Die Pferde von Eldenau - Donnernde Hufe - Theresa Czerny - E-Book

Die Pferde von Eldenau - Donnernde Hufe E-Book

Theresa Czerny

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Beschreibung

Frida und Jannis könnten eigentlich den perfekten Sommer verbringen, wäre da nicht dieser eine Moment, der für Frida alles auf den Kopf stellt. Plötzlich erkennt sie sich selbst nicht wieder, schlimmer noch: Sie kann mit Jannis nicht darüber reden, was in ihr vorgeht. Immer öfter flüchtet sie sich ins Naturschutzgebiet, die Halbinsel, auf der wilde Pferde leben. Dort fühlt sie sich sicher, und dort freundet sie sich mit einem jungen Hengst an, der ihre Hilfe zu brauchen scheint. Schneller, als ihr lieb ist, steckt sie mitten in einem Abenteuer, in dem mehr auf dem Spiel steht als nur die Sicherheit der Wildpferde … Ein Pferdebuch über die erste Liebe, das wichtige Thema Naturschutz und den Schutz von Wildpferden.

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Seitenzahl: 402

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Die Pferde von Eldenau

Band 1: Mähnen im Wind

Band 2: Galopp durch die Brandung

Band 3: Donnernde Hufe

Band 4: Wiehern im Wald

Inhalt

Frida

Jannis

Frida

Jannis

Frida

Jannis

Frida

Jannis

Frida

Jannis

Frida

Jannis

Frida

Jannis

Frida

Jannis

Frida

Jannis

Frida

Jannis

Frida

Jannis

Frida

Jannis

Frida

Jannis

Frida

Jannis

Frida

Jannis

Frida

Jannis

Frida

Jannis

Frida

Jannis

Frida

Jannis

Frida

Jannis

Frida

Jannis

Frida

Jannis

Frida

Wir müssen los.«

Ich brummte, rührte mich aber nicht. Es war gerade so friedlich. Der frische, würzige Duft des Heus, Jannis’ gleichmäßiger Atem, seine Fingerspitzen, die meine ausgestreckte Hand berührten. Dank der leichten Brise vom Wasser her, die durch die offenen Luken des Heubodens strich, war selbst die Hitze erträglich. Von draußen kam nur gedämpftes Vogelzwitschern herein, ansonsten war die Welt weit, weit weg. Keine schreienden Reitkinder und keine nörgelnden Feriengäste. Nur wir.

Leider hatte Jannis recht. Diese halbe Stunde zusammen hatten wir uns abgeknapst, wie meistens in den letzten Wochen. Wir waren seit nicht mal einem Monat zusammen, hatten Ferien und waren noch dazu Nachbarn, trotzdem sahen wir uns kaum öfter als Linh und Max, die zweihundertfünfzig Kilometer voneinander entfernt lebten. Unsere gemeinsame Zeit war also rar. Doch jetzt stand das Sommerfest des Carlshofs an und Jannis als Sohn der Stallbesitzerin musste dort natürlich aufschlagen.

Neben mir raschelte das Heu, als sich Jannis aufrichtete. Obwohl ich die Augen fest geschlossen hielt, wusste ich, dass er mich anlächelte. Ich konnte es fühlen wie das Prickeln der Augustsonne. Wie Livs weiche Nüstern an meiner Haut.

Im nächsten Moment entwischte mir ein Kichern. Das waren nicht Livs Nüstern, sondern eindeutig Jannis’ Lippen. Sie hauchten einen Kuss unter mein rechtes Ohrläppchen und arbeiteten sich zielstrebig über meine Wange voran. Als er bei meinem Mund ankam, grinste ich längst breit.

»Etwas mehr Ernsthaftigkeit bitte«, murmelte er, bevor er mir einen festen, aber sehr kurzen Kuss auf die Lippen drückte. Ich murrte, doch er war schon aufgestanden und griff nach meiner Hand. Mit einem Ruck zog er mich hoch. Überrascht von seinem Schwung landete ich in seinen Armen, wo es bei genauerer Betrachtung auch ganz gemütlich war. Ich kuschelte mich an ihn, aber er fasste meine Schultern und schob mich von sich weg. »Nichts da, Frida. Wir haben heute noch Verpflichtungen.«

Jetzt machte ich doch die Augen auf und sah ihn tadelnd an. »Der Einzige mit Verpflichtungen bist du. Ich bin freiwillig hier. Und ich kann mir echt was Besseres vorstellen, als den Abend mit euren versnobten Einstellern zu verbringen.«

Jannis holte Luft, garantiert, um etwas zu sagen wie »So schlimm sind die alle gar nicht« oder »Sei doch nicht immer so voreingenommen«, aber dann änderte er seine Strategie und zog mich wieder an sich.

»Und was wäre das?«, fragte er in einem verheißungsvollen Tonfall, der klarmachte, dass er sich auf die erste Hälfte meines Satzes bezog.

Wenn ich vor einer halben Sekunde noch auf eine schlagfertige Antwort gehofft hatte – der Zug war abgefahren. Ich plinkerte ihn an wie eine verknallte Eule, und während sein Grinsen immer breiter wurde, tat ich das Erstbeste, was mir einfiel, um meine Würde zu retten.

Es war natürlich das Falsche.

Obwohl, eigentlich fühlte es sich ziemlich richtig an. Und Gelegenheit zum Grinsen hatte Jannis auch nicht mehr, als mein Mund auf seine Lippen traf.

Zum tausendsten Mal fragte ich mich, wie man jemanden so gern küssen konnte – hörte das irgendwann auf? Wurde es vielleicht langweilig?

Jannis machte ein leises Geräusch, das von Langeweile sehr weit entfernt war, und holte mich damit aus meinem Kopf zurück in seine Arme. Da blieb ich, bis meine Finger seine Haare so durchwühlt hatten, dass sie in alle Richtungen abstanden, und ich dringend Luft holen musste, wenn ich nicht in Ohnmacht fallen wollte. Mit einem kleinen Ruck löste ich mich von ihm.

Jannis’ Augen leuchteten mich dunkelgrün an, während er tief durchatmete und seine Stirn an meine legte. »Oh Mann, Frida«, seufzte er, aber der verträumte Blick verging schnell, und er begann wieder zu grinsen. »Das wäre definitiv besser.«

Ich brauchte einen Moment, bis ich kapierte, dass er das Gespräch von eben wieder aufnahm, dann grinste ich zurück. »Tja, schade, dass du Verpflichtungen hast.«

Sein Lachen verebbte, während er eine meiner Haarsträhnen um seinen Finger wickelte und dabei nicht aufhörte, mir in die Augen zu sehen.

Wir fuhren beide zusammen, als jemand »Jaaaannis!« über den Hof brüllte. »Friiiiida!«, kam es hinterher, und wir seufzten.

»Bereit?« Jannis hob die Augenbrauen.

Ich zuckte mit den Schultern. »Bringen wir es hinter uns.«

*

Auf dem Hof kamen uns Linh und Max entgegen, stylish wie so ein Hochglanzpaar auf Instagram. Kaum zu glauben, dass die beiden mit Jannis und mir befreundet waren. Obwohl, bei Jannis war es ja egal, was er anhatte, der sah immer gut aus.

Seufz.

»Ihr wart jetzt nicht im Ernst auf dem Heuboden, oder?«, holte mich Max mit spotttriefender Stimme aus meiner Was-hab-ich-bloß-für-ein-Glück-mit-meinem-Freund-Verzückung.

Ich sah ihn streng an. Es war ja nicht gerade so, dass er und Linh es beim Händchenhalten beließen.

Jannis empfand das offenbar genauso, denn er fragte bloß: »Und?«

Linh zupfte mir einen Heuhalm aus den Haaren und zog nur stumm die Augenbrauen hoch, aber Max hielt natürlich mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg. »Leute, ihr seid so ein Klischee.«

Für Max’ Verhältnisse war das eine geradezu charmante Formulierung, sodass ich einfach grinsend weiterging, doch Jannis ließ meine Hand los und stürzte sich auf Max.

Eine Weile sahen Linh und ich zu, wie sie miteinander rangen und dabei immer wieder »Alter« grunzten, aber dann wurde es mir zu blöd. Ich deutete fragend zum Innenhof, und obwohl Linh seit Tagen kaum von Max zu trennen gewesen war, verdrehte sie die Augen und nickte. Lächelnd hakte ich mich bei ihr unter. Max würde morgen zurück nach Berlin fahren und Linh ihn den Rest der Ferien nicht mehr sehen, doch es war auch unser letzter Abend. Linh wollte mit ihren Eltern drei Wochen lang ihre Verwandten in Vietnam besuchen, also nutzte ich besser mal jede Minute, die ich mit ihr allein hatte.

»Wir gehen schon mal vor, ja?«, rief ich den Jungs zu, und wir wandten uns ab.

»He!«, kam es erstickt von Jannis, den Max gerade im Schwitzkasten hielt. »Ich verteidige hier deine Ehre!«

Trocken lachte ich auf. »Ich wusste gar nicht, dass ich so was habe.«

Linh prustete, aber während wir auf die Ecke des Stalls zuschlenderten, dauerte es nicht mal zwanzig Sekunden, bis die Jungs rechts und links von uns auftauchten und uns den Arm um die Schultern legten.

»Ihr glaubt wohl, dass wir euch allein bei dieser Reitersause auftauchen lassen, was?« Linhs Arm glitt unter meinem heraus, als Max sie näher an sich zog. »Könnt ihr vergessen«, murmelte er in ihr Haar. »Die zwei hübschesten Mädels lassen wir bestimmt nicht aus den Augen.«

Linh wandte Max das Gesicht zu und küsste ihn, doch ich schnaufte nur. »Bitte. Abgesehen von ein paar alten Männern werdet ihr allein unter Frauen sein. Entspannt euch.«

Jannis nahm den Arm von meiner Schulter, fasste nach meiner Hand und drückte sie. Ich lächelte auf unsere verschlungenen Finger hinunter, dann sah ich ihn an. Und stutzte. »Warte mal.«

Notdürftig ordnete ich seine Haare, die nach der Rauferei mit Max schlimmer abstanden als vorhin auf dem Heuboden. Dabei tat ich so, als würde ich nicht bemerken, wie aufmerksam er mich musterte. Es reichte, dass meine Haut sich ganz dünn anfühlte, wie ein uraltes Lieblingsshirt, so als würde sie bald durchlässig werden und alle meine Gefühle für diesen Jungen ans Tageslicht kommen. An den allerdünnsten Stellen schienen sie wahrscheinlich sowieso längst durch.

Zumindest in meinen Augen musste irgendwas davon zu sehen sein, denn als wir wieder losliefen, hörte ich genau, wie er langsam tief ausatmete. An der Ecke grinsten uns die anderen beiden entgegen, aber kaum machte Max den Mund auf, trat ihm Linh auf den Fuß, und was immer er sagen wollte, er verschonte uns damit.

Linh lächelte nur, doch als wir um den Stall bogen, flüsterte sie mir zu: »Ihr seid so süß zusammen.«

Falls sie eine Antwort erwartete, musste ich sie enttäuschen, denn ich blieb wie angewurzelt stehen. »Wow!«

Jannis drehte den Kopf zu mir. »Was ist?«

Mit meiner freien Hand deutete ich auf den Innenhof. »Wann habt ihr das alles aufgebaut?«

Jannis grinste Linh und Max an, aber ich hatte gar kein Auge dafür, sondern ließ den Blick über die weiß und maigrün eingedeckten Tische vorn am Eingang schweifen, die Solarleuchten, die überall in den Beeten steckten, und die Bar, die sie gegenüber der Reithalle aufgestellt hatten. In einer Ecke des Hofs stand ein riesiger Grill und um die Überdachung zwischen Halle und Stall rankten sich grün-weiße Girlanden.

»Na ja, wir waren fleißig seit gestern«, antwortete er, »und Hilfe hatten wir immerhin auch.«

Wahrscheinlich in Form der zwei Dutzend größtenteils in Grün gekleideten Mädchen, die in Grüppchen verteilt herumstanden und sich bei Limo und Bowle unterhielten. Wie erwartet zogen Jannis und Max von allen Seiten Blicke auf sich, während wir uns an den Paddocks vorbei Richtung Eingang schlängelten. Es wäre leichter gewesen, wenn wir einzeln gegangen wären, aber Jannis hielt meine Hand fest in seiner. Zufrieden lächelte ich in mich hinein.

Auf den Abend hatte ich mich nicht gerade gefreut. Solche Partys waren sowieso nicht mein Ding, zu viele Leute, die ich kaum kannte, zu viel Lärm und Durcheinander und Small Talk. Noch dazu ein Sommerfest mit einer Horde Turnierreiter – wie viel Spaß konnte man da schon erwarten? Doch dass Jannis jetzt darauf bestand, an meiner Seite zu bleiben, stimmte mich fröhlich.

Mister Siegerschleife und ich waren zusammen. Das grenzte fast schon an ein Wunder, wenn ich daran dachte, wie wir uns kennengelernt und monatelang angefeindet hatten. Doch Dinge ließen sich verändern, Menschen lernten dazu. Ich bildete mir nicht ein, dass hier nun alle zu Pferdeflüsterern wurden, nur weil Jannis besser verstand, was seine Pferde ihm sagen wollten. Aber ein Anfang war gemacht. Und irgendwo musste man beginnen.

»Da seid ihr ja«, begrüßte uns Eva, als wir uns endlich durch die Leute zu ihr vorgekämpft hatten. »Hallo, Frida«, schob sie hinterher und umarmte mich, weil wir uns heute noch gar nicht gesehen hatten. Dann glitt ihr Blick über unsere zerknautschten Shirts. Auch ihr fiel anscheinend der Unterschied zwischen Linh und Max und ihrem Sohn und mir auf, denn sie runzelte die Stirn und sagte: »Zieht ihr euch bitte noch um?«

Jannis und ich guckten uns an und mussten grinsen.

»Und nicht vergessen, auch hinter den Ohren waschen«, murmelte er, als Eva außer Hörweite war, aber ich kam nicht mal richtig zum Lachen, weil im selben Moment meine Familie auftauchte. Jeder – und neben meinen Eltern und Geschwistern waren auch Luises Freund Simon und Hilda und Heinrich, meine Ersatzgroßeltern, mitgekommen – trug eine Kuchenbox. Manchmal war es fast komisch, wie berechenbar die Benekes waren.

Auf einen Schlag stieg der Lärmpegel um das Dreifache, Leute wurden begrüßt, das Kuchenbüfett bestückt, Plätze hinter der Bar oder am Grill eingenommen. Sprachlos beobachtete ich, wie sich Mama und Papa und die anderen auf dem Carlshof zwischen all den fremden Menschen bewegten, als wären sie hier zu Hause. Von diesem Talent war offensichtlich nichts mehr übrig gewesen, als ich auf die Welt gekommen war.

Jannis ging einen Schritt auf mich zu, legte den Arm um meine Schultern und flüsterte: »Ich bin da, okay?«

Ich drehte den Kopf und lächelte schief. Diese Aussicht würde mich durch den Abend bringen.

Jannis

Zugegeben, es war naiv gewesen zu glauben, ich hätte an diesem Abend wirklich Zeit für Frida. Kaum hatten wir uns umgezogen, ging der Ansturm los. Es war buchstäblich jeder da, der den Carlshof jemals betreten hatte, und alle wollten essen, trinken und am liebsten noch mal aus erster Hand erfahren, wie es Frida und mir gelungen war, mit unseren Pferden aus einem brennenden Wald zu entkommen. Das Ganze war zwar schon drei Wochen her, aber so viel passierte hier an der Küste ja auch wieder nicht, außer dass sich die Einheimischen über die kilometerlangen Staus durch die Dörfer beschwerten, wenn die Hauptsaison losging. Da war ein Waldbrand mal was anderes. Und obwohl Frida bei der Sache die Heldin war und Dari und mich gerettet hatte, verkrümelte sie sich, sobald das Gespräch auf das Feuer kam, und überließ mir das Reden. Mit PR hatte sie es eben nicht so.

Die zweite Attraktion an diesem Sonntagabend – und die vielleicht größere – waren meine Mutter und Florian. Dass der hiesige Tierarzt eine neue Freundin hatte, war in Eldenau und Umgebung wahrscheinlich in jedem zweiten Haushalt diskutiert worden, und das vielleicht sogar, bevor es bei uns zu Hause Thema war. Aber nachdem ich der Beziehung offiziell meinen Segen erteilt hatte, hatten Mama und Florian keinerlei Hemmungen mehr, in aller Öffentlichkeit zu turteln. Selbst seine Exfrau Annelie schien sich für die beiden zu freuen.

Das Schräge an der Sache war, dass ich auf einmal Stiefgeschwister hatte. Und obwohl Florian noch gar nicht bei uns eingezogen war, betrachteten Emma und Basti den Carlshof schon als ihr zweites Zuhause. Basti hatte Mama sogar schon Kataloge für Treppenaufzüge mitgebracht, damit er auch mal bei uns übernachten konnte.

Aber ich wollte nicht meckern. Emma machte sich den ganzen Abend schon nützlich, stand bei Theo am Waschbecken oder verteilte mit Hilda Kuchen. Basti dagegen hatte Annika und Carina dazu gebracht, ihn auf Selma über den Reitplatz zu führen. Jetzt hatten sie alle Kinder unter acht an der Backe, die ebenfalls »reiten« wollten. Mama hatte es nach ein paar Warnhinweisen und der Ausgabe von Reitkappen erlaubt. Die, die gerade nicht auf einem Pferd saßen, karrten johlend Basti in seinem Rollstuhl durch die Gegend.

»Was machst du eigentlich die ganze Zeit?«, fragte ich Frida, als ich sie gefühlte Stunden später mal wieder allein erwischte. Bevor sie antworten konnte, zog ich sie zur Seite und küsste sie.

Blinzelnd schob sie mich ein paar Minuten später von sich weg, nachdem Theo zum dritten Mal an uns vorbeigelaufen war und dumme Kommentare abgelassen hatte. »Was war die Frage?«

»Wie du es mit deinem älteren Bruder aushältst.« Ich grinste und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Fridas Haare waren echt der Hammer. Jetzt, im Sonnenuntergang, schimmerten sie in einer krassen Mischung aus Rot, Kupfer und Gold. »Nein, ich wollte wissen, wo du dich dauernd rumtreibst.«

Sie schaute sich schnell um. »Ich verstecke mich vor Herrn Wolberg. Der will den ganzen Abend schon ein Foto mit mir machen. Für die Jahreschronik oder so.«

Ich lachte leise. »Der Bürgermeister will sich wohl mit der Lokalprominenz schmücken, was? Wie heißt die Rubrik, ›Helden von hier‹?«

»Woher weißt du das?« Stirnrunzelnd sah sie mich an. Dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Nee, ne? Geraten?«

Eine Stimme holte uns aus dem folgenden Lachflash. »Ähm, entschuldigt, wisst ihr, wo ich Theo finde?«

Die Stimme gehörte zu einer ungefähr Zwanzigjährigen mit lila Haaren und einem echt beeindruckenden Tattoo auf dem Oberarm.

Frida fasste sich als Erste. »Oh, hi, Miri. Ja, der ist drüben an der Bar.« Sie deutete in die entsprechende Richtung, und dann sah sie dem Mädchen hinterher und beugte sich dabei so weit zur Seite, bis sie fast in einem Fünfundvierzig-Grad-Winkel dastand. Ich musste sie festhalten, damit sie nicht umkippte. »Schau an. Theos neue Freundin.«

Jetzt guckte ich auch. Genau wie Linh und Max, die, unzertrennlich wie immer, gerade auf uns zukamen. Max pfiff leise, als die beiden zu Werke gingen wie die Weltmeister.

»Kennt ihr die?«, wollte Linh wissen.

Frida nickte. »Das ist Miri. Sie arbeitet bei Florian und Annelie in der Praxis.«

Max lachte. »Bei euch bleibt auch alles in der Familie, was?«

Aber Frida achtete gar nicht auf ihn. Sie flüsterte: »Bis später«, und war verschwunden.

»Wo will die denn hin?«, fragte Linh, doch ich nickte nur einem großen Mann in Chinos und einem hellblauen Hemd zu und sagte: »Hallo, Herr Wolberg. Großartig, dass Sie es heute Abend einrichten konnten.«

Frida

Lass uns abhauen.«

Prüfend blickte ich mich um, aber Jannis hatte recht: Er war hier nicht mehr gefragt. Ein paar letzte Gäste saßen zufrieden um die Tische herum und Eva hatte auf Chillmodus umgeschaltet. Zusammen mit Florian, Mama und Papa stand sie an der Bar und hielt einen von Theos Cocktails in der Hand. Sie sahen alle nicht so aus, als würden sie uns demnächst vermissen.

Ich griff nach der Hand, die Jannis mir hinhielt. »Wo willst du hin?«

»Sollen wir mit Dari zum Strand?« Er lächelte mich an. »Ich war heute kaum bei ihr.«

Da sagte ich natürlich nicht Nein.

Schon von Weitem hörte Dari unsere Schritte. Sie streckte ihren Kopf über die Boxentür, und als wüsste sie, dass sie heute noch mal rausdurfte, brummelte sie uns ungeduldig entgegen.

»Ein ganz neues Lebensgefühl, was, Mädchen?«, gurrte Jannis und strich ihr über die Stirn. Ich versteckte ein Grinsen. Diesen Ton schlug er nur bei Dari an.

Mittlerweile hatten die meisten Pferde mitbekommen, dass Besuch da war, und beobachteten uns neugierig.

»Ich glaube, sie finden es alle ziemlich gut.«

Jannis sah auf und nickte zufrieden. Über den Sommer hatten die Maibachs die Gitter zwischen den Boxen entfernt und neue, halbhohe Boxentüren einbauen lassen, sodass die Pferde jetzt viel mehr Kontakt miteinander hatten. »Wäre auch doof gewesen, wenn wir das alles wieder rückgängig machen müssten.«

Ich lachte und hielt ihm Daris Halfter hin, das er ihr über den Kopf zog. Zu dritt wandten wir uns Richtung Reitplatz und bogen dahinter auf den Wirtschaftsweg ab. Nach ein paar Hundert Metern hatten wir die Musik und das Geplauder vom Innenhof hinter uns gelassen. Links von uns schimmerte der Himmel noch silbern und violett und rosa wie Perlmutt, aber während wir schweigend dahingingen, färbte sich die Nacht dunkler, und immer mehr Sterne funkelten auf uns herunter. Die Luft war ganz mild, und außer Daris Hufschlägen und unseren Schritten auf dem trockenen Boden hörte ich nur die Grillen in den Büschen am Wegrand zirpen und dann und wann ein Rascheln, wenn sich eine Maus durchs Gras davonmachte.

»Weißt du, dass wir genau vor einem Jahr nach Eldenau gezogen sind?«, fragte Jannis nach einer Weile leise.

Ich sah ihn an. »Wirklich? Nein, wusste ich nicht. Habt ihr deswegen heute gefeiert?«

Er nickte. »Ja. Mama war das wichtig. Alles in allem, sagt sie, ist das Jahr besser verlaufen, als sie es sich erhofft hatte. Wenn auch ein bisschen abenteuerlicher«, schob er nach einer kleinen Pause hinterher. Im Sternenlicht blitzten seine Zähne auf.

Zustimmend drückte ich seine Hand. Dari schnaubte, als wüsste sie genau, worauf er anspielte – sie war ja auch an jedem Abenteuer beteiligt gewesen. Ich fand es immer noch sagenhaft, wie sie den Schrecken abgeschüttelt hatte, dem sie im letzten Herbst über Wochen ausgesetzt gewesen war. Wir wussten nicht genau, was sie alles Furchtbares erlebt hatte, und wahrscheinlich würden wir es nie erfahren, aber viele andere Pferde hätten sich nie wieder mit vollem Herzen auf Menschen eingelassen, wenn sie ein durchgeknallter Bereiter so terrorisiert hätte. Und trotzdem hatte Jannis, vor dem sie solche Angst gehabt hatte, wieder ihr Vertrauen gewonnen. So sehr, dass sie ihn sogar aus einem brennenden Wald getragen hatte.

Wir hatten den Strandaufgang erreicht und blieben zwischen den Dünen stehen. Der Sand wirkte fast flüssig, wie er sich vor uns bis zum Spülsaum erstreckte. Im letzten Licht glitzerte er hell, doch die Schatten, die darüberlagen, waren dunkelblau. Es war so windstill, dass die Ostsee über den Strand flüsterte.

Jannis ließ meine Hand los, legte den Arm um meine Schultern und drückte mir einen Kuss auf die Schläfe. »Mir ist noch nie etwas Besseres passiert, als hierherzukommen.«

Ich drehte ihm mein Gesicht zu. »Und das, obwohl es hier hauptsächlich Ponymädchen gibt.«

Seine Mundwinkel zuckten, doch er ließ sich nicht ablenken. Langsam beugte er seinen Kopf zu mir, aber bevor seine Lippen meine berührten, stupste Dari mit der Nase gegen sein Ohr.

Jannis lachte, als ich sie strafend anguckte.

»Echt jetzt? Du willst mitknutschen?« Das hatte ich nicht wörtlich gemeint, aber ihre Nase bewegte sich ein Stück weiter, und schon pusteten mir ihre Nüstern warmen Pferdeatem ins Gesicht. Ich machte mich von Jannis los und kraulte sie unter der Lippe, wie sie es gernhatte. »Nee, du, lass mal. Manches geht sogar mir zu weit.«

»Schluss jetzt.« Grinsend zog Jannis meine Hand weg. »Dafür habe ich Dari nicht mitgebracht.«

»Sondern?«

Er sagte nichts, stattdessen stellte er sich an Daris linke Seite und strich ihr über den Hals. Dann griff er nach ihrem Widerrist, holte Schwung und zog sich auf ihren Rücken. Und Dari blieb ungerührt stehen.

Es war ein weiter Weg gewesen bis zu diesem Moment.

Jannis lächelte mich an und hielt mir die Hand hin. »Na los.«

Einen Augenblick lang hatte ich echt Zweifel, ob ich es auf Daris Rücken hinaufschaffen würde – sie war immerhin fünfundzwanzig Zentimeter höher als Liv. Doch dann packte ich Jannis’ Arm und mit ein bisschen Gehüpfe und Geziehe saß ich schließlich hinter ihm. Elegant war anders, aber das Ergebnis zählte.

Ich konnte fühlen, wie sich Dari unter uns ausbalancierte. Als sie tief durchatmete, legte Jannis ihr die Schenkel an den Bauch, und ich schlang meine Arme um ihn. Dari machte ein paar vorsichtige Schritte, doch es dauerte gar nicht lang, und wir hatten unser Gleichgewicht gefunden. Sie schnaubte, streckte den Hals und ging mit nickendem Kopf auf die Wasserlinie zu. Jannis lenkte sie nach rechts. Ich folgte einfach nur seinen Bewegungen und genoss seine und Daris Wärme.

Mittlerweile war der Himmel völlig schwarz und wir waren ganz allein am Strand. Dari ließ sich die Wellen um die Fesseln spülen und zog immer wieder ihre Unterlippe durchs Wasser. Nach einer Weile tauchten vor uns die Klippen der Landspitze aus der Dunkelheit auf und ragten blass schimmernd ins Meer.

Jannis und ich redeten nicht. Ich lehnte die Wange an seine Schulter und er schlang die Finger seiner rechten Hand durch meine. Drei Herzschläge, ganz ruhig, ganz im Einklang – ich hätte nie geglaubt, dass es immer noch etwas Schöneres gab, was man mit Pferden erleben konnte.

Jannis’ Gedanken gingen anscheinend in eine ähnliche Richtung, denn er fragte: »Was machen eigentlich andere Leute auf Dates?«

Ich lachte gedämpft. »Ich hab gehört, die müssen ins Kino gehen.«

Wortlos drückte er meine Hand, und ich hielt ihn noch fester, und gemeinsam ritten wir im Sternenlicht dahin, während das Wasser um Daris Hufe floss und sie uns mit sicheren Schritten über den Sand trug.

*

Leise summte ich vor mich hin, während ich am nächsten Morgen über den Hof zum Ponystall ging. Ich merkte, wie sich ein Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitete, als ich an gestern Abend dachte. Zum tausendsten Mal, seit ich aufgewacht war. Und ich war echt noch nicht lange wach.

Es war kurz nach halb acht, aber die Sonne schien schon so warm, dass ich den Pulli, den ich über dem T-Shirt trug, gar nicht gebraucht hätte. Ich streckte die Arme aus, legte den Kopf in den Nacken und drehte mich einmal um mich selbst. Der Himmel über mir war blau und wolkenlos, es war Sommer, wir hatten Ferien und ich war so, so verliebt. Konnte es noch besser werden?

An der Ecke des Stalls entdeckte ich die Herzog-Zwillinge, die mir zusahen und kicherten, doch an diesem Morgen war mir das egal. Immer noch fühlte ich Jannis’ Wärme, während unter uns Dari zufrieden vor sich hin trottete.

Den Tag wollte er mit Max verbringen, aber heute Abend hatten wir uns mit den Pferden am Badeteich verabredet. Bei diesen Aussichten machte es mir gar nichts mehr aus, dass ich die Morgenfütterung übernehmen musste und nachher für den Reitunterricht eingeteilt war. Vor meinen drei Ponygruppen wollte ich aber mit unserem Neuzugang ein bisschen Gelassenheitstraining machen. Suki war erst ein paar Wochen bei uns, doch wir brauchten dringend ein größeres Schulpony, deswegen arbeitete ich schon regelmäßig mit ihr.

Sie stand mit ein paar anderen Stuten in einer großen Paddockbox, wo gerade die vorwitzigsten den Kopf über die Tür streckten, weil sie mich hatten kommen hören. Ich strich Pheli und Alba über die Nase und öffnete den Riegel. Bevor ich ihnen ihre Heuration gab, wollte ich Suki herausstellen, damit ich sie später nicht von ihrem Futter wegzuziehen brauchte.

»Suki«, lockte ich. »Na, komm her, mein Mädchen.«

Erst auf den zweiten Blick entdeckte ich sie. Natürlich stand sie am anderen Ende der Box. Sie hatte die Ohren gespitzt, traute sich aber nicht zu mir. Dann musste ich sie eben holen.

Seufzend nahm ich ein Halfter und einen Strick vom Haken, schlüpfte durch die Tür und griff nach außen über den Rand, um sie zu verriegeln. Wie immer war Pheli am aufdringlichsten, und ich schob sie zur Seite, was mir ein ungehaltenes Schweifschlagen einbrachte.

»Hör auf, mich so anzuzicken«, sagte ich. »Je schneller du mich zu Suki durchlässt, desto früher kriegst du dein Frühstück.«

Doch Pheli war heute nicht die Einzige, die sich bitten ließ. Ich richtete mich noch ein Stück mehr auf, um Millie wegzuschicken, aber genau wie Pheli wirkte sie angespannt. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass sich Vilma an Alba vorbeidrückte, und die zwickte sie dafür in die Kruppe. Die Haut in meinem Nacken prickelte. Irgendwas war hier –

Ich hatte das Gefühl noch nicht ganz in einen Gedanken gefasst, als es ohrenbetäubend knallte. Genau wie die Pferde zuckte ich zusammen. Zum Überlegen kam ich gar nicht – aus reinem Instinkt wollte ich zurück zur Tür, aber dazu war es zu spät. Eine der Stuten warf den Kopf hoch und wieherte schrill, und als wäre das das Signal zum Durchdrehen gewesen, breitete sich die Panik wie eine Welle zwischen den Pferden aus und erfasste auch mich.

»Hooo«, machte ich noch, doch im nächsten Moment hatte ich keine Luft mehr, um etwas zu sagen, denn Millie rempelte mich an und schob mich gegen Asta, die in der Enge des Stalls nicht anders konnte, als dagegenzuhalten und mich an Millies Flanke zu drücken. Schwarz kamen die Wände auf mich zu, als ich mit ausgestreckten Armen versuchte, die beiden auf Abstand zu halten, und gegen die Ponys natürlich nicht die geringste Chance hatte.

Ich wollte rufen, aber mehr als ein krächzendes »Hey!« brachte ich nicht zustande, während ich darum kämpfte, auf den Beinen zu bleiben. Die Stuten verschwammen zu einer Masse aus zuckenden Muskeln und stampfenden Hufen, und je lauter das Schnauben, je weißer die aufgerissenen Augen um mich herum wurden, desto hektischer versuchte ich, Luft in meine Lungen zu pressen. Ich musste mich zwischen ihnen hinausschieben, ich musste an die Wand und von dort aus zur Tür … doch da knallte es wieder, noch lauter als zuvor, und das gab den Ponys den Rest.

Wie eine Woge kamen ihre Nervosität und Panik auf mich zu. Ihre Bewegungen, mit denen sie sich auf dem engen Raum Platz verschaffen wollten, waren wie ein Strudel, der mich einsaugte.

Und dann verlor ich den Boden unter den Füßen. Das Stroh dämpfte meinen Sturz, aber weil ich mich nicht abstützen konnte, knallte ich auf die Hüfte. Irgendwie schaffte ich es, meine Arme hochzureißen und über meinen Kopf zu legen, bevor mich der erste Huf traf. Schemenhaft nahm ich die Stute wahr, die auf mich zu geschoben wurde. Sie stolperte, knickte mit dem Vorderbein ein, und ich wappnete mich gegen den Aufprall, mit dem sie auf mir landen würde, doch im letzten Moment warf sie ihr Bein nach vorne, rutschte an meinem Brustkorb ab und setzte den Huf hinter meinem Rücken auf. Ich schrie, als er mir die Haut aufriss. Ein Stoß gegen mein Bein, ein Tritt auf meinen Arm, stechende Schmerzen, dann ein Ruck, der meinen Kopf nach vorn schleuderte.

Das Letzte, was ich wahrnahm, war der stechende Geruch von Angstschweiß in meiner Nase. Dann war alles weg.

Jannis

Es ist völlig absurd, dass du am Meer wohnst und so selten am Strand bist.«

Zustimmend brummte ich, doch Max wusste genauso gut wie ich, warum das so war: Ich hatte einfach selten Freizeit, die ich ohne Pferd verbrachte. Und in der Hauptsaison waren Pferde erst abends am Strand erlaubt. Diesen Vormittag hatte Mama mir aber tatsächlich freigegeben. Na ja, sie hatte mir um zehn eine riesige Kühltasche mit Resten von gestern in die Hand gedrückt und gesagt, sie wolle uns erst um vier wiedersehen, wenn wir Max zum Bahnhof bringen mussten. Es war unser letzter Ferientag zusammen, am Mittwoch flog Max mit seiner Mutter nach Südfrankreich.

Der Tag hatte sich tatsächlich angefühlt, als hätte ich ein ganz normales Leben. Wir waren in der Ostsee geschwommen, und als wir uns mittags an einer Bude Pommes kauften, lernten wir ein paar Mädchen aus Bielefeld kennen, die uns zum Volleyballspielen einluden und mit denen wir später ein Eis aßen. Max, die treue Seele, hielt es irgendwann für angebracht zu erwähnen, dass wir beide eine Freundin hatten, und das hatten die drei anscheinend als Zeichen zum Aufbruch verstanden. Seitdem ließen wir uns in aller Ruhe die Sonne auf den Bauch scheinen, und das war so viel Luxus, dass es kaum auszuhalten war.

Irgendwann erinnerte uns Max’ Handywecker daran, dass er heute noch ein Date mit der Deutschen Bahn hatte. Flachsend packten wir unseren Kram zusammen und fuhren mit den Rädern zum Hof. Wir hatten sie gerade im Schuppen hinter unserem Haus abgestellt, als Max’ Handy wieder losging.

Diesmal war es ein Anruf. Er nahm ihn an.

»Hi, Mam.«

Eine Weile hörte er zu, und erst achtete ich gar nicht darauf, weil ich unsere Taschen zusammenraffte und Richtung Haus trug, aber dann fiel mir auf, dass er kein Wort sagte. Ich drehte mich zu ihm um. Sein Gesicht verhieß nichts Gutes.

»Was willst du denn hören?«, presste er irgendwann hervor. »Ihr habt das doch alles schon bestens geregelt. Was meint Ramona dazu? Die hat bestimmt keinen Bock darauf, dass ihr Stiefsohn dauernd mit zum Campen kommt.«

Wieder hörte er eine Weile zu und möglicherweise wurde sein Blick noch finsterer.

»Weißt du, was? Nimm du deinen Flieger nach Schanghai. Ich regle den Rest mit Papa.« Und ohne ein weiteres Wort beendete er das Gespräch.

Ich atmete tief aus. »Wichtiger Geschäftstermin statt Urlaub?«

Max steckte sein Handy in die Hosentasche und nickte knapp. »So sieht’s aus.«

Es war nicht das erste Mal, dass Frau Hoffmann in letzter Minute etwas cancelte, worauf sich Max gefreut hatte. Meistens verteidigte er sie dann, weil es ja nicht so einfach war, Karriere und Familie unter einen Hut zu kriegen, doch anscheinend war nun auch für ihn das Maß voll.

»Und jetzt?«

Er zuckte mit den Schultern und sah zu Boden. Er hatte die Stirn gerunzelt, so als würden ihm tausend Gedanken gleichzeitig durch den Kopf gehen. »Jetzt fahre ich mit meinem Dad und seiner neuen Familie nach Kroatien zum Campen.«

Max’ Halbbruder war fünf. Er mochte Niklas, das wusste ich, aber das hieß nicht, dass er sich keine besseren Ferien vorstellen konnte als zwei Wochen in einem Wohnmobil mit einem Kindergartenkind.

Deswegen fragte ich: »Und wenn du bleibst?«

Max sah auf, doch er antwortete nicht. Stattdessen blieb sein Blick an einem Punkt hinter mir hängen. Sein Gesicht, gerade noch knallrot vor Wut, verlor jede Farbe.

Ich drehte mich um. An der Haustür wartete Mama. Sie stand da mit dem Telefon in der Hand und einem Ausdruck, wie ich ihn nicht mehr bei ihr gesehen hatte, seit wir meinen Vater mit seiner Zweitfamilie erwischt hatten. Oder als Opa gestorben war. Ihre Lippen waren schneeweiß.

»Jannis«, krächzte sie. »Frida hatte einen Unfall. Sie ist im Krankenhaus.«

Neben mir klatschte es dumpf. Die Kühltasche und unsere Badesachen waren mir aus der Hand geglitten. Max machte zwei Schritte und stellte sich neben mich. Ich klappte den Mund auf und wieder zu, ohne dass etwas herauskam.

Dafür sagte Max: »Ich bleibe.«

*

Die Benekes hatten den halben Tag gewartet, bevor sie uns von Fridas Unfall erzählten. Anfangs war ich wütend gewesen darüber, doch mittlerweile hatte ich verstanden, dass ich ihnen dankbar sein musste. Denn immerhin waren jetzt alle Untersuchungen durch, und so wie es aussah, würde sie wieder ganz gesund werden.

Wir fuhren alle drei ins Krankenhaus. Mama und Max mussten im Wartezimmer bleiben, aber ich durfte mit Kristin, Robert und Luise zu Frida. Ich hatte nur Augen für sie. Blass und still lag sie auf diesem weißen Kissen, und nur weil sich ihre Brust regelmäßig hob und senkte, rastete ich nicht aus.

»Wie geht es ihr?«, fragte ich.

Robert antwortete mit belegter Stimme. »Sie hat sich den Arm gebrochen und eine Rippe. Außerdem hat sie Prellungen, Abschürfungen und eine Gehirnerschütterung. Sie ist ein paarmal aufgewacht, aber die Schmerzmittel, die sie ihr geben, sind ziemlich stark.«

Ich atmete tief durch und Kristin drückte meine Schulter. »Es ist noch mal gut gegangen«, flüsterte sie.

»Wie ist das passiert?« Noch immer sah ich nur Frida an.

»Diese beiden Ferienkinder, die Herzog-Zwillinge«, erklärte Luise, und je länger sie sprach, desto wütender klang sie, »fanden es witzig, Böller auf den Paddock der Ponys zu werfen. Frida wollte gerade eines aus der Box holen und bei dem Knall sind sie natürlich ausgetickt. Den Rest kannst du dir ja vorstellen.«

Den Rest wollte ich mir aber nicht vorstellen. Ich stand so heftig von meinem Stuhl auf, dass er kippte und ich ihn gerade noch festhalten konnte, bevor er umfiel. Mit beiden Händen fuhr ich mir durch die Haare, lief zum Fenster und stützte mich am Rahmen ab. Diese Bilder musste ich loswerden, und zwar schleunigst, sonst würde ich durchdrehen.

Das war kein Spruch. Ich hatte immer gedacht, Wut wäre das Schlimmste. Wenn ich wütend wurde, konnte ich keinen klaren Gedanken fassen, ich tat und sagte Dinge, die Ärger bedeuteten. Ich wusste es und in dem Moment war es mir egal. In den letzten Jahren hatte ich genug Grund gefunden, um wütend zu sein, auf Björn, der unsere Familie gesprengt hatte, auf Marcel, der mein Pferd quälte, auf Mama, Florian, sogar Frida – ob sie es verdienten oder nicht. Und immer kam danach die Erkenntnis, dass es besser gewesen wäre, ruhig zu bleiben, dass die Wut wie ein Tier war, ein Kampfhund, den man lieber nicht losließ.

Doch was die Wut mit mir anstellte, war nichts im Vergleich zu dem, wie die Angst in mir tobte. Sie krallte sich in meinen Magen und mein Herz und riss daran, bis nichts übrig war als blutige Fetzen. Wenn ich ein letztes bisschen Kontrolle behalten wollte, durfte ich nicht darüber nachdenken, was noch hätte passieren können.

Ich drehte mich zu den Benekes um und fragte das Erste, was mir in den Sinn kam: »Wo ist Theo?«

Müde sah Luise mich an. »Er hält auf dem Gut mit Simon den Betrieb am Laufen. Ich bin gleich weg und löse ihn ab.«

Stumm nickte ich, setzte mich wieder an Fridas Bett und nahm ihre kühle, trockene Hand in meine. Und da blieb ich, bis uns die Pfleger spät am Abend rauswarfen und die Benekes mich nach Hause brachten, weil Mama und Max längst gefahren waren. Wir sahen alle gleich aus, hohlwangig, blass – blasser noch als Frida –, aber wir verabschiedeten uns mit einem Lächeln. Frida hatte ein paarmal die Augen aufgemacht, und das war genug, um uns durch die Nacht zu bringen.

Frida

Der Geschmack war das Erste. Dieser widerliche Geschmack in meinem Mund, muffig und pelzig. An ihm hielt ich mich fest, um nicht wieder wegzudriften wie die Male zuvor, als sich mein Bewusstsein davonmachte, noch bevor es überhaupt an die Oberfläche gelangte.

Aber jetzt war ich da. Hier. Wo auch immer das war.

Neben mir piepste es.

Schmecken, Hören … Die Welt nahm wieder Gestalt an, ich konnte fühlen, dass ich auf dem Rücken lag, den Kopf auf … auf einem Kissen? Wenn ja, war es viel zu weich.

Ich drehte das Gesicht zu dem Piepsen – und mein Hirn explodierte.

»Aaaah«, hörte ich, rau und erstickt, und weil der Laut in meinem Brustkorb nachhallte, kam er wohl von mir.

»Frida?«, sagte eine Stimme irgendwo rechts von mir. »Frida, Schatz …«

Frida. Das war anscheinend ich. Ich war dabei, die Trümmer meines Kopfes zusammenzusammeln, also konnte ich nicht antworten.

Haut strich über meinen Handrücken, meine Stirn, meine Wange. Allein hätte ich die Stellen nicht gefunden, doch unter der Berührung ploppten die Empfindungen auf, gedämpft, aber real.

»Hallo, mein Schatz«, sagte die Stimme wieder. »Papa und ich sind da, es wird alles wieder gut … dir keine …«

Die Stimme verschwand hinter Nebel oder Watte, ich wusste es nicht, nur dass es mich einhüllte und zurückdrängte, dahin, wo ich vorher gewesen war.

Aber dahin wollte ich nicht mehr. Alles wieder gut … Das, ja, das wollte ich. Gut war das Gegenteil von dem Schmerz, der mir gerade den Kopf zerrissen hatte, das Gegenteil von dem ekligen Geschmack in meinem Mund. Es war sicher auch das Gegenteil dieser Schwere, die mich in die Matratze drückte und …

*

Als ich wieder aufwachte, schaffte ich es, die Augen aufzumachen. Ich blinzelte ein bisschen, und nach einer Weile stellten sich meine Augen scharf, und ich kapierte, dass ich an eine Zimmerdecke starrte. Sie war gelb, oder vielleicht kam mir das nur so vor, weil durch die Lamellen der Jalousie am Fenster goldenes Licht fiel.

Ein kleines Stück von mir entfernt atmete jemand tief und gleichmäßig. Noch ein Stück weiter, aber irgendwie gedämpft, quietschten Schritte, wie Gummisohlen auf Linoleum. Etwas schepperte, noch einmal Schritte, schneller diesmal.

Langsam formte sich ein Wort in meinem Kopf: Kran-ken-haus. Krankenhaus.

Ich zwang mich, liegen zu bleiben, denn an den Schmerz, als ich meinen Kopf hatte bewegen wollen, erinnerte ich mich noch. Und dann erinnerte ich mich noch an viel mehr: Schnauben und einen Knall und Panik und Pferde. Pferde, rechts und links und über mir … und dann die Schmerzen, scharf und glühend.

Heftig sog ich die Luft ein. Aber auch das tat weh und half nicht, meinen Herzschlag zu beruhigen. Wie schwer war ich verletzt?

Ich atmete flach weiter und versuchte, mich zu konzentrieren. Als Erstes probierte ich es mit den Händen. Rechts konnte ich die Finger bewegen, links – wieder schoss ein Schmerz durch meinen Körper, von der Hand den Arm hinauf – ebenfalls, wenn auch mühsamer. Mit dem Kopf war ich vorsichtiger, doch dass ich es schaffte, meinen Hals zu drehen, beruhigte mich. Vorsichtig richtete ich mich auf, gerade so viel, um zu erkennen, dass sich meine Zehen unter der Bettdecke rührten. Mein Blick fiel auf die Schiene an meinem linken Unterarm. Daher also der Schmerz. Als ich das rechte Knie anzog, ziepte es in meinem Oberschenkel, aber das war okay. Links klappte es auch.

Obwohl mir immer wieder Schmerzen durch den Kopf fuhren wie brennende Pfeile, machte ich mit meiner Bestandsaufnahme weiter, bis ich merkte, dass sich Galle in meinem Mund sammelte. Gerade noch rechtzeitig bekam ich die silberne, ovale Schüssel auf dem Nachttisch zu fassen, bevor ich mich übergab. Tränen rannen mir über die Wangen, weil ich mich auf meinem geschienten Arm aufgestützt hatte und jede neue Übelkeitswelle meinen Brustkorb erschütterte.

Als ich nicht mehr würgen musste, wischte ich mir über die Nase, lehnte mich zurück und schloss die Augen. Vorsichtig atmete ich durch den Mund aus. Ich war nicht gelähmt. Zerschunden, ja, und anscheinend hatte ich mir den Arm gebrochen, aber ich konnte wahrscheinlich noch laufen. Und wenn ich laufen konnte, konnte ich auch reiten.

Jannis

Die nächsten Tage waren total unwirklich. Auf dem Hof lief das Leben wie gewohnt weiter, wir mussten Pferde trainieren und Unterricht geben, aber mit dem Kopf war ich die ganze Zeit bei Frida. Da war es gut, dass Max tatsächlich blieb. Er half mir im Stall und erinnerte mich daran, den Sattelgurt nachzuziehen, bevor ich aufsaß. Erstaunt stellte ich fest, dass er zu einem Teil des Carlshofs geworden war, der den Fütterungsplan besser im Kopf hatte als ich und mich damit überraschte, dass er Sachen sagte wie: »Schau dir doch mal Mafalda an. Sie sieht irgendwie schlapp aus.«

Womit er sich bei Mama echt beliebt machte – na ja, beliebter als sowieso schon –, war die Tatsache, dass er richtig gut kochen konnte.

»Das Schicksal eines Scheidungskinds«, wehrte er ab, als sie mit tränenden Augen, weil er es mit dem Chili gut gemeint hatte, seine Penne all’arrabbiata in den Himmel lobte.

Im nächsten Moment wurde er rot und warf mir einen verstohlenen Blick zu, doch ich grinste nur und meinte achselzuckend: »Bei uns ist die Scheidung ja noch nicht durch.« Da entspannte er sich wieder und wir lachten alle drei.

Jedenfalls hielt Max in dieser Woche ein Minimum an Normalität aufrecht, und, auch dafür war ich ihm dankbar, er übernahm die Auskunftspflicht bei Linh. Sie hatte von Fridas Unfall erfahren, als sie in Vietnam gerade aus dem Flugzeug gestiegen war, und nur aufgehört, ihre Eltern zu erpressen, damit sie nach Hause flogen, weil Max hoch und heilig versprach, sie über jede Kleinigkeit auf dem Laufenden zu halten.

Wenn ich nicht im Krankenhaus war oder meine Arbeit erledigte, trainierte ich mit Dari. Wir hatten ein Ziel: das Turnier in Neubrandenburg Ende September. Ich hatte Björn versprochen, dass ich mit Dari dort antreten würde, und was passierte, wenn ich das nicht einhielt, war mir klar, auch ohne dass er die Drohung aussprach. Er glaubte nicht daran, dass Dari nach den schlimmen Erfahrungen, die sie gemacht hatte, je wieder erfolgreich Turniere gehen würde. Und in der Weltsicht meines Vaters hieß das: gewinnen. Dari gehörte ihm zur Hälfte, und lieber verkaufte er sie an irgendeinen Freizeitzüchter, wo sie sich dann trächtig auf einer staubigen Koppel langweilte, als dass er einem Pferd, das seine Erwartungen enttäuscht hatte, seinen eigenen Weg in seinem eigenen Tempo zugestand. Also mussten Dari und ich in Neubrandenburg antreten und wir mussten gut sein. Wir hatten noch zwei Monate und noch immer ritt ich sie ohne Sattel.

Seit vier Wochen machten wir das nun, und auch wenn ich es niemandem gesagt hatte, eines wusste ich: Ich würde nie mehr damit aufhören. Wenn ich zuvor meine anderen Pferde geritten hatte, war Daris Wärme unter mir immer wieder überraschend, aber es dauerte keine zwei Minuten, bis es mir wie die normalste Sache der Welt vorkam.

Dass wir auf Turnieren starten wollten, hieß nicht, dass ich mir solche Momente nicht mehr gönnen durfte. Momente wie jetzt, in denen ich Dari auf dem Zirkel galoppierte, ihre Muskeln unter mir fühlte, die in der letzten Zeit so viel Kraft gewonnen hatten, und spürte, wie sie immer mehr Gewicht mit der Hinterhand aufnahm, je kleiner ich den Zirkel ritt. Ihr Rücken wölbte sich, während sie mit jedem Sprung besser unter den Schwerpunkt kam.

Ich ging ganze Bahn und parierte sie zum Schritt durch. Eine Runde durfte Dari sich strecken, dann nahm ich die Zügel wieder auf, wechselte auf die rechte Hand und galoppierte an. Auch hier verkleinerte sie den Zirkel mit geschmeidigen Sprüngen, während das innere Hinterbein mehr Last aufnahm.

Es war noch gar nicht lange her, dass ich ohne Sattel den Galopp nicht so ausbalancieren konnte wie jetzt. Wir waren gemeinsam besser geworden. Dari war fitter als letzten Sommer, nachdem ich sie bekommen hatte, und fitter als zu der furchtbaren Zeit, während der Marcel mit ihr gearbeitet hatte. Wenn es allein an ihrer körperlichen Verfassung gelegen hätte, wie wir uns auf Turnieren präsentierten, hätte ich längst keine Bedenken mehr gehabt. Aber die Frage war, ob sie ihr Trauma vom letzten Herbst komplett überwunden hatte. Viel Zeit blieb uns nicht mehr, um das herauszufinden.

Wieder ging ich ganze Bahn, ritt noch ein paar Schritt-GaloppÜbergänge und ließ es gut sein. Ich klopfte Dari sanft den Hals und kraulte ihre Mähne, was sie mit einem zufriedenen Prusten beantwortete.

»Super gemacht, Mädchen. Brav.«

Sie wusste selber, dass das Training gut gelaufen war, denn sie streckte wohlig den Hals und kaute entspannt auf ihrem Gebiss. Erst als wir die gegenüberliegende Bahnseite erreicht hatten, merkte ich, dass Max auf der Tribüne saß und uns zuguckte. Jetzt stand er auf und kam an den Zaun.

»Das sah nicht schlecht aus«, meinte er grinsend, als ich mit Dari bei ihm stehen blieb und sie ihm die Nase hinhielt, die er folgsam streichelte. »Fast wie bei einem Indianer.«

»Du hast echt keine Ahnung, Alter«, antwortete ich, aber ich musste auch grinsen.

Schwang da etwa so was wie Neid in seiner Stimme mit? Max hatte nie besonders viel Interesse fürs Reiten gezeigt, doch das, was ich hier machte, hatte ja mit dem Training in Berlin nicht viel gemein. Nachdenklich musterte ich ihn.

»Was ist?«, fragte er misstrauisch.

Er kannte mich eben.

»Komm rein«, wies ich ihn an, und bevor er sich unter dem Balken hindurchgeschoben hatte, war ich schon von Daris Rücken geglitten, hatte ihr die Zügel über die Ohren gezogen und sie Max in die Hand gedrückt. »Halt mal bitte schnell.«

Dann war ich weg und kümmerte mich nicht um sein »Wo willst du hin?«.

*

Keine fünf Minuten später kam ich mit Selma am Strick zurück.

Max sah mir vorwurfsvoll entgegen. »Dein Pferd hat Hunger!«, rief er schon von Weitem.

Dari zog die Nase aus seiner Hosentasche und guckte, als wäre nichts gewesen.

Ich grinste. »Nee, nur Appetit«, stellte ich richtig, als ich nah genug heran war. »Du kannst ihr nachher ein paar Möhren geben. Und jetzt hoch.«

»Hoch?« Max starrte mich an. »Ist das irgend so ein Pferdesprachenkommando, das Nichtreiter nicht kennen?«

»Hoch heißt aufsteigen. Du wolltest doch Indianer spielen.«

Sein Gesicht drückte innerhalb der folgenden zwei Sekunden mindestens zehn Emotionen aus. Es war faszinierend.

Schließlich entschied es sich für ungläubige Herablassung. »Wie lang kennen wir uns jetzt? Neun Jahre? Und hab ich in der ganzen Zeit jemals davon geredet, dass ich mich auf ein Pferd setzen will?«

»Quatsch nicht so viel und schwing dich rauf. Selma wird schon ganz ungeduldig.«

»Hast du gehört, was ich gesagt habe?«

»Ja. Interessiert mich aber nicht.« Als er mich eine halbe Minute später immer noch anstarrte, meinte ich: »Es kann nichts passieren. Ich hab dich die ganze Zeit am Strick und Selma ist superverlässlich.«

»Ich hab keine Angst«, presste er hervor.

Das hatte ich erwartet. »Wo ist dann das Problem? Du bist noch bis zum Ende der Ferien hier. So können wir wenigstens mal mit den Pferden an den Strand. Und …«, ich machte eine kleine Pause, »… Linh findet es bestimmt auch sexy.«

»Linh kann Pferde nicht leiden.«

»Quatsch. Das sagt sie doch nur, weil sie Angst hat. Frida wäre nie mit ihr befreundet, wenn sie nicht spüren würde, dass Linh sie versteht.« Da war Frida kompromisslos. »Na los, Jungs auf Pferden finden Mädchen immer gut.«

Max war echt hartnäckig. »Aber dieses ganze Gezappel auf dem Platz … Ich hab da keinen Bock drauf. Diesen Turnierscheiß wollte ich nie machen.«

»Für diesen Turnierscheiß musst du auch ein bisschen früher aufstehen. Davon rede ich nicht. Ausreiten, an den Strand, bisschen Spaß haben … Jetzt komm schon, das klingt doch gut.«

Er betrachtete mich aus schmalen Augen. »Spaß haben? Am Strand ausreiten? Frida hat dir echt ’ne Gehirnwäsche verpasst, oder? So was hättest du früher nie rausgelassen.«

Ich lachte. »Tja, man wird älter und weiser. Und jetzt mach oder die Pferde fallen vor Langeweile um.«

*

Irgendwas war in den letzten Jahren bei ihm hängen geblieben, denn obwohl er noch eine Weile zeterte, schwang er sich zwei Minuten später erstaunlich geschickt auf Selmas Rücken und begann, ihren Hals zu streicheln. Argwöhnisch starrte ich ihn an.

»Was ist?«, fragte er genervt. »Was mache ich falsch?«

Nichts, das war es ja. Er saß genau im Schwerpunkt, ließ die Beine locker hängen und gab Selma ein gutes Gefühl. Anscheinend hatte er vorhin nicht gelogen, als er meinte, er hätte keine Angst. Aber wenn ich ihm das so sagte, stieg es ihm nur zu Kopf.

»Atme tief durch die Nase aus und lass den Bauch locker«, wies ich ihn stattdessen an.

Das machte er und keine Sekunde später seufzte Selma und senkte den Kopf. Ich starrte weiter.

»Was?«, fragte Max jetzt mit leicht alarmiertem Ton. »Ist das normal?«

Ich fasste mich und zuckte mit den Schultern. »Na ja, normal für Leute, die wissen, was sie tun.«

Als die Info in sein Hirn sickerte, fing er an zu grinsen und wandte sich an Selma: »Hast du gehört? Dieser Reitkram ist halb so wild. Wir beide rocken das.«

Kopfschüttelnd drehte ich mich zu Dari, die sich in den letzten Minuten mit den spärlichen Grasbüscheln am Rand des Reitplatzes beschäftigt hatte, und ließ mich vom Zaun aus auf ihren Rücken gleiten. Vorsichtig nahm ich die Zügel auf, griff Selmas Strick fester und guckte Max an. »Ist noch nicht ausgemacht, dass du der neue Marcus Ehning bist, okay? Ein, zwei Feinheiten gibt es da schon noch.«

Er klopfte Selmas Hals und grinste breiter. »Nichts, was wir beide nicht hinbekommen …«