Die November-Schwestern - Josephine Johnson - E-Book
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Die November-Schwestern E-Book

Josephine Johnson

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Beschreibung

»Ein Buch, das man gelesen haben muss – eine Geschichte, die sich ins Gedächtnis einbrennt.«Kirkus Reviews.

Die Anstellung eines jungen Mannes auf der elterlichen Farm bringt das Leben der drei Haldmarne-Schwestern durcheinander, das im fragilen Gleichgewicht der Jahreszeiten verläuft. Als dann der Regen ausbleibt und damit die Ernte im Herbst, wird der November zu einem Ende und zugleich zu einem Anfang. Nicht nur Margets Blick auf die älteste Schwester Kerrin verändert sich grundlegend, nachhaltig verändert ist ihr Blick auf das eigene Leben und die Chancen, die es zu ergreifen gilt.

Mit gerade einmal 24 Jahren erhielt Josephine Johnson für ihren Debütroman »Die November-Schwestern« den Pulitzer-Preis. Aktuell wird sie international neu entdeckt – dank ihres einzigartigen Sounds und der Themen, mit denen sie ihrer Zeit weit voraus war. 

»Eine wichtige Autorin und radikale Stilistin, die ich jetzt erst entdeckt habe.«Monika Rinck. 

»Poetisch im besten Sinne, höchst originell, ja vollkommen.«The New York Times.

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Seitenzahl: 249

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Über das Buch

Marget und ihre ungleichen Schwestern Kerrin und Merle ziehen mit den Eltern auf eine verlassene Farm. Es ist die letzte Chance für die Familie, trotz Wirtschaftskrise ein Auskommen zu finden. Nach einer Zeit unerbittlich harter Arbeit, um das mit einer Hypothek belastete Land nicht zu verlieren und wenigstens die Hoffnung auf eine bessere Zukunft aufrechtzuerhalten, kommt ein junger Mann, der dem Vater zur Hand geht. Jede der drei Schwestern reagiert völlig anders auf den Fremden, der von nun an mit ihnen unter einem Dach lebt – bis es zur Katastrophe kommt und alles infrage steht, was bis dahin unveränderlich erschien. Ist die Hoffnung wirklich eine Obsession, die niemals stirbt?

Josephine Johnson öffnet uns die Augen dafür, wie die Benachteiligten in unserer Gesellschaft an den Rand gedrängt, wie Land und Tier ausgebeutet werden. Und sie wirft die Frage auf, wie der Mensch sich angesichts einer existenziellen Bedrohung verhält: Wem stehen wir dann nahe genug, um uns empathisch und solidarisch zu zeigen?

Über Josephine W. Johnson

Josephine W. Johnson (1910–1990) erhielt für ihren Debütroman »Die November-Schwestern« mit 24 Jahren den Pulitzer-Preis und war die bis dahin jüngste Preisträgerin der prestigereichen Auszeichnung. Sie studierte an der Washington University und schrieb insgesamt elf Bücher, darunter den Bestseller „The Inland Island“ (1969). Aus heutiger Sicht kann sie als Feministin und Umweltschützerin gelten, die geprägt war durch eine Welt der Ungleichheit und Ausbeutung, auf die sie uns mit ihren Werken aufmerksam macht.  

Bettina Abarbanell, geboren in Hamburg, lebt als Übersetzerin in Potsdam. Sie übertrug moderne Klassiker, darunter die Werke von F. Scott Fitzgerald und Elizabeth Taylor, aber auch zeitgenössische Bestseller wie die von Jonathan Franzen und Rachel Kushner. Ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis.

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Josephine W. Johnson

Die November-Schwestern

Roman

Aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Erster Teil — Vorspiel und Frühling

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Zweiter Teil — Die lange Dürre

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Dritter Teil — Jahresende

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Impressum

-

Erster Teil

Vorspiel und Frühling

1

Jetzt im November sehe ich unsere Jahre im Ganzen. Dieser Herbst ist zugleich wie ein Ende und ein Anfang für unser Leben, und die Tage, die verworren schienen, weil alles, was zu nah und zu vertraut ist, unscharf wird, sind jetzt klar und fremd. Es ist ein langes Jahr gewesen, länger und bedeutungsvoller als die zehn Jahre davor. In manchen Nächten war mir, als bewegten wir uns auf eine furchtbare, hoffnungslose Stunde zu, doch als diese Stunde kam, war sie zusammenhanglos und verworren, weil wir keinen Abstand hatten, und ich merkte gar nicht recht, dass sie gekommen war.

Ich kann jetzt zurückblicken und die Tage so sehen wie jemand, der von oben auf Vergangenes schaut, und sie haben mehr Gestalt und Bedeutung als zuvor. Aber nichts ist wirklich für immer zu Ende oder wird für immer zurückgelassen.

Die Jahre waren alle gleich und verschwammen miteinander, und der Verstand ist eine Art Sieb oder Treibsand, doch an den Tag unserer Ankunft und die Monate danach erinnere ich mich gut. Zu gut. Die Wurzeln unseres Lebens, die wir in jenem März dort schlugen, haben eine seltsame Ähnlichkeit mit seinen Ästen.

Die Hügel waren damals kahl, die Winterblätter fortgeweht, aber die Obstbäume machten einen lebendigen Eindruck. Sie waren rot gefärbt von ihrem Saft, und ihre Rinde spannte, als wäre sie zu eng, um das neue Leben kommender Blätter zu fassen. Es war ein alter Ort und das Land seit dem Bürgerkrieg im Besitz der Haldmarne-Familie, doch als wir kamen, hatte seit Jahren niemand mehr dort gelebt. Nur Pachtbauern waren eine Weile geblieben und wieder fortgezogen. Das Land war steinig, wenngleich vielversprechend, und auf den Weiden, wo Felssimse bloß lagen, weiß wie im Frost gebleckte Zähne, mästeten sich Schafe. Hügelauf und hügelab waren diese großartigen Obstplantagen gepflanzt, und als Mutter sie an jenem ersten Tag sah, dachte sie daran, wie sie die Früchte pflücken und sammeln und die Äpfel die steilen Hänge hinaufschleppen müsste, sagte aber nur, es dürfte eine gute Ernte werden und die Bäume, wenngleich alt, sähen stark aus. »Kein Markt dafür da, selbst wenn sie Früchte tragen«, sagte mein Vater, ich höre es noch, und dann, »- ist mit einer Hypothek belastetes Land.«

Niemand antwortete, und unser Wagen ächzte und quietschte weiter in den Furchen. Merle und ich beobachteten die Häher, ihr blaues Geflacker hinter den Ästen, und hörten ihre Schreie. Die Ulmen waren dicht mit Knospen besetzt und bildeten braune Gespinste am Himmel. Auf den Weiden war es schön und öde, und die Walnussbäume warfen einen lavendelfarben anmutenden, blitzsauberen Schatten. Alles war fremd und unverbunden und ergab kein Muster, das man ohne Weiteres hätte nachzeichnen können. Hier waren das Land und die von der Schneeschmelze erfüllte Frühlingsluft und doch bereits der Anfang von Angst – dieser Hypothek und Vaters wegen, der von sauertöpfischer Gereiztheit und Zukunftssorgen verzehrt schien. Mutter aber saß ganz ruhig da. Er hatte ihr nichts von der Hypothek gesagt, und sie hatte gedacht, wo schon alles andere verloren war, wäre wenigstens das Land unbelastet und ein Zufluchtsort. Doch selbst in dem Moment, als sie begriff, dass auch dies unsicherer, schwankender Boden war, erlaubte ihr etwas, worüber sie immer verfügt hatte – etwas, was ich damals nicht kannte und vielleicht nie kennen werde –, es ruhig hinzunehmen. Eine Art innere Friedensquelle. Glaube war es wohl. Sie hielt vielem stand und erduldete eine Menge, stets ohne Zweifel oder Bitterkeit; und dass sie da war, zuversichtlich und unerschüttert oder zumindest den Anschein erweckend, war alles, was wir damals zu wissen brauchten. Wir konnten das Gefühl von Unbeständigkeit und Zweifel, das von seinen Worten aufgestiegen war, vorerst vergessen. Merle war damals zehn und ich vierzehn, und uns war, als hätte ein großes Abenteuer begonnen. Doch Vater schaute nur auf die alten, verrotteten Ställe.

Er war nicht zum Farmer geboren, Arnold Haldmarne, obwohl er als Junge auf dem Land aufgewachsen war und nun auf ähnliche Felder zurückkehrte wie die, die er früher gepflügt hatte. Er besaß nicht die Ergebenheit, die ein Bauer haben muss – jene, die weiß, wie wenig Sinn es hat, zu hoffen, zu hassen oder auch nur um eine einzige Bohne zu beten, bevor ihre Zeit gekommen ist. Er war erst sechzehn gewesen, als er das Land verließ, und war nach Boone gegangen, wo er sich einen Platz in den Holzfabriken erarbeitet hatte. Er hatte gespart und war schwer und langsam höher gekommen, wie eine Eiche oder Esche, die mit Mühe wächst, aber viel mehr wert ist als jede binnen einer Jahreszeit um sechzig Zentimeter in die Höhe schießende Pappel. Doch jetzt war er wieder auf seine Wurzeln zurückgestutzt worden. Es ist eine eigentümliche Erfahrung für einen Mann, jahrelang für Sicherheit und Ruhe gearbeitet zu haben und innerhalb weniger Monate alles dahinschwinden zu sehen; jene fremdartige Leere und Dunkelheit zu spüren, wenn man nicht mehr gebraucht wird, nicht mehr notwendig ist. Bei ihm war alles langsam entstanden und schnell vergangen, und das machte ihn misstrauisch sogar gegenüber dem Land.

Wir schleppten unsere Betten auf dem Wagen mit hierher. Das Auto war verkauft, auch der Großteil der Möbel verloren. Wir ließen unser anderes Leben hinter uns, als hätte es dieses Leben nie gegeben. Nur das, was Teil von uns war, was wir gelesen hatten und woran wir uns erinnerten, kam mit und die Bücher, die wir über drei Generationen angesammelt hatten und nicht verkaufen konnten, weil die Erde schon knietief in Büchern watete. Wir ließen eine völlig falsche, verworrene Welt hinter uns, in der sich alle gegenseitig anbrüllten, und kamen in eine, die nicht weniger hart war, nicht weniger bereit, einem Menschen Steine in den Weg zu legen oder ihn zu verstoßen, ihm dafür aber wenigstens irgendetwas zurückgab. Was mehr war, als die andere Welt tun wollte.

Das Haus war schon damals alt, nicht aus Baumstämmen, sondern aus senkrechten Brettern gebaut wie Scheunen. Es war von Klettertrompeten und wilden roten Efeuranken überwuchert, die verknäult und schwer auf der Veranda lagen. Wilde Trauben über dem Brunnen waren schwarz im Herbst, und über der Pumpe gab es eine Laube aus gezüchtetem Wein. Ganz oben in den blattlosen Reben fand Vater ein altes Drosselnest und holte es herunter, damit Merle es im Frühling nicht für ein neues Nest halten und auf Vögel warten würde, die nie kämen. Sie füllte es mit runden Steinen und legte es auf den Kaminsims, vielleicht weil sie dachte, das Feuer würde Steinvögel schlüpfen lassen – wer weiß. Sie steckte voller eigenartiger Vorstellungen und bildete sich Dinge ein, die auf der Erde gar nicht existierten. Manchmal wirkte sie älter als Kerrin, die fünf Jahre vor ihr geboren war.

Jenen ersten Frühling, als alles neu für uns war, habe ich auf zweierlei Weise in Erinnerung; einerseits von Sorge und Angst getrübt wie von einem grauen Nebel überall dort, wo Vater war – einem Nebel, der nicht immer sichtbar und trotzdem da war –, andererseits gemischt mit dieser Liebe, die wir für das Land selbst empfanden, jede Stunde auf tausend Arten changierend und schön. Ich erinnere mich, dass der zweite Tag nach unserer Ankunft stürmisch war, mit faustgroßen Schneeflocken und einem Nordwestwind, der von den Hügeln herunterblies und an den Fenstern rüttelte, bis die Scheiben fast zerbrachen, und wie der Schnee nass gegen das Glas knallte. Wir hielten es für ein Vorzeichen, wie die Winter hier sein würden, doch seltsamerweise war es danach nicht kalt, obwohl der Schnee fast sechzig Zentimeter hoch lag und ein Wind die Hickorys vom Geäst bis zur Wurzel schüttelte und die Eichen erzittern ließ. Merle und ich gingen zu einer steinigen Stelle im Wald, wo die Felsen abschüssig waren und einen Wasserfall bildeten, sahen dort die Luftblasen unters Eis kriechen und mit schnellem, glitschigem Geschlängel wie scheue Kröten davonhuschen. Unten im Seichten, bei den Krebsen, waren die Schlammfarne grün und frisch, und die Sonne brannte so heiß, dass wir mit offenen Mänteln herumliefen und unsere Mützen einsteckten. Vieles, so schien es hinterher, war wie jener Anfang – zwischen Wind und Sonne wechselnd und so austariert, dass weder Gutes noch Böses das jeweils andere gänzlich zu überwiegen schien. Und schon da hatten wir das Gefühl, an einen zugleich tückischen wie freundlichen Ort gekommen zu sein, dessen Unbeständigkeit das Einzige war, worauf man sich verlassen konnte, und der seine eigenen Wege gehen würde, als wären wir nie geboren.

2

Es war kalt in jenem ersten März, und gepflügt wurde spät, das weiß ich noch. Manches aus jenen frühen Jahren habe ich nie vergessen; Worte und Tage und Anblicke, die wie Steine im Gedächtnis liegen. Unser Leben ging ohne große Ereignisse weiter, und das Wenige, was geschah, ragt wegen all des Gleichen ringsum völlig unverhältnismäßig hervor. Jener erste Frühling war im Grunde wie die meisten folgenden und doch von einer eigenen Bedeutung getragen.

Kerrin klagte über die raue Kälte, und das Haus war wirklich schwer zu heizen, doch ich erinnere mich, dass endlich ein Tag Gottes kam, an dem wir uns vorsichtig aufs Gras legten, um die Flockenblumen nicht zu zerdrücken, und ihren frühlingszarten Duft rochen. Die Hügel waren an dem Tag von einem blassen, rauchigen Grün, alle Farben verliefen und verschmolzen miteinander, das Rot der Holzapfelzweige etwa mit dem Schattenlavendel, nur die Apfelbäume hatten Rinden aus Blutrot und Gold. Wir gingen zu der Stelle hinauf, wo damals die alte Scheune mit den grauen Schindeln und den durchhängenden Balken stand – alt wie ein erhabener Teil der Erde selbst. Wir aßen unsere Mittagsmahlzeit, an ihrer Südwand sitzend, und saugten die heiße Frühlingssonne auf und den blassen, wässrig blauen Streifen jenseits der Bäume, und selbst Kerrin wirkte weniger fremd und sonderbar. Dad hatte zu viel zu tun und konnte seine Zeit nicht damit verschwenden, uns Gesellschaft zu leisten. Dafür zu sorgen, dass wir genug zum Leben und zum Essen hatten, war schon reichlich Arbeit, und wer etwas beiseitelegen oder für später anhäufen wollte, der behielt noch im Schlaf die Nase in der Ackerfurche und die Hand am Pflug. Mutter aß mit ihm zu Hause, und wahrscheinlich waren sie froh, wenigstens bei einer Mahlzeit unter sich zu sein, ohne dass wir sie pausenlos von oben bis unten beäugten und uns alles merkten, was sie sagten, um es ihnen vorzuhalten, sollten sie sich je widersprechen.

Wir saßen auf dem Hügel und beobachteten einen Hüttensänger, der die Bäume und Zaunpfähle absuchte, und konnten weit in die Tiefebene schauen, mit dem Bach und den Ahornen, die dem Wasserlauf folgten und sich langästig zu ihm hinunterbeugten. In den Holzapfelästen saß ein Neuntöter, und Kerrin sagte, das seien grausame Geschöpfe, die Feldmäuse und Vögel mit ihren Dornen aufspießten, sodass deren Füße steif wie kleine Hände in die Luft ragten. Ich fand nicht, dass es grausame Geschöpfe waren – nur natürliche. Sie erinnerten mich an Kerrin, aber ich war klug genug, es nicht laut zu sagen.

»Bald ist Dads Geburtstag«, sagte Merle. »Er wird siebenundfünfzig. Ich finde, wir feiern eine Party – mit Geschenken.« Sie stand langsam auf und schüttelte sich, von der warmen Sonne und dem Essen schwer wie ein Zotteltier. Dann baute sie sich mit ihrem runden, ernsten Gesicht vor uns auf.

»Wo willst du das Geld hernehmen?«, fragte Kerrin. »Ich hab welches, aber du nicht. Ich hab schon ein Messer gekauft, das schenk ich ihm.«

Ich warf ihr einen schnellen, eifersüchtigen Blick zu. »Wo hast du denn Geld her?«, fragte ich. Ich hatte nicht daran gedacht, dass ein Geburtstag anstand, nicht überlegt, was ich schenken könnte, und das machte mich wütend auf sie.

»Es ist meins, Marget. Ich hab’s selber verdient!«, rief Kerrin. »Du denkst wohl, ich hätte es gestohlen oder geborgt?« Sie stand auf und funkelte mich an. Ihr langes, schmales Gesicht war ganz dunkel, und ich glaube, sie hoffte, dass ich sie tatsächlich verdächtigte, wollte sich dunkler, heimlicher Dinge beschuldigt fühlen. Ich bohrte kleine Löcher in die Erde und grub einen Löwenzahnkopf ein, verlegen und halb in Angst, dass sie mir etwas antun würde. »Hab mich ja nur gewundert«, sagte ich, »weil sonst niemand welches hat.«

Kerrin machte sich steif wie ein Kranich. Fast schienen ihre Augen zu zucken, wenn sie sich aufregte oder meinte, sie hätte das Recht dazu. »Du hältst mal besser den Mund. Du hast doch sowieso keine Ahnung!« Ihre lidschweren Augen weiteten sich wutentbrannt. Sie machte immer Szenen.

Merle verschränkte ihre dicklichen Hände ineinander. Ihr war beklommen zumute, sie fühlte sich angespannt und fürchtete diese Momente mehr als jede Schlange oder jeden Geist. »Wir sollten jetzt zurückgehen«, sagte sie. »Vielleicht ist es längst Zeit zum Geschirrspülen –«

Kerrin sah sie gereizt und trotzig an. »Na und? Wen kümmert das? Kann sein, dass ich eine ganze Weile nicht zurückgehe!« Sie zerbrach unaufhörlich Zweige in ihren dürren Händen.

»Kerrin«, sagte ich wie eine aufgeblasene Idiotin, »die Dinge, die man uns aufträgt, sind nicht immer die, die wir gern tun wollen.«

»Warum tust du sie dann nicht?«, sagte Kerrin.

Darauf wusste ich nichts zu antworten. Ich scheute mich, noch einmal von dem Messer anzufangen. Nichts hatte sich geändert, und doch wirkte der Nachmittag jetzt kalt und frostig … Merle machte sich auf den Weg den Hügel hinunter. Sie dachte immerzu an Mutter, die mit der Arbeit allein fertig werden musste, und war immer die Erste, die sich den Aufgaben widmete, die gerade zu erledigen waren. Es war etwas in ihr, schon damals, was einen Fuß vor den anderen setzte, auf einem geraden Weg zu einem klaren Ort, und ich wünschte mir damals und wünsche es mir noch heute, dass es auch in mir so etwas gäbe, was stetig auf einer einzelnen Straße entlangmarschieren würde anstatt mal hier, mal dort, mal woanders, während mein Geist ein Netz aus Hasenpfaden knüpfte, voller Windungen, Kurven und Kehren, immer vom Habichtschatten des Zweifels verfolgt. Doch obwohl ich mich geringschätzte, schien die Erde für mich nicht weniger schön, mir nicht weniger zum Geschenk gemacht als Merle, die doppelt so viel Gutes in sich trug. Und das kam mir ungerecht und seltsam vor, aber eines Tages würde es sich wohl ausgleichen.

Ich lief hinter ihr her, und Kerrin, die weder mitkommen noch allein bleiben wollte, folgte uns. »Was schenkst du ihm, Merle?«, fragte ich. Sie sah rot und stolz aus, froh, etwas gefragt zu werden, wenn sie die Antwort wusste. »Ich schenk ihm eine Schachtel«, sagte sie. »Eine große für seine Nägel und Schrauben.«

»Das ist schön«, sagte ich. »Du kannst Fächer für die verschiedenen Größen machen und sie einfärben.« Dabei konnte ich mir nicht vorstellen, wie sie das alles bewerkstelligen wollte.

»Was schenkst du ihm?«, fragte Kerrin mich. »Wir sollten schon alle was haben. Es muss ja nicht viel sein.«

»Das wirst du ja sehen«, sagte ich. In meinem Herzen glaubte ich ohnehin nicht, dass es viel sein würde. Ich war unsicher, ob es überhaupt etwas sein würde. Ich war nicht sehr gut darin, Dinge selber zu machen.

In der heißen Sonne gingen wir langsam dahin. Merle war still, nachdenklich. Ich vermute, sie dachte an all die Hühner, deren Nester noch gefüllt werden mussten, und an das lahme, das alle seine Eier zerbrach, aber so unbeirrbar brüten wollte, dass es einem leidtat, obwohl Merle seine Dummheit und das eiverklebte stinkende Stroh hasste. Es war schon fast zwei, und anscheinend verbrauchte sich die Zeit schneller, wenn man überhaupt nichts tat, und ließ es einen weniger merken, als es bei der Arbeit je der Fall war. Wir liefen den Kuhpfad hinauf, wo der Boden trocken und warm war und am Rand die Disteln sprossen. Wir konnten Dad schon wieder pflügen und Rotkehlchen in den Furchen landen sehen, stets in weitem Abstand zum Pflug. Der Blaurauchgeruch von brennendem Gestrüpp und ein warmer Dunst lagen in der Luft. Merle ging voran, rund und mit reiner Haut, den Mund noch voll von dem übrig gebliebenen Stück Brot, das Haar hinten am Kopf ungekämmt und wollig; dann kam ich, mit nichts Besonderem vergleichbar, im braunen Kleid und mit Bettlerlaussamen in den Strümpfen; und schließlich Kerrin, die hinter uns herzuckelte und so tat, als würde sie uns jeden Moment verlassen. Sie hatte rötliches Haar mit Stirnfransen, und ihre Arme hingen wie zwei flache Holzlatten an ihren Schultern, aber ihr Gesicht hatte schärfere, interessantere Züge als unsere. Sie war auch stärker als wir und glaubte, dass sie pflügen könnte, wenn Vater sie ließe. Doch der meinte, ein Mädchen würde es nie lernen und nur das Feld verhunzen. »Ihr Mädchen helft eurer Mutter.« Er stellte einen Mann ein, der eine Weile für ihn arbeitete, und Kerrin war wütend, fühlte etwas in sich pochen, ohnmächtig und unterdrückt, und schmollte und schaute finster, wie die Jungbullen es tun. »Er denkt, ich könnte nichts!«, schrie sie dann Mutter an. »Er behandelt mich, als wäre ich immer noch zwei. Warum tust du nichts dagegen? Warum sorgst du nicht dafür, dass er es sieht?«

»Er wird es irgendwann sehen«, sagte Mutter. »Ich denke, er wird es sehr bald sehen.«

»Warum sagst du es ihm nicht trotzdem?«, rief Kerrin dann. »Warum wartest du immer so lange mit allem? Du behandelst ihn, als wär er Gott persönlich!« So endete es jedes Mal, und dann knallte sie mit der Tür, während wir so taten, als hörten wir es nicht, und einfach weitermachten, elend und hasserfüllt nur in unserem Inneren. Und für Mutter, die alles schwernahm und still ertrug und im Leben der anderen lebte, als wäre es ihr eigenes, war es jedes Mal, als würde sie innerlich verwundet. Ich hörte dann, wie sie Vater leise und zaghaft dies und jenes vorschlug; wenn er müde war, wurde er ärgerlich, und wenn er sich, was selten vorkam, freute – über Merles pralle Wangen, die im Wind zu leuchten schienen, oder eine kluge Bemerkung von ihr –, dann lachte er, doch willigte er nie sofort ein oder ließ sie wissen, dass sie ihn umgestimmt hatte. Es war schwer für sie, etwas anzusprechen, wenn er sich gerade freute oder ruhig dasaß, hatte er doch nur wenige solcher Pausen, und es kam ihr dann vor, als würde sie ihn quälen. Wir verhielten uns leise, beteten, dass der Moment länger andauern, sich zu einer Stunde dehnen würde, und manchmal ließ Mutter die Gelegenheit um des Friedens willen verstreichen, obwohl es so vieles gab, was sie als ungerecht empfand, und sie eigene zersetzende Sorgen hatte, die sie gerne bei ihm abgeladen hätte.

Als wir an jenem Tag zurückkamen, hatte Mutter alle alten Kartoffeln auf der Zisterne ausgebreitet und war dabei, sie für die Saat klein zu schneiden. Sie sah dünn und plump aus und hatte ihre Haare zu einem geflochtenen Knäuel aufgewickelt. Doch ihre Wangen waren rund, ihr Gesicht jung, und sie freute sich, uns zu sehen – was mich manchmal wunderte, schon damals, weil ich dachte, vierzehn Jahre in unserer Gesellschaft hätten sie zurückhaltender und skeptischer machen müssen.

»Wir hatten’s schön«, sagte Merle, »und das Essen war auch gut.« Sie streckte ihr ein paar klebrige, mit Spucke zusammengedrehte Löwenzahnstängel entgegen und befestigte sie unten an Mutters Dutt.

»Die sehen ja wunderhübsch aus«, sagte Kerrin. »Wie Würmer.« Sie fing an, Kartoffeln zu schneiden, flink und säuberlich, doch Merle reagierte nicht, und auch sonst beachtete sie niemand. Ich fand, das geschah ihr recht, und Mutter lachte nur. Mutter sprach selbst nie viel, lauschte aber auf alles, was gesagt wurde, und gab uns das Gefühl, dass es einen Sinn hatte zu reden, weil sie da war und es hörte. Niemand sonst, den wir kannten, interessierte sich so sehr für alles, was es zu wissen gab und worüber man sprechen konnte – das Kreisen der Planeten und die Bedeutung von Aktien oder die verschiedenen Arten von Salz, die Schweine brauchten, und die Namen der großen viktorianischen Dichter.

Eine lange Zeit häckselten wir schweigend die Kartoffeln. Die Sonne war noch warm und wanderte langsam. Ich dachte über Kerrin und das Geld nach, fragte mich, wann sie es für das Messer verdient haben konnte, und hielt es für sehr wahrscheinlich, dass sie es sich einfach genommen hatte (was auch so war), vergaß es dann aber, weil ich einen grauen Falken beobachtete, der an den Eichen entlangglitt, vergaß es auch über dem Gedanken, was es wohl zum Abendessen geben würde. Es war, als hätte die Sonne alles verlangsamt und uns ausgepresst, uns ruhiger und sanfter gemacht. Für eine kleine Weile wenigstens.

3

In jenem Jahr planten wir seinen Geburtstag drei Wochen im Voraus. Doch um uns herum war alles fremd – das Land und die Menschen –, und wir konnten niemanden bitten, zu uns zu kommen. Vater kannte die Rathmans – den alten Rathman, seine Frau, ihre drei Söhne, die wie drei große Bullen waren, und eine Tochter mit rundem, vollem Gesicht; er ging samstags manchmal zu ihnen zum Essen. Fast immer, wenn er dorthin komme, säßen sie am Tisch, sagte er, begännen oder beendeten gerade eine ihrer fünf Mahlzeiten, Kaffeeduft sei wie ein Teil des Hauses selbst, in die Wände eingedrungen und mit Sauerkrautgeruch vermischt. Die alte Mrs. Rathman verbringe ihr ganzes Leben zwischen Tisch und Herd, und wenn sie hinausgehe, dann nur, um Dinge hereinzuholen, die sie eine Weile auf den Herd stelle und dann auf den Tisch, wo sie sie den drei Jungs und Joseph Rathman und manchmal sich selbst einverleibe. Dad mochte den alten Rathman und nannte sein erstes Kalb nach dessen Tochter Hilda statt nach einer von uns (nicht dass wir uns deswegen grämten, denn es war hässlich, einhörnig und scheußlich violett); aber wir hatten Angst vor dem alten Mann, weil sein Blick uns zu verhöhnen schien und wir glaubten, er wisse irgendetwas Geheimes oder Skandalöses und verachte uns. Heute ist mir klar, dass das nur so seine Art war und dass er uns mochte, weil wir gesund aussahen und Kinder waren. Dennoch scheuten wir uns, ihn einzuladen. Merle sagte, sie würde dann ihr Gedicht vergessen, und Kerrin meinte, er würde vielleicht unser Essen nicht mögen, und ich sagte gar nichts, war aber froh, dass sie so entschieden hatten. Mir graute vor fremden Menschen, nur wollte ich nicht schuld sein, sollte sich hinterher herausstellen, dass es besser gewesen wäre, wenn wir sie eingeladen hätten (so machte ich es immer, weshalb sie glaubten, ich wäre gutmütig, dabei war ich in Wirklichkeit bloß ein Feigling).

Die Rathmans waren nach Norden hin die Einzigen in unserer Nähe, aber südlich von uns, auf einer schmalen, strauchreichen Farm, lebten die Ramseys. Die Ramseys waren Schwarze, und ihr Land machte einen ausgedörrten und steinigen Eindruck. Alle Tiere waren mager und knochig, selbst die Schweine sahen schlaff aus wie Ballons ohne Luft – die Ferkel schwarz und klein, mit riesigen, fuchsspitzen Ohren. Christian Ramsey war lang und dünn und schmutzfarben, und seine Frau hieß Lucia. Sie besaßen ein Rudel gefleckter, geisterhafter Hunde und hatten fünf Kinder, drei eigene und zwei adoptierte – darunter eins, das fast weiß und doch volllippig war, das hatten sie nicht haben wollen, doch da es auch sonst keiner wollte, hatten sie es behalten und behandelten es besser als die anderen, meinte Vater, ob aus Angst oder Mitleid, wusste er nicht zu sagen. Doch die Ramseys konnten wir nicht einladen, noch wären sie gekommen, wenn wir es getan hätten. Und die weiter entfernt lebenden Farmer waren nur Namen.

Wir planten die Party selbst, wie alles ablaufen sollte und was vorbereitet werden musste, und ich brachte Merle ein langes Gedicht bei und ließ sie jeden Tag eine Stunde im Hühnerhaus auf der Heukiste sitzen und es auswendig aufsagen. Wir nannten es eine Ballade, und es war ein furchtbares Machwerk, doch die Wörter reimten sich an den Versenden, und es gab eine Handlung, also war es vielleicht wirklich eine. Kerrin und ich hatten es uns ausgedacht, und es endete mit einem Tod, doch da Vater jeden Gedanken an den Tod von sich schob und uns nie erlaubte, davon zu sprechen, ließ ich den Schluss weg, als ich es Merle beibrachte. Davon wusste Kerrin allerdings nichts, weil Merle es nicht von ihr lernen oder mit ihr allein sein wollte, seit sie einmal im Kartoffelkeller eingesperrt gewesen war und Stunden im Dunkeln hatte ausharren müssen. Mir dagegen vertraute sie so sehr, dass ich es manchmal wie eine schwere Last auf meinen Schultern empfand, wenn auch eine wunderbare und ein bisschen so, als wäre ich Gott. Es machte ihr nichts aus, das Gedicht zu lernen. Sie saß da mit ihren schwarz gerippten, über den Kistenrand baumelnden Beinen, die dicken Wangen rot vor Kälte, und unter der Mütze mit der großen Bommel schaute eine feuchte Haarsträhne hervor. Neun- oder zehnmal sagte sie es voller Begeisterung auf, die restlichen Male geduldig und präzise. Es handelte von einem Bauern, und wir hofften, Vater würde lachen, denn hier und da sollte es lustig sein, und Mutter würde auf jeden Fall lachen, das wussten wir. Merle war aufgeregt, zählte die Tage und schaute mich oft vielsagend und verschwörerisch an.

Kerrin wollte uns nicht verraten, was sie vorhatte, ging aber jeden Tag allein in den Wald. »Es wird gut«, sagte sie nur. »Ihr werdet alle beschämt sein.« Zwischen dem Melken und dem Abendessen war sie allein unterwegs und kam manchmal singend zurück. Sie hatte eine gute Stimme, die jedoch zu laut und schallend war, weshalb sie nicht gern vor anderen sang und damit aufhörte, sobald sie an der Scheune vorbei war. Ich selbst hatte mir überlegt, Dad einen Korb aus Lehm zu machen, wie die indigenen Völker sie herstellten, und ihn anzumalen – womit, wusste ich nicht genau, vielleicht mit Rote-Bete-Saft oder Tinte –, den könnte er dann anstelle der rostigen Dose benutzen, in der er bisher immer die Eier zum Haus trug. Ich arbeitete tagelang daran, machte ihn zuerst vernünftig groß, mit einem Griff aus Draht und Lehm, der jedoch in Stücke zerbrach, sobald ich den Korb anhob. Danach machte ich ihn noch dreimal neu, jedes Mal kleiner, bis er schließlich stabil war und hielt, auch wenn nun kaum ein Spatzenei hineinpasste. Immerhin sah das Ganze wie ein Korb aus, und ich wünschte, er wäre für Mutter bestimmt, der alles gefiel, was wir selber machten – sogar ein Kissen, das Merle mit unsauberen, muffig riechenden Hühnerfedern gefüllt hatte. Die Vorstellung, dass Dad es bekommen würde, fand ich trotzdem schön, denn es war ein gutes Gefäß, mit einem Muster aus roten Formen bemalt, die so aussahen wie Reiher, nur dass der Saft verlaufen war und ihre Umrisse in alle Richtungen verschwammen; außerdem war er schwerer zu erfreuen und wirkte umso dankbarer, wenn es einem gelang.