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Wind, Meer und Weite – für Frida gibt es nichts Schöneres, als mit ihrem Pony Liv durch die Wellen zu galoppieren. Sie kann einfach nicht verstehen, was Jannis daran findet, sein Pferd jedes Wochenende auf Turnieren über Hindernisse zu jagen. Jannis belächelt Frida dafür, dass sie so gar keinen Ehrgeiz hat beim Reiten – er und seine Stute Dari sind ein Topteam auf dem Springplatz. Doch dann beginnt Dari, sich zu verändern, und Jannis stellt fest, dass ausgerechnet Frida einen echten Draht zu seiner Stute hat. Gemeinsam versuchen sie, Dari zu helfen. Bis zu einem Turnier, nach dem nichts mehr ist, wie es war …
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Seitenzahl: 361
Die Pferde von Eldenau
Band 1: Mähnen im Wind
Band 2: Galopp durch die Brandung
Band 3: Donnernde Hufe
Band 4: Wiehern im Wald
Theresa Czerny
Mähnen im Wind
Frida
Jannis
Frida
Jannis
Frida
Jannis
Frida
Jannis
Frida
Jannis
Frida
Jannis
Frida
Jannis
Frida
Jannis
Frida
Jannis
Frida
Jannis
Frida
Jannis
Frida
Jannis
Frida
Jannis
Frida
Jannis
Frida
Jannis
Frida
Jannis
Frida
Jannis
Frida
Jannis
Frida
Jannis
Frida
Jannis
Frida
Jannis
Schaumflöckchen wirbelten um uns auf, als Liv den Hals streckte und durch die flachen Wellen sauste. Die Sonne glitzerte auf dem Sand und dem Wasser, und als ich die Augen zukniff, kam es mir vor, als würden wir durch goldenes Licht tauchen.
Die Ferien waren vorbei, und abends wurde es jetzt schon viel früher kühl als noch vor zwei Wochen, sodass wir um diese Zeit den Strand längst für uns hatten. Oben am Rand der Steilküste lief ein Jogger mit seinem Hund, aber ansonsten waren wir allein.
Unter mir machte Liv sich lang. Die wollte sich wohl mal wieder mit dem Wind anlegen. Grinsend fasste ich die Zügel kürzer, stellte mich in die Bügel und lehnte mich über ihren schwarz-weißen Hals.
»Heya!«, feuerte ich sie an. Jetzt kannte sie kein Halten mehr. Wir flogen dahin, und auch wenn sie Ausdauer hatte für zwei, war unsere Galoppstrecke irgendwann zu Ende.
Ganz außer Puste setzte ich mich schwer in den Sattel. Wir waren fast an den Klippen der Landspitze, von hier aus brauchten wir beinahe eine halbe Stunde nach Hause. Liv fiel in einen flotten Trab und ich wendete sie ab und folgte dem Spülsaum. Die letzten Sonnenstrahlen wärmten mir das Gesicht, trotzdem fröstelte ich, als mir der Seewind die feuchten Haare zerzauste. Es war mir egal – heute war der letzte Ferientag, und den wollte ich auskosten, solange es ging.
Liv prustete und schüttelte den Kopf, als wüsste sie, dass unsere täglichen Ausritte jetzt vorbei waren. Ich streichelte ihren Hals und atmete tief durch. Die Luft roch nach Algen und Salz und über uns zogen ein paar Sturmmöwen ihre Bahnen. Ihre Rufe vermischten sich mit der Brandung und schienen uns zu verabschieden.
*
Als wir um die alte Kiefer am Feldweg bogen und die kleine Brücke über den Bach nahmen, hielt ich kurz an. Im Dämmerlicht war es schwer zu sagen, aber brannte da wirklich noch Licht in der Halle? So spät gab Mama sonst nie Unterricht.
Statt nach rechts zum Putzplatz ließ ich Liv Richtung Reithalle gehen. Das Licht war tatsächlich noch an und nach ein paar Schritten wehten mir Stimmen und Hufschläge entgegen. Saß da noch jemand auf dem Pferd?
Ich lenkte Liv zum offenen Türflügel, glitt aus dem Sattel und führte sie hinein.
»… wirklich super Gänge. Aus dem könnte echt was werden, wenn man ordentlich mit ihm arbeitet.«
Links von mir stand Papa mit einer Frau und einem Jungen gegen die Bande gelehnt. Sie sahen Mama dabei zu, wie sie Juniper longierte. Papa winkte, und die fremde Frau lächelte mich an, aber der Junge hatte nur Augen für mein Pferd. Hatte der gerade ernsthaft gesagt, dass aus Juniper was werden könnte, wenn man mit ihm arbeitete?
Mama drehte sich mit einem leichten Nicken zu dem Jungen und sagte: »Ja, das glauben wir auch. Frida trainiert fast jeden Tag mit ihm. Ach, hallo, Schatz, gerade sprechen wir von dir.«
Sie parierte Juniper durch und holte ihn heran, dann kam sie mit ihm herüber. Als er brummelte, strich ich über seine Nüstern.
»Eva, Jannis, das ist Frida, unsere Jüngste. Frida, die Maibachs haben den Carlshof übernommen. Diese Woche starten sie mit dem Reitbetrieb.«
»Hallo.« Ich lächelte Eva schwach zu, aber für Jannis blieb allerhöchstens ein Stirnrunzeln übrig.
Immerhin riss der nun seinen Blick von meinem Pferd los, stutzte aber, als er mich mit Liv an der Bande stehen sah. Im nächsten Moment winkte er lässig und meinte: »Hi. Tolles Pferd hast du da. Den würde ich gern mal springen sehen.«
Was ich mit dieser Aussage anfangen sollte, wusste ich nicht recht. Fragend sah ich Mama an.
»Eva und Jannis gucken sich bei den Züchtern in der Gegend um«, erklärte sie. »Jannis reitet Turniere und da suchen sie noch ein Pferd mit guten Springanlagen.«
In meinem Kopf schrillten alle Alarmglocken. Das war doch wohl nicht ihr Ernst! Was machte sie denn dann mit Juniper? Der war nicht zu verkaufen und schon gar nicht an einen Turnierreiter! Eher riss ich mit ihm aus und … und schloss mich einem Wanderzirkus an, als dass er so einem in die Hände fiel.
Ich starrte Jannis an, bis sich sein Grinsen in ein Stirnrunzeln verwandelt hatte. Der sollte gleich mal wissen, was ich von solchen wie ihm hielt.
Mama räusperte sich. »Okay, dann bringen wir Juniper mal wieder auf den Paddock.«
»Das erledige ich«, erklärte ich.
Papa, der sich mit Eva schon zum Ausgang gewandt hatte, fragte: »Wie willst du das denn anstellen, zwei Pferde auf einmal?«
»Ich helfe ihr«, warf Jannis schneller ein, als ich den Mund auf machen konnte, und bevor mir auch nur die fadenscheinigste Ausrede eingefallen war, antwortete ihm Mama schon: »Super, danke, Jannis, das ist lieb von dir.«
Hallo? Wieso fragte mich keiner, ob ich seine Hilfe überhaupt wollte?
Jannis stierte Juniper an wie eine geifernde Hyäne die Antilope, also blieb mir nur Schadensbegrenzung. Ich hielt ihm Livs Zügel hin. »Hier, bitte.«
Mit einem etwas irritierten »Danke« griff er danach. Ich nahm Mama Juniper ab und die Erwachsenen gingen Richtung Haus.
Liv schnaubte und schüttelte den Kopf, als Jannis sie hinter Juniper aus der Halle führte. Kluges Mädchen. Wenigstens eine außer mir durchschaute diesen Typen.
Irgendwie schien er zu glauben, dass ich mich mit ihm unterhalten wollte, denn er schloss zu mir auf und sagte: »Interessante Farbe hat deine Stute. Ich wusste gar nicht, dass beim Deutschen Reitpony Schecken zugelassen sind.«
Über Livs Hals hinweg warf ich ihm einen raschen Blick zu. »Das ist auch kein Reitpony. Liv ist ein Lewitzer.«
»Ein …?«
»Kennst du nicht, was?« Ich grinste, doch er ließ sich davon gar nicht ärgern, sondern grinste einfach zurück. »Lewitzer Schecken sind die einheimischen Ponys hier in der Gegend. Sie waren schon fast verschwunden, aber seit ein paar Jahren werden sie wieder mehr gezüchtet. Sogar auf dem Landesgestüt in Redefin steht ein Deckhengst.«
Wir waren am Putzplatz angekommen und die Außenbeleuchtung ging an. Ich drückte Jannis ein Halfter mit Strick in die Hand und sah unauffällig zu, wie er Liv mit ein paar geübten Griffen das Zaumzeug abnahm, sie anband und dann absattelte. Routine mit Pferden hatte er, das musste ich ihm lassen. Ich wandte mich Juniper zu und streifte ihm den Kappzaum ab.
Jannis schnappte sich Striegel und Bürste aus der Putzbox. »Reitest du auch Turniere?«
Energisch schüttelte ich den Kopf. »Nein. Ist nicht mein Ding.«
Liv handelte sich einen tadelnden Blick ein, weil sie sich mit halb geschlossenen Lidern Jannis’ Streicheleinheiten gefallen ließ. Den linken Hinterhuf hatte sie entspannt aufgesetzt.
»Aha. Das heißt … du reitest eher aus oder so?«
»Fuß.« Folgsam hob Juniper seinen Huf und ich kratzte den Sand heraus. »Ja, klar bin ich oft im Gelände. Normalerweise reite ich auch jeden Tag eins von den Schulpferden. Und ich mache viel Bodenarbeit, vor allem mit den Ponys.«
Jannis klopfte Liv auf die Kruppe und blickte sich um. »Ach so. Wie ein Ponyhof sieht das hier eigentlich gar nicht aus.«
In den drei Sekunden, die ich brauchte, um zu kapieren, dass ich richtig gehört hatte, mir zu überlegen, was ich dem Kerl alles um die Ohren hauen wollte, und entsprechend tief Luft zu holen, kamen meine Eltern mit Eva auf uns zu.
»Wir müssen, Jannis. Seid ihr fertig?«
Ich stand immer noch da wie vom Blitz getroffen, aber Papa nahm Jannis den Hufkratzer ab. »Lass mal, mit dem Rest helfe ich Frida.«
Jannis hob die Hand zum Abschied und dann verschwanden er und Eva in der Dunkelheit des Hofs.
»Nett, die beiden«, urteilten meine Eltern einhellig.
Darauf wusste ich wirklich nichts zu sagen.
Nein, ich hab dir gesagt, dass ich in den Herbstferien nicht komme!« Ich war so auf das Gespräch konzentriert, dass ich beinahe an der Bushaltestelle vorbeigelaufen wäre.
»Du solltest dir das noch mal überlegen. Die Sichtung ist wichtig –«
»Die Sichtung interessiert mich nicht. Und der Lehrgang erst recht nicht. Ich will nicht in den Kader. Du weißt haargenau, dass mich das Getue nervt.«
Lautes Kindergeplärr schallte aus dem Telefon und ich zuckte zurück.
»Du verbaust dir damit wirklich Chancen«, tönte Björns Stimme dumpf aus dem Lautsprecher.
»Selbst wenn ich wollte«, versuchte ich, mich bei dem Geschrei verständlich zu machen, »Max fährt weg über die Ferien. Ich wüsste nicht mal, wo ich pennen soll.«
»Du kannst jederzeit hier –«
»Auf keinen Fall. Björn, ich muss los, der Bus ist da.« Bevor er sich verabschieden konnte, beendete ich das Gespräch und schaltete das Handy auf lautlos. Mein Gott, und so was am frühen Morgen. Wie mein Vater auf die Idee kam, ich würde jemals wieder freiwillig einen Fuß auf seinen Hof setzen, war mir schleierhaft.
Ich holte tief Luft und blickte dem heranrollenden Schulbus entgegen. Der Tag konnte ja nur besser werden.
*
Anscheinend war meine Haltestelle eine der ersten, die der Bus anfuhr, denn er war noch fast leer. Ein Typ mit Kopfhörern checkte mich kurz ab und guckte dann aus dem Fenster, eine Elf- oder Zwölfjährige wurde rot, als sie mich sah, und schaute gleich wieder weg. Nur ein etwas älteres Mädchen musterte mich ziemlich abschätzend. So weit, so normal.
Erst auf den zweiten Blick fiel mir das Ponyhofmädchen von gestern auf. Frida. Sie saß allein im hinteren Drittel und lehnte ihren Kopf ans Fenster. Ihre Wange lag auf ihrer zusammengerollten Jacke.
Langsam ging ich auf sie zu. Ich überlegte, ob ich sie schlafen lassen sollte, kam dann aber zu dem Schluss, dass es am ersten Tag an der neuen Schule immer besser war, in Begleitung aufzutauchen. Also Pech gehabt, Dornröschen. Aufwachen!
Ich ließ mich auf den Sitz neben ihr fallen. Sie schien wirklich zu schlafen, denn sie umfasste nur ihren Rucksack fester und atmete tief weiter. Ich hätte mir wie ein Spanner vorkommen sollen, doch sie hatte so was Friedliches an sich, anders als gestern Abend irgendwie. Da hatte ich den Eindruck gehabt, als wäre sie ständig auf Krawall gebürstet. Jetzt zeichnete die Morgensonne ihr Gesicht ganz weich.
Plötzlich blinzelte sie. Okay, beim Gaffen wollte ich auch nicht ertappt werden, also sagte ich: »Hi.«
Sie schreckte hoch und starrte mich aus großen Augen an. Im nächsten Moment versuchte sie, sich unauffällig über den Mund zu wischen.
»Keine Sorge.« Ich bemühte mich, nicht zu grinsen. »Kein Sabber.«
Damit war das schöne Wetter vorbei. Alles klar, da war jemand definitiv kein Morgenmensch.
»Was machst du hier?«, fragte sie mit einem Gesicht wie Donner.
Ein einfaches »Guten Morgen« hätte es vielleicht auch getan.
»Ich fahre zur Schule. Gehst du auch aufs Humboldt?«
»Ja, aber … ich meine, hier neben mir!«
»Na, du bist die Einzige, die ich kenne. Da dachte ich, ich setze mich zu dir.«
Ihre Miene wurde noch eine Spur düsterer. Vielleicht lag es gar nicht daran, dass sie ein Morgenmuffel war, mittlerweile hätte ich fast behauptet, dass sie mich nicht mochte. Ich hatte das Gefühl, sie wollte mir etwas eher Unangenehmes sagen, doch in dem Moment hielt der Bus an, und sie wandte den Blick zur Tür.
Ein Pulk Schüler strömte herein. Ich sah aus dem Fenster. Diesmal hatten wir in einem Dorf angehalten und nicht direkt an der Landstraße wie am Carlshof.
Vor mir blieb ein zierliches Mädchen mit langen schwarzen Haaren stehen. »Hallo, Fremder. Du sitzt auf meinem Platz.«
Ich schaute Frida an. In ihren Augen blitzte etwas auf wie »Siehst du, das habe ich gemeint«. Gerade wollte ich aufstehen, da drückte mich das andere Mädchen zurück auf den Sitz und kniete sich stattdessen verkehrt herum in die Reihe vor uns.
»Hi, ich bin Linh.«
Sie hielt mir die Hand hin und ich schüttelte sie. »Jannis.«
»Und du kennst Frida von …?«
Frida sah sie scharf an, aber so ganz konnte ich den stummen Austausch zwischen den beiden nicht deuten. Ganz klar beste Freundinnen.
»Ähm … wir haben uns gestern auf dem Gut kennengelernt. Meine Mutter hat den Carlshof gekauft und … na ja, Antrittsbesuch unter Kollegen.«
Linh riss die Augen auf. »Oh Gott, reitest du auch?«
Ich nickte.
Sie ließ ihre Stirn gegen die Lehne knallen. »Noch so ein Verrückter. Warum müsst ihr auf den Viechern durch die Gegend hopsen? Pferde sind zum Essen da.«
Frida schnaubte. Ich musste sie ziemlich verstört ansehen, denn sie erklärte: »Keine Sorge, Linh ist Vegetarierin. Aber sie behauptet steif und fest, Pferdefleisch wäre ein Bestandteil der traditionellen vietnamesischen Küche.«
Linh hob den Kopf und funkelte Frida an. »Das ist keine Behauptung, sondern Tatsache.«
»Die noch bewiesen werden muss.«
Jetzt fing Linh an zu grinsen, und auch Fridas Laune schien sich zu bessern, jedenfalls grinste sie zurück. Um uns herum war es lauter geworden, Gesprächsfetzen zogen an uns vorbei, vereinzelt Musik. Das alles fühlte sich fast wie Alltag an.
Linhs Blick traf meinen. »Und du bist also neu hier oben an der Küste? Woher kommst du?«
»Berlin.«
Ihre Augen wurden wieder groß. »Berliiin. Und dann verschleppen sie dich hierher in die Einöde?«
»Ach, komm, Linh.« Frida ließ sich in ihrem Sitz zurückfallen.
»Was denn? Stimmt doch! Berlin ist Kunst und Mode und Kino und Shoppen und … anständiges vietnamesisches Essen …«
»… aus Pferdefleisch«, warf ich ein.
»Genau!« Linh lachte. »Also?«
»Also was?«
»Na, welches Unglück hat dich hierher verschlagen? Nicht mal Pferdeleute ziehen freiwillig von Berlin in die Provinz.«
Unglück? Na ja, das traf es nicht ganz, doch Tatsache war, dass meine Mutter und ich so weit von Björn wegkommen wollten wie möglich. Aber das musste ich Linh ja nicht gerade am ersten Tag auf die Nase binden.
»Da kennst du meine Mutter nicht«, erwiderte ich deshalb. »Die ist auf der Schwäbischen Alb aufgewachsen. In Berlin hat es sie immer gestört, dass wir auf dem Hof wenig Platz hatten. Der Carlshof kommt ihr vor wie ein Geschenk des Himmels.«
»Und dein Vater? Findet der das auch cool?«
»Linh!«, ging Frida dazwischen, bevor ich antworten konnte.
»Was denn? Ist doch eine ganz normale Frage.«
Ich zuckte nur mit den Schultern. »Mein Vater ist in Berlin auf unserem alten Hof geblieben. Meine Mutter kann grad nicht so mit ihm.«
»Oje«, murmelte Linh betroffen, hatte sich aber schnell wieder im Griff. »So eine Scheiße.«
»Ja«, stimmte ich zu, doch richtig bei der Sache war ich nicht, denn plötzlich prickelte mein linker Arm. Von Frida schien eine Welle der Wärme auszugehen, dass ich das Gefühl hatte, sie müsste gelb und orange leuchten. Ich konnte nicht anders, ich drehte mich zu ihr, aber im selben Moment verschwand die Sonne hinter einer Wolke, und trotz ihrer hellen Locken und der Sommersprossen war Frida wieder ganz die Eiskönigin.
Den Rest der Busfahrt beantwortete ich Linhs Fragen über Berlin, und als sich in der Schule herausstellte, dass wir in dieselbe Klasse gingen, schleppte sie mich zu einem freien Platz und stellte mich Paul vor. Frida sagte in der ganzen Zeit kein Wort.
Wie ich erwartet hatte, zog Linh mich nach Schulschluss zur Seite. »An der Kastanie. Jetzt.«
Der Rest der Klasse machte sich nach einem nicht übermäßig spannenden Vormittag mit Stundenplanbekanntgabe, Klassensprecherwahl und Abstimmung über das Ziel des Wandertags schon aus dem Staub.
Ich versuchte es mit Protest: »Nee, oder? Muss das sein? Ich will mein Eis.«
Linh schleifte mich am Ärmel mit sich. »Es muss. Die haben garantiert so viel Erdbeereis da, dass es für dich auch noch reicht, wenn wir zehn Minuten später kommen.«
Seufzend gab ich mich geschlagen und tappte hinter Linh durchs Treppenhaus und über den Pausenhof, bis wir unter dem riesigen Kastanienbaum hinter der Schule standen. Sie drückte mich auf die Bank, die rund um den Stamm verlief, baute sich vor mir auf und fragte: »Was ist los mit dir?«
Damit hatte ich jetzt nicht gerechnet. Was sollte mit mir sein? Mal überlegen: Ich war müde, heilfroh, dass der erste Schultag vorbei war, entsetzt, dass wir montags eine Doppelstunde Physik hatten – und in Französisch den Claasen –, aber mein Gefühl sagte mir, dass nichts davon ihre Frage beantwortete. »Geht’s auch konkreter?«
Linhs Augen wurden schmal. »So konkret, wie du willst. Groß, dunkelhaarig, grünäugig, nett, witzig, süß. Süß und sexy. Klingelt da was?«
Hatte ich’s doch geahnt, dass sie über Jannis reden wollte. Ich stützte die Ellbogen auf die Knie, ließ das Gesicht in die Hände sinken und seufzte. »Du findest den Neuen also süß. Und sexy. Und?«
Linh setzte sich neben mich. Sie schwieg. Und schwieg weiter. Das passte gar nicht zu ihr. Ich sah auf und begegnete ihrem Blick.
Moment. »Du denkst, ich finde ihn süß?«
»Und sexy.« Linh nickte.
Darüber konnte ich nur lachen. »Du bist völlig schiefgewickelt. Und jetzt komm, ich will mein Eis.«
Ich stand auf.
»Du willst zu Jannis, gib’s zu. Du hast auch gehört, dass Paul ihn eingeladen hat.«
»Was heißt da eingeladen? Wir gehen am ersten Schultag immer gemeinsam zum Eisessen. Alle sind da, nur wir nicht.«
Linh blieb mit verschränkten Armen und hochgezogenen Augenbrauen sitzen. »Nenn mir einen guten Grund, warum du nicht mit ihm redest. Du wirst immer schüchtern, wenn du verknallt bist.«
Ich stöhnte. »Ich bin nicht schüchtern, ich bin wütend! Ich rede nicht mit dem Idioten, weil er Juniper kaufen will!«
Das schien Linh zu verwirren. »Dein Pferd?«
»Wie viele Junipers kennst du?«
»Hat er das gesagt?«
»Na ja …« Ich überlegte. »Das ist aus dem Zusammenhang klar geworden. Mama hat Juniper sogar für ihn longiert.«
»So ein Quatsch. Deine Eltern würden den doch niemals verkaufen.«
»Jedenfalls nur über meine Leiche.« Ich ließ mich wieder neben sie fallen. »Okay, hast wahrscheinlich recht. Aber der ist trotzdem so ein eingebildeter, schnöseliger Vollidiot. Du hättest ihn gestern mal hören sollen: ›Wie ein Ponyhof sieht das hier eigentlich gar nicht aus.‹«
»Das hat er gesagt? Zu Eldenau?«
Ich nickte.
Linh schwieg eine Weile. Dann meinte sie: »Aber süß ist er schon.«
Ich versuchte, mir das Lachen zu verkneifen. »Du bist dermaßen oberflächlich.«
»Wieso?« Sie grinste von einem Ohr zum anderen. »Ich checke nur ab, ob du wirklich nichts von ihm willst.«
Wieder stand ich auf. »Du kannst ihn haben. Ernsthaft, nimm ihn, aber lass mich mit ihm in Ruhe. Und jetzt los, nicht dass er mir mein Erdbeereis wegfrisst.«
Glücklicherweise war noch genug Erdbeereis übrig, und ebenso glücklicherweise waren wir die Letzten, die in der Eisdiele ankamen. Daher saßen wir so weit von Jannis entfernt, dass ein Gespräch nicht mal infrage gekommen wäre, wenn ich mit ihm geredet hätte.
Linh machte permanent Stielaugen und flüsterte mir immer wieder zu: »Wirklich sehr, sehr süß«, bis Elif neben mir irgendwann stöhnte: »Es ist Schoko-Karamell, Linh, was hast du erwartet?«
Wir prusteten so laut los, dass wir den ganzen Tisch aufschreckten, aber als sich die anderen wieder auf ihre eigenen Gespräche konzentrierten, zischte ich: »Er reitet Turniere. Springturniere.«
Linh blinzelte. »Oje.« Sie wusste genau, was ich von solchen Veranstaltungen hielt. »Barren, blistern, Rollkur?«
Obwohl das Thema nicht im Geringsten lustig war, lachte ich auf. »Hat sich eingeprägt, was?«
»Du hast mich ja über jeden Reitsportskandal der letzten Jahre auf dem Laufenden gehalten. Das ist grusliger als ›American Horror Story‹.«
»Linh.« Ich schaute sie streng an. »Guckst du das gerade? Wehe, du rufst mich wieder nachts um halb drei an, wenn du Angst kriegst.«
»Ach was«, wiegelte sie ab und redete leiser. »Ab sofort rufe ich Jannis an. Der ist bestimmt nicht so ein Schisser wie du. Am Ende muss ich ja immer dir gut zureden.«
Ich schnitt ihr eine Grimasse, doch sie grinste nur.
»Meinst du, Jannis macht so was wirklich? Rollkur und das alles?«, fragte sie dann ernster.
Ich zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Wahrscheinlich nicht.« Unauffällig sah ich zu Jannis. Schon bei der Vorstellung wurde mir schlecht. »Ich finde es trotzdem nicht okay. Wenn jemand Turniere reitet, dann ist das, als würde man mitkriegen, dass jemand gemobbt wird, und nichts dagegen unternehmen.«
Linh kam nicht zum Antworten, denn Esther wollte wissen, wann sie sich diese Woche zum Tanztraining trafen.
Ich starrte meinen Erdbeer-Joghurt-Becher an. Jetzt war mir doch die Lust darauf vergangen. Am anderen Ende des Tisches schwirrte die halbe Klasse um Jannis herum und offenbar fanden ihn alle ganz toll. Das war das Schlimme an ihm: Er konnte nett sein. Heute Morgen im Bus hatte er mir ja auch leidgetan, als er von der Trennung seiner Eltern erzählt hatte, aber so durfte ich erst gar nicht von ihm denken. Er war Springreiter und so jemandem traute ich nicht über den Weg. Ich würde einfach überhaupt nicht mehr über ihn nachdenken. Wenn er schon nicht in Berlin bleiben konnte, sollte er sich wenigstens vom Gut und meinen Pferden fernhalten und mir ansonsten nicht auf die Nerven gehen.
Das sah richtig gut aus«, meinte Mama, als ich vom Trockenreiten zurück auf den Hof kam.
Ich klopfte Dari den Hals und saß ab. »Ja. Es wird jeden Tag besser mit ihr.« Mama begleitete mich zum Anbindebalken. »Du, ich denke da schon eine Weile drüber nach. Ich glaube, ich nehme sie mit nach Langendorf.«
»Diesen Samstag?« Stirnrunzelnd schaute Mama mich über Daris Rücken an, während sie den Steigbügel hochschob und den Gurt über den Sattel legte. »Willst du nicht lieber bis zum Frühjahr warten? Wie lange reitest du sie jetzt? Zwei Monate?«
»Neun Wochen.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ja klar, die letzte Routine haben wir noch nicht. Aber je früher wir ein Springen gehen, desto schneller kommt die.« Ich hängte den Sattel über den Balken. »Sie ist einfach heiß auf jeden Sprung. Hast du sie beim blauen Oxer gesehen?«
»Auf den Punkt, ja.« Mama rieb sich die Stirn und lief um Dari herum. Sie lehnte sich gegen den Balken und sah mir zu, wie ich Daris Sattellage ausbürstete. »Trotzdem. Es wäre euer erstes Turnier und dann noch so ein großes. Mir wäre wohler, wenn du sie hier bei uns an den Trubel gewöhnst oder wenigstens in einer kleinen Konkurrenz in der Gegend.«
Mit Daris Vorderhuf auf dem Knie warf ich ihr unter dem Arm hindurch einen Blick zu. »Bei so einem Wald- und Wiesenverein? Drüben auf Gut Eldenau vielleicht?«
Mama schmunzelte. »Bist du immer noch nicht drüber weg, dass – wie heißt sie? – keine Turniere reitet?«
Ich richtete mich auf und grinste. Gestern Abend auf dem Heimweg vom Gut hatte ich Mama von dem Gespräch beim Absatteln erzählt. »Frida. Nee, nicht so richtig. Dieses Rumgeschaukel im Gelände immer, echt. Da können sie doch gleich zu Hause bleiben und … was weiß ich … Kuchen essen.«
Sie lachte. »Von mir hast du diese Arroganz nicht.«
Schlagartig verging uns beiden das Grinsen. Ich bückte mich nach der Putzbox.
»Er hat übrigens angerufen.«
Ich spürte ihren Blick auf mir, kramte aber weiter in der Box, als würde ich den Sinn des Lebens darin vermuten. Andererseits half es auch nichts, mich dumm zu stellen. Ich wusste ja genau, von wem sie sprach. »Aha.«
»Interessiert es dich, was er wollte?«
»Mäßig.« Ich zog ein Tuch aus der Putzkiste und begann, Daris Gesicht abzureiben.
Nach einer kleinen Pause sagte sie: »Er wollte wissen, ob ich etwas damit zu tun habe, dass du ihn neuerdings Björn nennst.«
Ach, das. War ja klar gewesen, dass er sich gleich bei seiner Fast-Exfrau beschweren würde. »Und was hast du gesagt?«
»Ich habe ihm gesagt, dass du ihn nennen kannst, wie du willst. Und wenn du Arsch mit Ohren zu ihm sagen würdest, hättest du auch deine Gründe.«
Ich biss mir auf die Unterlippe, ließ das Tuch in die Box fallen und drehte mich zu ihr um. »Echt, Mama? Arsch mit Ohren? Das ist dermaßen oldschool.«
Sie gluckste, und das war ein Geräusch, das ich lange nicht mehr von ihr gehört hatte. Wir grinsten uns an, und während ich den Deckel der Putzkiste zuklickte und Dari losband, schnappte sich Mama Sattel und Zaumzeug. Gemeinsam gingen wir zum Stall.
»Sie ist übrigens in meiner Klasse.«
»Wer?« Mama sah mich an.
»Na, Frida. Das Ponymädchen vom Gut.«
»Ach, das ist ja schön.«
»Ich weiß nicht«, meinte ich, während ich Dari in ihre Box führte. »Irgendwas hat die. Als hätte ich sie gestern beleidigt oder so. Aber der Rest der Klasse scheint echt in Ordnung zu sein«, sagte ich, als ich Mamas Gesichtsausdruck bemerkte, und nahm ihr den Sattel ab. »Eigentlich war das heute ein ganz guter Tag in der Schule.«
Einen Moment lang guckte sie mich noch prüfend an, dann lächelte sie. »Klar. Es waren ja auch nur drei Stunden.«
Da hatte sie auch wieder recht.
Ich spielte wirklich mit dem Gedanken, die Franzbrötchen in meinem Fahrradkorb in der Ostsee zu versenken. Außerdem hatte ich mir schon überlegt, sie am Strand zu vergraben, an Heinrichs Schweine zu verfüttern oder im Stall als Fliegenfänger aufzuhängen. Ich war sogar fast bereit, alle acht Stück selber zu essen, auch wenn das wahrscheinlich drei Tage Zuckerkoma bedeutete. Aber ich wusste, dass ich garantiert auffliegen würde, wenn ich die Dinger nicht ablieferte. Und so stolz, wie Luise auf ihre Backkünste war, käme ich mit drei Tagen Koma wahrscheinlich nicht davon.
Also fuhr ich mit Todesverachtung Richtung Carlshof. Warum mussten sie mir das antun? Warum nur? Bloß weil ich die Jüngste war, mussten sie mich unbedingt vor den neuen Nachbarn demütigen? Ich würde auf ewig das Mädchen mit den Franzbrötchen sein! Und überhaupt: Ich verstand gar nicht, warum der Rest der Familie es für eine gute Idee hielt, Freundschaft mit den Maibachs zu schließen. Die waren, was Pferde anging, auf einem ganz anderen Planeten unterwegs. Und sie waren Konkurrenz! Vorhin beim Eisessen hatte Jannis erzählt, dass Eva einen Verein gründen wollte, und Annika war gleich darauf angesprungen. Ich wusste, dass sie seit Jahren Turniere reiten wollte, aber ohne Vereinsmitgliedschaft ging das ja nicht. Die Gelegenheit würde sie sich bestimmt nicht entgehen lassen.
Ich umkurvte ein Schlagloch. Da vorne war die Abzweigung zum Carlshof. Wenn ich noch langsamer fuhr, kippte ich um. Es half nichts. Mit einem letzten Blick auf diese idiotischen Franzbrötchen holte ich tief Luft, bog nach rechts ab und strampelte zwischen Hecken mit knallroten Hagebutten auf das Tor zu.
Verdammt idyllisch für die Höhle des Löwen.
*
Ich erkannte sofort, dass Eva eine ganze Menge Geld in die Hand genommen hatte, um den Carlshof auf Vordermann zu bringen. Nichts verriet, dass die Anlage fünf Jahre lang leer gestanden hatte. Die Reithalle rechts und der Stall links strahlten mir in frischem Schwedenrot und blendendem Weiß entgegen. Ich ließ das Rad an einer Buchsbaumhecke liegen, griff mir die Tüte mit den Franzbrötchen und betrat den Innenhof durch ein weißes Tor.
Das durfte echt nicht wahr sein. Der Stall und die Reithalle waren durch einen überdachten Gang verbunden. Klar, man musste ja auch verhindern, dass diese überspannten Springpferde einen Tropfen Regen abbekamen.
Oder Jannis hatte Angst um seine Lederstiefel.
Der Innenhof war so sauber gefegt, dass ich, ohne zu zögern, vom Boden gegessen hätte. Rechts und links führten Wege an vier weiß umzäunten Paddocks vorbei. Dahinter erkannte ich den Springplatz, der direkt an die Reithalle angrenzte, und einen von Bäumen beschatteten Wall mit Tribünen auf beiden Seiten. Links davon lag das Dressurviereck. Und nirgends ein Pferd zu sehen. Es war die Hölle.
Unschlüssig blieb ich stehen. Es wirkte nicht so, als würden hier Pferde leben, aber Menschen konnte ich auch keine entdecken. Die Tür zur Reithalle war trotz des schönen Wetters geschlossen, also vermutete ich, dass gerade niemand drin war. Einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, die Tüte einfach vor den Eingang des Wohnhauses zu legen, das hinter der Reithalle stand. Ich hatte mich schon umgedreht, aber dann gab ich mir einen Ruck, wandte mich nach links und ging den gepflasterten Weg zwischen Stall und Paddocks entlang. Die Rasenflächen daneben waren so perfekt grün, dass sie fast künstlich wirkten.
»Hallo?«, fragte ich vorsichtig, als ich um die Ecke des Stalls lugte.
Niemand da. Wo waren die denn alle? Hier musste eine ganze Armee Pferdepfleger, Gärtner und sonst was arbeiten, anders konnten Eva und Jannis so eine Anlage gar nicht am Laufen halten. Oder hatten die einfach noch keine Pferde hier? Dann war dem Pfleger vielleicht langweilig und er fegte stattdessen die Wege. Ich beschloss nachzusehen.
Mit Schwung zog ich die Tür zur Stallgasse auf – und guckte in Evas und Jannis’ verdutzte Gesichter.
»Frida!«, schallte es mir zweistimmig entgegen, während mir nur ein intelligentes »Äh« einfiel.
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, dann schwenkte ich die Papiertüte und blubberte: »Ja, hallo, gut, dass ich euch treffe … das heißt … ich soll die hier vorbeibringen. Also, als Willkommensgeschenk. Auf gute Nachbarschaft.«
Ich biss mir auf die Zunge, bevor ich mich weiter um Kopf und Kragen redete und Jannis’ Grinsen noch breiter wurde, und drückte Eva die Tüte in die Hand.
»Das ist ja nett.« Vorsichtig linste sie hinein. Im nächsten Moment fing sie an zu strahlen. »Franzbrötchen! Frida! Und die hast du für uns gebacken?«
Gerade hatte ich noch fieberhaft nach einem Mauseloch gesucht, in das ich mich verkriechen konnte, jetzt schnellte mein Blick zu Eva.
»Iiich?«, quiekte ich, weil ich gar nicht daran gedacht hatte, dass man das so auffassen konnte. »Nein. Nein, ganz bestimmt nicht, ich kann nicht backen. Die sind von meiner Schwester Luise.«
Aus dem Augenwinkel bekam ich mit, dass Jannis nur mit größter Mühe verhinderte, sich vor Lachen auf dem Boden zu wälzen. Hätte er bestimmt gemacht, wenn seine Mutter nicht dabei gewesen wäre.
Die hielt ihm jetzt die Papiertüte unter die Nase. »Willst du? Eins kannst du haben, der Rest ist für mich.« Sie grinste. Bevor er zugreifen konnte, zog sie die Tüte wieder weg und streckte sie mir hin. »Oh, entschuldige, Frida, das war unhöflich. Möchtest du?«
Ich schüttelte den Kopf. Schweigend wehrte ich auch eine zweite Aufforderung ab – auf keinen Fall würde ich mich noch mehr blamieren, indem ich mir das Gesicht mit Zucker, Zimt und Butter vollkleisterte –, aber Eva und Jannis hatten, was das betraf, keine Hemmungen und mampften sich begeistert durch ihre Brötchen. Na ja, ich hatte in Sachen Sich-lächerlich-Machen auch einen satten Vorsprung.
»Die sind der Hammer«, lobte Jannis zwischen zwei Bissen. »Und die hat echt deine Schwester gemacht?«
Ich nickte. »Ja, die kann das. Sie backt auch Torten und Brot und all so was. Ihr macht das Spaß.« Was ich davon hielt, stundenlang in der Küche zu stehen, konnte man, glaube ich, hören.
Eva angelte sich noch ein Brötchen, drückte Jannis die Tüte in den Arm und wandte sich zu mir: »Sag ihr bitte vielen Dank, Frida. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals ein besseres Franzbrötchen gegessen hätte.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ist ein Familienrezept aus Hamburg.«
»Ach, wirklich? Trotzdem bin ich immer wieder beeindruckt, wie gut manche Leute backen. Ich kriege nicht mal Marmorkuchen hin, oder, Jannis? Aber wie wär’s, wenn ihr alle demnächst mal zum Essen zu uns kommt? Wir würden uns freuen.«
»Das wäre … nett?« Ich warf Jannis einen Blick zu, doch der starrte seine Mutter nur mit vollen Backen an.
»Schön, dann rufe ich einfach Kristin an und vereinbare einen Termin, ja? Frida, ich muss los, ich habe ein Vorstellungsgespräch, aber wie wäre es, wenn Jannis dir den Hof zeigt? Du willst doch bestimmt die Pferde sehen.«
Immer noch ungläubiges Hamsterstarren bei Jannis, und auch mir fiel auf die Schnelle keine Ausrede ein, deswegen nickte ich unbestimmt und versuchte zu lächeln.
Eva winkte uns zu. »Dann lasse ich euch mal …« Sie machte eine winzige Pause und grinste breit. »… Kuchen essen. Viel Spaß.«
Unglaublich, wie witzig meine Mutter sein konnte. Und jetzt stand ich hier auch noch wie ein Idiot vor Frida, eine Papiertüte in der Hand und wahrscheinlich mit Zuckerguss von einem Ohr bis zum anderen.
Überraschenderweise wollte Frida auch kein Franzbrötchen, als ich ihr zum dritten Mal eines anbot, also ließ ich sie kurz warten, rannte meiner Mutter hinterher, die die Tüte immer noch grinsend entgegennahm, und wusch mir am Wasserhahn beim Putzplatz das klebrige Zeug aus dem Gesicht.
Ich beeilte mich, weil ich dafür kein Publikum brauchte, doch Frida war mir nicht gefolgt. Allerdings konnte ich sie weder auf dem Hof noch bei den Reitplätzen sehen. Frida war bestimmt nicht der Typ, der brav in der Stallgasse stehen blieb, aber vorsichtshalber warf ich einen Blick durch die offene Tür.
Nein, stehen geblieben war sie nicht. Sie tat einfach das, was jedes Pferdemädchen gemacht hätte: Sie sah sich die Pferde an.
Mein Pferd.
Sie hatte Daris Boxentür aufgeschoben, murmelte irgendetwas und kraulte ihr den Hals. Mit geschlossenen Augen lehnte Dari ihren Kopf an Fridas Brust.
Dari lehnte ihren Kopf nie an Fremde.
Wenigstens spitzte sie die Ohren und sah mir entgegen, als ich näher kam. Dann geschah etwas, was mich fast noch mehr irritierte: Frida lächelte mich an.
»Sie ist toll.«
Mehr sagte sie nicht, doch es war klar, dass sie Dari das höchste Kompliment aussprach.
Ich stellte mich auf Daris andere Seite und begann ebenfalls, ihren Hals zu kraulen. Sie schnaubte wohlig und wir mussten beide lachen.
»Ja«, sagte ich und schaute Frida an. »Sie ist total motiviert und aufmerksam. Und sie hat so viel Talent. Ich glaube, in zwei Jahren kann ich mit ihr S-Springen gehen.«
Ich konnte beinahe fühlen, wie es zehn Grad kälter wurde. Die Eiskönigin war zurück. Frida machte ein grimmiges Gesicht, schob Dari in die Box und zog die Tür zu. Ich schaffte es gerade noch nach draußen auf die Stallgasse.
Sie wandte sich ab. »Welche Pferde habt ihr noch?«, fragte sie und konnte gar nicht schnell genug von mir wegkommen.
Ich zeigte ihr Tino, meinen Holsteiner Apfelschimmel, die beiden Hannoveraner meiner Mutter, die drei Berittpferde, die seit letzter Woche hier standen, und in der inneren Stallgasse die fünf Schulpferde, die wir aus Berlin mitgebracht hatten.
»Je nachdem, wie gut der Reitunterricht anläuft, wollen wir uns noch ein paar zulegen«, laberte ich.
Frida hörte sich alle Erklärungen schweigend an, strich hier und da einem Pferd über die Nase, grüßte Tadeusz, der gerade mit dem Füttern begonnen hatte, und blieb immer ein bisschen auf Abstand zu mir. Was war los mit dem Mädchen? Vorhin war alles noch völlig normal gewesen, und jetzt behandelte sie mich mit einer Abneigung, dass ich trotz der Wärme hier im Stall beinahe fröstelte.
Mir war das heute Morgen im Bus schon aufgefallen. Bei Frida konnte man immer genau sagen, woran man war. Das war ja eine lobenswerte Eigenschaft, nur hätte ich gern verstanden, was für ein Problem sie mit mir hatte.
Als wir uns die Außenanlagen ansahen, taute sie allmählich wieder auf. Wir gingen im Schatten der Ahornbäume am Dressurplatz entlang auf die Koppeln zu, und ich merkte, wie sie sich neben mir entspannte.
»Glaubst du, dass ihr euch hier wohlfühlen werdet?«, fragte sie. Ich sah sie an, aber sie guckte geradeaus. »So weit weg von Berlin, meine ich. Von der Stadt.«
Einen Moment lang antwortete ich nicht. »Ich glaube schon. Klar, Umziehen ist immer scheiße. Neue Schule, neue Leute und die alten Jungs weit weg.« Ich stockte. Irgendwie schien Fridas Ehrlichkeit abzufärben. Ich ließ den Blick über die Koppeln vor uns schweifen. »Aber die Pferde sind hier. Die haben’s jetzt besser. Und ich kann sogar vor der Schule reiten, wenn ich will. In Berlin musste ich in den Stall immer eine Stunde fahren.«
Endlich sah Frida mich wieder an – und wie. Ihr ganzes Gesicht strahlte über alle Sommersprossen, als wäre die Sonne aufgegangen.
»Reitest du Dari dann gleich noch?«, fragte sie.
»Hab ich vorhin schon. Mit Tino wollte ich aber noch ein paar Sprünge machen.«
»Warum bringst du sie dann nicht auf die Koppel?«
»Auf die Koppel kommen nur die Schulpferde. Die Sportpferde stellt Tadeusz morgens in die Paddocks und nachmittags trainieren wir sie.«
Frida blieb stehen und deutete auf die Grasfläche links von uns. »Aber ihr habt doch genug Platz. Die könnten doch locker Tag und Nacht draußen sein.«
Ungläubig sah ich sie an. »Tag und Nacht? Weißt du, wie viel die Pferde dadrin wert sind? Was ist, wenn die sich auf der Koppel das Sprunggelenk vertreten oder sich gegenseitig verletzen?«
Stille. Frida machte ein Gesicht, als hätte sie auf etwas Ekliges gebissen. »Aber …«, sagte sie langsam, »… sie müssen sich doch mal in der Gruppe bewegen können.«
Ich hörte ja wohl nicht richtig. »Wo hast du das denn her? Aus der ›Wendy‹?« Das war doch nicht zu fassen, dass mir dieses Ponymädchen erzählen wollte, wie wir unsere Pferde zu halten hatten.
Die Botschaft kam offenbar an. Jedenfalls blinzelte Frida einmal, dann sagte sie: »Sorry, ich muss los. Wir sehen uns morgen. Danke für die Führung.«
Als sie an mir vorbeistürmte, fühlte es sich an, als würde ich gegen eine Gletscherwand prallen. War die jetzt beleidigt? Im Ernst?
Ich holte tief Luft, dann machte ich mich an die Verfolgung. Doch Frida hatte verdammt lange Beine und sie konnte verdammt schnell gehen. Bevor ich sie eingeholt hatte und das klären konnte, war sie Mama in die Arme gelaufen. Die sah erst Frida, dann mich fragend an, aber ich zuckte nur mit den Schultern. Wenigstens musste Frida jetzt stehen bleiben.
Mama deutete auf den Typen neben ihr. »Jannis, gut, dass ihr kommt. Ich wollte dir Marcel vorstellen. Er arbeitet ab sofort als Bereiter bei uns. Marcel, das ist mein Sohn Jannis, und das ist Frida, eine Freundin.«
Marcel hielt mir die Hand hin, aber bevor er etwas sagen konnte, winkte Frida uns zu und rief: »Hallo, Marcel. Tut mir leid, Eva, ich muss los. Tschüs!«
Und weg war sie. Ich stand da und hörte mir mit halbem Ohr an, wo Marcel seine Ausbildung gemacht, mit welchen Trainern er gearbeitet und welche Turniere er gewonnen hatte, und die ganze Zeit fragte ich mich, warum zum Teufel ich unbedingt wissen musste, was mit Frida los war, statt sie einfach so launisch sein zu lassen, wie sie wollte.
Zur Beruhigung nahm ich Liv mit an den Strand. Nach dem sonnigen Nachmittag kam Wind auf und trieb Wolken von der Ostsee herein. Grau wie Blei lagen das Wasser und der Sand vor uns. Es war das perfekte Wetter für meine Stimmung.
Beinahe hätte ich mich von Jannis’ Gerede einlullen lassen. Die Pferde hatten es jetzt besser, klar! Er war einfach wie alle anderen Turnierreiter. Ihm ging es um den Sport und nicht darum, was den Pferden guttat. Arme Dari. Da musste sie sich den ganzen Tag über einsperren lassen, nur um ein paar Stunden auf diesem trostlosen Paddock zu stehen – allein wahrscheinlich noch! – und nachmittags über irgendwelche Hindernisse zu springen. Kein Wunder, dass sie so angespannt wirkte. Und trotzdem war sie zutraulich und aufmerksam. Wusste Jannis überhaupt, was für ein Pferd er da hatte? Wahrscheinlich nicht. Den interessierten ja nur Leistungsklassen und Platzierungen.
Der Wind frischte auf und sprühte mir ein paar Tropfen Regen ins Gesicht. Liv merkte natürlich, dass ich nicht bei der Sache war, und schüttelte den Kopf, also atmete ich tief durch und konzentrierte mich auf ihren Rhythmus.
Wir trabten eine Weile durch die Dünung, dann galoppierten wir an und zogen den Möwen davon. Es half – bald hatte ich nichts weiter im Kopf als die Wellen und den Sand und Livs geschmeidige Sprünge. Der Wind peitschte mir ihre lange Mähne ins Gesicht, doch wir hatten heute beide nicht vor, klein beizugeben.
In einem weiten Bogen wendete ich Liv, aber wir hielten das Tempo bis kurz vor dem Strandaufgang. Als ich sie zum Schritt durchparierte, war mir ziemlich warm geworden, und Livs Hals war feucht, doch ich konnte spüren, dass sie am liebsten gleich noch mal losgeprescht wäre.
Ich kraulte ihren Mähnenkamm. »Für heute reicht es, Mädchen. Das war toll.«
Nach und nach wurde ihr Schritt entspannter, sie dehnte den Hals und schnaubte zufrieden ab. Mit dem Wind im Rücken machten wir uns auf den Heimweg.
*
Der Tisch war schon halb gedeckt, als ich in die Küche kam.
»Hallo, Küken«, begrüßte mich Theo, den ich heute noch gar nicht gesehen hatte. Keine Ahnung, was der während seiner Semesterferien tagsüber machte.
»Hallo«, sagte ich, zu ausgepowert, um mir eine schlagfertige Antwort einfallen zu lassen. Ich griff über die Kücheninsel und stibitzte Papa einen Käsewürfel vom Schneidebrett.
Mama sah von irgendwelchen Unterlagen auf. »Hallo, Schatz. Wie war’s am Strand?«
»Windig.« Ich nahm die Teller, die auf der Anrichte standen, und verteilte sie auf dem Tisch, während Theo Wassergläser füllte.
Mama stellte sich neben mich und legte mir den Arm um die Schultern. »Schlechten Tag gehabt?«
Ich lehnte mich kurz an sie. »Ging so. Bis auf den Montag ist der Stundenplan okay. Aber wir haben den Claasen in Französisch, das macht mich jetzt schon fertig.«
»Der ist HSV-Fan«, teilte Theo sein unerschöpfliches Wissen über seine ehemalige und meine aktuelle Schule. »Frag ihn, wie das Spiel am Wochenende war, dann kommt er erst mal nicht zum Unterrichten.«
Ratlos guckte ich ihn an. »Und ein HSV ist …?«
Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Mama und Papa schmunzelten.
»… ein Fußballverein.« Theo schüttelte den Kopf. »Mal ehrlich, passt in dein Hirn noch was anderes als Pferde?«
Ich streckte ihm die Zunge heraus. »Sagt einem ja keiner, dass man in Französisch nur gute Noten kriegt, wenn man sich mit Fußball auskennt.«
»Seit wann interessierst du dich für Fußball?« Luise stieß die Tür auf und kam mit einer Schüssel und einem Eimer Äpfel herein.
»Tut sie nicht. Sie will nur in Französisch keinen Stress«, klärte Theo sie auf.
»Oje, habt ihr den Claasen?«, fragte sie mich. Als ich nickte, sagte sie: »Mach dich mal ein bisschen über den HSV schlau. Uwe Seeler, Volksparkstadion und so. Wenn er nervt, kannst du ihn damit ködern. Und danach hast du nie wieder Ärger mit ihm.«
Papa lachte, doch Mama stemmte die Arme in die Seite und starrte uns ungläubig an. »Sagt mal, was wird das denn? Wie wär’s, wenn du in Französisch einfach mehr lernst, Frida? Dann müsstest du dir keine Schwachsinnstipps von deinen Geschwistern holen.«
Luise und Theo grinsten sie breit an, aber Papa kam herüber und zog sie an sich. Sie machte eine komische Grimasse, wie immer, wenn sie ernst bleiben wollte, es aber nicht schaffte.
»Keine Sorge, Mama, ich habe nicht vor, die Bundesligatabelle auswendig zu lernen«, versicherte ich ihr. »Höchstens, wenn ich zwischen Vier und Fünf stehe.«
Luise deutete auf mich. »Klingt vernünftig.«
Mama schüttelte den Kopf, wand sich aus Papas Umarmung und warf die letzten Schafskäsestücke in eine Schüssel. Als sie den Salat auf den Tisch stellte, schmunzelte sie. »Alle hinsetzen und essen. Jetzt ist Schluss mit diesen zweifelhaften Ratschlägen für Frida.«
»Für heute Abend wenigstens«, raunte Theo und fing sich damit einen scharfen Blick ein.
»Und, wie ist es da drüben?«, wollte Luise wissen, als sie sich Salat auf den Teller häufte.
Oh nein. Gerade hatte ich den Carlshof so schön verdrängt gehabt. Hello again, schlechte Laune.
»Fahr doch das nächste Mal deinen Kuchen selber rüber, wenn dich das so interessiert«, pampte ich sie an.
Luise hob abwehrend die Hände. »Da ist ja heute jemand gut drauf. Stell dich nicht so an, wir haben die Schule alle überstanden.«
»Um die Schule geht’s doch gar nicht«, erklärte ich. »Die da drüben sind voll die Tierquäler.«
Es folgte ein Moment ratlosen Schweigens. Meine Familie neigte dazu, mich nicht ernst zu nehmen, deswegen versuchte sie wahrscheinlich gerade, die Bedeutung meines Satzes durch den Ach-sie-ist-in-der-Pubertät-Filter zu entziffern.