Waldmädchensommer - Theresa Czerny - E-Book

Waldmädchensommer E-Book

Theresa Czerny

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Beschreibung

"Morgen wieder an der Lichtung." So verabredet sich Alva jeden Tag mit ihrer neuen Freundin Toni im Wald. Dort verbringen die beiden ihre Sommerferien und erschaffen sich eine Fantasiewelt voller magischer Wesen. In der Vorstellung der Mädchen bevölkern Mooswichtel, Bellinen und Lichtfunken den Wald, aber es lauern auch Gefahren: Aurelia, die Hüterin des Waldes und des Lichts, wird von dunklen Mächten bedroht. Während Toni ihre gemeinsamen Streifzüge durch den Wald immer weiter ausdehnt, um Aurelia zu retten, schreckt Alva vor den oft waghalsigen Suchaktionen zurück. Warum ist Toni dieses Spiel bloß so wichtig? Hat es etwa damit zu tun, dass sie ein paar Tage ohne Erklärung verschwindet und danach viel in sich gekehrter wirkt? Als Alva schließlich begreift, worum es bei ihrem Abenteuer wirklich geht, muss sie ihrer neuen Freundin helfen, bevor es zu spät ist.

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Seitenzahl: 245

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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

1

Gelangweilt zog ich meine Sneaker durch den Kies und hinterließ mit jedem Mal tiefere Spuren. Vor, zurück, vor, zurück, und über mir ächzte die Kette der Schaukel im Scharnier, immer schön im Rhythmus. Außer dem Quietschen war in der drückenden Nachmittagsstille kaum etwas zu hören. Selbst die Blätter der Kastanie, die ihren Schatten über den Spielplatz warf, hingen schlapp an ihren Zweigen.

Vor ein paar Minuten hatte ich noch gehofft, dass der Lärm, den ich hier veranstaltete, andere Kinder aus den Häusern locken würde, doch nicht einmal ein genervter Rentner hatte seinen Kopf über den Zaun gehoben und geschimpft. Die Straße schien so verlassen, als wäre die ganze Nachbarschaft längst in den Urlaub gefahren.

Nur wir nicht. Und diesen Sommer würde daraus auch nichts werden.

Ich gab auf. Es war angenehm, dass der Luftzug mir die Haare aus dem Gesicht wehte und meine Wangen kühlte, aber langsam wurde es peinlich, dass ich mich hier allein auf dem Spielplatz herumtrieb. Ich streckte die Füße, und mit jedem Pendeln bremste ich die Schaukel ein wenig mehr ab, bis ich gefahrlos absteigen konnte.

Vom Spielplatz aus wandte ich mich nach rechts. Ich streunte durch menschenleere Straßen, wischte mir mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, während die Hitze im Asphalt durch meine Sohlen strahlte, und redete mir ein, dass es irgendwo jemanden gab, der sich nicht zusammen mit meinen Geschwistern und dem Rest des Ortes auf dem Sandstreifen am See fläzte. Dass dieser Jemand in meinem Alter war und auf die Idee kam, mich anzusprechen.

Zwei Straßen nach dem Spielplatz endete das Viertel. Danach folgte noch eine Wiese und dahinter begann der Wald. Im kümmerlichen Schatten einer Birke blieb ich stehen, kniff die Augen zusammen und starrte sehnsüchtig zu den Bäumen hinüber. Dort war es bestimmt kühler. Beinahe fühlte ich schon die frische Luft, wie sie über meine Arme floss und die feuchten Haare in meinem Nacken trocknete. Vielleicht gab es da sogar einen Bach, wo ich die Schuhe ausziehen und meine Füße ins Wasser halten konnte.

Andererseits sahen die Tannen ziemlich abweisend aus. Hoch und dunkel und dicht an dicht. Es hätten auch Fichten sein können, das Ergebnis blieb gleich.

Als ich mir zum zillionsten Mal das klebrige Shirt vom Rücken wegzog, fasste ich einen Entschluss. Ich straffte die Schultern, hob das Kinn und marschierte schnurstracks auf die Bäume zu. Vielleicht fand ich ja einen Pfad, auf den die Sonne schien und wo der Wald nicht ganz so düster und undurchdringlich war, wie er mir vorkam. Und wenn nicht, musste ich ja nicht hineingehen.

Das trockene Gras unter meinen Füßen raschelte, als ich über die Wiese lief. In der prallen Sonne war es so heiß, dass die Luft in meinen Lungen brannte, und das helle Licht stach mir in die Augen. Doch dann erreichte ich den schmalen Streifen, wo die ausladenden Äste ein wenig Schatten spendeten, und sofort roch ich den Wald: Die Wiese in meinem Rücken duftete süß, aber zwischen den Bäumen strömte etwas Üppigeres, Geheimnisvolles hervor. Golden und strahlend klebte der Geruch von Harz in meiner Nase fest, Moos und Erde lockten mich unter das grün leuchtende Blätterdach.

Doch ich blieb, wo ich war. Die plötzliche Kühle zog mir eine Gänsehaut über die Arme, aber das ging gleich wieder vorbei. Weil die Haselsträucher zwischen den Stämmen höher wuchsen, als ich gucken konnte, wandte ich mich nach links. Über mir streckten sich die Tannen in den Himmel, unter mir federte der Boden meine Schritte ab und langsam folgte ich dem Schattenband hinunter in eine Kuhle.

Hier wurde der Waldrand noch undurchdringlicher, stachelige Schlehen lösten die Haselsträucher ab. Es sah nicht so aus, als würde ich demnächst einen Pfad finden, doch umdrehen wollte ich auch nicht.

Wind kam auf, nur eine Brise, die in den Wipfeln knarzte und irgendwo zwischen den Bäumen einen Ton erzeugte. Ich blieb stehen und lauschte. Ganz hell und zart klang er, wie Glöckchen aus Glas, und dann hörte es sich an, als würde jemand leise auflachen. Das Echo des Lachens entfernte sich, und ich schnaufte, als ich merkte, dass ich drei Schritte in den Wald hineingelaufen war und jetzt mit dem Shirt an einem Schlehenzweig festhing.

Natürlich hatte sich der am Saum an meinem Rücken verhakt. Ich hatte gut zu tun, ihn loszumachen, ohne mir Löcher ins Shirt zu piksen. Weil … eigentlich war das nämlich auch gar nicht mein Shirt, sondern Sveas, das ich mir hatte leihen müssen, weil mir von meinen fast keins mehr passte. Ich konnte ja nun wirklich nichts dafür, dass ich in den letzten Monaten um den Bauch ein bisschen zugelegt hatte und Mama und Papa wegen des Umzugs noch nicht dazu gekommen waren, mit mir Klamotten kaufen zu gehen. Außerdem war Svea heute Morgen schon unterwegs gewesen, da hatte ich sie schlecht fragen können, ob ich an ihren Kleiderschrank durfte.

Als ich mich endlich befreit hatte, schwitzte ich schon wieder, doch diesmal, weil ich die Antwort auf die Frage genau kannte: Durfte ich nicht. Es war aber nichts passiert, der Stoff war heil, und wenn ich Glück hatte, merkte Svea gar nicht, dass das Shirt weg gewesen war.

Das seltsame Lachen war jetzt auch weg und ich grinste ein wenig verlegen in mich hinein. Natürlich wusste ich, dass es kein echtes Lachen gewesen war, nur irgendein Geräusch, das der Wind hervorgerufen hatte. Auch wenn es ziemlich echt geklungen hatte.

Ich lief weiter. Nun ging es wieder bergauf und noch immer war kein Waldpfad in Sicht. Musste denn da niemand rein, zum Bäumefällen oder so? Aber vielleicht durfte der Wald hier einfach Wald sein, wild und unberührt von Menschen, und ich wäre gar nicht willkommen gewesen.

Oben auf dem Hügel blieb mir die Luft weg. Nicht weil der Anstieg so steil gewesen wäre, sondern weil ich niemals erwartet hätte, was sich vor mir in einer Senke ausbreitete: An den Waldrand schmiegte sich ein Garten, umgeben von einer niedrigen Steinmauer und über und über voller Blumen. Vergissmeinnicht, Lavendel und Rosen drängten sich neben lila und weiß blühenden Sträuchern in den Beeten, und obwohl ich noch ein ganzes Stück entfernt war, wehte mir ihr Duft in die Nase.

Inmitten all der Farben stand ein blaues Häuschen mit weißen Fensterläden, und wenn ich je in meinem Leben etwas Verwunschenes gesehen hatte, dann war es dieses Haus.

Eine Fee, schoss es mir durch den Kopf. In dem Haus wohnte eine Fee, und es war ihr Lachen gewesen, das ich vorhin gehört hatte.

Fee oder nicht, je näher ich heranging, desto sicherer war ich, dass niemand zu Hause war. Hinter den Fenstern bewegte sich nichts, in der Einfahrt parkte kein Auto und im Garten entdeckte ich auch niemanden. Anscheinend waren die Menschen hier ebenfalls ausgeflogen.

Ich trottete auf die Gartenmauer zu, aber das Unterholz reichte bis an das Grundstück heran, und ich fand keinen Weg zwischen Mauer und Wald hindurch. Hier ging es nicht mehr weiter. Einen Moment lang überlegte ich, an der Mauer entlang um das Haus zu gehen, bis ich an der Eingangsseite wieder auf den Waldrand treffen würde, doch dann kehrte ich um und lief den Hügel hinauf.

Ich wollte nicht näher an das Haus heran. Wenn ich zu genau guckte, sah ich durch die Fenster vielleicht eine Playstation oder einen Computer, und das konnte ich nicht riskieren. Das Häuschen wirkte wie aus einer Geschichte, einem Märchen, und ich wollte keine Beweise für das Gegenteil entdecken.

Oben auf dem Hügel drehte ich mich noch einmal um. Friedlich lagen Haus und Garten da und leuchteten zum Abschied in allen möglichen Farben. Ein Windstoß fuhr durch die Blätter der Silberbirken an der Steinmauer und trug ein feines Rauschen zu mir herauf.

Bis bald, schien es zu flüstern. Auf uns wartet noch ein Abenteuer.

2

Zu Hause schaffte ich es, Sveas T-Shirt unbemerkt in den Wäschekorb zu stopfen. Allerdings hieß das, dass ich eins meiner Pyjamaoberteile anziehen musste, weil in meinem Kleiderschrank ansonsten gähnende Leere herrschte. Nach einem kritischen Blick auf die beiden getigerten Kätzchen, die jetzt auf meinem Bauch miteinander kuschelten, drehte ich meinem Spiegelbild den Rücken zu und machte mich auf die Suche nach meiner Familie.

Der Einzige, den ich fand, war Papa. Anders als Mama fing er erst nach den Ferien in seinem neuen Job an und verbrachte den Sommer stattdessen damit, unser Haus zu renovieren. Heute war das Gästeklo im Erdgeschoss dran.

»Hallo, Schatz«, begrüßte er mich, ohne aufzuschauen, als ich meinen Kopf durch die Tür steckte. Er hatte die Stirn gerunzelt und passte eine große hellbraune Fliese an der Wand unter dem Fenster ein.

»Hallo«, antwortete ich. »Läuft’s?«

Er brummte, während er mit einem Gummihammer auf die Fliese klopfte. Ich wartete einen Moment, aber anscheinend folgte nichts mehr, also zog ich den Kopf schon wieder zurück, als er dann doch antwortete: »Ja, es wird. Sag mal, kannst du den Tisch decken und nachgucken, ob noch Salat da ist? Mama kommt gleich von der Arbeit.«

Ich seufzte. »Geht klar.«

Jetzt sah er auf und lächelte. »Danke, Schatz. Ich bin hier gleich fertig, dann helfe ich dir.«

Ich lächelte zurück, machte mir aber keine großen Hoffnungen. Wenn Papa in einem seiner Heimwerkerprojekte steckte, rückte alles andere in den Hintergrund, selbst die Fütterungszeiten des Nachwuchses.

Im Kühlschrank fand ich noch ein Bund Radieschen und eine Gurke, die ich in Stücke schnitt und zusammen mit ein paar Tomaten und einem Stapel Teller auf die Terrasse trug. Seit wir hier wohnten, waren wir viel mehr draußen, und sobald die Temperaturen über achtzehn Grad kletterten, saßen wir zwischen roten und rosa Kletterrosen und schauten auf Beete mit Astern und Lavendel. Ich atmete tief ein. Fast noch besser als der Ausblick war der Duft, süß und würzig.

Ein Kribbeln lief über meinen Rücken. Auch wenn es mich langsam nervte, dass es hier anscheinend keine Kinder in meinem Alter gab, jetzt freute ich mich doch wieder über unser neues Zuhause. So schön war es in der Stadt nie gewesen.

Gerade als ich ein Büschel Schnittlauch aus Mamas heiß geliebter Kräuterschnecke in mehr oder minder gleichmäßige Röllchen geschnitten hatte, tauchte der Rest der Familie auf.

Svea brüllte nur ein »Hallo!« durch die Gegend und stürmte die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal. Emil schien dagegen ein paar Worte mit Papa zu wechseln, wenn ich das zweistimmige Gemurmel richtig deutete, dann schlenderte er zu mir in die Küche.

»Na, Grottenolm«, begrüßte er mich.

Während ich den Schnittlauch in eine kleine Schüssel streifte, warf ich ihm einen bösen Blick zu. »Ich war heute den ganzen Tag draußen.«

Er betrachtete mich mit zusammengekniffenen Augen. »Stimmt. Heute bist du schon richtig dunkelweiß im Vergleich zu gestern.« Er griff nach einer Flasche Wasser und trank ein paar tiefe Schlucke. »Such dir halt mal Freunde.«

Der Vollidiot! Ich packte das Schüsselchen mit dem Schnittlauch auf ein Tablett zu ein paar Gläsern. Als ich an Emil vorbeiging, rempelte ich ihn an.

»Hey!«, protestierte er schwach, doch ich grinste ihn nur über die Schulter an. Ich wusste genau, dass er sich nicht traute, mich zurückzuschubsen, solange ich so beladen war.

»Bring Besteck mit!«, rief ich ihm zu, als ich das Tablett auf den Terrassentisch stellte.

Er kam mir tatsächlich mit einer Handvoll Gabeln und Messern nach, aber noch bevor er sie weglegen und sich auf mich stürzen konnte, hörten wir Mamas Stimme aus der Küche.

»Sorry, sorry, sorry«, keuchte sie. »Ist später geworden!«

Mama war Pflegedienstleiterin, und es wurde eigentlich jeden Abend später, doch anscheinend gab sie die Hoffnung nicht auf, dass sie es eines Tages pünktlich nach Hause schaffen würde. Mit rotem Kopf tauchte sie in der Terrassentür auf.

Wieder grinste ich Emil an, dann antwortete ich: »Kein Problem! Wir haben noch nicht angefangen.«

»Ach, ihr habt ja schon alles fertig.« Ihr Blick fiel anerkennend auf die Tischplatte, und diesmal grinste Emil, denn natürlich würde ich ihr nicht erzählen, dass ich fast alles allein gemacht hatte. Sie drückte ihm den Brotkorb und eine Tüte in die Hand. »Hier, immerhin hat es noch für Käsestangen gereicht.«

Wir wohnten noch nicht lang hier, aber unsere Lieblingsbäckerei hatten wir schon gefunden. Ihre Käsestangen waren im ganzen Ort bekannt, sodass man Glück haben musste, welche zu ergattern. Dementsprechend entspannte sich die Situation zwischen Emil und mir sofort. Während Mama wieder nach drinnen verschwand, schüttete er den Inhalt der Tüte schwungvoll in den Korb und verstreute dabei die Krümel auf dem ganzen Tisch.

Wir ließen uns in unsere Stühle fallen und teilten uns schon mal die erste Käsestange, während wir darauf warteten, dass der Rest der Familie eintrudelte. Doch stattdessen gellte mein Name durchs Haus.

»ALVA!«, brüllte Svea ein zweites Mal, dann erschien sie mit ausgestrecktem Arm in der Tür. Ich erkannte sofort, was passiert war. »Warst du schon wieder an meinem Kleiderschrank?«

Ich presste die Lippen aufeinander, denn angesichts des T-Shirts, das an ihren Fingern baumelte, war es schwer, die Wahrheit zu leugnen.

»Wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du mich fragen sollst, wenn du was von mir anziehen willst?« Svea regte sich so auf, dass ihr beinahe Schaum vorm Mund stand.

»Bringt ja nichts«, mischte sich Emil ein. »Wenn sie dich fragt, gibst du ihr eh nichts.«

Das trug nicht gerade zur Beruhigung der Lage bei. Während Papa hinter ihr auftauchte und sie vorsichtig zur Seite schob, damit er herauskommen konnte, schimpfte Svea weiter: »Ist doch gar nicht wahr! Und überhaupt, ich geh doch auch nicht an ihre Sachen!«

»Wozu auch?«, warf ich ein. »Meine Sachen passen mir ja schon nicht mehr. Was willst du dann damit?«

»Das ist auch kein Wunder! Stopf dir halt nicht immer so viel Mist rein, dann würdest du vielleicht nicht aus allem rausplatzen!« Sie schaute demonstrativ auf die halbe Käsestange in meiner Hand.

»Svea!«, tadelte Papa, aber mir reichte es jetzt.

Ich sprang auf und warf die Käsestange auf meinen Teller. »Du blöde Kuh! Mach dir das nächste Mal das Abendessen selber!«

Weil mir die Tränen in die Augen schossen, biss ich mir auf die Lippe und drängte mich halb blind an Svea vorbei.

»Alva …«, begann Papa, doch ich hörte nur noch Svea, wie sie mir hinterherrief: »Ich brauche kein Abendessen, ich werde abgeholt!«

Dann stürmte ich durch die Küche, ignorierte Mamas fragenden Blick, als sie mir auf der Treppe entgegenkam, und war mit ein paar Schritten in meinem Zimmer, wo ich mich aufs Bett warf und den Tränen freien Lauf ließ.

Nach einer Weile klopfte es an der Tür. Ich lag auf dem Rücken und starrte an die Dachschräge über meinem Bett. Sie war noch ganz kahl, weil ich mich für keines meiner alten Poster hatte entscheiden können.

Ich nahm an, dass Mama nachsehen wollte, wie es mir ging, also sagte ich: »Ja.«

Doch statt Mama steckte Svea den Kopf durch die Tür. »Hi. Darf ich reinkommen?«

Irgendwie stand sie komisch da, aber sie klang ziemlich schuldbewusst. Nach einem Moment nickte ich.

Sie schob die Tür weiter auf und trug einen Arm voll Klamotten zu mir herüber. Vorsichtig setzte sie sich ans Fußende des Bettes und legte den Stapel neben mich.

Ich starrte wieder an die Decke.

Svea seufzte. »Tut mir leid. Ich hätte das vorhin nicht sagen sollen. Ich hab mich nur so geärgert.«

Na toll. Gesagt hatte sie es trotzdem. Wenn man sich ärgerte, sagte man ja oft das, was man sonst für sich behielt. Und irgendwie hatte sie auch recht. Ich war eben runder als der Rest der Familie.

Sie verzog den Mund. »Du bist überhaupt nicht zu dick. Und du sollst essen, was dir schmeckt, ohne dir was dabei zu denken.«

Ich verdrehte die Augen. Das wurde ja immer besser. Hatte Mama sie mit diesen Sprüchen losgeschickt?

Svea stupste mich in die Seite. »Komm schon. Es tut mir echt leid. Das war total blöd von mir.«

Sie zog ein Taschentuch aus der Box auf meinem Nachttisch und hielt es mir hin. Ich blieb hart. Erst als sie anfing, damit vor meinem Gesicht rumzuwedeln, rupfte ich es ihr aus den Fingern, setzte mich auf und putzte mir die Nase.

»Alles wieder gut?« Sie beugte sich zu mir, um meinen Blick aufzufangen.

Weil ich es selber noch nicht genau wusste, zuckte ich mit den Schultern und deutete mit dem Kinn auf den Kleiderstapel. »Was ist das?«

Svea legte eine Hand auf das oberste Shirt. »Ich hab ein bisschen in meinem Schrank gekramt und glaube, die Sachen könnten dir passen. Mir sind sie ehrlich gesagt zu klein.«

Ich atmete tief ein und zog das erste Teil vom Stapel, ein Shirt mit rot-weißen Streifen. Auf dem linken Ärmel war eine kleine Kirsche aus Pailletten aufgestickt. Es sah süß aus.

Vorsichtig lächelte ich Svea an. »Danke.«

Sie begann zu strahlen. »Na dann, los. Zieh es an. Diese Katzen gehören in den Kleidersack.«

Ich schlüpfte aus meinem Oberteil, doch bevor sie danach grapschen konnte, stopfte ich es unter mein Kopfkissen. Fürs Bett war es noch gut genug.

Das Ringelshirt passte.

Svea betrachtete mich anerkennend. »Mit den Sachen hier kommst du erst mal durch die Ferien, aber wenn Mama bis dahin immer noch keine Zeit hat, können wir beide ja für die Schule shoppen gehen.«

»Echt?« Meine Augen waren bestimmt ganz groß und rund. Svea und ich waren noch nie gemeinsam Klamotten kaufen gegangen.

Sie nickte. »Fände ich schön.«

Ich ließ es mal so stehen, bis dahin war ja noch eine Weile hin. Stattdessen fragte ich: »Wolltest du nicht weg?«

Svea zog die Nase kraus. »Schon. Aber ich darf nicht. Hausarrest. Zumindest heute Abend.«

»Geschieht dir recht.«

Ihre Mundwinkel zuckten. »Ich weiß.«

Wir grinsten ein bisschen, dann klopfte sie mir mit der flachen Hand aufs Knie. »Was ist? Hast du jetzt Lust, noch was zu essen?«

Ich brummte unbestimmt.

Sie stemmte sich von meinem Bett hoch und zog mich auf die Füße. »Dann auf. Bevor Emil uns noch alle Käsestangen wegfrisst.«

3

Es war acht Uhr morgens und ich war schon unterwegs. Ich hatte nicht mehr schlafen können. Mein Zimmer ging nach Westen und hatte sich über die letzten Wochen so aufgeheizt, dass ich selbst am frühen Morgen noch fühlen konnte, wie die Wärme von den Wänden abstrahlte.

Hier draußen war es besser. Die Hitze der letzten Tage klebte noch in den Hausmauern und im Asphalt, aber in den Ecken, wo die Sonne noch nicht hinschien, kühlte die Luft meinen Nacken.

Heute überlegte ich gar nicht erst. Am Rand der Wiese entlang lief ich auf den Wald zu und trat zwischen die hohen Bäume, bevor mir Zweifel kommen konnten. Der Boden war weich, Lärchennadeln knisterten unter meinen Füßen.

Kurz blieb ich stehen und wartete, bis sich meine Augen an das plötzliche Zwielicht gewöhnt hatten, dann drehte ich mich einmal um mich selbst. Rechts neben mir ragte eine riesige Eiche auf, direkt vor mir fiel der Boden steil in eine Kuhle ab. Durch die Kuhle floss ein Bach. Wenn ich immer nur dem Bach folgte und mir merkte, wo die Eiche stand, konnte ich mich also nicht verlaufen. Zufrieden warf ich einen letzten Blick zurück zum Waldrand, bevor ich den Hang hinunterschlitterte.

Unten tappte ich um ein Haar ins Wasser, weil ich meinen Schwung unterschätzt hatte, aber meine Schuhe blieben trocken. Ich wandte mich nach links.

So war das also, allein im Wald zu sein. Anfangs hörte ich nur meine Schritte, raschelnde Blätter oder einen Zweig, der unter meinem Gewicht knackte, doch dann bemerkte ich die Geräusche des Waldes. Der Bach gluckerte und gurgelte, wenn sich das Wasser zwischen glatt geschliffenen Felsen hindurchzwängte, über meinem Kopf flüsterte der Wind in den Wipfeln, und irgendwo unter den Blaubeerbüschen machte sich ein kleines Tier davon. Die Vögel, die in den Baumkronen herumturnten und sich anscheinend ziemlich wichtiges Zeug zuzwitscherten, ließen sich von mir dagegen gar nicht stören.

Hier und da musste ich über Brombeerranken steigen, manchmal wuchsen die Farnwedel am Bachufer so hoch, dass ich lieber außen herumging, als mir einen Weg hindurchzubahnen. Trotzdem ging es gut voran. Wohin mich das Wasser führen würde, wusste ich nicht, aber zum ersten Mal seit Tagen fing ich nicht nach einer Minute an zu schwitzen, sobald ich mich bewegte. Ich kam mir ein bisschen albern vor, dass ich mich bisher nicht in den Wald getraut hatte.

Etwas klirrte und ich blieb wie angewurzelt stehen. Das Geräusch kannte ich. Es klang wie kleine gläserne Glöckchen, genau wie gestern oben am Waldrand.

Da war es wieder. Ganz zart wehte es herüber und langsam lief ich weiter, folgte dem Bach um die nächste Biegung.

Links stieg der Hang immer noch steil an, doch vor und rechts von mir öffnete sich jetzt eine Lichtung. Tau funkelte auf den Grashalmen und der Bach glitzerte in der Morgensonne. Und wieder war da dieses Klirren, so leise, als würde es aus einer anderen, einer Märchenwelt herüberklingen.

Schritt für Schritt tastete ich mich voran und suchte die Baumkronen ab, doch ich entdeckte nichts, was das Geräusch hätte hervorrufen können. Und trotzdem, immer wenn der Wind ein wenig auffrischte, schienen auch die Glöckchen wieder zu schlagen.

»Willkommen.«

Meine Nackenhaare stellten sich auf, und ich fuhr herum, aber hinter mir war nichts.

»Willkommen«, hörte ich wieder, und diesmal war es ausgeschlossen, dass ich mir das Raunen eingebildet hatte.

Meine Blicke schossen wie Pfeile umher, doch plötzlich war alles, was eben noch hell und freundlich gewesen war, ein undurchdringliches grünes Dickicht. Vorsichtig setzte ich einen Schritt zurück, dann den nächsten, dann noch einen, aber bevor ich die Bachbiegung erreichte, erkannte ich es ganz deutlich: Jemand kicherte.

Mein Kopf ruckte in meinen Nacken, doch erst nach ein paar Sekunden entdeckte ich zwischen den Blättern und Zweigen über mir ein Gesicht. Ein Mädchen grinste mich an, mit Augen so grün wie das Laub ringsherum und den wirrsten dunkelblonden Locken, die ich je gesehen hatte.

»Du hast also hergefunden«, sagte sie, und als würde dieser Satz irgendeinen Sinn ergeben, nickte sie mir zu und schwang sich mit ein paar geschickten Handgriffen aus den Ästen des Baums auf den Boden.

Da stand sie dann eine Weile und musterte mich. Ich überlegte, was sie sah und was sie daran so interessant finden könnte: Meine Haare reichten mir gerade mal bis über die Schultern und waren absolut unspektakulär, ganz anders als ihr Lockenschopf, in dem die Strähnen ein Eigenleben zu führen schienen. Meine Augen waren nicht blau und nicht grau, ich war fünf Zentimeter kleiner und ein gutes Stück breiter als sie und schon gar nicht hatte ich so meganiedliche Sommersprossen auf der Nase. Aber in all meiner Durchschnittlichkeit musste sie wohl irgendetwas entdecken, was sie zum Lächeln brachte, denn ihre weißen Zähne strahlten mich an.

»Wollen wir los?«, fragte sie mit einem Kopfnicken zum gegenüberliegenden Ufer des Baches. Ohne meine Antwort abzuwarten, nahm sie Anlauf und hüpfte auf die andere Seite. Und weil ich hundertprozentig wusste, dass sie den Wald kannte und jederzeit einen Weg hinausfinden würde, folgte ich ihr.

Viele Stunden später lagen Toni – Antonia, so hieß sie – und ich auf einem Streifen Sand am Ufer eines kleinen Weihers. Uns gegenüber plätscherte ein Wasserfall die Felswand herunter, und hin und wieder spritzte es, wenn ein Fisch aus dem klaren Wasser sprang und nach einer Mücke schnappte.

Aber Toni und ich achteten gar nicht darauf. Wir blickten in den Himmel, der langsam blasser wurde, und stellten uns vor, wie wir verreisen würden, wenn es keine Flugzeuge gäbe und stattdessen Magie. Ich überlegte mir, wie es wäre, auf einer flauschigen weißen Wolke dahinzugondeln und mir anzugucken, was unter mir passierte, wie unser Wald und unser Dorf von oben aussahen, ob die Wolke an die Berggipfel stieß und wie weit hinter den Horizont sich das Meer erstreckte.

Toni grinste, als ich das erzählte. »Das alles kannst du auch mit einem Heißluftballon machen«, sagte sie. »Aber stell dir vor, wenn du ein Surfbrett hättest, mit einem Segel so hoch wie der Baum da. Dann könntest du auf den Windströmen surfen und wärst schneller einmal um die Erde geflogen, als du ›Hoppla‹ sagen kannst.«

Sie lachte leise, während sie das Bein anzog und sich am Knöchel kratzte. Ich kniff die Augen zusammen oder vielleicht zog ich auch die Nase kraus, jedenfalls kam mir die Vorstellung nicht gerade verlockend vor. Mir wurde schon in der Achterbahn schlecht.

Doch Toni hatte sich gerade erst warmgedacht. »Und die Windströme würden dann in allen Farben leuchten, in Gelb und Grün und Rot, sodass du immer wüsstest, wohin du unterwegs bist. Und es gäbe natürlich auch eine Strömung, da hätte der Wind alle Farben gleichzeitig, wie ein Regenbogen, und darauf könntest du nicht surfen, nein, du müsstest umsteigen auf ein Einhorn.« Wieder lachte sie. »Es wäre natürlich keins von diesen kitschigen rosaroten, sondern ein cooles in Lila und Schwarz, mit Hufen aus Silber und einer Mähne so lang, dass es damit den Mond und die Sonne aus dem Meer fischen kann.«

Es hatte nur einen Vormittag und einen Nachmittag gedauert, bis ich kapiert hatte, dass Toni Geschichten erzählte wie niemand sonst. Ich war mir nicht immer sicher, ob ich ihr folgen konnte, aber ich gab mir Mühe, und sie beantwortete geduldig meine Fragen, wenn mir ein Gedankengang doch zu abenteuerlich vorkam.

Toni schwieg einen Moment, aber bevor ich die Geschichte weiterspinnen konnte, knurrte mein Magen, so laut, dass das Rascheln hinter uns im Unterholz kurz aufhörte. Wir mussten beide kichern.

»Und obwohl du die Hälfte von meinem Käsebrot zu Mittag hattest, hört das Einhorn, dass du Hunger hast.« Toni sah mich aus dem Augenwinkel an und zwinkerte.

Ich nahm die Herausforderung an. »Es galoppiert mit mir über den Regenbogen zum Haus von Frau Holle. Die backt gerade Kuchen.«

Toni rollte sich auf die Seite und stützte sich auf dem Ellbogen auf. »Aber der Kuchen ist noch nicht fertig, also schickt Frau Holle dich eine Straße weiter ins Schlaraffenland. Und da wirft das schwarze Einhorn dich ab und trollt sich auf die Wiese mit den vierblättrigen Kleeblättern, aber du fliegst schnurstracks in einen Apfelbaum. Nur dass da keine Äpfel dran wachsen, sondern Törtchen mit Schlagsahne …«

»… und Pfannkuchen mit Apfelmus«, schlug ich vor.

»… und Muffins mit Schokolade und Waffeln mit Kirschsoße.« Toni grinste zufrieden und drehte sich zurück auf den Rücken. »Da bist du in einer ziemlich guten Ecke vom Schlaraffenland gelandet.«

Zur Antwort knurrte mein Magen wieder. Wir lachten auf, doch im nächsten Moment fröstelte ich, denn ein Schatten fiel über mich. Die Sonne war hinter die Baumwipfel gewandert. Ohne dass wir es gemerkt hatten, war es viel kühler geworden.

Eine Gänsehaut zog sich Tonis Arme hinauf. Sie strich mit den flachen Händen darüber, sodass sich die feinen Härchen in alle Richtungen bogen. Mir fiel auf, wie braun sie war, und ich hielt meinen Arm neben ihren.

»Dagegen sehe ich aus, als wäre ich gerade aus dem Keller gekrochen.«

Fast erschrocken schaute sie mich an, dann schlich sich wieder das Grinsen in ihre Mundwinkel. »Wetten, dass du am Ende des Sommers keinen Unterschied mehr erkennst?«

Vorsichtig lächelte ich sie an. Am Ende des Sommers … Hieß das, wir würden den Sommer gemeinsam verbringen? Hier am Weiher? Im Wald? Toni brauchte mich nicht, um Spaß zu haben, aber ich … ich brauchte sie jetzt schon.

Tonis Grinsen wurde breiter. Sie sprang auf, hielt mir eine Hand hin und zog mich auf die Beine.

»Morgen wieder an der Lichtung?«, fragte sie, während sie sich schon dem schmalen Pfad zuwandte, der sich rechts vom Wasserfall den Hang hinaufschlängelte.

Eilig schlüpfte ich in meine Schuhe und stolperte hinterher.

»Morgen wieder an der Lichtung«, versprach ich, als wir oben angekommen waren.

Toni nickte, dann winkte sie mir zu und war mit ein paar langen Schritten zwischen den Birkenschösslingen am anderen Bachufer verschwunden.

4

»Das, meine teure Freundin«, sagte Toni in einem so blasierten Tonfall, dass ich mir auf die Lippe beißen musste, um nicht loszukichern, »war ganz vorzüglich.«

Mit einer unsichtbaren Serviette tupfte sie sich geziert die Mundwinkel ab, dann grinste sie mich breit an und rülpste. Es war ein lautes Rülpsen, eins, das von ganz tief unten kam.

Das gab mir den Rest. Rücklings ließ ich mich ins Gras fallen und hielt mir vor Lachen die Seiten.

Toni legte sich neben mich und klopfte sich auf den Bauch. »Im Ernst, das war sooo lecker. Ich hab so viel gegessen, ich könnte platzen.«

Weil wir gestern nach dem Schwimmen trotz unserer Käsebrote noch solchen Hunger gehabt hatten, hatte ich heute Morgen vorgesorgt und einen Rucksack mit Essen vollgepackt: mit belegten Brötchen, Bananen und Pfirsichen, mit Salzbrezeln und Schokokeksen und dem restlichen Kirschstreuselkuchen vom Wochenende. Als ich meine Vorräte rausgeholt hatte, war Toni still sitzen geblieben und hatte mich beobachtet.

»Was ist?«, fragte ich, weil ich Toni zwar erst ein paar Tage kannte, aber längst wusste, dass sie sich eigentlich immer bewegte.

Als sie aufsah, blitzten ihre Augen. Sie streckte den Rücken und räusperte sich.

»Es ist doch immer wieder ein Vergnügen, meinen Sie nicht?«, fragte sie mit verstellter Stimme. Sie klang älter und viel gestelzter. »Eine gepflegte kleine Teegesellschaft im Grünen. Was könnte es Zauberhafteres geben?«

Ich blinzelte ein paarmal, bevor ich es endlich kapierte: Heute waren wir feine englische Damen beim Nachmittagstee. Ich presste die Lippen aufeinander, um nicht laut loszulachen, dann sagte ich: »Wenn nur auf das Personal mehr Verlass wäre.«