Die Panzerung - Philippe Rahmy - E-Book

Die Panzerung E-Book

Philippe Rahmy

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Beschreibung

Im Herbst 2011 nimmt Philippe Rahmy eine Einladung der Shanghai Writer's Association an und bricht zu einer ungewissen Reise auf. In Shanghai angekommen, nimmt der unter der Glasknochenkrankheit leidende Autor lustvoll den Kampf mit den überwältigenden Sinneseindrücken der in Stahl und Beton gepanzerten und doch verletzlichen Megalopole auf. Mit mal heiterer, mal wütender, dabei immer reflektierender Feder verarbeitet Rahmy seine Grossstadterlebnisse, verwebt sie mit verschlungenen Kindheitserlebnissen zu einem fulminanten, die eigene Panzerung lockernden, das Genre des Reiseberichts sprengenden Text. "Philippe Rahmys fünftes Buch ist der fulminante Bericht über einen Aufenthalt in Shanghai. ›Béton armé‹ (der französische Originaltitel, d.V.) ist Reiseerzählung, dichterisches Tagebuch und philosophische Betrachtung über Leben und Tod, Lesen und Schreiben. Dabei besticht Rahmys poetische Prosa mit einer Kraft, Sensibilität und Musik, die noch lange nach der Lektüre widerhallt." (Ruth Gantert) Es ist das erste Buch von Philippe Rahmy, das auf Deutsch erschienen ist. Übersetzt aus dem Französischen hat Yves Raeber, der dafür eine literarische Auszeichnung der Stadt Zürich bekommen hat.

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Philippe Rahmy

Die Panzerung

verlag die brotsuppe

Philippe Rahmy

Die Panzerung

Reiseroman

aus dem Französischen

von Yves Raeber

verlag die brotsuppe

Für Patricia Johnson

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Kapitel XXIV

Kapitel XXV

Kapitel XXVI

Kapitel XXVII

Kapitel XXVIII

Kapitel XXIX

Kapitel XXX

Kapitel XXXI

Kapitel XXXII

Kapitel XXXIII

Kapitel XXXIV

Kapitel XXXV

Kapitel XXXVI

Kapitel XXXVII

Kapitel XXXVIII

Kapitel XXXIX

Kapitel XL

Kapitel XLI

Kapitel XLII

Philippe Rahmy dankt

Der Autor

Der Übersetzer

I

Shanghai ist keine Stadt. Nicht dieses Wort kommt mir in den Sinn. Nichts kommt. Dann höre ich fassungslos den Lärm. Rauschender Ozean, Kriegsmaschine. Ein Tumult, unendliche Perspektiven, Winkel und Flächen, die das Toben noch verstärken. Hier verkanten, verknoten, vervielfachen sich alle Menschenmassen Canettis, entschwinden am Horizont, winden sich um Fixpunkte (Kioske, U-Bahn-Schächte, Busstopps, Fussgängerstreifen). In Pulks oder versprengt drängen die Menschen in die Parks. Aus allen Himmelsrichtungen her ergiessen sie sich von der Strasse in die Shopping-Malls, gleiten von einem Schaufenster zum nächsten, ein geschäftiges, gieriges und verschwitztes Treiben. Der Raum weitet sich. Soweit das Auge reicht, unfassbar grosse Menschenmassen, entlang der Bahnlinien oder in schwindelnd hohen Wohntürmen. Auf den Boulevards, wie angewurzelt stehende Gruppen in gegenseitiger Hypnose, mit flirrendem Blick und wogenden Haaren. Shanghai ist Manguste und Kobra zugleich.

Die Fassungslosigkeit verfliegt. Die Stadt erscheint. Als himmelwärts gerichtetes lebloses Machtgehabe. Als lebendige, sich sehnsüchtig ausdehnende Landschaft. Das Ergebnis ist eine absurde Szenerie. Ich bin noch voll im Jetlag. Wie eine Kuh, an der die Schnellzüge vorbeifahren, verstehe ich nicht, was ich sehe. Alles, was sich bewegt, fasziniert mich. Vor mir stehen bullige, in durchsichtige Tücher gekleidete Menschen dichtgedrängt unter den Bäumen. Sie verkaufen auf Decken ausgebreitete Knochen, die vage Skelette nachbilden. Ich betrachte die Knochen wie Kolumbus, der an den Stränden von Guadeloupe menschliche Gebeine entdeckte, ohne daraus zu folgern, dass Chinesen Menschen fressen. Hinter ihnen brandet der Verkehr.

Die Händler gehören zum Jägervolk der Achang aus dem Nordwesten Yunnans. Den nackten, inzwischen sesshaft gewordenen Jägern wird nachgesagt, dass sie ihre Gefangenen jahrelang am Leben hielten, bevor sie sie verzehrten. Die Knochen bemalten sie in verschiedenen Farben und tauschten sie bei Festlichkeiten untereinander aus. Jetzt leben die Achang in der Nähe städtischer Schlachthäuser. Sie finden dort Zutaten zur Herstellung von Heilsuppen.

Shanghai. Die Wucht dieser Stadt sprengt ihren Namen. In keinem Land, unter keinem Regime hat sich der Mensch einen solchen Gott erschaffen. Ein raumspaltendes, wucherndes Ungetüm. Und schon ist man bei den Analogien. Wie sieht, was man nie gesehen hat, denn aus? Die Bilder jagen sich und werden immer verrückter. Die Realität als Traummaschine. Strassennamen, Plakate, Schlagzeilen, Stimmen, die anonyme Menge, sie alle verbinden sich mit auf den ersten Blick identischen Gesichtern. Hier ist es, das Volk, das chinesische Volk. Stier. Drache. Volk der Bauern und der Revolution. Im Lärm dröhnender Müllcontainer dreht sich eine schwangere Frau um, bleibt stehen, wird vom Rundumlicht eines Kippladers erfasst, blinkt wie ein Hologramm. Sie ist gross und abgezehrt, ausser dem Bauch, den sie mit beiden Händen stützt. Der Lichtkegel wischt über sie hinweg, dann der Stau, der hämmernde Strassenlärm, der stinkende Kipper, und aus den verschlungensten Schichten der Erde quillt die ganze Stadt. Hinter der anonymen Maske seiner Massen zieht Shanghai vorüber. Die Masse löst sich auf. Die Masken fallen. Und jetzt bricht dieses Fleisch und Blut gewordene Leben über mich herein, erregt mich, stösst mir den Kopf zwischen die Schenkel und in den heissen Schoss der Schwangeren, und so werde ich um sechs Uhr abends hier auf dem Asphalt in der Haut aller einsamen Menschen, aller elenden und liebeshungrigen Männer und Frauen dieser Erde geboren.

Gewöhnliche, von ihrer monströsen Umgebung versehrte Menschen. Am Handy, mit Musik in den Ohren, schick, abgespannt, in Kleidern fahl wie Beton. Shanghai hat sie alle in seiner Macht, lässt ihnen keine Wahl. Stumm wippen sie von einem Fuss auf den anderen, stürzen plötzlich auf die Strasse, streifen, doch berühren einander nicht, prallen präzis wie Magnete aufeinander, gehen wieder hastig ihrer Wege zwischen in den grauschwarzen Himmel ragenden Türmen.

Die Kühnheit der Bauten sprengt jegliche irdische Vorstellung. Man hört sirrende Warnsignale und dumpfe Schläge, wie in einem Hafen. Im harten Licht wirbelt verpestete Luft. Zwischen den Hochhäusern bilden sich Wolken, die der Wind immer wieder zerzaust. Sie sehen aus wie sich im Staub wälzende Elefanten. Eine Frau trägt eine Fischplatte über die Strasse. Sie tanzt mit den Autos, trotzt mit rauer Stimme dem Gehupe, schafft es im brandenden Verkehr bis zum gegenüberliegenden Gehsteig. Einige Tage später wird diese Frau eine andere Strasse überqueren. Sie wird dann ein Kind bei der Hand halten oder einen alten Mann, etwas Lebendiges, Gebrechliches, das sie gerade abwesend streicheln wird, wenn sie von einem Minivan gerammt werden wird. Sie wird dann tot sein, oder es wird das Kind oder der alte Mann sein, die man auf die Seite rollt. Man wird ein Laken über sie legen. Eine identische Hausmeisterin wird, den Besen in der Hand, aus ihrem Innenhof zur Strasse schlurfen, ein paar Meter neben der am Boden liegenden Gestalt stehenbleiben, irgendetwas fluchen und rechtsumkehrt machen, um ihre Vögel zu füttern. Wie hier wird es auch dort dieselben von Geländern gesicherten Gehsteige geben, dasselbe emsige und lässige Treiben. Überall Arme, Beine, Leute mit Leitern, Angelruten, Vogelruten, Flachantennen, Macheten, Sonnenschirmen. Millionen von Gesichtern werden weiterhin im Abblendlicht der Autos vorbeiziehen. Hastige, erstickte Schritte auf dem Gehsteig, das Raunen eines sich auf Zehenspitzen bewegenden Volkes. Und hinter abwesenden schwarzen Augen die aufblitzende Kraft täglicher Beharrlichkeit.

Wer nach Shanghai kommt, findet keine Stadt, sondern ein Symbol überhitzten Daseins.

II

Die Einladung für diese Chinareise traf nach meiner Rückkehr aus Stuttgart ein. Ich hatte dort meinen an Parkinson leidenden Onkel besucht. Vormittags hatte ich jeweils meiner Tante bei der Krankenpflege geholfen, nachmittags am Teich gelegen. Die Abendstunden waren die schwierigsten. Meinem Onkel stockte der Atem. Sein Rumpf krümmte sich. Arme und Beine wurden von unsichtbaren Stricken auseinandergezogen. Er lag wie gevierteilt auf seiner Matratze. Allmählich verebbte die Krise, nein, sie zerbrach wie Eis in immer feinere, fast flüssige Schichten, seine Zähne knirschten, bissen, schlugen gegeneinander, seinem Mund entwichen Flüche, Drohungen, und mit dem Abflauen der Krise immer höheres Grunzen, Pfeifen, dann Gejammer, Schluchzen, Gluckern, dann gar nichts mehr. Die kreideartige Verkrustung wich aus seinem bereits vom Tod gezeichneten Gesicht, seine Hände entkrampften sich, signalisierten, dass man näher, noch näher, ganz zu ihm hinkommen solle, um ihn einen mit Jahreszahlen, Kriegserinnerungen oder den Namen von auf der Flucht aus dem lodernden Berlin durchquerten Dörfern gespickten Kinderreim murmeln zu hören, oder den Namen des Wallachs, der den Karren gezogen und der Familie mit seinem sechsten Sinn mehrfach das Leben gerettet hatte, oder den Namen seines an Leukämie verstorbenen Bruders und schliesslich den meiner Mutter.

Es war warm. Der Nachthimmel hellte das Zimmer auf. Fernab konnte man in den Weinbergen Spaziergänger mit Taschenlampen ausmachen. Sie stiegen in Einerkolonne bis zum Gipfel des Hügels. Meine Tante entspannte sich. Sie sass auf der Bettkante und hielt ihren Mann bei den Schultern. Lange Minuten blieben ihre Augen geschlossen. Sie lächelte, überliess sich ganz der Erinnerung an glückliche Zeiten. Ich hörte ihr beim Atmen zu. In der kühlen Nachtluft krachte leise das Gebälk. Weitere Spaziergänger gingen durch die Dunkelheit, folgten ihren bellenden Hunden. Meine Tante öffnete die Augen. Mein Onkel fing wieder an zu jammern. Sie gab ihm zu trinken. Er würgte. Seine rissigen Lippen spuckten neue Flüche aus. Er riss an seinen Laken, der Pyjamahose und dann wünschte sich das Vogelgesichtchen gar den Teufel herbei und fiel in einen bleiernen Schlaf. Seit zwölf Jahren ging das so.

Mein Vater war Minister gewesen. Zur Zeit der Baaderbande hatte ihm die Regierung einen gepanzerten Dienstwagen zur Verfügung gestellt. Ich weiss noch, wie schwer die Türen waren, ich vermochte sie nicht zu öffnen. Ich erinnere mich an die Leibwächter, die uns an Weihnachten zur Kirche begleiteten, an ihre am Knauf ihrer Dienstwaffe geschürzten Sakkos. Ich war stolz, Teil einer solchen Familie zu sein, und ich schämte mich auch wie das hässliche kleine Entlein: Ich hatte einen ägyptischen Vater, dem ich eine vererbbare Krankheit verdankte. Heute finde ich es leicht verstörend, diesen mich in allem überragenden Onkel sterben gesehen zu haben. Gesunde Menschen zu überleben, ist der wahre Trost der Unheilbaren. Vielleicht habe ich diese Reise nach Deutschland aus demselben Grund gemacht, der mich meinen Vater zuhause bis zum letzten Atemzug hat begleiten lassen. Ich war damals um die fünfzehn Jahre alt. Es gibt für einen Sohn nichts Traurigeres und Süsseres als das Sterben des Vaters, als den letzten liebenden, kalten Blick des Kindes, der zugleich der erste Blick des erwachsenen Mannes ist.

Der Sturm hat sich gelegt. Shanghai glitzert. Mir ist, als ob ich über dem Sternenhimmel schwebe, in einer Nacht über der Nacht. Mein Kopf tut mir weh. Ich lehne mein Gesicht an die kühle Fensterscheibe, das lindert. Die Zeitverschiebung macht mir immer noch zu schaffen. Ich habe Angst, mich hinzulegen, sogar davor, mich zu setzen. Angst vor dem Rückfall in den lähmenden Zustand des kranken Kindes, das ich in meinem von Efeu umrankten Haus am Fuss des Juras gewesen war.

So weit weg zu reisen gibt mir eine Vorstellung davon, wie es wäre, ewig zu leben. Auf die Stadt zu schauen tut mir gut. Jedes Gebäude ist eine Tür, jede Strasse ein schwarzer Graben. Tiefste Nacht. Ich denke an nichts. Ich lebe. Und zähle meine Toten. Wir altern nicht, weil die Zeit vergeht. Wir altern wegen der Toten, die wir mit uns tragen und die in uns weitersterben. Ich zünde mir eine Zigarette an. Tische soll man beim Schreiben meiden. Ob rund oder eckig, sie sind zum Essen da. Um wieder zu Kräften zu kommen. Um nach einem langen Tag Arme und Schultern auszuruhen. Um zu lümmeln. Ich stehe immer noch hoch oben an meinem Fenster. Die Kehrichttrucks fahren jetzt los. Ich werde alles tun, um länger zu leben als die, die ich liebe.

III

Vor langer Zeit lebte eine deutsche Familie, die von einem besseren Leben träumte. Es war ein altes Geschlecht, älter als die Habsburger. Die Männer kannten sich im Fechten, in Freimütigkeit und Ehre aus. Die Frauen bekannten sich zu Bildung, Kunst und Unabhängigkeit. Die Familie war nicht eigentlich reich. Doch besass sie Ländereien und einen Ruf. Sie erinnerte an eine in der Sonne liegende, ermattete Gestalt, deren Arme schlaff über die Lehne hängen, oder an einen alten Hund, der bei klirrender Kälte seufzend vor dem Kamin döst. Mit dem Nationalsozialismus war der Tagtraum aus. Das Vaterland, eine für diese Leute bittersüsse, von der Demütigung des Ersten Weltkriegs angekratzte Vorstellung mittelalterlicher Pracht, erwischte sie auf dem falschen Fuss. Das Land entbrannte in kollektiver Euphorie. Berlin war in Trance. Unbekannte grüssten sich auf einmal wie Geschwister. Tags darauf lieferten sie sich blutige Strassenschlachten. Jeder wollte seinen Platz an der deutschen Tafel. Alle glaubten daran. Das Leben war hart. Alle hatten Hunger. Aber nie war Deutschland lebendiger als in diesen wilden Jahren. Überall Musik und Tumult. Mit Panzern und Kanonen erfand sich die Nation neu und erklomm als eine sich um die Idee des Nationalstaats rankende Schlingpflanze bald schwindelnde Höhen. Dann brach der Krieg mit seinem simplen Prinzip aus. Töten oder sterben. Nach der Niederlage wurde das Prinzip vertrackter: Überleben.

In meiner Familie gab es keinen einzigen Toten. Mein Grossvater, ein Militärarzt, wurde von den Sowjets in der tschechischen Zone verhaftet. Er kehrte nach seiner erfolgreichen Verhinderung einer Choleraepidemie ordengeschmückt nach Hause zurück. Meine Grossmutter war mit den Kindern unter Bombenhagel aus Berlin geflüchtet. Die Häuser stürzten ein. Man musste durch ein Phosphor-Inferno von Keller zu Keller kriechen, Mauern durchschlagen, ins Freie kommen, rennen, in den Karren klettern, fliehen. Sie war Ärztin, wie ihr Mann. Unterwegs pflegte sie Verletzte. Und schaffte es in die amerikanische Zone.

Welche Bezeichnung gebührt den Nazis, die nach der Niederlage ihre Haut zu retten vermochten und weiterlebten, ohne die Vergangenheit je zu verleugnen oder zu erwähnen? Davongekommene? Wölfe im Schafspelz? Einfach nur Menschen? Diese Schlächter, die sich als monströse Kopien von KZ-Überlebenden unter die Flüchtlinge, unter ihre eigenen Opfer schlichen und danach wieder nach Hause zurückkehrten? Sie haben das in Trümmern liegende Deutschland wieder auferstehen lassen, weil es immer noch das von 1939 und damit das ihre geblieben war, ein Staat, der jegliche Opposition ausgeschaltet und, den Statistiken der Gestapo zufolge, fast eine Million Menschen aus den eigenen Reihen verfolgt hatte. Welche Bezeichnung gebührt den deutschen Überlebenden? Und ihren Kindern? Ihren Erben? Verlorene Generation? Und Deutschland? Welchen Namen soll man heute Deutschland geben?

Vor zehn Jahren starb mein jüngster Onkel innerhalb weniger Tage. Er hatte mir das Schachspielen beigebracht. Ich mochte ihn. Er lachte, wie Menschen es tun, die es nie schaffen, wirklich erwachsen zu werden. Als wir in der Nacht seines Todes an seinem Bett sassen, hellte sich sein Wesen auf und liess alle seine Geheimnisse frei.

Der Tod stellt sich dem Leben nicht entgegen. Er verlängert es schlicht.

Der Tod ist das verlangsamte Leben, weiter nichts.

IV

Die Reisevorbereitungen sind anstrengender als erwartet. Die Shanghai Writers Association hat von meinem Gesundheitszustand erfahren und verlangt einen Versicherungsnachweis sowie eine ganze Reihe ärztlicher Untersuchungen. In der von einem Computerprogramm übersetzten Nachricht steht weiter »Achtung dem Gepäckgewicht und was man für Lektüre bringt«. Über das mich erwartende Programm weiss ich nichts. Ich werde in Shanghai auf Kosten des chinesischen Staats leben, der jedes Jahr zehn Gastautoren aufnimmt und diese zwei Monate lang vorführt, wie Rom es mit den Besiegten zur Unterhaltung seines Volks zu tun pflegte. Aber im Gegensatz zu den Barbarenfürsten, denen man die Zunge abschnitt, sieht es ganz so aus, als wolle man uns nicht nur sehen, sondern auch hören.

Was bringt man für eine Lesung mit? Ein Buch, ein paar handgeschriebene Seiten, eine Geschichte, die man vor Ort improvisieren wird? Was nimmt man mit auf die Reise in eine andere Welt? Einen Übersetzer. Jemanden, der viele Sprachen beherrscht und sich in jeder Situation verständlich machen kann. Christoph Kolumbus hatte einen. Er hiess Yosef Ben Ha Levy Haivri (Joseph, Sohn von Levy, dem Hebräer), genannt Luis de Torres. Er sprach Hebräisch, Aramäisch, Arabisch und Portugiesisch. Wusste er sich mit den Eingeborenen zu verständigen? Torres gehörte zu denjenigen Mitgliedern der ersten Expedition, die sich weigerten, nach Europa zurückzukehren. Es heisst, er sei ermordet worden oder dass er, nachdem er seinem Glauben aus Liebe zu einer Indianerin abgeschworen hatte, in den Wäldern lebte. Sprachen schützen vor dem Schlimmsten nicht.

Ich werde also mein eigener Dolmetscher sein, oder besser, ab jetzt wird meine Krankheit mein Esperanto sein. Alle Menschen sind krank. Schmerz ist eine gemeinsame Sprache. Zahnweh, wunde Füsse, jedes Leiden erinnert an die Geburt.

Dem Mutterbauch entrissen, sieht sich das Kind zuerst sterben. Es wurde gerade aus dem Paradies vertrieben. Ein jäher Schmerz, der schnell vergeht. Jetzt gilt es, den Atem zu bewältigen, zu hören, riechen, tasten und sehen. Wir alle tragen in uns Spuren der Vertreibung als eine irgendwo im Gedächtnis verlorene, schemenhafte Erinnerung, Matrix aller unserer Klagen. Aber für den Kranken, mit dauerhaften Blessuren Geborenen, hört der Schmerz nie auf. Er wird ihn bis an sein Lebensende begleiten, und so wird auch seine Geburt ewig dauern.

»Achtung dem Gepäckgewicht und was man für Lektüre bringt«. Ich reise nach China. Mein Gepäck ist leicht. Es wiegt nicht mehr als mein Skelett, ein Zehntel meines Körpergewichts, fünf bis sechs Kilogramm Knochen, das Gewicht der in der Bibliothèque Mazarine liegenden Gutenberg-Bibel oder der Göttlichen Komödie in der gedruckten Ausgabe von 1555 oder das Gewicht eines sechs Monate alten Kindes, das Gewicht meines Lebens als Erwachsener.