Die Pfirsichblütenschwestern - Susanne Morel - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Pfirsichblütenschwestern E-Book

Susanne Morel

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Zwei Schwestern zwischen Krieg und Liebe: ergreifend, dramatisch und zum Träumen schön – Susanne Morels historische Familiensaga entführt auf eine Pfirsich-Plantage in die Provence in den 30er Jahren.   München 1932: Der Tod ihrer Eltern reißt die Geschwister Konstanze, Pauline und Lorenz auseinander. Während die 17-jährige Konstanze in der Stadtvilla ihrer wohlhabenden Tante unterkommt und das ersehnte Kunst-Studium beginnen kann, wartet auf den kleinen Lorenz ein hartes Leben auf dem Bauernhof eines Onkels im Allgäu. Die 16-jährige Pauline wird dagegen ins ferne Frankreich gebracht. Nach dem Willen einer kinderlosen Großtante soll sie später einmal deren Pfirsich-Plantage in der Provence führen – nachdem sie den charmanten Philippe, Sohn eines benachbarten Großgrundbesitzers, geheiratet hat. Doch Paulines Herz gehört längst einem anderen, und als Konstanze bei einem Besuch in der Provence auf Philippe trifft, ist es für beide Liebe auf den ersten Blick …   Vor dem Hintergrund des heraufziehenden 2. Weltkriegs entspinnt sich eine bewegende historische Familiensaga, die nach Pfirsich und Lavendel duftet.  

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 510

Veröffentlichungsjahr: 2022

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



SusanneMorel

Die Pfirsichblütenschwestern

Roman

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Zwei Schwestern, eine unmögliche Liebe und der Duft von Pfirsich und Lavendel

 

 1932: Der Tod ihrer Eltern reißt die Schwestern Konstanze und Pauline auseinander. Während Konstanze in der Münchner Stadtvilla ihrer wohlhabenden Tante Einzug hält und das ersehnte Kunststudium beginnen kann, führt Paulines Weg ins ferne Frankreich. Nach dem Willen einer kinderlosen Großtante soll sie später deren Pfirsichplantage in der Provence führen – nachdem sie den charmanten Philippe, Sohn eines benachbarten Großgrundbesitzers, geheiratet hat. Doch Paulines Herz gehört längst einem anderen, und als Konstanze bei einem Besuch auf Philippe trifft, ist es für beide Liebe auf den ersten Blick …

Inhaltsübersicht

TEIL 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

TEIL 2

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

TEIL 3

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Danksagung

Dieses Buch widme ich meinem Mann und meinen Kindern Vinzent und Bernadette – weil jeder Tag mit euch ein Geschenk ist.

TEIL1

Kapitel 1

München, im Januar 1932

Es war, als hätte die Stadtvilla die Stille der gesamten Welt in sich aufgesogen. Das sonst so imposante Gebäude wirkte hilflos klein und schien von der Dämmerung des kalten Winterabends verschluckt zu werden. In den Fenstern spiegelten sich die Schatten der aufkommenden Nacht, und die Bäume des weitläufigen Parks verharrten wie in Totenstarre.

In den Räumen der Villa hatte sich eine trostlose Einsamkeit hartnäckig festgekrallt, als wollte sie mit aller Kraft jede Erinnerung an Kinderlachen und frohes Stimmengewirr vertreiben.

Pauline lauschte dem Schweigen und der Leere des Hauses. Sie lag im Bett und starrte zur Decke, die trotz des warmen Kerzenscheins kalt und erdrückend wirkte.

»Woran denkst du?«, flüsterte Konstanze und blickte besorgt in das blasse Gesicht ihrer Schwester, das sich im weichen Daunenkissen fast verlor.

»Ich frage mich gerade …«, hauchte sie leise und schloss dabei die Augen. »Ich frage mich gerade, welcher Tag der schlimmste in meinem Leben war.«

Konstanze seufzte und rückte näher an Pauline heran. Ihr war danach, sie an sich zu drücken, zu halten und ihr Kraft zu geben.

»Vor drei Jahren war ich der Meinung, dass nach Vaters Tod mein gebrochenes Herz nie wieder heilen würde. Dennoch haben wir es geschafft, Stanzerl, wir hatten uns und Mama.«

»Ja, die hatten wir.«

»Aber jetzt liegt sie neben Papa in der Gruft. Kalt, leblos, blutleer. Tot.« Tränen perlten sanft über Paulines Wangen, als wollten sie sie streicheln und ihr Trost spenden. »Fast möchte ich sie hassen für das, was sie getan hat. Warum hat sie sich uns nicht anvertraut?«

»Ich weiß es nicht.« Konstanzes Stimme zitterte, während sie ihre Hände wie zum Gebet faltete.

»Könnten wir doch nur die Zeit zurückdrehen. Schon ein paar Tage würden genügen. Alles würde ich anders machen, Stanzerl, alles.« Pauline griff nach dem Arm ihrer Schwester. »An das, was uns morgen bevorsteht, will ich gar nicht erst denken.«

Konstanze biss sich auf die Lippen und nickte Pauline verständnisvoll zu. »Lass uns nicht davon sprechen. Diese eine letzte Nacht wollen wir so tun, als ob es morgen nicht gäbe, ja?«

Pauline rückte an die Bettkante und hob die Decke an. Ohne ein weiteres Wort legte Konstanze sich neben ihre Schwester und umarmte deren vor Kälte zitternden Körper.

Oder war es die Angst vor der Ungewissheit, die sie derart frösteln ließ?

»Wollen wir dankbar sein, dass man uns diese letzte Nacht im Elternhaus gönnt.«

»Ist es denn überhaupt noch ein Elternhaus, wenn Vater und Mutter tot sind und das Haus schon immer der Kirche gehört hat? Waren wir nicht bereits nach Vaters Tod nur noch geduldet?«, fragte Pauline, ohne eine Antwort zu erwarten.

»Denk nicht so schlecht. Wollen wir lieber hoffen, dass Tante Gunde, Tante Josette und Onkel Gustav es gut mit uns meinen. Und jetzt träum schön, mein geliebtes Paulchen.« Mit diesen Worten hauchte sie ihrer Schwester einen Kuss auf die Wange und lauschte ihrem gleichmäßigen Atem. Konstanze selbst fand bis zum Morgengrauen keinen Schlaf. Sie beobachtete das Flackern der Kerze, die Stunde um Stunde schrumpfte, bis ihr Licht ganz erlosch. Und während sie wartete, auf die Morgendämmerung und ihren Lebensmut, hielt sie Pauline fest im Arm und schnupperte den Duft ihres seidigen Haares. Mit ihren siebzehn Jahren war sie noch nicht so weit, sich für immer von ihrer kaum zwei Jahre jüngeren Schwester zu trennen. Nach Mutters Tod hatte Tante Gunde sich bereit erklärt, sie, Konstanze, bei sich aufzunehmen und ihr eine gesicherte Zukunft zu bieten. Pauline hatte nicht so viel Glück gehabt. Mutters kinderlose Cousine wollte sie zu sich in die Provence holen.

Bei dem Gedanken an den bevorstehenden Abschied schluchzte Konstanze laut in den leeren Raum hinein. Sämtliche Möbel hatte man am Vormittag abtransportiert. Nur das Bett hatte man ihnen gelassen – und diese letzte gemeinsame Nacht hier in der elterlichen Villa. Ihr kleiner Bruder war sofort nach dem Begräbnis mit Onkel Gustav ins Allgäu abgereist. Lorenz’ verzweifeltes Weinen hallte noch immer in ihrem Herzen nach. Der arme Junge würde mit seinen gerade mal neun Jahren die Mutter und die Heimat am meisten vermissen.

Er wird es schaffen, dachte sie bei sich, er muss. Dann stand sie auf und machte sich fertig für den Tag, den sie am liebsten schon hinter sich gehabt hätte.

 

»Konstanze, Pauline, kommt ihr?« Es war am frühen Vormittag, als Tante Gundes Ruf durch die leer geräumte Stadtvilla hallte wie ein kräftiger Windstoß, der jeden einsamen Winkel zu erreichen versuchte. Konstanze stand mit hängenden Schultern mitten im Raum und nahm den Ruf trotz seiner Hartnäckigkeit kaum wahr. Ihr müder Blick wanderte über den Parkettboden aus edlem Palisanderholz. Dabei dachte sie an ihr französisches Himmelbett mit den duftigen Spitzenvorhängen, das noch bis zum Vortag hier gestanden hatte. Die weiß gekalkten Wände waren kahl, nur an manchen Stellen erinnerten Staubränder an die Ölgemälde, die dem Raum einst farbenfrohes Leben eingehaucht hatten. Der Stuck rankte verlassen an der Decke entlang und verlief sich in der trostlosen Leere. Konstanze schloss die Augen und sog den Duft ein, der ihrem Zimmer anhaftete. Es roch nach ihrer Kindheit, ihrem Lachen und Weinen, ihrer Kleidung, den Büchern, Abenteuern, Träumen und Hoffnungen. Vor allem aber roch es nach Vertrautheit.

»Ich will hier nicht weg«, flüsterte sie und ließ sich auf die breite Fensterbank sinken. Kraftlos lehnte sie sich an die kühle Wand und rieb sich die markanten Augenbrauen.

»Bist du so weit?« Pauline stand im Türrahmen, die Augen verweint und geschwollen.

»Nein, bin ich nicht. Ich will mich nicht verabschieden müssen. Nicht von dem Haus und schon gar nicht von dir.« Konstanze ging zu ihrer Schwester. Die Absätze ihrer schwarzen Stiefel aus weichem Rehleder klackten bei jedem Schritt. Vor Pauline blieb sie stehen, legte eine Hand an ihre Wange und blickte ihr tief in die Augen. »Was soll ich nur ohne dich machen?«, flüsterte Konstanze und schnürte ihren leichten, hellgrünen Wollmantel enger um die Taille.

Pauline zuckte verloren mit den Schultern.

»Nun kommt schon, sonst verpasst Pauline ihren Zug«, rief Tante Gunde eindringlich.

Konstanze nickte und schloss die Tür zu ihren Kindheitserinnerungen. Gesenkten Hauptes schritt sie zum letzten Mal die geschwungene Marmortreppe in die Eingangshalle hinab, Seite an Seite mit ihrer jüngeren Schwester. Das Licht der Wintersonne flutete durch die Dachfenster und ließ Konstanzes kastanienfarbenes Haar in feurigen Rottönen auffunkeln.

Tante Gunde nahm die beiden mit einem verständnisvollen Lächeln in Empfang und seufzte, als sie sie zur Eingangstür geleitete – und hinaus in die Winterkälte. Mit tiefen Atemzügen sog Konstanze die eisige Luft ein und hoffte, dass die Kälte den Schmerz in ihrem Brustkorb zu betäuben vermochte.

 

Wenige Minuten später saßen die Frauen schweigend in Tante Gundes Automobil. Das Geknatter des Motors dröhnte in Konstanzes Kopf. Schneller, als ihr lieb war, näherten sie sich dem Bahnhof, wo sie sich von ihrer Schwester verabschieden musste. Innig drückte sie Paulines behandschuhte Finger und ließ dabei den Blick auf dem vertrauten Gesicht ruhen. Jeden Zug, jede Lachfalte, jede dunkelblonde gelockte Haarsträhne, die unter dem bordeauxroten Hut hervorlugte, wollte sie sich einprägen, damit sie die Erinnerung daran zurückholen konnte, wenn sie nachts wach lag und um ihre Familie weinte.

»Ihr seid stark, ihr schafft das«, versicherte Gunde, die um die Ängste ihrer Nichten zu wissen schien, und tätschelte Konstanze wohlwollend den Handrücken. »Und noch heute beziehst du dein neues Zimmer bei mir in der Villa. Es wird dir gefallen, wirst sehen. Deine Cousine Charlotte freut sich schon darauf, endlich nicht mehr allein mit ihren alten Eltern zu sein. Ah, da sind wir ja schon.«

Der Fahrer machte vor dem Bahnhofsportal halt und half den Damen aus dem Automobil. Der kalte Wind jagte die Frauen über die Straße wie vertrocknetes Laub. Mit einem Ruck öffnete Konstanze die schwere Tür zur Bahnhofshalle und tauchte gemeinsam mit Tante und Schwester in das laute Stimmengewirr ein. Als Konstanze die vielen Menschen zu den Schaltern und Bahnsteigen eilen sah, war sie froh, dass sie hier in München bei ihrer Tante bleiben durfte und nicht wie ihre Geschwister anderswohin ziehen musste. Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete sie die hin und her eilenden Reisenden.

Es dauerte nicht lange, da erblickte sie Tante Josette, die bereits mit dem Gepäck wartete. Pauline würde ihren Weg gehen und sich rasch in der Provence einleben, hoffte Konstanze und lächelte ihrer Schwester aufmunternd zu.

»Wir schreiben uns jede Woche mindestens einmal, versprochen? Und ich komme dich im Sommer besuchen. Schließlich will ich deine neue Heimat kennenlernen und mit dir im Meer baden.« Konstanze versuchte sich an einem gespielten Lächeln und hauchte ihrer Schwester einen Kuss zu.

»Ohne dich wird es unerträglich.«

»Kommt, Mädchen, Josette wartet. Und sie wartet nicht gerne, glaubt mir.« Tante Gunde blickte mit erhobenem Kinn durch die Wartehalle und winkte der zierlichen Französin zu.

»Ist sie denn streng?« Paulines Augen füllten sich mit Tränen.

»Streng?«, wiederholte Gunde abwägend. »Sagen wir, sie hat so ihre Prinzipien«, fuhr sie ausweichend fort und sah dabei auf die große Uhr, die hoch über den Gleisen am Kopf des Sackbahnhofs hing.

»Ich verstehe sie nicht einmal!«, jammerte Pauline. »Stanzerl, stell dir vor, ich muss in ein Land, in dem kein Mensch meine Sprache spricht.« Pauline vergrub das Gesicht in den Händen.

»Mir wäre auch lieber, wenn wir zusammenbleiben könnten – so kurz nach Mutters Tod. Tante Gunde hätte uns liebend gerne beide aufgenommen, aber du weißt ja, wie unnachgiebig Tante Josette darauf bestanden hat, die Fürsorge für dich zu übernehmen.« Konstanze nahm ihre Schwester in den Arm. Pauline hatte schon immer ihren Beschützerinstinkt geweckt, und das nicht nur, weil sie jünger und ein Stück kleiner war als sie. »Du bist stärker, als du denkst. Wirst sehen, in wenigen Wochen fühlst du dich dort wie zu Hause und hast das trübe Deutschland mit seinem politischen Wanderprediger, den Uniformen und Hakenkreuzen an jeder Straßenecke schon vergessen.« Mit einem aufgesetzten Lachen hoffte sie, ihre Schwester aufmuntern zu können. Wenn dieser schreckliche Abschied doch nur schon hinter uns läge, dachte Konstanze.

»Sprich nicht so über Hitler! Wenn dich jemand hört …«, flüsterte Pauline hinter vorgehaltener Hand. »Trotz der Veränderungen, die hier in Deutschland stattfinden, haben Lorenz und du es gut – ihr müsst das Land wenigstens nicht verlassen.«

»Sag das nicht, der arme Lorenz wird im Allgäu hart schuften müssen auf Onkel Gustavs Hof.« Bei dem Gedanken an ihren kleinen Bruder atmete sie tief durch. Wie gerne würde sie die Zeit zurückdrehen und Lorenz aus dem harten Griff des Onkels befreien. Wie einen Leibeigenen hatte er ihn hinter sich hergezerrt und schien kein Mitleid übrig zu haben für die Tränen des verwaisten Jungen.

»Vite, vite, notre train part immédiatement!« Statt einer Begrüßung hatte Josette nur einen prüfenden Blick für ihre Nichten übrig und musterte vor allem Pauline, als wäre sie Stückgut.

»Was sagt sie?«, fragte Pauline und runzelte die Stirn.

»Keine Ahnung. Aber ihrem Gefuchtel nach zu schließen, habt ihr es eilig«, meinte Gunde trocken.

Pauline und Konstanze sahen einander an, keine brachte ein Wort über die Lippen. Mit einem Mal war das Stimmengewirr um sie herum verstummt, und selbst die Bahnhofsuhr schien gnädig ihre Zeiger anzuhalten. Für einen kurzen Moment gab es nur noch sie beide, jede besorgt um die andere und ängstlich wegen des Lebens, das sie fortan getrennt voneinander führen sollten. Fest schlang Konstanze die Arme um ihre Schwester und wiegte sie sanft, als wäre sie ein Säugling, der beruhigt werden musste.

»Weißt du noch, als wir klein waren und Mutter uns Märchen vorgelesen hat?«, fragte Konstanze. Pauline nickte schluchzend. »Mein Kopf hat auf ihrem Brustkorb geruht, ich lauschte dem gleichmäßigen Pochen ihres Herzens beinahe mehr als der Geschichte. Wenn ich die Augen schließe, höre ich es auch heute noch, das kräftige Klopfen, das mir mit jedem Schlag versicherte, dass ich geliebt wurde.« Konstanze nahm das verweinte Gesicht ihrer Schwester in beide Hände und sah sie eindringlich an. »Die Märchen waren mir egal, die interessierten mich nicht. Es war die Zeit mit Mutter und dir, die ich so sehr genossen habe. Glaub mir, Paulchen, es spielt keine Rolle, wie weit du von mir entfernt bist, weil mich auch dein Herzschlag bei jedem Schritt begleiten wird.«

Pauline nickte heftig und presste sich eng an Konstanze.

»Vite, vite«, wiederholte Josette schrill und zerrte mit ihren langen Fingern an Paulines Ärmel.

Mit einem zustimmenden Nicken löste Konstanze die feste Umarmung.

Alles wird gut!, sagte sie tonlos.

»Merci pour tout et au revoir«, meinte Josette, winkte Konstanze und Tante Gunde frohgemut zu und zog Pauline wie ein kleines Mädchen hinter sich her. Diese drehte sich nach ihrer Schwester um, warf ihr verzweifelte Blicke zu und streckte die Hand Hilfe suchend nach ihr aus. Doch ehe Konstanze reagieren konnte, war Pauline bereits im Gewirr der Menschen verschwunden. Nur der bordeauxrote Hut war noch hier und da zu sehen, doch auch er wurde viel zu schnell vom bunten Treiben verschluckt. Ungläubig schüttelte Konstanze den Kopf. Es war unmöglich zu fassen, dass sie von nun an ihre gesamte Familie würde entbehren müssen.

»Komm, es ist Zeit«, sprach Gunde beruhigend auf ihre Nichte ein und griff nach ihrer kühlen Hand. Gemächlich verließen sie die Bahnhofshalle. Konstanze hatte dabei das Gefühl, einen Teil ihrer selbst in der Menge fremder Passanten zurückzulassen.

 

Als sie wenig später vor Gundes Stadtvilla stand, war Konstanze trotz der widrigen Umstände beeindruckt. Das Haus war umgeben von hochgewachsenen Birken und Eichen, die Einfahrt war fein gekiest und von Rosenrabatten gesäumt, die im Sommer gewiss ein prächtiges Farbenspiel boten. Das Alter der Villa konnte Konstanze schwer schätzen, war sich aber fast sicher, dass sie im barocken Stil erbaut worden sein musste. Mit ihren drei Etagen wirkte sie pompöser als das Elternhaus, die Fenster waren größer und ließen gewiss reichlich Licht in die Räume einfallen. Obwohl Tante Gunde an ihrer Seite war, steigerte sich Konstanzes Aufregung beim Betreten des Hauses. In der Eingangshalle der Villa hielt Konstanze dann einen Augenblick inne und versuchte, ihr neues Zuhause vorsichtig zu erspüren. Noch während sie aus ihrem knielangen Wollmantel schlüpfte und ihn dem Dienstmädchen reichte, schloss sie die Augen, um den Geruch des Hauses besser wahrzunehmen. Es roch nach Jasmin – ein Duft, der ihr bereits an Tante Gunde aufgefallen war. Zudem drängte sich ihr eine wärmende Mischung aus Zedernholz und einem Hauch von Vanille auf.

»Komm, ich zeige dir das Haus«, riss die Tante sie aus ihren Gedanken. »Dörte, du servierst uns einstweilen Tee im Salon. Konstanze und ich können dringend etwas Wärme von innen vertragen, habe ich recht?« Mit einem Zwinkern ging Tante Gunde durch die Eingangshalle, deren Größe beinahe an ein Schloss erinnerte. Beim Anblick der unzähligen Türen und Flure war Konstanze unsicher, ob sie sich hier jemals zurechtfände. Vor allem aber fragte sie sich, ob sie – umgeben von so viel Prunk – je heimatliche Gefühle würde entwickeln können.

»Warte ein paar Tage, dann kennst du jeden Winkel unseres kleinen Domizils.«

Konstanze lächelte erleichtert. Tante Gunde schien tatsächlich jeden ihrer Gedanken erraten zu können. Vielleicht ist es doch möglich, sich hier einzuleben, dachte sie und folgte Gunde, die flotten Schrittes die geschwungene Treppe hochstieg.

»Das hier ist ab heute dein Bereich. Meine Tochter Charlotte hat eigens darauf geachtet, dass die Zimmer ähnlich gestaltet wurden wie in deinem Elternhaus. Einige deiner geliebten Möbel haben wir hierhertransportiert, wie du weißt. Schau, dein Himmelbett steht direkt neben dem Fenster, so wirst du jeden Morgen von der Sonne geweckt. Sollte etwas nicht nach deinem Geschmack sein, kannst du natürlich Änderungen vornehmen, nur bitte informiere mich, bevor du Mauern einreißen lässt.« Gunde schenkte ihr ein Lächeln, das sie herzerwärmend an das ihrer Mutter erinnerte.

»Warum hat sie das nur getan?«, fragte Konstanze und setzte sich müde auf die Kante ihres frisch bezogenen Himmelbetts.

Tante Gunde seufzte tief und nahm eng neben ihrer Nichte Platz. »Deine Mutter ist seit jeher ein schwermütiger Mensch gewesen. Schon als Kind hat sie versucht, sich ihre Melancholie nicht anmerken zu lassen, aber mir konnte sie nichts vormachen. Ich habe es an ihren Augen erkannt, die sich immer trübten, wenn sie in düstere Stimmung verfiel.«

»Ich habe es nicht gesehen. Ich habe ihrem aufgesetzten Lachen Glauben geschenkt.« Konstanze senkte den Kopf, um die aufsteigenden Tränen vor ihrer Tante zu verbergen.

»Der Tod deines Vaters hat sie in ein tiefes Loch gestoßen. Niemand hätte sie da herausholen können. Du kannst mir glauben, dass auch ich von Selbstvorwürfen geplagt werde. Die vielen Jahre, die wir uns aus den Augen verloren haben und die ich nicht wieder rückgängig machen kann. Meine Güte, Kind, du warst ein kleines Mädchen mit Zöpfen, als ich dich das letzte Mal gesehen habe. Die Zeit spielt uns einen Streich – ständig flüstert sie uns ins Ohr, dass sie unvergänglich sei, um uns wenig später mit dem Tod zu verhöhnen. Nein, du trägst nicht die Schuld am Selbstmord deiner Mutter. Diese Entscheidung hat sie ganz allein getroffen.« Mit diesen Worten stand Gunde auf und ging zur Tür. »Mach dich frisch und komm dann zu mir in den Salon – falls du ihn findest. Dörtes marokkanischer Minztee wärmt nicht nur den Körper, sondern auch die Seele.« Mit einem breiten Lächeln verabschiedete sie sich fürs Erste und schloss die Tür hinter sich.

Konstanze saß noch immer auf dem Bett und blickte sich verloren um. Ihre Tante hatte recht, die Möbel und Bilder waren tatsächlich ähnlich angeordnet wie im Elternhaus. Sie stand auf und schritt ihr viel zu großes Zimmer ab. Vorbei an ihrem Sekretär, auf dem liebevoll Briefpapier bereitgelegt worden war, und vorbei am Pianino, auf dem ihre Mutter ihr Unterricht gegeben hatte. Auf dem Kanapee hatte man bestickte Kissen drapiert, und in einem Wandschrank waren all ihre Bücher ordentlich eingeräumt worden. Vor dem bodentiefen Spiegel blieb sie stehen und betrachtete ihre Erscheinung. Konstanze fand, dass sie älter aussah als noch vor ein paar Wochen. Und dünner. Fast durchsichtig kam sie sich vor, aber das lag vermutlich an den vielen Abschieden, die ihr alle Kraft geraubt hatten. Das gewellte Haar fiel stumpf über ihre Schultern, und die grünen Augen hatten jeden Glanz verloren. Mit ihren Fingern strich sie über ihren Hals und dachte dabei unweigerlich an ihre Mutter, die sie erst vor wenigen Tagen im Treppenhaus erhängt aufgefunden hatte. Sie hatte sogar den Strick erkannt: Papa hatte damit vor Jahren eine rechteckige Rasenfläche abgesteckt, auf der später das Gewächshaus seinen Platz gefunden hatte. Mamas Gewächshaus, in dem sie jedes Jahr wunderbar aromatische Tomaten gezogen hatte, Kürbisse, Gurken und Erbsen … Manchmal hatte Konstanze den Eindruck gehabt, dieser Ort wäre der einzige, an dem ihre Mutter Ruhe finden konnte. Konstanze schüttelte sich. Sie musste diese schrecklichen Bilder verdrängen, wenn sie weiterleben wollte. Hier war nun ihre Zukunft, und sie hätte es weiß Gott schlechter treffen können. Tante Gunde war freundlich, das Haus übertraf jede Erwartung und lag zudem in der Nähe ihrer Schule. Konstanze hob das Kinn und straffte den Rücken.

»Du musst stark sein!«, ermutigte sie sich und setzte ein Lächeln auf, das wenig überzeugend wirkte. »Geh und trink eine Tasse marokkanischen Minztee, dann fühlst du dich bestimmt besser!«, befahl sie ihrem Spiegelbild. Dann machte sie sich auf den Weg zu Gunde.

Kapitel 2

Jouques, Provence, im Januar 1932

Pauline vermochte nicht zu sagen, wie lange sie schon im Zug saß, aber anhand ihres schmerzenden Hinterteils musste es sich um eine Ewigkeit handeln. Der Zug blieb immer wieder stehen, Menschen stiegen zu, andere stiegen aus, und Pauline fragte sich, zu welchen Zielen sie wohl unterwegs waren. Verreisten sie, weil sie jemanden besuchten, oder hatten sie berufliche Gründe? Sie war wohl in jedem Fall die Einzige, die in diesem Zug saß, um in eine neue Heimat aufzubrechen. Wehmütig blickte sie aus dem Fenster und betrachtete die Landschaft, die draußen vorbeizog, sich stetig veränderte und ihr Bestes zu geben schien, um sie von ihren trüben Gedanken abzulenken.

Sie fragte sich, wie es wohl ihrem Bruder Lorenz erging, der von nun an bei Onkel Gustav im Allgäu leben musste. Pauline gab sich Mühe, konnte sich aber dennoch nicht erinnern, jemals zuvor von diesem Onkel Gustav gehört zu haben. Gewiss gab es einen Grund, warum die Mutter ihren Bruder niemals erwähnt hatte. Mürrisch hatte er an Mutters Grab gestanden und sich lautstark die Nase geputzt. Seine Kleidung war nicht annähernd dem Anlass gemäß gewesen und hatte nach Kuhstall gerochen. Über all das hätte sie freilich hinwegsehen können, aber die Art, wie er Lorenz am Oberarm gepackt hatte, war grob gewesen und hatte den verstörten Jungen noch mehr verzweifeln lassen.

»Dans environ une heure, nous devons changer. Umsteigen, wir müssen bald umsteigen.« Josettes Stimme riss Pauline aus ihren Gedanken. Mit großen Augen starrte sie ihr bildhübsches Gegenüber an und fragte sich, wie sie diese komplizierte Sprache jemals erlernen sollte.

»Du musst Französisch lernen. Rapidement!«, sprach Josette weiter und lächelte Pauline strahlend an. Wie schön sie doch war, ihre Tante. Aufrecht saß sie da und vermittelte auch nach den endlosen Reisestunden eine beneidenswerte Leichtigkeit. Ihr heller Teint ließ ihre reine Haut wie Porzellan wirken, und das rötliche Haar, das in sanften Wellen ihr Gesicht umspielte, bot den perfekten Kontrast dazu. Pauline suchte vergebens nach einer Ähnlichkeit mit ihrer Mutter, die ja immerhin ihre Cousine gewesen war. Aber die beiden Frauen hätten nicht unterschiedlicher sein können, fand Pauline, während sie das Alter der zierlichen Frau schätzte.

»Du musst Französisch lernen!«, wiederholte Josette in gebrochenem Deutsch. »Und zwar schnell.«

»Kannst du es mir beibringen?«, fragte Pauline hoffnungsvoll.

»Non, impossible. Ich spreche kaum deine Sprache, aber meine Köchin Martha ist Deutsche und wird mit dir üben.«

»Dann wird Martha wohl meine beste Freundin werden, nicht wahr?«, meinte Pauline lächelnd und lehnte sich ein wenig entspannter zurück.

 

Nach einer endlos scheinenden Fahrt erreichten sie den Bahnhof von Aix-en-Provence. Pauline war steif vom langen Sitzen und hatte Probleme, über die hohen Stufen des Waggons hinunter auf den Bahnsteig zu gelangen, weswegen sie die Hilfe eines Schaffners in Anspruch nahm – im Gegensatz zu Josette, die ihren Rock anhob und geradezu schwungvoll aus dem Zug hüpfte. Pauline blickte betreten zur Seite und fühlte sich neben ihrer Tante wie eine alte Frau. Josette sprach mit dem Schaffner, und weil sie dabei auf den hinteren Teil des Waggons zeigte, nahm Pauline an, dass es um ihr Gepäck ging.

»Wir müssen warten«, erklärte Josette mit rollendem R und vertrat sich ein wenig die Beine. Als Pauline allein am Bahnsteig stand, wurde ihr bewusst, dass sie sich nun auf französischem Boden befand und ihre Heimat so weit weg war wie nie zuvor. Sie nestelte an der Stoffkante ihres Mantels, während sie sich umblickte und erkannte, dass die Menschen hier in gewisser Weise anders aussahen. Die feinen Nasen, die ausgeprägte Stirnpartie, die elegante Haltung – alles sah so … undeutsch aus, stellte Pauline fest. Die Architektur der Bahnhofshalle ähnelte der in München, aber sonst fühlte sie sich wie in einer fremden Welt. Nur die Tauben, dachte sie, die sehen wohl überall gleich aus. Verstört blickte sie auf die Zeitungen an einem Kiosk, deren Schlagzeilen denen in Deutschland nicht unähnlich waren. Uniformierte Truppen marschierten im Stechschritt vor Hitlers Ehrentribüne, ihre starren Blicke erinnerten an gefühllose Maschinen. Als sie versuchte, die Schrift zu entziffern, machte sie sich mit Grauen bewusst, wie viel Arbeit vor ihr lag, bis sie die Sprache ihrer neuen Heimat sprechen, lesen und schreiben könnte. Entmutigt folgte sie Josette, die zielstrebig den Bahnhof verließ und draußen auf auf eine Droschke an der gegenüberliegenden Straßenseite zeigte.

»Es dauert nicht mehr lange, bis wir da sind«, erklärte sie und ließ Pauline als Erste in das klapprige Gefährt einsteigen.

Noch weiter weg von München, dachte Pauline und blickte über die Schulter. Wenn doch nur Konstanze da wäre, ging es ihr durch den Kopf. Sie setzte sich auf die harte, mit Leder bezogene Bank und war beinahe froh, dass der schmerzende Hintern sie sogleich wieder von ihren trüben Gedanken ablenkte.

Es dauerte nicht lange, da wurde die Landschaft karger, und die Häuser wurden weniger. Pauline fragte sich, in welch trister Einsamkeit sie ihre Zukunft wohl zu verbringen hätte. Sie dachte an das rege Leben in München, an das Stimmengewirr in den Straßen, das Gelächter, die Besuche im Theater und der Oper. Die weite Einöde hier erweckte nicht den Anschein, als ob sie dergleichen zu bieten hätte.

»Da, Lavendelfelder.« Josette zeigte aus dem Fenster.

»Da ist nur Schnee«, erwiderte Pauline und rieb sich fröstelnd die Oberarme.

»Natürlich, wir haben doch Winter, mon cœur. Aber im Sommer wird hier alles voller Lavendel sein. Es ist herrlich, glaub mir. Der Duft, die Farben, ich liebe es.« Mit einem zufriedenen Seufzer lehnte Josette sich zurück und blickte verträumt aus dem Fenster.

»Lavendel«, wiederholte Pauline leise und erinnerte sich an das leicht bittere Aroma von Mutters italienischer Lavendelseife. Erwischte sie hier einen Zipfel von zu Hause? »Hast du auch Lavendel?«, fragte Pauline, nicht zuletzt um das Gespräch in Gang zu halten.

»Ja, aber nur im Garten.« Josette lachte auf. »Du weißt wirklich gar nichts von mir, oder?«

»Verzeih, nein.« Pauline schluckte kräftig. »Nur dass du die Cousine meiner Mama bist.« Sie fühlte sich wie ein dummes Schulmädchen, das schlecht auf den Unterricht vorbereitet war.

»Schon gut, sei nicht traurig wegen deiner Maman, ma fille. Dir wird es bei mir gefallen. Wir werden zusammen auf meiner plantation de pêche arbeiten.«

»Pêche?« Pauline legte ihre Stirn in Falten.

»Pfirsich.« Josettes Strahlen ließ keinen Zweifel daran, wie stolz sie auf ihre Plantage war. »Arrêtez, s’il vous plaît!«, rief sie dem Kutscher zu, der das Pferd so unvermittelt anhielt, dass Josette beinahe von der glatten Bank gerutscht wäre. »Nächstes Mal fahren wir mit einem Automobil, das ist bequemer, findest du nicht auch?« Der Kutscher hielt ihr die Hand entgegen und half ihr über den Ausstieg. »Komm, ich zeige dir etwas!«, sagte sie energisch und strich sich die Knitterfalten aus dem Rock. Während Pauline ihrer Tante hinterhereilte, fragte sie sich, was es in dieser Einöde schon zu besichtigen geben mochte.

»Das alles«, begann Josette im Flüsterton und machte mit beiden Armen weit ausholende Bewegungen. »Das alles gehört mir – und eines Tages dir, mon cœur.«

»All das gehört dir?«

»Ja, ist das nicht wunderbar?«

Nein, Pauline fand es nicht wunderbar, sondern vielmehr beängstigend. Wie sollte es möglich sein, eine derart große Anzahl von knorrigen Bäumen zu pflegen und abzuernten? Pauline schüttelte den Kopf und blickte über die weich geschwungenen Hügel, die über und über mit gleichmäßig angepflanzten Reihen von Pfirsichbäumen bewachsen waren. Die Sonne verschwand langsam am Horizont und tauchte die überzuckerte Natur in kräftiges Rosa.

»Das, mon cœur, ist meine Pfirsichplantage. Jeder einzelne Baum, den du siehst, macht uns einmal im Jahr ein großes Geschenk. Mit seinen saftigen Früchten sichert er uns ein Leben in Wohlstand. Es steckt eine Menge Arbeit dahinter, aber glaub mir, wenn ich sage, dass es sich lohnt. Keine Bange, wir haben viele Arbeiter mit flinken Händen.« Josette strich beruhigend über Paulines Rücken und kam ihr so nahe, dass ihre Schultern sich berührten. »Du bist nicht allein, du wirst in deine Aufgabe hineinwachsen, und solange ich kann, stehe ich an deiner Seit.«

»Seite«, verbesserte Pauline ihre Tante augenzwinkernd.

»Oui, oui, und Französisch lernst du auch ganz schnell.«

»Was passiert mit den vielen Pfirsichen?«

»Die werden verkauft. An Fabriken, um Säfte und Marmeladen herzustellen. Und du darfst den ganzen Winter eingeweckte Pfirsiche essen.« Josette legte den Kopf in den Nacken und lachte auf. Wieder musterte Pauline die zierliche Frau und wunderte sich über die unbändige Stärke, die sie ausstrahlte. Bei all der Freundlichkeit, die sie ihr bislang entgegengebracht hatte, war dennoch klar zu erkennen, dass es ihr bei gegebenem Anlass nicht an Strenge fehlen würde.

»Komm, fahren wir heim. Du bist bestimmt erschöpft von der langen Fahrt«, meinte Josette und tätschelte Pauline die Wange. Ja, Pauline war müde und wünschte sich mehr als alles andere, endlich heimzukehren. Aber nicht in dieses fremde Zuhause hier in Frankreich, sondern nach München. Dorthin, wo es nach Mutters selbst gebackenen Zimtplätzchen roch, wo aus dem Nebenzimmer Konstanzes Pianino ertönte und wo Lorenz mit dem Hund durch den Garten tobte. Hier würde nie ihr Zuhause sein, das konnte sie tief in ihrem Innern fühlen. Sie gehörte nicht in die Provence zu Lavendelfeldern und eingeweckten Pfirsichen. Mit hängendem Kopf folgte sie Josette in die Droschke und wickelte sich den Wollmantel eng um den Körper. Doch die schmerzhafte Kälte im Innern blieb.

Ein paar Jahre nur, dachte sie bei sich. Ein paar Jahre muss ich durchhalten. Wenn ich erst erwachsen bin, kann ich zurück nach Deutschland. In meine Heimat.

Pauline war es einerlei, dass Tränen über ihre Wangen liefen. Sollte Josette nur sehen, wie unglücklich sie war und wie unrecht sie gehandelt hatte, sie in dieses fremde Land zu entführen. Sie schloss die Augen, um den Anblick der endlos scheinenden Felder nicht länger ertragen zu müssen. Während das monotone Geklapper der Pferdehufe sie einlullte und ihre Erschöpfung verstärkte, wanderte sie in Gedanken zu dem Tag, an dem sie sich in einer Droschke durch die Straßen von München kutschieren ließe – den Kopf an Konstanzes Schulter gelehnt, zufrieden, glücklich, angekommen.

 

»Du musst aufstehen!« Mutters Stimme klang weit entfernt, wie durch dichten Nebel in Paulines Unterbewusstsein.

»Gleich, Mama, nur noch ein bisschen …« Für einen Augenblick glaubte Pauline, Mutters zarten Duft nach Lavendelseife zu riechen und ihre warme Hand an der Wange zu spüren.

»Es ist schon spät, komm!«

»Ich bin so müde«, raunte Pauline und zog sich die Decke über den Kopf.

»Non, non, jetzt. Sofort!«

Pauline hielt erschrocken den Atem an. Das war nicht Mutters Stimme. Ruckartig schlug sie die Decke zurück und blickte in Josettes ebenmäßiges Gesicht. Ihre Frisur saß perfekt, die Wangen waren leicht gepudert, und die Bluse saß wie maßgeschneidert an ihrem schmalen Oberkörper.

»Ich gebe dir zehn Minuten, dann erwarte ich dich beim Frühstück.« Josette klopfte auf die Matratze und wies mit dem Kinn zum Badezimmer. »Wir haben heute jede Menge vor, du und ich«, meinte sie und eilte mit hastigen Schritten über den cremefarbenen Steinboden.

Pauline ließ ihre Blicke durch den Raum wandern. Bei Tageslicht wirkte alles so viel anders als gestern, bei ihrer abendlichen Ankunft. Die weißen Vorhänge an den ungewöhnlich hohen Fenstern erhellten den Raum. Die leicht unebenen Wände waren in zartem Beige getüncht und bis auf einen in Gold gefassten Spiegel kahl. Auf einer Kommode aus Zedernholz stand eine mit getrocknetem Lavendel gefüllte violette Keramikvase. Die Einrichtung, der Geruch – alles machte einen sehr ländlichen und dennoch wertvollen Eindruck. Fröstelnd tappte sie über den kalten Steinboden zum Fenster und zog die dünnen, fast durchsichtigen Vorhänge beiseite. Unter ihr eröffnete sich ein Ausblick auf die breite Marmortreppe, die mit wenigen Stufen hinab zur Auffahrt führte. Der großzügig breite Weg war gesäumt von hochgewachsenen Pinien, der Morgenfrost glitzerte auf dem Gras, und die Blumenrabatten waren für den Winter zurechtgestutzt und mit Ästen bedeckt. Unmittelbar nach der Auffahrt erstreckten sich die endlosen Pfirsichgärten, die ihr Josette am Vortag voller Stolz gezeigt hatte.

»Pfirsiche«, flüsterte Pauline und wandte sich vom Fenster ab. Ein leises Klopfen an der Tür erregte ihre Aufmerksamkeit. Tante Josette konnte es nicht sein, die wäre vermutlich einfach ins Zimmer gestürmt und hätte mit ihrem kecken »vite vite« den Raum mit Leben erfüllt.

»Ja, bitte?«, hauchte Pauline und blieb wie angewurzelt stehen. Leise knarrend öffnete sich die Tür aus gebeiztem Eichenholz. Durch den Spalt lugte erst ein blond gelockter Schopf, dann ein Gesicht, das vor Fröhlichkeit strahlte.

»Puis-je entrer?«, fragte die junge Frau mit heller Stimme und zeigte mit dem Finger in Paulines Zimmer. Diese antwortete mit einem Nicken und sah zu, wie die Unbekannte sich emsig daranmachte, ihre Kissen aufzuschütteln und die Decke mit geübten Griffen glatt zu streichen.

»Puis-je?« Sie zog ihre fein gezupften Augenbrauen hoch und deutete auf das Gepäck, das man am Vorabend einfach neben dem Bett abgestellt hatte. Bevor die Fremde in ihren Kleidern und persönlichen Gegenständen zu wühlen beginnen würde, hatte Pauline das dringende Bedürfnis, sich vorzustellen. Sie ging einen Schritt auf die zierliche Frau zu und streckte ihr die Hand entgegen.

»Pauline«, meinte sie und zeigte mit dem Finger auf sich.

»Oui. Je m’appelle Éva.« Éva reichte ihr die Hand, die überraschend warm war. Pauline lächelte freundlich und versuchte zu verschleiern, dass sie aus dem französischen Geschnatter keinen Namen herausfiltern konnte. Trotzdem fühlte sie eine gewisse Verbundenheit mit der quirligen Frau, deren Alter schwer zu schätzen war. Mit einem Lied auf den Lippen öffnete Éva einen der abgewetzten Lederkoffer und begann, die Kleider sorgsam, aber flott in den Kleiderschrank zu räumen. Als Éva den Koffer geleert hatte, bedachte sie Pauline mit einem prüfenden Blick. Erst da wurde ihr bewusst, dass sie nach wie vor nur mit einem Nachtgewand bekleidet war und dass Josette sie schon längst zum Frühstück erwartete. Und als ob sie ihre Gedanken lesen könnte, reichte Éva ihr einen groben braunen Wollrock und die roséfarbene Bluse mit den kleinen goldenen Knöpfen. Pauline eilte hinter den dreiteiligen Paravent, der üppig mit Blumenmustern verziert war, und kleidete sich an. Anschließend half Éva ihr beim Hochstecken des Haars und plauderte dabei in einem fort. Pauline mochte die junge Frau, sie war so unkompliziert, und genau das brauchte sie jetzt mehr als alles andere.

»Danke«, sagte Pauline, nachdem sie ihre Frisur im Spiegel begutachtet hatte. »Verzeihung, ich meinte natürlich Merci.« Die beiden lächelten einander zu, dann machte Pauline sich auf den Weg zu Tante Josette. Vielleicht war doch nicht alles schlecht in diesem Land.

Kapitel 3

Buchenberg, Allgäu, im Januar 1932

Das ist ab jetzt deine Kammer«, brummte Onkel Gustav und präsentierte Lorenz einen fensterlosen, muffigen Raum.

»Aber … sie ist so klein«, entfuhr es Lorenz.

»Zu klein ist sie ihm, aha.« Gustav rieb über sein schlecht rasiertes Kinn.

»Und was ist mit Stella?«

»Der verlauste Kläffer?« Gustav runzelte die Stirn und sah auf den Jungen hinab, der von nun an seiner Gewalt und seinen Launen ausgeliefert war. »Der schläft da, wo er hingehört, nämlich draußen in der Hundehütte.«

»Aber es ist kalt, Stella wird frieren!« Lorenz dachte daran, dass Mutter seinen Tränen nie hatte widerstehen können und er Stella letztendlich immer mit auf sein Zimmer hatte nehmen dürfen, also hoffte er inständig, dass Onkel Gustav ebenso nachgiebig reagieren würde.

»Meinetwegen wachsen deinem Köter Eiszapfen aus den Nasenlöchern.« Im fahlen Kerzenschein wirkte Onkel Gustav noch älter als am Vormittag bei Mutters Begräbnis. Tiefe Furchen zeichneten seine Wangen, wie Kerben in einem Stück Holz.

»Aber …«, wimmerte Lorenz, doch da hatte Gustav bereits die Tür hinter sich zugeschlagen. »Aber …«, wiederholte Lorenz und blickte sich verängstigt in der stickigen Kammer um. Das Bett war klein, die Strohmatratze durchgelegen, dem Nachtkästchen fehlte die Schublade, und die Wände waren teils mit Schimmel überzogen. All das hätte er hingenommen, wenn er nur Stella an seiner Seite gewusst hätte. Er konnte sich an keine Nacht erinnern, in der er von ihr getrennt gewesen war. Mit hängenden Schultern setzte er sich auf die Bettstatt und wickelte sich in die Daunendecke ein. Er würde warten, bis Onkel Gustav und dessen Frau Gertrude schliefen, dann würde er hinausgehen und Stella aus ihrer Hundehütte befreien. Das war sein Plan, und den galt es durchzuführen, wenn er nicht auch noch den letzten Rest seines früheren Lebens verlieren wollte.

Fröstelnd verharrte er eine endlos scheinende Zeit und lauschte in das alte Bauernhaus hinein. Von unten aus der Stube drangen gedämpft die Stimmen von Gustav und seiner Frau zu ihm hoch. Lorenz schloss die Augen und betete, dass es Stella gut ging und sie sich nicht von ihm verraten fühlte, draußen in der Kälte.

»Gleich bin ich bei dir, Stella«, flüsterte er und hielt den Blick auf die schrumpfende Kerze auf dem Nachttisch gerichtet. Nicht mehr lange, dann säße er hier in völliger Dunkelheit, und Lorenz wusste, was das bedeutete. Dann würde er sie hören, die Stimmen, die Schritte, das Atmen, und er würde sich zu Tode fürchten, die ganze Nacht. So klein die Kammer ihm vorher erschienen war, so groß und bedrohlich wirkte sie nun im letzten Flackern des Kerzenscheins.

»Bitte nicht!«, formten seine Lippen tonlos, und noch bevor der Schrecken sich in ihm ausbreiten konnte, war die Flamme erloschen. Lorenz atmete tief ein, so wie seine Mutter es ihm gezeigt hatte.

»Schließ die Augen und stell dir vor, du stehst mitten auf einer sonnenbeschienenen Blumenwiese«, hatte sie gesagt. »Fühl die warmen Sonnenstrahlen auf deinem Gesicht, hol Luft und atme langsam wieder aus.« Für einen Moment glaubte er, ihre tröstende Hand auf seinem Rücken spüren zu können. »Die Stimmen sind nicht wirklich da, du bist in Sicherheit, denk daran.«

Ich versuche es ja, aber es geht nicht, Mama, ich kann die Sonnenstrahlen nicht fühlen. Sein gesamter Körper begann zu zittern, erst leicht, dann immer stärker, bis schließlich der ganze Raum mit ihm zu beben schien.

»Stella«, rief er mit zugekniffenen Augen und kämpfte sich trotz seiner Panik vom Bett hoch, tastete sich Schritt für Schritt vorwärts, bis er die Tür erreicht hatte. Ihm war egal, ob Onkel Gustav ihn hörte, er drückte die rostige Klinke nach unten und öffnete die knarrende Tür. Auf Zehenspitzen tappte er aus seiner Kammer, leise, unentdeckt. Das Haus lag in völliger Dunkelheit, und Lorenz hatte schwer gegen seine Angst zu kämpfen – und gegen seine Orientierungslosigkeit. Vorsichtig stieg er die steile Holztreppe hinab und hielt bei jedem Schritt angespannt die Luft an. Erst als er an der Haustür stand, wagte er es, erleichtert auszuatmen. Gleich wäre er bei Stella, und dann würde alles gut werden.

Die Kälte draußen war erbarmungslos und bei Weitem unerträglicher als in München, wo die eng aneinanderstehenden Villen den Wind davon abhielten, sich in Gesicht und Kleidung festzukrallen. Lorenz schlang seine marineblaue Strickjacke eng um den Oberkörper und stapfte tapfer durch den mondbeschienenen Innenhof. Er war erst vor ein paar Stunden hier angekommen und hatte sich weiß Gott noch nicht viel umsehen können, aber den Standort der Hundehütte fände er selbst mit verbundenen Augen wieder.

»Stella, mein Mädchen, ich komm ja schon!«, flüsterte Lorenz besänftigend, als er das verzweifelte Winseln seiner Hündin vernahm. »Ich bin schon da. Komm her, lass dir die Kette abnehmen.« Stella kam aus ihrer Hütte gekrochen, zitternd, winselnd, und doch erkennbar glücklich darüber, Lorenz zu sehen. »Ich nehm dich mit auf meine Kammer, aber wir müssen leise sein, hörst du?« Er hob seine Hündin hoch, während er ihr seinen Plan erklärte. »Wenn Onkel Gustav uns erwischt, dann …« Er beendete den Satz nicht und wollte auch nicht wissen, was ihm in so einem Fall drohte. Er öffnete seine Weste und drückte den Hund an seinen Oberkörper. Das Fell war feucht und kalt, aber daran störte Lorenz sich nicht, ihm war nur wichtig, dass er Stella wieder bei sich hatte.

Zurück auf dem Zimmer, kuschelte er sich mit ihr ins Bett und hatte trotz der unbequemen Matratze für einen kurzen Augenblick ein Gefühl von daheim. Und während er Stellas Bauch kraulte und an das Schlaflied seiner Mutter dachte, fiel er in einen erschöpften Schlaf.

 

»Du dummer Bub, was hast du dir nur dabei gedacht?« Es war Gertrudes Stimme, die Lorenz am nächsten Morgen aus den Träumen riss. Er schlug die Augen auf und blickte direkt in das viel zu kleine Gesicht seiner Tante. In der Kammer war es düster, dennoch erkannte Lorenz ihren finsteren Blick – und ihre Angst.

»Der Bauer hat gesagt, dass der Hund seinen Platz draußen hat, und daran hast du dich zu halten.« Die abschätzige Art, wie Gertrude der Bauer gesagt hatte, ließ Lorenz aufhorchen. »Aber Stella ist so klein, sie wäre in der Hundehütte erfroren«, versuchte er seine Tat zu rechtfertigen. Noch ehe er ein weiteres Wort der Erklärung über seine Lippen brachte, ließ eine kräftige Ohrfeige ihn zurück auf sein Kissen fallen. In seinem Kopf dröhnte es, und seine linke Wange brannte wie Feuer.

»Schscht! Ich will keine Ausreden hören, dummer Bub. Bring den Hund sofort raus, und dann komm zum Frühstück. Beeil dich, der Bauer kommt jeden Moment.«

Ohne ein weiteres Wort der Widerrede nickte Lorenz, hob Stella auf und hastete nach draußen.

Bei der Hundehütte angekommen, kniete er sich nieder, setzte Stella vorsichtig auf den hart gefrorenen Boden und legte ihr die schwere Kette an. Während er das kalte rostüberzogene Eisen in der Hand hielt, fragte er sich, wie viele Hunde wohl schon ihr Leben traurig und einsam in der zugigen Hütte zugebracht hatten.

»Es tut mir leid«, flüsterte er Stella zu, als sie winselnd zurück auf seine Oberschenkel kriechen wollte. »Nein, Stella, das geht nicht, du musst hierbleiben, sonst gibt es Ärger mit dem Bauern. Schau«, sagte er und zog die Strickweste aus, die ihm Mutter letzten Herbst in unzähligen abendlichen Arbeitsstunden am Kamin angefertigt hatte. »Die wird dich wärmen.« Sorgfältig breitete er die Weste in der Hundehütte aus. »Aber jetzt muss ich gehen.« Lorenz seufzte schwer, als er aufstand. »Ich komme bald wieder und kümmere mich um dich.« Dann marschierte er eilends zurück zum Bauernhaus und griff sich dabei an die schmerzende Wange.

 

»So, jetzt erzähl doch mal, was dir meine verwöhnte Schwester alles beigebracht hat.« Gustav schlürfte einen Löffel seiner Milchsuppe. »Hat sie dir erzählt, dass sie mich und die Eltern hinterhältig im Stich gelassen hat? Dass sie bei Nacht und Nebel den Hof verlassen und sich nie wieder bei uns gemeldet hat?«

Lorenz dachte an die schmerzhafte Ohrfeige von Gertrude und konnte die Entscheidung seiner Mutter, diesen Verhältnissen entfliehen zu wollen, durchaus nachvollziehen.

»Sie war sich zu gut für die Arbeit im Stall.« Gustav wischte sich mit dem Ärmel seines braun karierten Hemds den Mund sauber und legte den Löffel beiseite. »Aber dir werd ich schon beibringen, was es heißt, mit beiden Händen zuzulangen. Wenn du den Hof eines Tages übernehmen willst, dann ist es an der Zeit, dir Beine zu machen.«

»Aber ich …«

»Schscht! Der Bauer hat dich nichts gefragt, also halt dein Maul«, fauchte Gertrude und griff nach Lorenz’ Hand, um sie mit aller Kraft zu drücken. »Hast du verstanden?«, fragte sie mit Nachdruck. Lorenz schluckte fest und nickte. Ja, er hatte verstanden, dass es im Moment sinnlos war, seine Bedenken und Wünsche zu äußern. Ja, er hatte verstanden, dass sein Leben sich für immer verändert hatte. Und ja, er war vielleicht erst neun Jahre, dennoch hatte er verstanden, dass seine glücklichsten Tage bereits hinter ihm lagen.

»Und jetzt schau, dass du deine Suppe isst, dann gehen wir in den Stall.«

»Aber ich habe noch gar nicht meine Zähne geputzt.« Lorenz hielt den Atem an und blickte über den Tisch zu seinem Onkel.

»Hä?«, meinte dieser und legte die Stirn in Falten.

»Mama hat immer gesagt, dass man seine Zähne gut pflegen muss.«

Gustav schüttelte beinahe angewidert den Kopf und wandte sich an seine Frau. »Der ist doch nicht ganz dicht, oder?« Wieder an Lorenz gerichtet, meinte er: »Das Beste wird sein, du vergisst alles, was deine Mutter dir eingebläut hat. Ab sofort gelten andere Regeln.«

»Aber …«

»Einmal noch!« Gustavs Stimme klang wie das wütende Brüllen eines Bären und ließ die düstere Stube erbeben. »Einmal noch, wenn ich dieses dämliche Aber hör, dann setzt es ein paar kräftige Ohrfeigen.«

Lorenz griff sich an die Wange, auf der er nach wie vor Gertrudes Hand zu fühlen glaubte, und nickte. Um den Bauern nicht mit seinen Tränen zu verärgern, senkte er den Kopf und rührte in seiner Suppenschüssel.

»… will sich die Zähne putzen, dieser saudumme Kerl.« Mit diesen Worten schob Gustav seinen Stuhl polternd zurück und verließ den Esstisch. Lorenz blieb zurück und wagte es nicht, zu Gertrude hinüberzusehen, die zaghaft ihre bereits erkaltete Milchsuppe schlürfte. Sein Körper und sein Denken waren wie gelähmt. Gestern erst hatte man seine Mutter beerdigt, und er hatte seine Heimat verlassen. Und nun sollte er sich damit abfinden, dass sein Platz bei Menschen war, die ihn nicht liebten – schlimmer noch: die ihn zu hassen schienen. Weder wusste er, wie er sich zu verhalten hatte, noch, wen er danach fragen durfte. Und die Einzige, die ihm in diesen trostlosen Tagen Sicherheit hätte geben können, lag angekettet in der Hundehütte. Onkel Gustav hatte wohl recht: Hier draußen war es völlig egal, ob die Zähne glänzten oder verfaulten, hier spielte nichts eine Rolle – und das machte Lorenz am meisten Angst.

Kapitel 4

München, im März 1932

Und? Ist heute Post für mich gekommen?« Konstanze kam in Gundes Salon geeilt, die Wangen vom stürmischen Frühlingswetter gerötet, die Frisur zerzaust, und noch nicht einmal ihren handbestickten Crêpemantel hatte sie abgelegt. Gunde saß an ihrem antiken Schreibtisch, dessen Messingbeschläge ebenso opulent waren wie die Schnörkel an sämtlichen Türklinken, Wasserhähnen und Spiegeln. Gunde hatte eine unübersehbare Vorliebe für Verzierungen und Kringel jeder Art.

»Konstanze, ich muss doch sehr bitten.« Gunde musterte ihre Nichte und erschrak angesichts des durchnässten Schuhwerks und der zerrissenen Strumpfhose. »Du solltest dich erst umziehen, bevor du …«

»Ach, Tante Gunde, spann mich bitte nicht auf die Folter! Ist ein Brief von Paulchen gekommen?«

Gunde brauchte nicht zu antworten, ihr mitleidiger Blick reichte Konstanze vollkommen, um zu wissen, dass sie umsonst im Laufschritt von der Schule nach Hause geeilt war. Mit hängenden Schultern ließ sie ihre Schultasche aus schwarzem Hirschleder zu Boden fallen und trottete zum damastbezogenen Fauteuil, um sich wenig damenhaft darauf niederzulassen.

»Konstanze, nein, so geht das nicht! Kommst mit den schmutzigen Schuhen in den Salon, wirfst mit der Tasche um dich und setzt dich mit dem feuchten Mantel auf mein teures Mobiliar. Was ist nur los mit dir?« Gunde legte ihre Lesebrille auf den abgearbeiteten Briefstapel und wandte sich ihrer Nichte zu. »Ich weiß, dass du es nicht leicht hattest in den letzten Wochen, aber langsam solltest du dich wieder auf die Schule konzentrieren. Und auf dein Klavierspiel – Fräulein von Burgstetten meinte, dass sie sehr enttäuscht von dir ist und dich nicht länger unterrichten wird, wenn deine Leistungen weiterhin derart zu wünschen übrig lassen.«

»Fräulein von Burgstetten.« Konstanze rümpfte angewidert die Nase. »Was weiß die schon vom Leben.«

»Ich bezahle sie nicht, weil sie etwas vom Leben weiß, sondern weil sie deine Fingerfertigkeit am Klavier vorantreiben soll.«

»Und was, wenn meine Finger gar nicht dazu bestimmt sind, über langweilige Tasten zu klimpern?«

»Was meinst du damit?« Gunde legte die Hände in den Schoß und die Stirn in Falten.

»Ich mag das Klavierspiel nicht, mochte es noch nie, ich habe mich nur Mamas Wunsch untergeordnet. Sie hat mich unterrichtet, das war die Zeit, die nur uns beiden gehörte, verstehst du?«

»Ja und nein. Worauf willst du hinaus?«

»Lorenz, ja, der hätte alles für Musikunterricht gegeben, aber ich …« Konstanze drehte eine Haarsträhne um den Zeigefinger. »Mama hatte für jeden von uns ihren Plan. Für mich war es die Musik, für Pauline die Poesie und Lorenz, der sollte in jeder freien Stunde über irgendwelchen Büchern büffeln.«

Gunde horchte auf. »Das klingt nach großer Unzufriedenheit.«

»Nein, wir haben Mutters Pläne für uns respektiert und unser Bestes gegeben. Doch nun …«

Gundes Gesichtszüge wurden weich. »Wonach strebt dein Herz? Zu einem anderen Instrument? Oder auch zur Poesie? Du musst wissen, dass ich dir alles ermöglichen möchte. Zweifelsohne bist du eine talentierte Pianistin, dennoch wäre jeder Ton vergeudet, wenn er nicht mit Leidenschaft gespielt wird. Wie also sehen deine Wünsche aus?«

»Du hättest nichts dagegen, wenn ich den Klavierunterricht vorerst zurückstelle? Obwohl Mama …«

»Deine Mutter hat ihr ganzes Leben lang irgendwelche Pläne verfolgt, aber glücklich gemacht hat sie das nicht, oder?« Gunde versuchte zu übersehen, dass Konstanze auf ihrer gezwirbelten Haarsträhne herumkaute.

»Malerei, das ist es, wofür mein Herz brennt.« Konstanze traute sich kaum aufzuschauen, aber sie spürte die Erleichterung, die sie nach diesem ausgesprochenen Satz ergriff, und fuhr mutig fort: »Ich will Künstlerin werden. Aquarelle, Landschaften – mein größter Traum ist es, mit Pinsel und Farben zaubern zu können.«

Gunde wandte sich von Konstanze ab, setzte sich wieder ihre Lesebrille auf die Nase und griff nach dem nächsten ungeöffneten Brief. »Tja, dann sollten wir nach einem passenden Kurs für dich Ausschau halten, oder?« Gunde blickte über die Schulter und lächelte ihrer Nichte zu. »Aber erst sieh zu, dass du aus den feuchten Kleidern kommst und die Schultasche aus meinem Salon bringst – die müffelt wie ein nasser Hund.«

Unweigerlich dachte Konstanze an Lorenz und seine Stella. Wie es ihnen wohl erging? Als Nesthäkchen der Familie war ihr kleiner Bruder Mamas Liebling gewesen. Jeden Wunsch hatte sie ihm erfüllt, ihn ständig an sich gedrückt und ihm das seidenweiche blonde Haar gestreichelt. Er war dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, vielleicht hatte die Mutter deshalb so oft das Bedürfnis gehabt, ihn zu umarmen und zu liebkosen. Ohne es zu wollen, verspürte Konstanze eine gewisse Erleichterung, dass sie die Eifersucht auf ihren kleinen Bruder nicht länger ertragen musste und sein lautes Gezeter nun andere Nerven strapazierte.

 

Tatsächlich ermöglichte Gunde ihrer Nichte bereits wenige Wochen später privaten Unterricht bei einem angesehenen Kunstprofessor. Geld spielte für Gunde keine Rolle. Die Knopffabrik, die ihr Gatte Ludwig bereits in dritter Generation betrieb, warf ein größeres Vermögen ab, als sie je hätten ausgeben können. Um das Familienerbe zu sichern, arbeitete sich inzwischen sogar Charlotte mit großer Wissbegierde durch Akten, Maschinenbaupläne und Modezeitschriften. Die bereits erwachsene Tochter war Gundes ganzer Stolz und würde in wenigen Jahren die Leitung der Fabrik übernehmen. Gunde hingegen widmete sich mit Inbrunst dem Gesellschaftsleben und dem Kauf von unnötigen Kleidungs- und Dekorationsstücken.

»Die Fabrik war nichts für mich«, hatte Gunde ihrer Nichte bei einem gemütlichen Spaziergang durch den villeneigenen Park erzählt. »Mein Mann kümmert sich seit jeher um alles, ich brauchte nur hübsch zu sein und Charlotte zu umsorgen, als sie noch klein war – und wenn wir ehrlich sind, musste ich nicht einmal das.« Gunde lachte herzhaft und blickte zufrieden zu den Wipfeln des alten Baumbestandes hoch. »Glaube bitte nicht, dass ich faul bin oder die Arbeit scheue. Nun ja, ich weiß mein fleißiges Personal durchaus zu schätzen.« Gunde zog ihre cremefarbene Stola enger um die schmalen Schultern und seufzte tief. »Ich bin sehr dankbar für alles, was das Leben mir geschenkt hat – damit meine ich auch dich, meine Liebe.« Gunde ging so eng neben Konstanze, dass sich ihre Oberarme berührten. »Deine Anwesenheit hier erfüllt mich mit unsagbarer Freude. Und ich habe das Gefühl, dass du dich bereits ein wenig eingelebt hast, oder?«

Konstanze senkte den Blick und beobachtete ihre Schuhspitzen, die sie sich bei jedem Schritt aufs Neue in den feinen Kies gruben. Sie mochte das Geräusch unter ihren Sohlen, es passte so gut zur Dämmerung, die außer dem emsigen Treiben der Vögel zum Schweigen neigte. Vielleicht konnte sie es sich nur schwer eingestehen, aber sie fühlte sich hier tatsächlich wohl. Sie mochte die großzügige Stadtvilla, den Park und die Möglichkeiten, die Gunde ihr bot. Wäre da nicht der schmerzliche Verlust ihrer Mutter und ihrer Geschwister, sie hätte kaum zufriedener sein können.

»Alles wäre wunderbar, wenn ich nur wüsste, wie es Paulchen geht. Seit beinahe zwei Wochen habe ich keinen Brief mehr von ihr erhalten, obwohl wir uns versprochen hatten, uns regelmäßig zu schreiben.«

»Sieh es als Zeichen, dass ihr Leben sich entspannt. Sie ist sechzehn, nicht wahr? Wer weiß, womöglich hat ihr bereits ein junger Franzose den Kopf verdreht.«

»Das glaube ich nicht. In jedem ihrer Briefe hat sie berichtet, wie einsam sie sich fühlt und wie sehr Tante Josette sie zur Arbeit auf der Plantage drängt.«

»Ich bin mir sicher, sie macht ihren Weg.«

»Du kennst sie nicht, sie ist so zerbrechlich, so hilflos, bescheiden und schüchtern.« Konstanzes Schritte wurden langsamer.

»Zerbrechlich – wie ihre Mutter«, murmelte Gunde. »In wenigen Monaten besuchst du sie, dann weißt du mehr. Aber vorher verlange ich einen ordentlichen Schulabschluss von dir, hörst du?«

Konstanze nickte. Sie konnte es kaum erwarten, ihre erste Reise in die Provence anzutreten. Zwar hatte Pauline ihr in einigen Briefen die Landschaft zu schildern versucht, dennoch wollte Konstanze den entmutigenden Worten ihrer Schwester keinen Glauben schenken und konnte sich nicht vorstellen, dass die endlosen Pfirsichfelder einen Ausbund an Trostlosigkeit darstellten. Am liebsten hätte sie auf der Stelle die Koffer gepackt und sich in das Abenteuer gestürzt, aber Gunde hatte recht, es gab noch eine Menge zu lernen und einige Arbeiten zu schreiben, bevor sie dem Ruf der Provence folgen durfte.

»Und Lorenz?«, fragte Gunde.

»Was ist mit ihm?«

»Immerzu sprichst du von Pauline. Was ist mit Lorenz? Möchtest du ihn nicht auch besuchen?« Gunde zog die Augenbrauen hoch, was ihrem Gesicht eine ungewohnte Strenge verlieh.

»Lorenz besuchen?«, meinte Konstanze und fuhr sich durchs Haar. »Natürlich werde ich ihn besuchen.« Sie strich den Stoff ihres Rockes glatt. »Wenn sich hier alles gerichtet hat.«

Gunde blieb stehen und wandte sich Konstanze zu. »Mach nicht den gleichen Fehler wie ich. Geschwister sollten sich umeinander kümmern, denn eines Tages könnte es zu spät sein. Für manche Dinge gibt es keine zweite Chance.« Gunde kam Konstanze so nahe, dass der Duft von Jasmin sie einhüllte. »Dass deine Mutter und ich uns im Streit getrennt haben, werde ich mein Leben lang bereuen.«

Konstanze nickte und fuhr mit ihren Blicken die silbernen Strähnen in Gundes Frisur nach.

»Du bist ein gutes Kind, und du wirst wissen, was du zu tun hast.« Mit diesen Worten schlenderte Gunde zurück zum Haus. Konstanze verweilte noch einige Augenblicke im Park und sah zu, wie die Silhouette ihrer Tante kleiner und das Knirschen unter ihren Schuhsohlen immer leiser wurde. Vielleicht hatte Gunde recht und sie sollte auch ins Allgäu fahren, um nach Lorenz zu sehen. Die Zugfahrt nach Kempten nähme kaum drei Stunden in Anspruch, aber dann galt es noch, den beschwerlichen Weg zu diesem verlassenen Bergbauernhof auf sich zu nehmen. Den Rückweg würde sie nicht am selben Tag schaffen, was hieß, dass sie bei Onkel Gustav übernachten müsste, umgeben vom Gestank der Kühe und mit einem jammernden kleinen Bruder, der ihre mühsame Anreise nicht zu schätzen wüsste. Konstanze atmete tief durch und nahm sich vor, Lorenz möglichst bald einen Brief zu schreiben. Vielleicht sollte sie ihn zu sich nach München einladen? Aber würde er nach dem Besuch in der alten Heimat nicht voller Kummer zurück ins Allgäu reisen? Mit einem weiteren Seufzer machte sich Konstanze auf den Weg in die Villa. Die Dämmerung war fortgeschritten, und die Vögel waren verstummt. Also wäre es nur rechtens, wenn auch sie sich nicht länger den Kopf zerbrechen, sondern sich ihrer abendlichen Malstunde widmen würde.

Sie liebte es, mit Pinsel und Farben ein leeres Blatt Papier zum Leben zu erwecken und ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Ihr Kunstprofessor Herbert von Kohlhagen lobte sie für ihr Feingefühl und ihre beachtliche Kreativität. Dabei entging Konstanze nicht, dass Professor von Kohlhagen neben ihrer Pinselführung auch ihren Ausschnitt im Auge behielt. Gewiss trennten sie einige Jahre, trotzdem fühlte Konstanze sich geschmeichelt von seinem offenkundigen Interesse. Sie zählte zwar noch keine achtzehn Jahre, dennoch wusste sie um ihre Reize und setzte sie bei Bedarf gekonnt ein.

Ob Tante Gunde wohl recht hatte, wenn sie sagte, dass Paulines ausbleibende Briefe der Liebschaft mit einem Mann zuzuschreiben waren?

Sie würde es bald erfahren, dachte sie und blickte hoch zum Himmel, wo der Abendstern bereits die Nacht erwartete.

Kapitel 5

Jouques, Provence, im März 1932

Ist es nicht herrlich? Ja, es ist herrlich! Die schönste Zeit im ganzen Jahr!« Josette tanzte förmlich zwischen den aufblühenden Pfirsichbäumen herum, hüpfte und blieb nur stehen, um den Duft einer üppigen Blüte zu inhalieren. »Diesen März blühen sie besonders prächtig.«

Seit jeher war Rosarot Paulines Lieblingsfarbe gewesen, dennoch konnte sie dem Blütenmeer hier nichts abgewinnen. Zudem kannte sie Josette inzwischen gut genug, um zu wissen, dass ihre Laune großen Schwankungen ausgesetzt war. In einem Moment kicherte sie noch wie ein junges Mädchen, und im nächsten mimte sie die gestrenge Lehrerin und verbot jeden weiteren Spaß. Überhaupt schien ihre Liebe allein den Pfirsichen zu gelten, für Pauline hatte sie nur dann nette Worte übrig, wenn sie ihre Arbeit auf der Plantage ordnungsgemäß erledigt hatte.

»Darf ich dich etwas fragen?«

»Aber natürlich, mon cœur, immer und alles. Und wenn du mich in so schönem Französisch fragst, dann sowieso.« Josette zeigte bei ihrem strahlenden Lächeln die ebenmäßigen weißen Zähne.

»Warum …« Pauline stockte. Sie wusste nur zu gut, dass die folgenden Worte den Zorn ihrer Tante reizen konnten. Dennoch musste sie diese Frage stellen, die ihr seit dem Tag der Abreise aus München auf der Zunge brannte. »Warum war es dir so wichtig, dass ich zu dir nach Frankreich komme? Warum hast du mich nicht bei meiner Schwester und Tante Gunde gelassen?«

»Das waren jetzt aber zwei, nicht wahr?«

»Josette, bitte.« Pauline legte Tempo zu, um ihre Tante einzuholen. Dabei zwangen sie einige tief hängende Äste, sich zu bücken.

»Du stellst manchmal unmögliche Fragen.« Josette schüttelte verärgert den Kopf und suchte Ablenkung bei einem geknickten Zweig, den sie abzubrechen versuchte.

»Warum willst du mir nicht antworten? Habe ich nicht ein Recht darauf, zu erfahren, warum ich mein Leben fern der Heimat zubringen muss?«

»Muss? Du solltest dich glücklich schätzen, hier in dieser wunderbaren Landschaft sein und die Erbin meiner prächtigen Plantage werden zu dürfen.«

»Warum ich? Du hast doch sicher Verwandte in Frankreich.«

»Niemanden, dem ich dieses wunderschöne Fleckchen Erde gönnen würde.« Josette hob ihr Kinn und warf den abgebrochenen Zweig in die Wiese.

»Woher willst du wissen, dass ich es verdiene?«

Unvermittelt blieb Josette stehen und straffte ihre Schultern.

»Deine Mutter und ich waren Cousinen. Bei der alljährlichen Deutschlandreise meiner Familie haben wir uns stets gesehen und sehr gemocht. Vater sprach nur in den höchsten Tönen von seinen deutschen Wurzeln und wurde an manchen Tagen von der Sehnsucht nach München und seiner Familie heimgesucht. Als ich vom tragischen Schicksal deiner Mutter erfahren habe, fand ich, ich sei es ihr schuldig, mich eines ihrer Kinder anzunehmen, findest du nicht?«

»Warum ich? Warum nicht Konstanze oder Lorenz?«, fragte Pauline und runzelte die Stirn.

»Das war weiß Gott nicht meine Entscheidung.« Die Art, wie Josette das sagte, ließ Pauline vermuten, dass ihre Tante mit der Wahl, die man für sie getroffen hatte, nicht glücklich war.

Paulines Schultern wurden schwer. Nach Mutters Tod war alles so schnell gegangen. Niemand hatte sie und ihre Geschwister in die Entscheidung eingebunden. Man hatte sie einfach hin- und hergeschoben wie Schachfiguren.

»Die Sache ist doch die, dass ich einen Erben brauche und du ein Zuhause.«

»Der Gedanke, dass ich die Plantage eines Tages allein leiten soll, macht mir Angst.«

»Allein? Nein, das könntest du nicht, und davon war auch nie die Rede, oder? Ich werde bald sechzig, und auch wenn ich mich noch bester Gesundheit erfreue …« Josette blickte Pauline geradewegs in die Augen, »… braucht dieser Hof ein starkes Regiment und frisches Blut, und du wirst selbstverständlich heiraten und gemeinsam mit deinem Mann die Plantage vorantreiben.«

»Heiraten?« Pauline wich einen Schritt zurück.

»Meine Güte, mon cœur, natürlich wirst du heiraten – und ich weiß auch schon, wen.«

Paulines Augen weiteten sich mit jedem Wort, das ihre Tante von sich gab. Sie verstand inzwischen überraschend gut Französisch, im Moment war ihr jedoch, als spräche Josette in Rätseln.

»Ich bin noch keine siebzehn!«