der Sprössling

Kapitel 5: Die Lehrjahre (1918-1923)

Kapitel 6: In Saus und Braus

Kapitel 7: Die Inflation schlägt zu

Kapitel 8: Vom Millionär zum Tellerwäscher

Kapitel 9: London und mein neues Leben

Kapitel 10: Leben und Lernen im Ausland

Kapitel 11: Wieder im Heimatland

Kapitel 12: Träume von Liebe und Glanz

Kapitel 13: Für immer und ewig Kinder unserer Väter

Kapitel 14: Dunkle Wolken am Himmel

Kapitel 15: Im Westen nichts Neues

Anmerkung des Autors

Schlussbemerkung der Tochter

Zeittafel

1903Hochzeitstag der Eltern (Gustav Meyer heiratet Dora Salomon) Wohnort Schlägerstraße

1905 Geburtsdatum (24. Januar)

1909/ 6-jährig Geburt und Tod des ersten kleinen Bruders

1911/ 8-jährig Umzug in die Bödeckerstraße Geburt des kleinen Bruders Karl Heinz

 

WELTKRIEG I

 

• 1914/Alter 9

• 1915/Alter 10

• 1916/Alter 11 Tod von Karl-Heinz

• 1917/Alter 12

• 1918/Alter 13 Deutsches Reich verliert den Ersten Weltkrieg (Waffenstillstand im November)

 

Revolutionärer Aufstand – Kaiser gestürzt

Gründung der Weimarer Republik

Umzug in die Waldstraße

 

1919 Der Vertrag von Versailles diktiert die Friedensbedingungen Hitler tritt der Deutschen Arbeiterpartei bei

1920/ 15jährig

1922/ 17jährig Lehrjahre in Hannover

(Jahresmitte) Preise verhundertfachen sich

1923 (Juli bis Nov) Preise steigen zwischen millionen- und milliardenfach gegenüber dem vorigen Niveau

(Nov) Abruptes Ende der Inflation durch den neuen Chef der Deutschen Bundesbank, Hjalmar Schach, katastrophal für jene, die sich unter der Annahme, dass die Preise weiter steigen würden, stark verschuldet hatten.

Hitlers Bierhallen Putschversuch

(Dez) Hitler wird aus dem Gefängnis Landsburg befreit

Nazi-Partei gewinnt 24 Sitze im Reichstag

1924/ 19jährig zweijährige Berufslehre in London

1925/ 20jährig (Juni) Schutzstaffel ((SS) wird gegründet

1927 Paris/Breslau

(Juli) Nazi-Partei veranstaltet ihren ersten Nürnberger Reichsparteitag

1928/ 23jährig Berlin/Hannover

(Mai) Die Nazi-Partei gewinnt weniger (14) Sitze im Reichstag

1929 (Dez) Mitgliedschaft der Nazi-Partei von 178.000 Personen

1930/25jährig (Jan) Wilhelm Frick erster Nazi-Minister in der Landesregierung

(Sept) Nazi-Partei gewinnt 107 Sitze im Reichstag

(Dez) Die Arbeitslosigkeit in Deutschland erreicht fast 4 Millionen Menschen

1932 (März) Paul von Hindenburg schlägt Hitler bei den Präsidenschaftswahlen

(April) Sturmabteilung wird verboten

In Preußen wird die Nazi-Partei zur größten Einzelpartei im Landtag

(Juni) von Papen (Kanzler unter Hindenburg) hebt das Verbot der Sturmabteilung auf

(Juli) Nazi-Partei gewinnt 230 Sitze im Reichstag

(Aug) Hitler weigert sich, unter von Papen als Vizekanzler Deutschlands zu dienen

(Nov) von Papen tritt als Kanzler Deutschlands zurück

 

Ende der noch guten Zeiten

 

1933/28jährig (Jan) Hitler wird deutscher Bundeskanzler

(März) Die Nazi-Partei gewinnt im Reichstag keine ausreichende Mehrheit

Erstes NS-Konzentrationslager in Dachau eingerichtet

Reichstag verabschiedet das Ermächtigungsgesetz (Hitler und sein Kabinett können fortan Gesetze ohne Beteiligung des Reichstags erlassen)

(Juni) Hitler erhöht die Zahl der Nazis in seiner Regierung

(Okt) Heirat mit Hildegard Kehlhofer

1934 (März) Hitler vergrössert die deutsche Armee

(Aug) Paul von Hindenburg stirbt und Hitler wird Präsident und Kanzler

1935 Nürnberger Gesetze entziehen Juden die deutsche Staatsbürgerschaft

1936 (März) Deutschland besetzt das Rheinland

(Aug) Hitler führt eine obligatorische 2-jährige Militärrekrutierung ein

(Nov) Hitler und Mussolini bilden ein Militärbündnis

Deutschland und Japan unterzeichnen einen Antikominternpakt

1937/32jährig (Feb) Frankreich erweitert Maginot-Linie entlang der Grenze zu Deutschland

(April) Guernica wird von der Luftwaffe bombardiert

(Aug) Emigriert in die USA (dank Gustavs Patenschaft)

 

1936/37 Enteignung des Familienunternehmens

1938 (9. Nov) Kristallnacht

1940 (2. Feb) Tod seiner Mutter, Dora (Salomon) Meyer

1941 (15. Dez) Tod seines Vaters, Gustav Meyer

1968 (14. Feb) Todesdatum von Fred Harry

 

2001 Mitteilung der Bank in Hannover, dass kein Familienkonto in der Bank gefunden wurde1

1 “Mit Bezug auf Ihre Anfrage vom 23.04.2001 teilen wir Ihnen mit, dass sich in unseren Unterlagen keine Hinweise auf eine frühere Geschäftsverbindung mit den Herren Fred Harry Meyer, geb. am 24.01.1905, und Gustav Meyer, geb. am 15.11.1873, haben finden lassen.”

Zum Geleit

Der Titel dieses Buches – wenn es denn je zustande kommt – lautet wahrscheinlich “GUSTAV SAGTE“1. Damit ist nicht gemeint, dass sich Gustav, mein Vater, als Vorbild hinstellen wollte oder dass er von mir verlangt hätte, nach seinen Vorstellungen zu leben. Auch nicht, dass mir seine große Erfahrung zugutekam oder dass er mich meine eigenen Fehler machen ließ. Nein, er war der allerbeste Mensch in meinem Leben. Er, und nur er, steht hinter all dem, was mir das Leben bedeutet und wie ich es leben will.

 

Gustav war der wunderbarste Mensch, den ich je kannte, der beste Vater, den sich ein Junge wünschen kann. Ich liebe ihn auch jetzt (Anfang der 1960er) über alles, so viele Jahre nach seinem Tod und in einem Alter, das auch er erreichte (in den Sechzigern), als ich ihn am besten kannte.

 

Manche Menschen richten sich gerne nach Bibelzitaten. Nicht weil sie unbedingt nach diesem großen Buch der Ethik leben, sondern weil sie einfach Kraft und Lebensweisheit daraus schöpfen. Irgendwie kommen sie im Leben besser zurecht, wenn sie eine passende Stelle als Lebenshilfe finden, etwas klarstellen wollen oder weil sich ihre Empfindungen weit besser in biblischen als in eigenen Worten ausdrücken lassen.

 

Gustav in Venedig

 

Ich höre noch meinen Vater sagen: „Eine Kurve in der Straße, deutlich beschildert mit der Warnung: ACHTUNG GEFÄHRLICHE KURVE, bildet keine Gefahr. Die eigentliche Gefahr liegt in der überraschenden, unmarkierten Kurve.“ Dieses Zitat, nicht der Bibel entnommen, beschreibt genau, was ich mit dem Titel GUSTAV SAGTE meine; es ist der Ursprung meiner Lebensweisheit, mein „Buch“ des Lebens.

 

1 Als Tochter habe ich mir erlaubt, den Titel, „Die noch guten Zeiten“ zu setzen, denn er wollte einzig und allein die guten Zeiten in seinem Gedächtnis bewahren.

 

Kapitel 1: Der familiäre Rahmen

Gustav, geboren im Jahre 1876 in Salzgitter-im-Harz, einer kleinen Stadt am Fuße des Harzes (Nordwestdeutschland) als eines von neun Kindern – vier Buben und fünf Mädchen – besuchte nur wenige Jahre die öffentliche Schule.

 

Getrieben vom glühenden Verlangen, schneller zu lernen, und seiner Abenteuerlust, entschied er sich, die ein­engenden Fesseln einer normalen, kleinstädtischen, allzu behäbigen Schulbildung zu sprengen. Mit vierzehn lief er von zu Hause weg.

 

Zur SEE zu fahren war sein Ziel, die WELT zu sehen, seine Sehnsucht.

 

Er machte sich auf nach Hamburg, dem größten Hafen Deutschlands, in seinen Augen das Tor zur Welt, zum Leben in großem, großem Stil, heuerte als Schiffsjunge auf einem Schiff an und durchsegelte dann dreizehn Jahre lang die sieben Weltmeere.

 

Er lernte viel in seinen Jahren zur See und nutzte die selbstgewonnene Freiheit, sich vollends von der Schule fernzuhalten. Nie hörte er auf zu lernen. Sein Englisch war perfekt, sein Französisch hervorragend, er sprach fließend Spanisch und Portugiesisch und hat nie seine Muttersprache vernachlässigt. Literatur war seine Stärke, er war unschlagbar bei Fragen, wer was gesagt hatte. Er verehrte seine Dichter, seinen Schiller und Goethe und Heine. Er verschlang Shakespeare auf Englisch, Voltaire auf Französisch. Seine Vorliebe galt den Naturschriftstellern Bonsels und Bolsche, war aber ebenso von Wilhelm Busch, dem Will Rogers seiner Generation, begeistert. Dazu erwarb er sich eine gründliche Kenntnis der Künste vieler Länder und liebte Musik über alles.

 

Gustav, der Seemann

 

Körperlich stark, mit stahlharten Muskeln war er auch ein Ass im Boxen und Jiu-Jitsu.

 

Nach seiner Lehrzeit an Bord verschiedener Segelschiffe war er in Kürze ein vollwertiges Besatzungsmitglied, umrundete etliche Male Kap Horn, diente zuerst auf Schiffen der deutschen und englischen Handelsmarine und später als Richtschütze auf deutschen Schlachtschiffen. Er kannte die Welt und war ein richtiger Mann unter Männern.

 

Schließlich kehrte er um die Jahrhundertwende zurück und ließ sich auf deutschem Boden nieder, nahe seines Geburtsortes.

 

Freunde seines Vaters gaben Gustav seinen ersten Job als Zivilperson: er arbeitete in Einbeck (ein Flecken zwischen Hannover und seinem Geburtsort, Salzgitter Bad) und verkaufte für NEUFELD & SÖHNE an die Bauern in der Umgebung wasserfeste Decken und Planen. Man freute sich immer, das Tock-Tock-Tock seines Motorrades zu hören. Und der Erfolg blieb nicht aus.

 

Einige Jahre später zog es ihn in die Großstadt Hannover, um ein eigenes Unternehmen zu gründen. Nie wieder war er im Dienste eines Arbeitgebers. Seine Liebe zur Natur, sein angeborenes Gespür für alles, was mit dem Leben zu tun hatte und seine gründlichen Kenntnisse der Landwirtschaft, des Gartenbaus und der Tierhaltung machten ihn zu einem äußerst erfolgreichen Handelsvertreter für Deutschlands führenden Produzenten landwirtschaftlicher Maschinen, der HEINRICH LANZ AG (Mannheim am Rhein). Egal woher sein vielfältiges Wissen stammte, er war eindeutig ein gewiefter Geschäftsmann.

* * *

Gustav machte unter den Junggesellen Hannovers eine gute Figur und war in der auf eine gute Partie wartenden Töchterszene der Stadt äußerst begehrt. Hier betritt nun „Dudie“, meine geliebte Mutter, die Bühne...

 

DORA SALOMON war eine der beiden Töchter des Weinhändlers Michaelis Salomon und seiner charmanten Gemahlin Natalie, geborene Linde. „Dudie“ war eine Schönheit, strotzte vor Lebensfreude und die Gesellschaft lag ihr zu Füßen.

 

Dora “Dudie” Salomon (Röschens Schwester)

Die Großeltern Salomon waren nicht reich. Im Gegenteil, mein Großvater hatte lediglich ein knappes Einkommen. Er hatte seine Jugendliebe geheiratet; sie zogen zusammen vor vielen Jahren von Westpreussen (Lobsens, Provinz Posen) nach Hannover. Irgendwie – zweifellos besonders wegen der Intelligenz, der Schönheit und des weltoffenen Charmes meiner Großmutter – schlüpften sie leicht in den Gesellschaftskreis, der damals mit einer nicht unbeträchtlichen Anzahl jüdischer Bürger durchmischt war. Mit ihrer Liebe zum Vaterland, ihrer Treue zum Kaiser und ihrer allgemeinen Stellung als gute, bedeutende und aktive Bürger, standen sie in diesem nichts nach – waren jedenfalls ebenbürtig ihren christlichen Landsleuten, mit denen sie in gegenseitigem Respekt und Stolz ungezwungen verkehrten.

 

Die Schwester meiner Mutter, Röschen, war ein paar Jahre älter, zwar nicht so schön wie Dudie, was sie mit ihrer großen Intelligenz wettmachte, obwohl sie damit nie den richtigen Mann fand. Sprachen die Leute über die Schwestern, sprachen sie gewöhnlich von „der Schönen“ und „der Intelligenten“, doch wer daraus den Schluss zog, dass die Schönheit meiner Mutter alles andere ausschloss, wurde eines Besseren belehrt. Und während Tante Röschen wohl ein paar Bücher mehr gelesen hatte, in Sachen Gesellschaft war der Instinkt meiner Mutter unvergleichlich. Was aber die Herzensgröße betraf, übertrafen beide Schwestern alle anderen.

 

Jedenfalls passten Gustav und Dudie gut zu einander. Schon bald waren sie verheiratet.

* * *

Eigentlich habe ich keine persönlichen Erinnerungen an die Zeit in der Schlägerstraße im Süden der Stadt, wo meine Eltern zuerst wohnten. Aber ich erinnere mich sehr genau an die kleinen Geschichten, die sie mir über ihr erstes Zusammenleben erzählten. Das Wichtigste war natürlich die Tatsache, dass ich dort zur Welt kam. Das war im Jahre 1905.

 

Viele Daten im Leben einer Familie in Deutschland bekamen eine besondere Wichtigkeit, wenn sie auf den Geburtstag eines Mitglieds des Königlichen Hofs zusammenfielen. Mein Geburtstag zum Beispiel – der 24. Januar – war auch der Geburtstag des verehrten Soldatenkönigs Friedrich des Großen. Ich fand mich völlig berechtigt, ihn als meinen Namensvetter zu betrachten, umso mehr als mein Vater diesen Friedrich als historische Figur besonders hoch verehrte. Tatsächlich hieß ich Fred Harry – nicht Fritz oder Frederick – nur Fred Harry. Kindern einen englischen Vornamen zu geben war im alten welfischen Königshaus Hannovers nichts Ungewöhnliches: Es gab immer noch viele Verflechtungen mit dem alten England.

 

So nannte man zu Ehren von King George Hannovers Hauptstraße Georgstraße und die Statue von Ernst-August (1771-1851), Sohn von King George III und König von Hannover, grüßte hoch zu Ross alle Besucher der Stadt in der Blütenpracht des Platzes vor dem Bahnhof.

 

Glücklicherweise wurde ich nicht am Geburtstag des anderen, von meinem Vater verehrten Helden geboren: Napoleon Bonaparte.

Der Anekdote zufolge kam ich beinahe im neuen Seitenwagen des väterlichen Motorrads zur Welt. Dudie, die sich gerade auf einem Ausflug mit der neuen Vorrichtung befand, schaffte es gerade noch die Stiege hinauf und in die Arme der wartenden Hebamme.

 

Dudies Schlagfertigkeit zeigte sich in einer der ersten Geschichten über ihre frühen Erfahrungen mit häuslicher Arbeit. Familien waren damals nicht nur stolz auf ihren sogenannten „Weinkeller“, sondern auch auf ihre Kartoffelkörbe im Keller und den Äpfeln auf dem Boden. Sobald die Säcke voller Äpfel dort abgeladen waren, machte sich die Hausfrau – bewehrt mit einer großen Schürze – daran, jeden köstlichen Apfel zart zu säubern und ihn dann sorgfältigst, jede Verletzung meidend, liebevoll auf das Strohbett zu legen. Durch die Holzlatten konnte die Luft bei offenem Fenster frei zirkulieren und schützte die Äpfel den Winter hindurch vor Fäulnis. Als Gustav eines Tages nach Hause kam, lud der Bauer gerade die Äpfel ab. Er rannte zum oberen Stockwerk hinauf, nahm Dudie in die Arme und rief aus, wie fein jene Gravensteiner-Äpfel glänzten. Ihr aromatischer Duft strömte durchs ganze Haus. Meine Mutter, ständig bereit, dem Herrn und Meister zu dienen, nahm einen der schönsten, wischte ihn wieder an ihrer Schürze ab und sagte: „Hier, Schatzli, nimm einen.“ Mein Vater, ein waschechter Sauberkeitsfanatiker, warf einen Blick auf Mutters arg verschmutzte Schürze, und sagte: “Aber Liebling, nicht mit DIESER Schürze!“ Worauf meine Mutter erwiderte: „Oh, Schatzli, das macht gar nichts. Die Schürze wandert sowieso in die Wäsche.“

Diese kleine Episode blieb lange Jahre in bester Erinnerung und die Bemerkung, „sie wandert eh in die Wäsche“, wurde bei uns zum geflügelten Wort.

 

* * *

 

Salzgitter, Gustavs Geburtsort, blieb der Familiensitz der Meyers. Hier wohnte meine geliebte Großmutter väterlicherseits, ZERLINE. Sie war hochbetagt, wohlbeleibt und die Füße trugen sie nicht mehr. Ich erlebte sie nur, wie sie in ihrem großen Ohrenbacken-Sessel saß, dessen Kopf- und Armstützen immer filigrane, schneeweiße Spitzendeckchen zierten, in schönem Einklang mit ihrem weißen Haar. Sie hatte ein zartes, gütiges Gesicht. Funkelnde Augen.

 

Sie schien sich nie zu langweilen, war immer aufgeweckt, bewegte ihren Geist anstelle ihres Körpers und entwickelte sich beim Lösen von Rätseln und Knobelspielen in Zeitschriften und Zeitungen zu einer solchen Expertin, dass sogar Fremde sie um Rat baten. Ihr Ruf wuchs mit der Zeit sosehr, dass sie von ganz Deutschland Zuschriften bekam. Wir Kinder – oft waren mehrere Cousinen zu Besuch – liebten es, zu ihren Füßen zu sitzen und zuzuschauen, wie sie ein Rätsel löste.

 

Irgendwie war ich der Auserwählte, dessen Hand sie oft zu sich nahm und zwischen ihren warmen und weichen Händen hielt. In ihrer lieblichen Singsang-Stimme sagte sie dann ruhig, „mein Kabalier, mein Kabalier“. Nicht Kavalier, sondern deutlich „Kabalier“, und ich war überglücklich.

Sie wohnte ganz großmütterlich, überall Häkelarbeiten und Spitzendingelchen, Bonbons in leicht zu findenden Nischen und ständig war ihre Gefährtin Agnes zugegen, eine alte Jungfer von irgendwoher, die sie seit Menschengedenken begleitete. Es gab zwei unverheiratete Töchter: Meine Tante Adele (die einmal den ganzen Weg nach Australien auf sich nahm und dennoch keinen Mann fand), und Tante Hedwig – eine liebenswerte Tante, die ich jedem wünsche. Theoretisch wohnten beide bei meiner Großmutter, konnten sich aber nicht entscheiden, wer herrschen durfte, so dass eine der beiden meistens sich irgendwo bei einem Bruder oder bei einer Schwester aufhielt.

 

Ich erinnere mich an das zweisitzige Plumpsklo im Hinterhof und den stets gefrorenen Wasserkübel. Dies alles wurde durch die prachtvollen Daunenbettdecken und vor allem durch die großmütterliche Kochkunst reichlich kompensiert.

 

Ihre Wohnung war mit Familienbildern übersät, aber keines war so groß wie ihre Porträts des Kaisers und ihrer Lieblingsprinzen. „Mein Kaiser“, so nannte sie ihn, um mich zum x-ten Mal daran zu erinnern, dass meine Urgroßväter väterlicher- und mütterlicherseits angesehene Deutschlehrer in Salzgitter waren und vor allem an Kampfhandlungen in Kriegen teilgenommen hatten ... Und dann folgte unwillkürlich die Begründung, dass die Familie Meyer – eine der nur vier oder fünf weiteren jüdischen Familien in diesem kleinen Ort – das Recht beanspruchten (schriftlich festgelegt), dass die christlichen Kirchenglocken ertönen mussten, wann immer man ein Familienmitglied zu Grabe trug. Ich hörte das Läuten nur einmal, und zwar als meine Großmutter das Zeitliche gesegnet hatte. Den kleinen jüdischen Friedhof zuoberst auf einem Hügel pflegten die Salzgitter-Bürger mit großer Sorgfalt.

 

* * *

 

Der Umzug zur Wohnung in der Boedeckerstraße war ein aufregendes Ereignis. Ich erwartete damals einen kleinen Bruder, wie man mir sagte. Und dann, auf einmal, war „es“ da. Wir schreiben das Jahr 1911 und Gustav ging es gut. Man hatte ihm den neuen Spitznamen –„Auto-Meyer“ – gegeben; als einer der ersten in Hannover besaß er ein Automobil. Das war nun sein größtes Vergnügen und es lohnte sich, so konnte er die Verkäufe von Landwirtschaftsmaschinen steigern und seinen Lebensunterhalt verbessern.

 

Gustav und Dora Meyer

 

Gustav arbeitete jeden Tag von früh bis spät und verdiente reichlich. Er liebte seine Autos, die Jahr für Jahr größer wurden – und die alle offene „Phaetons“ waren. Ich sehe noch, wie er sie mit der Kurbel antrieb. Welche Wohltat, als man die erste Frontschutzscheibe montieren konnte! Vorne neben ihm zu sitzen und zu schauen, wie die Welt vorbeizog: Es gab nichts Schöneres!

 

* * *

 

Wirklich nichts Schöneres mit einer Ausnahme: Vaters Bettgeschichten sonntagmorgens. Mit offenem Mund lauschten mein Bruder und ich immer und immer wieder den gleichen Geschichten – sie hörten sich an, als ob sie sich gerade zugetragen hätten.

 

Einmal hatte er genug vom Leben an Bord einer Handelsfregatte, also schwamm er kurzentschlossen an Land. Nach ein paar Wochen Inselleben im Stil eines Robinson Crusoe heuerte er sich wieder auf dem nächsten Schiff an.

 

Oder damals auf Samoa, als er durch den Dschungel ritt und sein Hengst „Pasholl“ plötzlich bockte und sich nicht vom Fleck rührte. Gustav musste schließlich absteigen, um nach der Ursache zu suchen. Es war nur ein kleines Stück Papier, das dem Pferd missfiel – und was für eines, ein Bieretikett aus der Brauerei ... in Salzgitter!

 

Oder etwa die Zeit, als er in der Königlichen Marine diente, und im Dienst zu kochen hatte. Er war allein an Land mit einigen Wassertöpfen und dem Reis. Er erzählte, wie er ganze Säcke davon in die Töpfe leerte und wie das Zeug zu sieden begann und dann überkochte, bis er in einem Meer von Reis versank. Und nie mehr zum Kochdienst anzutreten hatte.

 

Wir wussten nie, und ich bin mir noch heute nicht sicher, was stimmte und was erfunden war. Für uns zählten nur die Geschichten. Er erzählte uns von Indien, von der Umschiffung des Kaps und vieles mehr, von seinen Abenteuern im tiefsten Afrika. Vor unseren Augen erschien der Eiffelturm, die London Bridge, Hong Kongs tummelnde Massen. Er erzählte von Gibraltar, von der Zuiderzee, von den Orchi­deen auf brasilianischen Bäumen, vom Wein in Spanien, von Fakiren, Zulus und Hindus. Von Wüstenfüchsen, Tigern, Löwen, Elefanten und Klapperschlangen. Von Gott. Er ließ uns teilhaben an seiner Liebe zur Natur und lehrte uns unzählige Dinge, nicht zuletzt die Gabe des Gebets. Er führte uns so nah wie möglich an die Türen des Schöpfers.

 

* * *

 

GUSTAV war unerbittlich, wenn es um Wahrheit, um Ehrlichkeit ging, und nichts machte ihn wütender als eine Unwahrheit. Nur zweimal in meinem Leben hat er die Hand gegen mich erhoben: Einmal hatte ich gelogen, und einmal gestohlen.

 

Die Lüge hatte damit zu tun, dass wir essen mussten, was auf den Tisch kam. Schmeckte uns etwas nicht, wurde es uns bei der nächsten Mahlzeit wieder vorgesetzt und so weiter, bis wir es endlich hinunter würgten. Als nun meine Mutter dem Vater stolz berichtete, ich hätte besagtes Butterbrot schließlich gegessen, bat er mich, dies zu bestätigen, was ich auch tat. Ich hatte keine Ahnung, dass mein Sandwich, das ich hastig unter den Kleiderständer im Flur geworfen hatte, auf der anderen Seite sichtbar auf dem Boden lag, zum großen Ärger meines Vaters. Zwar vertrat er nicht immer Mutters „Nahrungspolitik“, aber bei einer Lüge des Sohnes kannte er kein Erbarmen.

 

Der Diebstahl geschah zusammen mit meinem Busenfreund Herman, und zwar in den Räumen einer der besten Bäckereien im Quartier, die sich sozusagen zu unserem Verhängnis im Erdgeschoss unseres Wohnhauses eingenistet hatte. Die Konditorei Imhoff war nicht nur bekannt für ihre Brot- und Backwaren, sondern auch für festliche Schokoladefiguren – für Osterküken und Osterhasen, Engel und Weihnachtsmänner. Außerhalb der Saison erfanden sie leckere Spielzeuge aus Schokolade. Was Herman und mich betraf, schlug das Schicksal in der Gestalt eines erklecklichen Schokoladenschlüssels zu. Wie in aller Welt es uns gelungen war, diesen Schlüssel aus dem Laden zu schmuggeln, weiß ich nicht mehr, aber ein Freund unserer Väter entdeckte uns unglücklicherweise beim Verschlingen unseres Schatzes. Die Sache kam ans Licht und beide Väter verpassten uns eine tüchtige Tracht Prügel. Zu allem Leid mussten wir noch die nächsten paar Wochen für Herrn Imhoff Brötchen austragen, bis die Schuld völlig abgetragen war. Diese Lehre habe ich nie mehr vergessen.

 

Meine Mutter hatte eine besonders schnelle und lose Hand, was das Watschen betraf. Die Zeit reichte nicht einmal, um „autsch“ zu sagen, und schon war ihr Handrücken auf dem Gesicht gelandet. Es passierte ständig – und – zugegebenermaßen eigentlich völlig verdient! Es geschah aus Liebe und verschonte weder Cousin noch Freund auf Besuch – und zwar so häufig, dass man ihr liebevoll den Beinamen Tante Patsch beigelegt hatte. Oft trat Tante Röschen dazwischen und rief aus: „Nicht ins Gesicht, Dudie, nicht ins Gesicht.“ Doch die Watsche hatte bereits ins Schwarze getroffen...

Der Ärger dauerte nie lange. War die Strafe einmal von Vater oder Mutter ausgeteilt, kehrte wieder die Liebe ein. Während meiner ganzen Kindheit war eine grundlegende Tatsache unbestritten: „Die Eltern sind gut!“

 

* * *

 

Die Jagd machte meinem Vater die allergrößte Freude – eine Freude, die seiner Liebe zur Natur, zur Fairness und Kameradschaft entsprach. Doch stellte er das Vergnügen nie über seine Arbeit. Dieses Gesetz nahm ich mir zu Herzen. Einmal war er von einem treuen Freund und Kunden, Christian Holz, zu dessen legendären Jagdgründen in Niedersachsen eingeladen. Gustav war gerade von einer langen beschwerlichen Fahrt über eisige und verschneite Straßen nach Hause zurückgekehrt. Er zog sich um und holte seine Jagdausrüstung und freute sich riesig auf das lang ersehnte Ereignis. Da läutete das Telefon. Der Anruf kam von einem Dorf etliche Kilometer entfernt. Seit einiger Zeit war mein Vater mit den Bauern dort in Verhandlung wegen des Kaufs einer großen Landwirtschaftsmaschine. Der Anruf unterrichtete ihn über eine Versammlung der Dorfältesten; es gehe um den Entscheid, ob sie zusammen das Geld für die Maschine zur Verfügung stellen wollten. „Ich komme“, sagte Gustav, ohne zu zögern. Meine Mutter bat ihn, das so lange ersehnte Jagdabenteuer nicht aufzugeben, doch schon steckte er wieder in seinem Geschäftsanzug, bereit für die Fahrt auf den vereisten Straßen.

 

Er schickte nach Beste, um das Auto aus der Scheune zu holen. Es sei hier gesagt, dass damals die Anstellung eines Chauffeurs nicht reiner Luxus war, besonders für jemanden, der das Auto geschäftlich brauchte. Tankstellen und Reparaturwerkstätten waren dünn gesät. Der Chauffeur war vor allem auch ein Mechaniker und verantwortlich für den zur Reise benötigten Treibstoff.

 

* * *