Die Politik der Demütigung - Ute Frevert - E-Book

Die Politik der Demütigung E-Book

Ute Frevert

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Beschreibung

In einem brillanten Gang durch 250 Jahre Geschichte schildert die bekannte Historikerin Ute Frevert, welche Rolle die öffentliche Beschämung in der modernen Gesellschaft spielt. In den unterschiedlichsten Bereichen werden die Demütigung und das damit einhergehende Gefühl der Scham zum Mittel der Macht – ob in der Erziehung von Kindern, im Strafrecht oder in Diplomatie und Politik. So wurden nach 1944 in Frankreich Frauen, die sich mit deutschen Besatzern eingelassen hatten, die Haare geschoren. Richter in den USA bestrafen Bürger neuerdings damit, dass diese an belebten Straßen auf einem Schild ihr Vergehen kundtun müssen. Nicht zuletzt der Medienpranger – wie im Fall von Jan Böhmermanns Schmähgedicht auf den türkischen Präsidenten Erdogan – und das Internet haben die öffentliche Beschämung allgegenwärtig gemacht. Ute Frevert zeigt nicht nur an zahlreichen Beispielen aus der Geschichte, wie Demütigungen in Szene gesetzt wurden und werden (wobei sich die Bilder über Epochen und Kulturen hinweg erstaunlich gleichen). Sie macht auch klar, dass die Moderne den Pranger keineswegs abgeschafft, sondern im Gegenteil neu erfunden hat. Nicht mehr der Staat beschämt und demütigt, sondern die Gesellschaft.

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Seitenzahl: 536

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Prof. Dr. Ute Frevert

Die Politik der Demütigung

Schauplätze von Macht und Ohnmacht

FISCHER E-Books

Inhalt

Worum es gehtDie Macht der SchamGeschichte und ihre DeutungenDemütigung als PolitikDemütigung in der PolitikSemantische UnterscheidungenPersonen, Räume, ZeitenVom Wandel der GefühleI Pranger, Prügel, Publizität: Logik und Kritik staatlicher StrafenSchand- und Ehrenstrafen in der frühen NeuzeitDer Pranger am EndeMenschenwürde als ArgumentKörperliche Züchtigung und der Charakter der NationDie soziale Pyramide: Schande, wem Schande gebührtDas Geschlecht von Scham und EhreDie Ehre der StaatsbürgerPublizität: Der Stachel der SchamDas Gericht der GesellschaftDer »symbolische Pranger« im NationalsozialismusAndere Länder, gleiche SittenScham und Beschämung im deutsch-deutschen NachkriegZivilität versus BarbareiII Soziale Schauplätze öffentlicher Beschämung: Von der Schule bis zum Online-PrangerMartin, ab in die Ecke und schäm Dich!Schulen als Laboratorien der BeschämungHaben Kinder Ehre?Der Rat der ExpertenDie pädagogische WendeSchulzucht nach 1945: Prügel, Kollektivschelte, MenschenwürdeDie Peergruppe an der MachtIntegration durch Demütigung: Militärische ErziehungspraktikenMännliche Initiation: Erniedrigung und ErmächtigungDie Würde der Frauen: Vergewaltigung und SexismusDer ZeitungsprangerPressefreiheit contra EhrenschutzDie verlorene Ehre des Bürgers und der BürgerinEntwürdigung im Konsens: TV-FormateBeschämung onlineIII Das Parkett der Ehre und die Sprache der Demütigung in der internationalen PolitikLord Macartney und der Kaiser von ChinaSouveränität, Parität und die Institution des ZeremoniellsPolyvalente Gesten: Der HandkussVon kniegebogenen Reverenzen zur VerbeugungBriten in Indien: Koloniale humiliation und die Etikette der nativesEuropäer in China: Der Kampf gegen den KotauSatisfaktion und AbbitteDie Berliner Kotau-Affäre von 1901: Wer demütigt wen?Ehre und Schmach, Krieg und Frieden in EuropaNachkriegs-SchritteDie Politik der Entschuldigung und Willy Brandts KniefallMoralpolitik im Age of ApologyVerbindungenKein EndeGeschichte im Zeitraffer: Emmendingen, Dresden, HamburgVolksjustiz und die Macht der GemeinschaftBeschämungsopfer: Schamlose Frauen, mutlose MännerKampagnen, Sensibilitäten, ResistenzenLiberalisierungBulliesGesten der Unterwerfung oder Zeichen des Respekts?Macht und WürdeAnmerkungenLiteraturAbbildungsverzeichnisRegisterOrtsregisterPersonenregister

Worum es geht

Sidi Bouzid, im Dezember 2010. Vor dem Haus des Gouverneurs in der tunesischen Provinzstadt übergießt sich der sechsundzwanzigjährige Gemüsehändler Mohamed Bouazizi mit Benzin und zündet sich an. Kurz zuvor hat eine Polizistin zum wiederholten Mal seine Ware beschlagnahmt und ihn dabei auch noch geohrfeigt. Mit seiner öffentlichen Selbstverbrennung, heißt es später, habe Bouazizi seinen Willen bekundet, »Entwürdigung und Demütigungen nicht länger hinzunehmen«. Was er nicht ahnen konnte: Sein verzweifeltes Aufbegehren löst einen Flächenbrand aus, eine »Revolte der Würde«, die als Arabellion oder arabischer Frühling in die Geschichtsbücher eingeht.[1] An vielen Orten Nordafrikas und des Nahen Ostens machen Demonstranten gegen autoritäre Regime mobil, besetzen zentrale Plätze und trotzen Polizeiaufgeboten. Auf Plakaten, Graffiti und in Facebook-Einträgen taucht immer wieder das Wort ›Würde‹ auf. Nach ihren Beweggründen und Zielen gefragt, geben Frauen und Männer zu Protokoll, dass sie sich von ihren Regierungen gedemütigt fühlen – woraus der New York Times-Kolumnist Thomas Friedman den Schluss zieht, Demütigung sei diejenige politische Kraft, die am meisten unterschätzt werde.[2]

Nicht so sehr um Demütigung als um Beschämung geht es im November 2012 in Cleveland, Ohio. Dort steht Shena Hardin an einer belebten Kreuzung, vor sich ein Schild mit der Aufschrift: »Nur eine Idiotin fährt auf dem Bürgersteig, um einen Schulbus zu überholen.« Genau das hat Hardin mehrfach getan, wofür eine Richterin sie zu einer Geldstrafe und zum zeitweiligen Entzug des Führerscheins verurteilt. Damit nicht genug, verhängt sie das, was Amerikaner shame sanction nennen: eine Ehrenstrafe, die Hardin öffentlich als Idiotin brandmarkt. Solche Sanktionen sollen strafen und disziplinieren, aber auch erziehen und bessern. Ob diese Botschaft bei Hardin ankommt, ist zweifelhaft. Am ersten Tag gibt sie mehr als deutlich zu erkennen, dass sie das Ganze kaltlässt; das Medieninteresse geht ihr sichtlich auf die Nerven. Am zweiten Tag, nach einer Ermahnung der Richterin, ringt sie sich zu der Aussage durch, sie habe ihre Lektion gelernt, sei aber nicht »gebrochen«.[3]

1

Shena Hardin, Cleveland/Ohio, 2012

Das unterscheidet die zweiunddreißigjährige Hardin von der dreizehnjährigen Izabel Laxamana. Das Mädchen springt im Mai 2015 von einer Brücke im US-Bundesstaat Washington, weil es die öffentliche Beschämung durch den Vater nicht erträgt. Erbost über ein an in der Schule zirkulierendes Selfie, das die Tochter in Sport-BH und Leggings zeigt, schneidet er ihr die langen Haare ab und filmt sie dabei. Als das Video die Runde macht und zum Schulgespräch wird, nimmt sich Izabel das Leben.

Die Journalistin, die über den Fall berichtet, fühlt sich ans dunkle Mittelalter erinnert. Rituelle Beschämung, so ihre Bilanz, sei nicht nur im Rechtssystem, sondern auch in Familien an der Tagesordnung, die dafür gern auf die neuen Technologien und sozialen Medien zurückgreifen. Facebook und YouTube eignen sich hervorragend, um individuelles Fehlverhalten öffentlich auszustellen und zu rügen, oft mit tragischen Konsequenzen für die Gerügten. Teenager ohne stabiles Selbstbewusstsein sind solchen Demütigungen hilflos ausgeliefert und können ihnen nichts entgegensetzen: Sie werden ›gebrochen‹, zerbrechen unter der Last des öffentlichen Blicks und Kommentars.[4]

Woher kommt das Bedürfnis, andere Menschen, und seien es die eigenen Kinder, vorzuführen und öffentlich bloßzustellen? Was bezwecken solche Beschämungen, und welche Wirkungen entfalten sie? Warum sind sie selbst in Gesellschaften verbreitet, die Würde und Respekt großschreiben? Lebt hier tatsächlich das ›finstere Mittelalter‹ fort? Oder mobilisiert die ›helle‹, erleuchtete, aufgeklärte Moderne eigene Beschämungsenergien und erfindet neue Demütigungspraktiken?

Die Macht der Scham

In öffentlichen Beschämungen wird stets Macht demonstriert. Indem sie andere Menschen vor Augenzeugen in die Knie zwingen, bekräftigen soziale Akteure ihren Anspruch auf eine herausgehobene, machtvolle Position. Macht, heißt es bei Max Weber, »bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht«.[5] In diesem Sinn übte Izabel Laxamanas Vater Macht über seine Tochter aus. Er hatte ihr strikt verboten, Selfies ins Netz zu stellen; als sie es trotzdem tat, bestrafte er sie durch eine demütigende Prozedur, die er für die Öffentlichkeit dokumentierte. Damit betonte er seine Macht und Izabels Ohnmacht, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Die Beschämung nötigte ihr Scham auf, zwang sie, die Augen niederzuschlagen und den Kopf zu senken. Sie wollte sich unsichtbar machen und sah dafür keine andere Möglichkeit, als sich ganz und gar auszulöschen.

Scham, das wussten bereits antike Philosophen, ist ein Gefühl von ungeheurer Wucht und Wirkmächtigkeit.[6] Sie kann tödlich sein und prägt sich auch dem Weiterlebenden unauslöschlich ein. Wer sich einmal ›in Grund und Boden‹ geschämt hat, wird diese Erfahrung kaum je vergessen. Dabei ist die Anwesenheit und Zeugenschaft Dritter von größter Bedeutung. Zwar kann man sich auch vor sich selber schämen, weil man etwas getan oder gedacht hat, das dem idealen Selbstbild und den gängigen Moralvorstellungen widerspricht. Zum Beispiel kann ich Scham darüber empfinden, dass ich einem Kollegen den verdienten Aufstieg neide. Das gleiche Gefühl würde mich beschleichen, wenn ich der Chefin vergnügt dabei zuschaute, wie sie eine Mitarbeiterin coram publico herunterputzt. Öffentliche Beschämung gilt hier und jetzt zumeist als intolerabler Übergriff oder gar als Verletzung menschlicher Würde; fände ich daran Gefallen, müsste ich mich vor mir selber schämen.

Was aber macht Beschämung so abscheulich? Es ist das leidvolle Wissen um die Macht und Gewalt des öffentlichen Blicks, eines Blicks, der sich nicht abschütteln lässt, der unter die Haut geht und am Körper der Beschämten haftenbleibt. Werden andere Menschen Zeugen individueller Fehlleistungen oder Normverstöße, heizt dies das Schamgefühl an; je mehr Wert man auf ihre Wertschätzung legt, desto größer wird die eigene Scham. Ein Kind, das im Laden einen Kaugummi mitgehen lässt und weiß, dass es das nicht tun darf, mag sich insgeheim dafür schämen. Ertappt man es dabei und informiert die Eltern, bedarf es nicht einmal mehr der Aufforderung ›Schäm dich!‹, um das entsprechende Gefühl hervorzurufen. Vor aller Augen bloßgestellt zu sein treibt ihm brennende Röte ins Gesicht, es hat nur einen Wunsch: sich den beschämenden Blicken zu entziehen.

Aus diesem Grund nennen Psychologen Scham eine soziale oder interpersonale Emotion. Sie stellt sich mehrheitlich in Anwesenheit Dritter ein; nur ein Sechstel der Befragten gibt an, Scham als privates, selbstbezügliches Gefühl zu erleben.[7] Ihre soziale Einbettung lässt Scham mächtig und gefährlich werden. Aus Angst vor Beschämung riskieren Menschen Kopf und Kragen. So springt der kleine Uli in Erich Kästners Kinderbuchklassiker Das fliegende Klassenzimmer von einer hohen Leiter, um zu beweisen, dass er kein Feigling ist. Oft haben ihn die Schulkameraden wegen seines Mangels an Mut gehänselt, und er lief dabei »knallrot« an. Sein Sprung befördert ihn zwar mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus, bringt aber die Peiniger und Spötter zum Schweigen.[8]

Kästners Uli – das Buch erschien erstmals 1933 – wuchs in einer Jungenwelt auf, in der Feigheit ein schlimmer moralischer Makel war. Jungen mussten mutig sein und diesen Mut unter Beweis stellen. Taten sie das nicht, erlebten sie Verachtung und Zurücksetzung bis zum Ausschluss aus der Gruppe. Uli hatte das akzeptiert und verinnerlicht, er wusste der Hänselei nichts entgegenzusetzen als eine tollkühne Tat. Das war in Izabel Laxamanas Fall anders. Vermutlich schämte sie sich nicht dafür, dass sie das Verbot des Vaters ignoriert und leicht bekleidet im Internet posiert hatte. Seine Vorstellungen von Moral und Anstand waren nicht unbedingt die ihren. Beschämend wirkten hier die väterliche Strafaktion und deren öffentliche Verbreitung. Wäre das Haarschneiden hinter verschlossenen Türen vonstattengegangen (und dort geblieben), hätte Izabel den Kahlschnitt vielleicht noch als selbstbewusste, trendsetzende Stilentscheidung ausgeben können. Das Video aber machte ihre Ohnmacht und Demütigung publik.

Welche Wirkungen öffentliche Demütigungen haben, wird an diesen und vielen anderen Beispielen offensichtlich. Sie illustrieren nicht nur die Macht der Täter, das, was sie als Verstoß gegen eine Norm oder Erwartung betrachten, zu rügen und negativ zu sanktionieren. Sie zeigen darüber hinaus die Macht der Zuschauer, sei sie tatsächlich oder imaginiert. Stets findet das Drama von Macht und Ohnmacht, Scham und Schande, Täter und Opfer auf öffentlichen Schauplätzen statt. Das Publikum kann der Beschämung zustimmen und sie verschärfen. Es kann sich aber auch verweigern. Machtverhältnisse lassen sich umkehren, die Beschämenden werden ihrerseits beschämt. Dafür liefert die moderne Geschichte vielfaches Anschauungsmaterial, von punktueller Distanzierung bis zu breiter Kritik, von individuellem Protest bis zur kollektiven Revolte.

Geschichte und ihre Deutungen

Augenscheinlich gibt es, im kollektiven Gedächtnis verankert und jederzeit abrufbar, ein mehr oder weniger konkretes Wissen um frühere Beschämungspraktiken. Wenn Journalisten angesichts von Izabels Bloßstellung an mittelalterliche Verhältnisse dachten, standen ihnen möglicherweise Bilder von Prangern und Schandsäulen vor Augen. Vielleicht wussten sie sogar, dass geschorene Haare besonders bei Frauen ein geradezu archetypisches Signal sozialer Demütigung und Erniedrigung darstellen.

Um solche Zeichen und Praktiken geht es in diesem Buch. Es verfolgt ihre Entwicklung vom 18. Jahrhundert bis heute, schwerpunktmäßig in Europa, aber auch mit Blick auf andere Weltgegenden. Es fragt nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten, analysiert auffällige Konjunkturen und hitzige Kontroversen. Dass Beschämungsrepertoires hier wie dort seit langem bekannt und überliefert sind, heißt nicht, dass sie in gleicher Form und in ähnlichen Zusammenhängen auftauchen. Wer sie wann gegenüber wem und zu welchem Zweck nutzt, folgt einer politischen Opportunität, die an gesellschaftliche Bedingungen und moralische Ökonomien rückgebunden ist. Frauen wird nicht immer und überall das Haar geschoren; Bürger werden nicht immer und überall von ihren Regierungen in ihrer Würde verletzt; Straftäter werden nicht immer und überall öffentlich ausgestellt und gebrandmarkt.

Wie sind Gesellschaften beschaffen, die derartige Praktiken akzeptieren oder sogar einfordern? Welche politischen Regime geben Demütigungen Raum, welche suchen sie zu unterbinden? Lässt sich die Geschichte der Demütigung als westliche Fortschrittserzählung begreifen, mit bürgerlich-liberalen Heldinnen und Helden, die sich die menschliche Würde aufs Panier geschrieben haben? Oder schuf die Moderne neue Schauplätze und Anlässe, neue Begründungen und Bedeutungen?

Oft hört man, die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs habe die Entwicklung maßgeblich vorangetrieben und die Karriere von Respekt und Anerkennung beflügelt. In der Tat bekannte sich 1945 die Charta der Vereinten Nationen in ihrer Präambel zum Glauben an »Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit«. 1948 statuierte die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in Artikel 1: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.«[9] Auch das bundesdeutsche Grundgesetz zählte 1949 die Menschenwürde als erstes, unantastbares Grundrecht auf und verpflichtete den Staat, »sie zu achten und zu schützen«.[10] Menschenwürde und die auf ihr beruhenden Rechte Einzelner waren jedoch seit längerem ein Thema. Bereits im 18. Jahrhundert tauchte die menschliche Würde als Argument auf, wenn es darum ging, unwürdige Strafformen zu kritisieren und aus der Rechtsordnung zu verbannen.[11]

Michel Foucault hat dieses Argument in seiner berühmten Studie über die Geburt des Gefängnisses als »Diskurs des Herzens« ironisiert. Das ganze Gerede über die »Menschlichkeit« des Strafvollzugs sei letztlich nur eine Strategie zur »Verfeinerung der Apparate« gewesen, vom Staat zum Zweck einer immer dichteren und lückenloseren Überwachung des »Gesellschaftskörpers« ersonnen und installiert. Warum aber wählten jene, die angeblich nur maximale Kontrolle wollten, die Sprache des Herzens und der Empfindsamkeit, um dafür zu werben? Weshalb äußerten Richter auf einmal moralischen Ekel gegen Gewaltstrafen oder Mitleid mit den Straftätern, die sie dazu verurteilten? Was hat sich in ihren Herzen ereignet, dass sie sich dem neuen Diskurs der Humanität öffneten? Wie kommt es, dass menschliche Würde im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert zum affektiv besetzten Thema wurde und es bis heute blieb? Die Berufung auf Gefühle folgt, anders als Foucault behauptet, nicht einfach einem »Kalkülprinzip«, sondern besitzt eine eigene historische Logik. Sie als opportunistisch abzutun vergibt die Chance, ihren Platz in der modernen Kultur und Gesellschaftsarchitektur zu bestimmen.[12]

Im Unterschied zum französischen Meisterdenker räumt der israelische Philosoph Avishai Margalit Anstand, Würde und Ehre eine strukturbildende Bedeutung ein. Eine anständige Gesellschaft zeichnet sich für ihn dadurch aus, dass ihre Institutionen Menschen nicht demütigen und deren Würde achten.[13] Dies kommt den Vorstellungen, wie sie manche Zeitgenossen des ausgehenden 18. Jahrhunderts hegten, sehr nahe. Schon die Juristen der Aufklärungsepoche arbeiteten sich an den Begriffen Ehre und Würde ab, als sie das traditionelle System demütigender Ehrenstrafen mit neuen Konzepten menschlicher Selbst- und Fremdachtung konfrontierten. Die moderne Welt erscheint aus dieser Perspektive als eine, die der zerstörerischen Kraft sozialer und politischer Demütigungen ebenso kraftvolle Instrumente zum Schutz von Ehre und Würde entgegenzusetzen sucht.

Demütigung als Politik

Zugleich aber nutzen auch heutige Gesellschaften Beschämung und Demütigung als soziale und politische Machttechnik. Gemeint sind damit nicht all die kleinen, alltäglichen, privaten Herabwürdigungen, die zwischen zwei Personen stattfinden und kaum jemals ans Licht der Öffentlichkeit dringen. Wenn ein Nachbar den anderen im Streit um die Höhe der Hecke respektlos behandelt und ihn einen Idioten schilt, ist das allenfalls eine Beleidigung, gegen die der andere vor Gericht ziehen könnte. Zu einer veritablen Demütigung oder Beschämung gehören ein öffentlicher Schauplatz und ein Publikum, das eine tragende und tätige Rolle übernimmt. Zudem erfolgt eine öffentliche Demütigung nicht aus Unstimmigkeiten über triviale Dinge, die bloß die beiden Streithähne etwas angehen. Es muss mehr auf dem Spiel stehen: die Verletzung einer Norm zum Beispiel, die für ein größeres Kollektiv von Belang und deren Bekräftigung ihm wichtig ist. Indem man sie öffentlich vorführt, wird eine Person symbolisch aus der für sie maßgeblichen Gruppe ausgeschlossen und bestraft. Wird sie anschließend wieder aufgenommen, sprechen Sozialwissenschaftler von reintegrativer Beschämung.[14]

2

Bestrafung einer Kollaborateurin, Marseille 1944

Im Gegensatz dazu bezwecken stigmatisierende Demütigungen Exklusion. Als deutsche Wehrmachtssoldaten jüdischen Männern im besetzten Polen die Bärte abschnitten, oder als serbische Soldaten und Milizionäre im Bosnienkrieg der 1990er Jahre gezielt und systematisch muslimische Frauen vergewaltigten, ging es weder um Bestrafung noch um Integration. Ziel war vielmehr, die eigene Macht unter Beweis zu stellen und Mitglieder einer anderen Bevölkerungsgruppe so zu erniedrigen, dass deren Selbstachtung auf Dauer beschädigt oder gar zerstört wurde.

Beide Formen vollziehen sich geplant, koordiniert und öffentlich. Sie erfolgen weder spontan noch situativ-willkürlich, sondern halten sich an ein wohlüberlegtes Skript und weisen eine ritualisierte Struktur auf. Ständig wiederholt und deshalb rasch erkennbar, können ihre einzelnen Elemente variabel auf die jeweilige Funktion abgestimmt werden. Ihnen gemeinsam ist das Ziel, Machtverhältnisse zu etablieren oder zu stabilisieren, indem sie das Gegenüber vor Zeugen als ohnmächtig bloßstellen. In diesem Sinn kann man von Demütigung als Politik sprechen, als einer der Durchsetzung von Macht dienenden Strategie, an der verschiedene Akteure mitwirken und die auf verschiedenen Schauplätzen zur Geltung kommt.

Die Ubiquität solcher Strategien, Praktiken und Schauplätze bezeugt zum einen deren anhaltende Attraktivität für die jeweils Mächtigen, nach Macht Strebenden und um Macht Kämpfenden. Zum anderen lässt sie erahnen, wie groß die Widerstände gegen eine ›anständige‹, auf Demütigung verzichtende Gesellschaft waren und sind. Selbst in liberalen Ordnungen haben sich Formen der Anprangerung und Brandmarkung erhalten oder neu gebildet, die mit Anstand und Würde wenig zu tun haben. Seit dem späten 19. Jahrhundert ist der Begriff des Zeitungsprangers in Umlauf, für dessen ungebrochene Aktualität es zahlreiche Beispiele gibt. So veröffentlichte Bild im Oktober 2015 auf einer Doppelseite die Namen und Profilbilder von Personen, die sich in den sozialen Netzwerken mit fremdenfeindlichen und rassistischen Botschaften hervortaten. Gegen die Plakatierung ihres Konterfeis an diesem »Pranger der Schande« klagte eine Betroffene, weil sie ihre Persönlichkeit verletzt sah. In zweiter Instanz erhielt sie Recht.[15] Auch die anfangs erwähnten shame sanctions erfreuen sich bei amerikanischen Richtern großer Beliebtheit, wenngleich es nicht an einflussreichen Gegenstimmen fehlt. Und als die BBC2008 offizielle Beschämungspraktiken in chinesischen Schulen dokumentierte, fiel das britische Zuschauerecho geteilt aus: Fühlten sich die einen ins ›dunkle‹ europäische Mittelalter versetzt und wünschten China das Licht der Aufklärung, konnten andere dem Ritual, das mit der Wiederaufnahme des beschämten Kindes in die Klassengemeinschaft schloss, durchaus etwas abgewinnen.[16]

Demütigung in der Politik

Ähnlich der alten Kirchenbuße sollen solche Rituale einen Gestrauchelten bloßstellen und ausgrenzen, um ihn anschließend geläutert wieder einzugemeinden. Auf Scham folgt idealerweise Reue als Bedingung für Verzeihung und Versöhnung. Das ist bei Demütigungen in der Politik nicht viel anders. Allerdings tritt die Logik von Macht und Ehre hier noch viel nackter hervor als in sozialen Beziehungen. Verletzt ein Staat die Ehre des anderen, ohne Satisfaktion zu geben und sich zu entschuldigen, kann das einen Krieg auslösen, so 1870 zwischen Frankreich und Preußen. Endet der Krieg mit einem für den Unterlegenen demütigenden Friedensschluss, wie man es 1919 in Deutschland, Österreich oder Ungarn erlebte, wird ein neuer Waffengang wahrscheinlicher. Politiker und Diplomaten sind in solchen Fällen gut beraten, mit Fingerspitzengefühl vorzugehen und Demütigungen zu vermeiden. Sie können sie aber auch dosiert einsetzen und damit zündeln, um sich im internationalen oder nationalen Machtkampf Vorteile zu sichern.

Ein Vorfall von 2010 mag dies verdeutlichen: Als das türkische Fernsehen eine Sendereihe ausstrahlte, die israelische Soldaten als Kindermörder brandmarkte, berief der stellvertretende Außenminister Israels, Danny Ayalon, den Botschafter der Türkei ein. Vor dem Treffen ließ er das anwesende TV-Team wissen, es werde einer symbolischen Demütigung beiwohnen: Der Botschafter sitze auf einem niedrigeren Sessel, die türkische Fahne fehle, und die Israelis schenkten dem Diplomaten kein Lächeln. Das entsprach der rechtskonservativen Außenpolitik des Landes, die Stärke und Stolz demonstrieren wollte, statt Nettigkeiten auszutauschen. Das absichtsvolle Arrangement blieb der türkischen Regierung nicht verborgen. Sie reagierte mit geharnischtem Protest und goss ihrerseits Öl ins Feuer, indem sie verkündete, das gesamte türkische Volk sei gedemütigt worden. Präsident Abdullah Gül forderte Ayalon auf, sich öffentlich zu entschuldigen, was jener ablehnte. Erst auf Intervention des israelischen Präsidenten Shimon Peres, der um die damals noch guten Beziehungen zum wichtigsten militärischen Bündnispartner in der Region fürchtete, rang sich Ayalon zu der Erklärung durch, es sei nicht seine Art, ausländische Botschafter zu beleidigen. Das ging der türkischen Regierung nicht weit genug, und nach einem weiteren Tag hektischer diplomatischer Depeschen erhielt Ankaras Botschafter schließlich einen Brief folgenden Inhalts: »Ich hatte nicht die Absicht, Sie persönlich zu beleidigen, und ich entschuldige mich dafür, wie die Demarche ausgeführt und wahrgenommen worden ist. Bitte übermitteln Sie dies dem türkischen Volk, für das wir großen Respekt hegen.«[17]

Ayalons Sätze waren formelhaft und bedienten sich aus einem diplomatischen Wortschatz, der sich seit der frühen Neuzeit entwickelt hatte. Neuer im Repertoire war hingegen der Hinweis auf das Volk, das von der Entschuldigung in Kenntnis zu setzen sei und dem man seinen Respekt aussprach. Seit der Französischen Revolution war der Staat zur Sache der ganzen Nation geworden, die sich zum souveränen Gesetzgeber erklärte. Die Ehre des Staates, vormals die des Fürsten, ging auf die Nation über, Beleidigungen dieser Ehre trafen nun die Gesamtheit der Staatsbürger. Deshalb konnte die türkische Regierung erklären, dass mit ihrem Vertreter das Volk gedemütigt worden sei, und deshalb entschuldigte sich der israelische Minister sowohl beim Botschafter als auch bei der türkischen Bevölkerung. Internationale Beziehungen, lässt nicht nur dieser Fall erkennen, spielen sich in der Moderne oft vor großem, maximal interessiertem Publikum ab und erfahren dadurch eine erhebliche Dramatisierung. Wenn Diplomatie vor laufenden Kameras stattfindet, gewinnen demütigende Gesten und Worte eine Durchschlagskraft, die in Zeiten geheimnisumwitterter Kabinettspolitik undenkbar war.

Für eine Politik der Demütigung auf internationalem Parkett sind Nationalisierung und Demokratisierung demnach ebenso wichtige Treiber wie die Medien, die jene Politik verbreiten und kommentieren. Medien werden dabei mehr und mehr zu Akteuren eigenen Rechts: Sie können Normverstöße ausfindig machen, vorgebliche Demütigungen aufspüren und aufbauschen, Sanktionen einfordern. Und sie können selber an der Demütigungsschraube drehen, indem sie eigene und fremde Politiker verspotten, karikieren, in den Schmutz ziehen. Hohe Wellen schlug 2016 das sogenannte Schmähgedicht des deutschen TV-Moderators Jan Böhmermann auf den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Dessen Vize stufte es als Beleidigung des Präsidenten und aller 78 Millionen Türken ein. Erdoğan strengte daraufhin nicht nur eine private Beleidigungsklage gegen den Satiriker an, sondern wollte ihn auch nach § 103 StGB (Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten) belangt sehen.[18]

Semantische Unterscheidungen

Spätestens an dieser Stelle bedarf es einer Klärung der Begriffe. Paragraph 185 des deutschen Strafgesetzbuches, auf den sich Erdoğan in seiner Privatklage berief, spricht in der Tat von Beleidigung, ohne sie allerdings näher zu erläutern. 1989 lieferte der Bundesgerichtshof die Definition nach: »Die Strafnorm soll Schutz vor Angriffen auf die Ehre gewähren (…). Ein Angriff auf die Ehre wird geführt, wenn der Täter einem anderen zu Unrecht Mängel nachsagt, die, wenn sie vorlägen, den Geltungswert des Betroffenen mindern würden. Nur durch eine solche ›Nachrede‹ (die ein herabsetzendes Werturteil oder eine ehrenrührige Tatsachenbehauptung sein kann) wird der aus der Ehre fließende verdiente Achtungsanspruch verletzt. Sie stellt die Kundgabe der Mißachtung, Geringschätzung oder Nichtachtung dar, die nach der Rechtsprechung den Tatbestand verwirklicht.«[19]

Was unterscheidet nun Beleidigungen von Beschämung oder Demütigung? Auch Beschämung drückt Missachtung und Geringschätzung aus, und Demütigungen lassen sich als Praktiken kategorischer Nichtachtung verstehen. Angriffe auf die Ehre des Beschämten oder Gedemütigten sind folglich stets inbegriffen, mehr noch: Ziel ist die Zerstörung jeglicher Ehre und Achtung, einschließlich der Selbstachtung. Wer öffentlich, vor Publikum, gedemütigt oder beschämt wird, hat Mühe, seinen »Geltungswert« wiederherzustellen und seinen »Achtungsanspruch« zu verwirklichen. Dagegen wiegen Beleidigungen weniger schwer, denn sie folgen einer Logik von Herausforderung und Erwiderung: Erst die Erwiderung verleiht der Beleidigung Gewicht und Bedeutung. Anders als die beschämte und gedemütigte Person ist die beleidigte nicht untätig und leidend, sondern muss sich entscheiden, ob sie die Herausforderung annehmen oder ignorieren will. Erwidern kann sie sie, indem sie den Beleidiger zur Rechenschaft zieht, ihn ihrerseits beleidigt oder vor Gericht verklagt. Aber sie könnte den Angriff auch weglachen, sich achselzuckend abwenden oder, wie in Erich Maria Remarques Roman Drei Kameraden, in einen Überbietungswettstreit eintreten.[20] Schließlich liegen einer Beleidigung keine wirklichen »Mängel« oder Normverstöße zugrunde; sie ist laut BGH-Urteil per se unwahre Nachrede. Beruhte sie auf erwiesenen Tatsachen, wäre sie keine Beleidigung mehr.

Beleidigungen fehlt demnach zum einen das Element der Macht (und Ohnmacht), zum anderen der sanktionierende Charakter. Beide sind Beschämungen traditionell eigen. Wer beschämt, reagiert auf die Verletzung einer kollektiv relevanten Norm. Beleidigungen funktionieren dagegen ohne normativen Bezug und gesellschaftliche Bodenhaftung. Sie werden deshalb, wenn sie vor Gericht kommen, auf dem Weg der Privatklage und zumeist im Zivilprozess verhandelt. Ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht nur in Ausnahmefällen, etwa dann, wenn rassistische Verunglimpfungen ins Spiel kommen.[21]

Am Beispiel Rassismus wird auch deutlich, was Beschämung von Demütigung unterscheidet. Die Begriffe werden meist synonym verwendet. Historisch und analytisch aber meinen sie Verschiedenes. Beschämung schließt unmittelbar an eine für ein Kollektiv oder eine Institution verbindliche Verhaltensnorm an und wird intern vollzogen. Demütigung hingegen findet von innen nach außen statt: Wir sind wir, du bist anders und weniger wert. Wer einen Menschen aufgrund seiner ethnischen Zugehörigkeit erniedrigt, verspottet und verächtlich macht, ist auf Abschottung und Ausgrenzung bedacht. Je tiefer die gedemütigte Person sinkt – wie bei den berüchtigten Wiener »Reibpartien« 1938, als jüdische Bürger auf Knien die Bürgersteige schrubben mussten –, desto höher steigt der Pegel des eigenen Machtgefühls.

Selbstverständlich geht es auch bei Beschämung um Machtdifferenzen. Die beschämte Person kann sich kaum dagegen wehren und erleidet selbst dann, wenn sie anschließend wieder in die Gruppe aufgenommen wird, einen Verlust an Ehre und Achtung. Dennoch ist das Verhältnis zwischen Beschämten und Beschämenden nicht im eigentlichen Sinn hierarchisch. Seine Alterität hat das Opfer selber verschuldet, weil es sich mit seinem vorgängigen Verhalten aus dem Kollektiv oder der Gemeinschaft herausbegeben hat. Den Wiener Juden jedoch wurde schlichtweg mitgeteilt, dass sie der deutsch-österreichischen Volksgemeinschaft nicht (mehr) angehörten. Nicht das, was sie taten, sondern das, was sie waren – Juden –, machte sie zu Parias, zu Ausgestoßenen und Außenseitern, und ihre öffentliche Demütigung ließ das offensichtlich werden.

Trotz dieser Unterschiede trennt unsere Alltagssprache nicht klar zwischen Beschämung und Demütigung.[22] Das liegt zum einen an fließenden Übergängen und Mischformen, die in der Moderne an Zahl und Form zunehmen. Wenn sich soziale Gruppenbindungen abschwächen und Menschen zwischen verschiedenen Zugehörigkeiten wählen können, verlieren klassische Beschämungsverfahren ihre angestammten Schauplätze. Zugleich entstehen neue Institutionen und Verbünde, die eigene Praktiken der Erniedrigung und Bloßstellung erfinden und als Initiationsrituale nutzen. Nicht immer ist genau zu erkennen, ob es sich dabei um eine normativ integrierende Sanktion oder um eine kategorische Ausgrenzung handelt. Der Umgang mit Homosexuellen kann beschämend sein, wenn man Homosexualität, wie früher üblich und heute noch in vielen Ländern verbreitet, als zu kurierende Krankheit ansieht. Er kann aber auch einen demütigenden, radikal stigmatisierenden und exkludierenden Charakter annehmen. Dabei ist es unmaßgeblich, ob Homosexuelle diesen Unterschied als solchen erleben.[23]

Zum anderen hat sich der Sprachgebrauch im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts erheblich verändert. Der Begriff der Würde rückte in den Vordergrund, während Ehre als vormaliger Leitbegriff an Attraktivität verlor und aus dem sozialen Kommunikationsraum herausfiel. In der Öffentlichkeit war entsprechend häufiger von Demütigung die Rede, und Beschämung geriet ins Hintertreffen.[24] Allerdings sind Ehre und Würde semantisch oft nur schwer voneinander zu scheiden. Als der Bundesgerichtshof 1957 Ehre und Ehrenhaftigkeit auf die dem Menschen »unverlierbar von Geburt an zuteil gewordene Personenwürde« zurückführte, vertrat er eine nicht allein von Juristen geteilte herrschende Meinung, deren begriffliche Unschärfe es fast unmöglich macht, zwischen Beschämung und Demütigung eine klare, eindeutige Trennlinie zu ziehen.[25]

Personen, Räume, Zeiten

Dieses Buch handelt von beiden Formen sozialer Machtausübung und Ohnmachtserfahrung. Es nimmt verschiedene Personen, Gruppierungen, Schauplätze und Institutionen ins Visier: Juristen, die sich über das Pro und Contra von Prügel-, Schand- und Ehrenstrafen auslassen; Lehrer und Schulbehörden, die darüber streiten, ob man Kindern eine Eselsmütze aufsetzen oder sie schlagen darf; Soldaten und Parlamentsabgeordnete, die sich über Misshandlungen beim Militär echauffieren; Mütter und Väter, die sich Gedanken machen, ob sie ein aufmüpfiges Kind beschämen sollen oder dürfen; Verfasser von Erziehungsratgebern und Kinderbüchern, die sich dazu äußern; Jugendgruppen und Studentenverbindungen, die Novizen einer demütigenden Aufnahmeprozedur unterziehen; ganz normale Bürgerinnen und Bürger, die Frauen öffentlich das Kopfhaar abschneiden, wenn sie sich gegen die Konventionen weiblicher oder nationaler Ehre vergangen haben; eine Mutter, die in schulischen Sportwettkämpfen Demütigungspotential für ihre Kinder sieht; Diplomaten und Politiker, die entweder selber demütigen oder vorgeben, gedemütigt worden zu sein, um Interessen zu legitimieren und durchzusetzen.

Die meisten hier versammelten Akteure und Begebenheiten stammen aus Europa, das über eine lange Tradition öffentlicher Beschämung und eine nicht ganz so lange Geschichte ihrer Kritik verfügt. Aber Beschämung und Demütigung sind auch anderswo anzutreffen: während der chinesischen Kulturrevolution, als Schüler und Studenten ihre Lehrer und Professoren öffentlich verhöhnten und misshandelten, oder in Mexiko, wo man 2016 sechs Pädagogen die Haare abschnitt, ihnen Namensschilder mit der Aufschrift »Vaterlandsverräter« um den Hals hängte und sie barfuß durch die Straßen trieb, weil sie sich geweigert hatten, einen Lehrerstreik zu unterstützen.[26] In Nordindien entführten im gleichen Jahr fundamentalistische Aktivisten einen jungen Christen, der Hindus angeblich zur Konversion aufforderte: Sie schoren ihm den Kopf, setzten ihn auf einen Esel und paradierten ihn vier Stunden lang durch den Ort.[27] In diesen Ländern gibt es eigene Traditionen der Beschämung und indigene Kulturen der Demütigung. Gleichwohl schöpfen alle aus einem offenbar weltweit vorhandenen Reservoir machtvoller Praktiken und Zeichen, die einander erstaunlich ähneln.

Vom Wandel der Gefühle

Beschämung und Demütigung sind dennoch keine anthropologischen Konstanten, die sich mit leichten Variationen durch die gesamte Geschichte der Menschheit ziehen. Ebenso wenig universell, einförmig und jederzeit abrufbar sind die ihnen korrespondierenden Gefühle von Scham und Demut.

Demut wurde historisch höchst unterschiedlich gelebt, beschrieben und bewertet. Das Alte und das Neue Testament wiesen ihr einen hohen Wert zu: Die Menschen sollten Gott demütig und unterwürfig gegenübertreten, um sein Wohlwollen zu erlangen. »Denn die sich demütigen, die erhöhet er, und wer seine Augen niederschlägt, der wird genesen« (Hiob 22,29). Zugleich demütigte ein zorniger Gott Menschen nach Herzenslust, um ihren Stolz und ihre Selbstüberschätzung zu brechen. In der christlichen Glaubenspraxis stand Demut denn auch ganz oben an, und weder Priester noch Laien sahen ein Problem darin, sich mit Worten und Gesten vor Gott und dem Altar niederzuwerfen. Die antiken Gesellschaften Griechenlands und Roms hingegen assoziierten Demut mit der Unterwürfigkeit von Knechten und Unfreien. Das ermutigte Friedrich Nietzsche in den 1880er Jahren, Demut mit Feigheit, Schwäche und Ergebung gleichzusetzen und sie als Teil einer »Sklavenmoral« abzutun. Ähnlich urteilten Europäer seit dem späten 18. Jahrhundert über das, was sie »im Morgenlande« beobachteten: eine aus ihrer Sicht extreme »Erniedrigung« und »Demüthigung« der Bevölkerung vor dem gottgleichen Herrscher und allen Höhergestellten.[28] Mit den Idealen und Maßstäben einer selbstbewussten bürgerlichen Gesellschaft ließen sich diese tiefen »Ehrenbezeugungen« nicht länger vereinbaren. Stattdessen boten sie Europäern einen weiteren Grund, sich allen anderen Ländern und Kulturen überlegen zu fühlen.

Wie Demut ist auch Scham eine soziokulturelle Konvention. Das Gefühl stellt sich erst ab einem bestimmten Alter ein. Kinder lernen, sich zu schämen, indem sie Erwachsene beobachten und von ihnen angeleitet und korrigiert werden. Manche Gesellschaften nutzen Scham und Beschämung mehr, andere weniger oder gar nicht als Mittel pädagogischer und sozialer Disziplinierung. Ob und in welchem Maße sie es tun, hängt wesentlich vom Grad sozialer Differenzierung und von der Wertschätzung ab, die sie Individualität, Freiheit und Autonomie erweisen. In ständischen Ordnungen mit ausgeprägten kollektiven Bindungsverhältnissen trifft man üblicherweise auf eine Vielfalt von Beschämungspraktiken, die ihrerseits ein hohes Niveau von Schamgefühlen nahelegen. Aber auch Menschen, die in eher individualistischen Gesellschaften aufwachsen, sind als soziale Wesen abhängig von der Anerkennung durch Dritte und werden damit empfänglich für Scham und Beschämung.

Im Anschluss an Norbert Elias könnte man geradezu behaupten, dass diese Empfänglichkeit in der Moderne wächst und nicht etwa abnimmt. Wenn Scham auf die Angst »vor der sozialen Degradierung« und den »Überlegenheitsgesten Anderer« im Zustand der Wehrlosigkeit reagiert und die »Scham- und Peinlichkeitsgrenze« im Prozess der Zivilisation vorrückt, müssten Europäer im 19. oder 20. Jahrhundert häufiger und intensiver Scham empfunden haben als Menschen, die im 16. oder 17. Jahrhundert lebten.[29] Ähnlich argumentierte der Soziologe Georg Simmel, als er um 1900 das in der Moderne betonte und aufgewertete »Ichbewußtsein« als »Zentralstation« der Scham identifizierte. Ebenso wie es Menschen den Weg zu einem autonomen, selbstbestimmten Leben ebnen kann, lädt es unter Umständen dazu ein, sich in den Augen anderer zu spiegeln und sorgfältig-angstvoll nach Signalen der Missachtung oder Herabsetzung zu fahnden. Narzissmus und Scham bzw. Sich-beschämt-Fühlen liegen nahe beieinander, wovon Psychologen und Psychotherapeuten ein Lied zu singen wissen.[30]

So erhellend psychologische Beobachtungen und soziologische Theorien der Scham und Beschämung für kritische Zeitdiagnosen sein können, so wenig verraten sie über die historischen Geschehnisse und Entwicklungen, die dazu führten, dass sich Gesellschaften von vielen schaminduzierenden Praktiken lossagten. Offen bleibt auch, warum und unter welchen Bedingungen es bis in unsere Zeit hinein zu Wiederaneignungen und Rückgriffen auf traditionelle Formen kommt. Deshalb stehen in diesem Buch weder individuelle Befindlichkeiten und Traumata noch abstrakte Transformationsprozesse und Makrostrukturen im Mittelpunkt. Vielmehr geht es um konkrete, leibhaftige Akteure und deren Beziehungen auf wechselnden Schauplätzen öffentlicher Beschämung. Es geht um Täter, Opfer und Zuschauer, um Machtansprüche und Widersprüche, um Applaus und Kritik.

Der Gang durch die moderne Politik der Demütigung orientiert sich damit an einer berühmten Maxime von Karl Marx: »Menschen machen (…) Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorhandenen, gegebenen und überlieferten Umständen.«[31] Daran arbeiten sie sich ab, nehmen Anstoß, suchen nach Alternativen. Vorstellungen von Ehre und Würde spielen eine entscheidende und häufig übersehene oder unterschätzte Rolle. Was Menschen darunter verstehen, verändert sich mit der Zeit und mit den »Umständen«. Die semantische Vieldeutigkeit der Ehre und der egalitäre Grundton moderner westlicher Gesellschaften haben dem Konzept der Menschenwürde Vorschub geleistet und seine Verbreitung erleichtert. Praktiken öffentlicher Beschämung und gezielte Demütigungsstrategien gerieten zunehmend in Misskredit.

Das begann in staatlichen Institutionen, vor allem in der justitiellen Strafpraxis (I), und setzte sich, erheblich verzögert, in Schulen und Familien fort. Hier hat sich die Sensibilität für Verletzungen menschlicher Würde in den letzten Jahrzehnten deutlich erhöht. Zugleich bieten sich die Medien, besonders das Internet, als neue Akteure und Foren öffentlicher Demütigung an, und auch Peergruppen spielen eine ebenso aktive wie unrühmliche Rolle (II). Als überaus langlebig hat sich die Politik der Demütigung in den internationalen Beziehungen erwiesen (III). Wo das Konzept nationaler Ehre fröhliche Urständ feiert, liegen Empfindlichkeiten bloß und Demütigungsvermutungen auf der Hand. Je mehr sich die Öffentlichkeit daran beteiligt, desto schärfer wird die Waffe. Ob amtliche Entschuldigungen, wie sie seit den 1990er Jahren in Mode kamen, daran etwas ändern können, ist fraglich. Die Gegentendenzen sind massiv und nehmen in Zeiten des politischen Populismus eher zu als ab.

IPranger, Prügel, Publizität: Logik und Kritik staatlicher Strafen

Als Carl Gottlieb Svarez dem preußischen Kronprinzen und späteren König Friedrich Wilhelm III. 1791/92 Vorträge über Recht und Rechtswissenschaft hielt, waren Pranger und Schandsäule allgegenwärtig. Sie standen auf jedem Markt- oder Kirchplatz, entweder aus Holz gezimmert oder aus Stein gebaut, meist mit einem daran befestigten Halseisen. Manchmal war das Eisen auch direkt mit einer Kette am Rathaus oder an der Kirche angebracht. Weit verbreitet war der Block oder Stock: Er bestand aus zwei parallelen, durch ein Scharnier verbundenen Brettern, in die man Löcher für Hals und Handgelenke geschnitten hatte. Außerdem gab es sogenannte Sitzpranger, Schandstühle oder Schandesel.[32] In London, auf dem zentralen Markt von Cornhill, existierte der Pranger in zwei Varianten: als stokkes (Stock) für Männer und als thewe (Stuhl) für Frauen.[33]

Von alldem war in Svarez’ Vorträgen nicht die Rede. Er führte seinen königlichen Schüler zwar ausführlich in die Grundsätze der Kriminalgesetzgebung ein und erläuterte ihm die verschiedenen Strafarten, die in Preußen bekannt und üblich waren. Er sprach über den Unterschied zwischen Gefängnis- und Zuchthausstrafe, über die Vor- und Nachteile von Geldstrafen und über die Berechtigung der Todesstrafe. Den Pranger jedoch erwähnte er mit keinem Wort.

Das mag nur auf den ersten Blick überraschen. Denn für Svarez, den aufgeklärten Juristen und Mitverfasser des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten (ALR), gehörten Pranger zum alten Eisen, selbst wenn sie noch überall herumstanden und in Betrieb waren. Das 1794 in Kraft tretende ALR sprach eher abstrakt von der Zusatzstrafe der öffentlichen Ausstellung und reservierte sie für einige wenige Delikte. Penible Regeln für den Betrieb der »Schandbühne« fanden sich hingegen im toskanischen Strafgesetzbuch vom November 1786 und in der einige Wochen später verkündeten Kodifikation Josephs II. für die habsburgischen Erbländer. Die »Ausstellung« sollte an »einem zur Zusammenkunft des Volkes geraumigen Orte« an drei aufeinanderfolgenden Tagen jeweils eine Stunde lang erfolgen, wobei der Verurteilte »in Eisen geschlossen, und bewachet« wurde, mit einer »ihm vor der Brust hangenden Tafel«, auf der das begangene Verbrechen »mit einigen Worten« angezeigt war.[34]

Schand- und Ehrenstrafen in der frühen Neuzeit

Das entsprach der landläufigen Praxis von Schand- und Ehrenstrafen, wie sie aus der Vergangenheit überliefert war. Seit etwa 1200 tauchen Pranger in den europäischen Gerichtsquellen auf, vorzugsweise zur Bestrafung von Diebstahls- und Sexualdelikten. Um 1600 musste in München ein Verurteilter an drei aufeinanderfolgenden Sonn- oder Feiertagen jeweils ungefähr zwei Stunden lang am oder im Pranger stehen.[35] Das bedeutete, der Öffentlichkeit unmittelbar ausgesetzt zu sein. In der Tat sparten Anwesende und Passanten nicht mit Ausdrücken oder Gesten der Verachtung und Missbilligung. Je nach angezeigtem Vergehen wurden Straftäter beschimpft, angespuckt oder mit verdorbenen Nahrungsmitteln und Fäkalien beworfen.[36] Als 1780 zwei Männer in London wegen »sodomitischer Handlungen« – eine Umschreibung von Homosexualität – im Stock standen, wurden sie durch aus dem Publikum fliegende Steine schwer verletzt. Von mehr als 20000 Menschen war die Rede, die dem Akt der Beschämung (»public shame«) beiwohnten und ihrer Empörung über das »abscheuliche« und »unaussprechliche« Verbrechen freien Lauf ließen. Wenngleich der konservative Parlamentarier Edmund Burke in das moralische Urteil einstimmte, gingen ihm die Folgen des kollektiven Ressentiments zu weit. Im Unterhaus verwahrte er sich gegen die Pervertierung des Prangers von einem »instrument of reproach and shame« zu einem Werkzeug des Todes und des Mordens.[37]

Strafen vor großem Publikum zu vollstrecken war damals nichts Ungewöhnliches. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wurden Hinrichtungen öffentlich vollzogen. In Preußen verlegte sie erst das Strafgesetzbuch von 1851 hinter Gefängnismauern, Großbritannien folgte 1868, die Niederlande 1870. In Frankreich fand die letzte öffentliche Enthauptung 1939 statt. Nach traditioneller Auffassung hatten sich Verbrecher gegen die soziale Ordnung und den öffentlichen Frieden vergangen. Deshalb sei es nur recht und billig, sie vor den Augen der Öffentlichkeit zu bestrafen. Das Publikum war dabei Zuschauer und Teilnehmer zugleich: Seine physische Anwesenheit ebenso wie seine emotional-moralische Mitwirkung sollten den Richterspruch bestätigen und rechtfertigen. Außerdem hoffte man auf eine abschreckende Wirkung: Die Angst vor beschämender Strafe, hieß es, würde von ähnlichen Taten abhalten.[38]

Dass das öffentliche Ausstellen als Beschämung gemeint war, ist vielfach verbürgt. Nicht allein Burke sprach 1780 vom Pranger als »punishment of shame«. Seit dem späten Mittelalter verhängten niedere und höhere Gerichte sogenannte Schand- und Ehrenstrafen, die den Verurteilten »große schand und schmachhait« brachten; so schrieb es der Augsburger Stadtchronist 1462 auf.[39] Wurde die Prangerstrafe, wie in der frühen Neuzeit zunehmend üblich, vom Henker vollstreckt, reichte schon dessen Berührung, um den Verurteilten ehrlos zu machen. Aber auch die gelinderen Schandstrafen, die ein Gerichtsdiener verabreichte, entfalteten eine beschämende, ehrmindernde Wirkung.[40]

Darin ähnelten sie den Kirchenbußen, die zunächst im Rahmen der Gründonnerstagsliturgie, später auch an normalen Sonn- und Feiertagen anberaumt wurden. Bis ins 16. Jahrhundert hinein hatten sich Sünder, Männer wie Frauen, barfuß und in grobem Tuch vor dem Altar niedergeworfen, um die Vergebung des Herrn zu erlangen. Später wurden solche Selbstdemütigungen seltener; dafür erfand man öffentliche Zurschaustellungen als Buße für Totschlag, Wucher, Blasphemie, Brandstiftung, Ehebruch, Unzucht und andere Vergehen. Wer sie begangen hatte, musste im Büßergewand vor der Kirche stehen, während die Gemeinde sich zum Gottesdienst versammelte, oder der Sonntagsprozession mit einer Kerze voranlaufen. In der Kirche bekam er oder sie einen besonderen Platz zugewiesen. Bei Abschluss des Verfahrens galten die Büßer als ›emendiert‹, als gebessert und von ihren Sünden befreit, und fügten sich wieder in die Gemeinschaft der Gläubigen ein.[41]

Die weltliche Gerichtsbarkeit, wie sie im Zeichen frühneuzeitlicher Staatsbildung entstand, sah sich einiges von kirchlichen Bußritualen ab. Auch sie legte Wert darauf, Missetäter für ihre Normverstöße so zur Rechenschaft zu ziehen, dass die Geltung der betreffenden Norm öffentlich bestätigt wurde. Dem gleichen Muster folgten die aus vielen Regionen Europas bekannten kommunalen Rügebräuche. Sie beschämten jene, die soziale Regeln und Konventionen gebrochen hatten, und gaben sie der Lächerlichkeit preis. In England mussten sich Frauen, die ihre Männer schlugen, einem sogenannten skimmington ride unterziehen: Sie (manchmal auch die verprügelten Ehegatten) wurden rücklings auf einen Esel gesetzt und durch die Nachbarschaft paradiert, zum Gespött all derer, die die Prozession mit Topfschlagen und rough music begleiteten. Als 1604 ein solcher Ritt im ostenglischen Suffolk stattfand, gaben die Teilnehmer zu Protokoll, er diene nicht nur zur Beschämung der Frau, die sich gegen ihren Mann vergangen habe, sondern auch zur Warnung an alle Frauen, die soziale Ordnung nicht in gleicher Weise zu verletzen.[42]

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Ein skimmington ride (Druck von William Hogarth, vermutlich 1726)

Beschämungen in Gestalt von Katzenmusiken oder Charivaris fanden auch in Frankreich begeisterte Anhänger. Vor allem junge Männer fühlten sich berechtigt, soziale Regelverstöße zu ahnden, indem sie Übeltätern öffentlich den Marsch bliesen. In Städten standen dominierende Ehefrauen und ihre gedemütigten Männer im Fadenkreuz; auf Dörfern wurden besonders Witwen und Witwer, die eine neue Ehe eingingen, zu Opfern der Charivaris.[43] Frauen, die nach dem Tod ihres Mannes nicht wieder heirateten und dennoch Sex hatten, fielen ebenfalls der öffentlichen Rüge anheim. 1721 ordneten Kirchen- und Gemeindevorsteher im schottischen Dumfriesshire an, die jüngst verwitwete Jenny Forsyth in ein Knebeleisen zu stecken, da ihr Umgang mit einem anderen Mann Schande über ihre Familie und Nachbarn gebracht habe. Mehrere Frauen aus dem Kirchspiel versammelten sich daraufhin vor Jennys Haus, krakeelten und polterten, schlugen Töpfe und Pfannen zusammen. Dann holten sie die junge Witwe, die sich heftig wehrte, mit Gewalt heraus, passten ihr die Knebeleisen an und führten sie durch die belebten Straßen. Davon ließen sie erst ab, als das Opfer schwor, sich in Zukunft anständig und gottesfürchtig zu benehmen.[44]

Obwohl die Beschämung ›von oben‹ verfügt worden war und damit einer obrigkeitlich verhängten Strafe gleichkam, erinnerte ihre Ausführung an klassische, ›von unten‹ initiierte Rügebräuche. Selbst dort, wo Gerichtsdiener oder Stadtknechte die Strafe exekutierten und dem Urteilsspruch eines ordentlichen Gerichts folgten, blieb die lokale Öffentlichkeit aktiv beteiligt. Ohne sie war der Vollzug von Schand- und Ehrenstrafen undenkbar, denn Beschämung funktionierte nur in Anwesenheit Dritter. Von und vor ihnen mit »offentlichen spott und straff« überhäuft zu werden, wie es ein Verurteilter 1728 formulierte, war mehr als bitter.[45] Es minderte die Ehre und das Ansehen der ausgestellten Person und ließ sie die Verachtung der sozialen Umwelt am eigenen Leib spüren.

Diese Verachtung wog schwer in Gesellschaften, die Menschen vorrangig als Angehörige sozialer Gruppen, Korporationen oder ständischer Gemeinschaften wahrnahmen und behandelten. Wer sich gegen deren Normen verging, bekam die Sanktionsmacht des Kollektivs zu spüren. Sich dagegen zu wehren oder in eine andere Gruppe zu wechseln war kaum möglich. Personen, die mit Ehrenstrafen belegt wurden, blieb meist nur die Wahl, den Ort zu verlassen, was bei manchen Strafen bereits inbegriffen war. Hatten sie am Pranger gestanden, erhielten sie häufig auch einen Stadt- oder gar Landesverweis und wurden mit Rutenstreichen vertrieben. Doch die Kunde der Entehrung reiste zuweilen ebenso schnell wie das Opfer. So beschwerte sich im späten 18. Jahrhundert eine Pariser Obsthändlerin bei der Polizei über eine Konkurrentin, die herumtratschte, dass die Händlerin in ihrer Herkunftsprovinz ausgepeitscht und gebrandmarkt worden sei. Das Stigma der Ehrlosigkeit haftete also auch dann, wenn man dem Ort seiner Schande den Rücken kehrte.[46]

Und es hatte materielle Konsequenzen, nicht nur bei der Geschäftsfrau, die sich um Käufer geprellt sah. Mägde, die unehelich Kinder geboren und deshalb am Pranger gestanden hatten, verloren ihren Dienst, und zwar nicht etwa wegen ihrer Mutterschaft, sondern weil sie »prangen« mussten und »öffentlich gebrandmarkt« waren.[47] Zünfte und Gilden achteten sorgfältig darauf, in ihren Reihen nur ehrbare und ehrenwerte Mitglieder zu führen. Eine Ausstellung auf der Schandbühne vertrug sich nicht mit ihren Ehrbegriffen. Im Erzstift Salzburg verlegten sich Richter im 18. Jahrhundert darauf, Handwerker nicht mehr zur »Prechlstellung« zu verurteilen, und begründeten das damit, dass »alle die, welche im Precher gestanden, aus ihren Zünfften« ausgestoßen würden.[48]

Ohnehin gingen die Gerichte mit Ehrenstrafen eher zurückhaltend um. In der Reichsstadt Köln musste im 16. Jahrhundert durchschnittlich alle fünf Jahre jemand auf dem »Kax« sitzen. In Norwich kam die Strafe des Blocks nach 1660 fast nicht mehr vor, und im bevölkerungsreichen London standen im 18. Jahrhundert maximal zehn Personen jährlich am Pranger. Auch die niederen Gerichte der Grafschaft Lippe verhängten die Strafe zwischen 1650 und 1800 nur in knapp zwei Prozent aller Kriminalfälle.[49]

Diejenigen, die es traf, hatten an der öffentlichen Beschämung allerdings schwer zu tragen. 1773 bat der lippische Halbmeier Brüning die Regierung, eine Schandstrafe für sich und seinen Vater auf dem Gnadenweg abzuwenden. Beide hatten einen Schäfer schwer misshandelt und waren zum Prangerstehen verurteilt worden. Dass sein »alter Vater welcher 75 Jahr in dieser Welt mit Ehren gelebet hatte«, sonntags »an den Pfal geschleppet, woselbst er drei Stunden lang zur Schau stehen, und sich halb zu Tode grämen mußte«, fand Brüning unangemessen. Auch Frau Wüstenbecker, die 1778 wegen Verleumdung eines verstorbenen Amtsrats am Schandpfahl stehen sollte, beklagte sich: »In meinem Alter von einigen 60 Jahren noch vor dem gantzen publico einer solchen beschimpflichen Strafe ausgesetzet zu werden, ist zu empfindlich, und für meine nahen Verwandten ebenfalls kränkend.« Dem pflichtete ihr Ehemann bei: Das Am-Pfahl-Stehen sei eine »öffentlich-schimpfliche criminal Leibes-Bestrafung«, »durch welche eine ganze Familie mit leidet«.[50] Wer irgend konnte, suchte sich ihr zu entziehen und entrichtete stattdessen einen Geldbetrag. In Hütten bei Schleswig gab der Bauer Gosche 1793 zu Protokoll, »er wolte seine beste Kuh lieber mißen, alß daß er am pfahle stehen wolte«.[51]

Der Pranger am Ende

Unbeliebt war der Schandpfahl nicht nur bei denen, die dort ausgestellt wurden. Auch bürgerliche Zeitgenossen, die ihn bloß aus der Ferne kannten, gingen politisch auf Distanz. Johann Adam Bergk, der Cesare Beccarias Dei delitti e delle pene1798 ins Deutsche übersetzte, verwahrte sich entschieden gegen »Strafen, welche alle Achtung vor dem Menschen vernichten«. Wer »einer moralischen Person alle Würde raubt und alle Achtung abspricht«, handele nicht nur wider das »Sittengesetz«, sondern auch »unzweckmäßig, weil diese Strafe nicht bessert«. Darüber hinaus, gab der liberale Kantianer zu bedenken, luden entehrende und unmäßige Strafen geradewegs dazu ein, den Bestraften zu bemitleiden, und unterhöhlten so die »Herrschaft des Rechts«.[52]

Dissonanzen zwischen öffentlicher Meinung und Strafpraxis traten im Laufe des 18. Jahrhunderts immer häufiger zutage. Berühmtheit erlangte der Fall des Londoner Ziegeleibesitzers und Schriftstellers Daniel Defoe. 1702 hatte er anonym ein satirisches Pamphlet veröffentlicht, von dem sich die anglikanischen Kirchenoberen ebenso angegriffen fühlten wie das Unterhaus. Nachdem es vom Henker öffentlich verbrannt worden war, verurteilte ein Gericht den mittlerweile bekannten Verfasser wegen aufrührerischer Beleidigungen zu einer empfindlichen Geld- und Gefängnisstrafe. Außerdem musste er im Juli 1703 drei Tage lang am Pranger stehen. Seinen Freunden und Anhängern war es zu verdanken, dass die öffentliche Beschämung zu einem persönlichen Triumph geriet: Sie verkauften den Umstehenden Exemplare der inkriminierten Schmähschrift sowie des eigens für diesen Anlass verfassten Satiregedichts Hymn to the Pillory (Hymne auf den Pranger) und schafften es, die Stimmung zu drehen. Anstatt Defoe mit faulen Eiern, Kot oder Steinen zu bewerfen, tranken die Anwesenden auf seine Gesundheit und schmückten den Pranger mit Blumen.[53]

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Daniel Defoe am Pranger

Eine ähnliche Revolte befürchtete die sächsische Regierung 1727 und empfahl deshalb, eine Prangerstrafe nicht zu vollstrecken. Stattdessen sollte man Anna Sophia Mittwoch, die bei den jüngsten konfessionellen Tumulten in Dresden Uhr und Silberzeug aus einem katholischen Haushalt gestohlen hatte, für zwei Jahre »harter Arbeit« in das neue Zucht- und Armenhaus einweisen. Würde die Frau, die das Diebesgut später wieder zurückgebracht hatte, tatsächlich an den Pranger gestellt, könnte »darüber und umb solches mit anzusehen ein großer zulauff von denen hiesigen Einwohnern und besonders dem gemeinen Volcke entstehen«. Ein erneuter Tumult sei nicht auszuschließen, wenn das Publikum seinem Unmut über die harte und beschämende Strafe an Ort und Stelle Luft mache. Unter diesen Umständen liege es nahe, die öffentliche in eine unsichtbare Strafe umzuwandeln.[54]

Dieser Fall bestätigt die These Foucaults, das 18. Jahrhundert habe mit der Geburt des Gefängnisses eine neue Technologie der Macht und Disziplinierung erfunden. Die geschlossene Anstalt entzog Straftäter dem öffentlichen Blick, unterwarf sie aber einer umso intensiveren Beobachtung und Kontrolle. Zudem verhinderte sie, dass die Bevölkerung an der Rechtspflege teilhatte und sich moralisch-emotional engagierte.[55] Dass jenes Engagement im Sinn der Obrigkeit ausfiel, war offenbar nicht mehr selbstverständlich. Das Publikum konnte die beschämende Kommunikation scheitern lassen, aus Mitleid mit der beschämten Person oder weil man sich explizit mit ihr identifizierte. Daniel Eaton, der den dritten Teil von Thomas Paines Age of Reason verlegt hatte und 1812 wegen gotteslästerlicher Beleidigung zu mehrmonatigem Gefängnis und zum Prangerstehen verurteilt worden war, bekam von der Menge, die zwischen zwölf- und zwanzigtausend Menschen zählte, Applaus und Erfrischungen gereicht. Und als zwei Jahre später der populäre Seeheld Thomas Lord Cochrane wegen Börsenbetrugs eine Stunde lang am Pranger stehen sollte, intervenierte die britische Regierung, ähnlich wie die sächsische 1727, und erließ ihm die Ausstellung aus Angst vor Sympathiebekundungen und Protesten.[56]

1815 brachte der Abgeordnete Michael Taylor einen Gesetzentwurf im britischen Unterhaus ein, der die Abschaffung des Prangers vorsah. Während das Unterhaus zustimmte, zeigten sich die Mitglieder des Oberhauses gespalten. Obwohl es heftige Kritik an einer Strafe hagelte, deren Wirkung von den Launen des »Mobs« abhänge, schloss sich die Mehrheit der Meinung des Lordkanzlers an, der den Pranger zumindest für Meineid und Betrug beibehalten wollte. Zwar kam er kaum noch zum Einsatz, doch schlug des Schandpfahls letzte Stunde erst 1837.[57]

Benjamin Rush, scharfer Kritiker der »Barbarey« an Pranger, Block und »Peitschsäule«, erlebte das nicht mehr. Der Arzt und unermüdliche Reformer, dessen Unterschrift auch die Unabhängigkeitserklärung der USA von 1776 zierte, war 1813 gestorben. Schon 1787 hatte er in Philadelphia über die gefährlichen Folgen öffentlicher Strafen doziert und war auf großes Interesse gestoßen. Coram publico vollstreckte Strafen würden, so sein Argument, »böse Menschen schlimmer machen« und »die Verbrechen ausbreiten«. Sie hinterließen »Narben«, die sowohl bei den Bestraften als auch bei den Zuschauern »den ganzen Charakter entstellen«. Deshalb sollten Strafen so gestaltet sein, »daß sie wirksamer zu Besserung der Verbrecher, und wohlthätiger für die Gesellschaft werden möchten«.[58]

Rush bezog sich in seinem rasch ins Deutsche übersetzten Plädoyer unter anderem auf den Advokaten Charles Dufriche de Valazé. Dieser hatte dem Bruder des französischen Königs 1784 eine Schrift gewidmet, in der er für gelindere Strafen plädierte und vor allem die schimpflichen Verstümmelungen (mutilations honteuses) aufs Korn nahm. Denn sie blieben ein Leben lang sichtbar und kennzeichneten ihre Träger für immer als ehrlos.[59] Im Jahr zuvor hatten sich bereits die beiden Dresdner Juristen Hans Ernst von Globig und Johann Georg Huster, deren Abhandlung von der Criminal-Gesetzgebung1782 den ersten Preis der Berner Ökonomischen Gesellschaft gewann, entschieden gegen »das Einbrennen, als eine grausame Schande« ausgesprochen.[60]1791 schließlich schaffte der stark von Beccarias Vorschlägen beeinflusste Code Pénal Brandmarkungen in Frankreich ab. Auch Strafschauspiele wie Pranger und Halseisen (carcan) wurden mit Rücksicht auf das Dispositiv individueller Besserung (des Straftäters) und allgemeiner Zivilisierung (des Publikums) eingeschränkt. Aber selbst Revolutionäre wollten auf das strafrechtliche Instrument der Bloßstellung, Beschämung und Ächtung nicht gänzlich verzichten.[61]

Zugleich fanden auch weniger revolutionär Gesinnte Gründe, gegen entehrende Strafen vorzugehen. Als Friedrich II. die preußischen Gerichte 1756 ermahnte, zu Festungs-, Zucht- oder Arbeitshausstrafen Verurteilte nicht zusätzlich noch für ehrlos zu erklären, berief er sich auf Vernunft und Pragmatik. »Ratione status politici« sei es »sehr nachtheilig«, einen Straftäter mit Infamie zu belegen. Denn damit verdamme man ihn dazu, »ein unnützes Mitglied der Societät« zu werden. Sein ehrloser Status würde es ihm nach der Freilassung unmöglich machen, »fernerhin sein Brod auf eine ehrliche Art zu verdienen«.[62] Andere meinten dasselbe, formulierten es nur gefälliger und näher am aufgeklärten Zeitgeschmack. Der Verlust der Ehre, schrieb der österreichische Regierungsrat Joseph von Sonnenfels 1777, »welcher die Folge der Strafe, der Verstümmlung, Brandmarkung, Aussetzung auf der Schandbühne, oder selbst eine Strafe seyn kann«, stehe »dem Endzwecke in der künftigen Besserung des Bestraften entgegen«.[63]

Das preußische Allgemeine Landrecht nahm dazu noch keine klare Haltung ein. Generell setzte es eher auf Abschreckung als auf Besserung und Resozialisierung. So sollte Mitgliedern von Räuberbanden eine Rückkehr in die bürgerliche Gesellschaft für alle Zeit verwehrt werden, indem man ihnen ein S (für Schelm) in die Schulter einbrannte. Der Pranger war als Begleitstrafe für lebenslange Festungsarbeit vorgesehen, die gegen betrügerische Bankrotteure verhängt wurde. Doch konnten auch kürzere Freiheitsstrafen, wie sie für Meineide oder Urkundenfälschung ausgesprochen wurden, mit öffentlicher Ausstellung einhergehen.[64]

Gleichwohl steuerte die preußische Politik bei den traditionellen Schand- und Ehrenstrafen einen merkwürdigen Zickzackkurs. »Mehrentheils«, erläuterte der federführende Großkanzler Johann Heinrich von Carmer 1794, habe sich das ALR darüber »nur in allgemeinen Terminis« ausgedrückt. Dahinter stehe die Absicht, »diese Arten von Bestrafung nach und nach, so viel als möglich, außer Uebung zu bringen«, denn sie »ersticken und tödten in den Gemüthern der niedrigern Volksklassen vollends ganz jenen ohnehin nur schwachen Ehrtrieb und die Selbstachtung, die in besser organisirten Gemüthern ein so kräftiges Abhaltungsmittel von mannigfaltigen Verbrechen ist. Sie sind ein Haupthinderniß gegen jede Veredelung der Moralität bei diesen Volksklassen.« Allerdings erlaubte Carmer auf Anfrage der Kurmärkischen Kammer, dass Provinzgerichte weiterhin Strafen wie den spanischen Mantel und die Fiedel verhängen durften, jedoch »mit großer Vorsicht, und so selten als möglich« – und nur »so lange es an ordentlichen Gefängnissen fehlt«.[65]

Zwischen der Absicht des Gesetzbuchs und der Praxis örtlicher Gerichte klaffte also ein großer Spalt. Längst nicht immer mochten sich Provinzbehörden den hauptstädtischen Vorgaben und Überlegungen anschließen. Selbst wenn sich das ALR mit entehrenden und beschämenden Strafen schwertat, schaffte es sie nicht komplett ab.[66] Dennoch kamen sie, ganz in Carmers Sinn, mit der Zeit außer Gebrauch. Offenbar leuchteten die Argumente, die gegen Ehrenstrafen »so viel« und nach Ansicht des Großkanzlers auch »mit vollkommenem Grunde erinnert worden« seien, zunehmend ein: Sie verhinderten, fasste der liberale Kammergerichtsrat Friedrich Benjamin Heinrich Bode 1827 zusammen, die moralische »Besserung« der Bestraften und deren »Wiederaufnahme« in den Kreis der »Mitbürger und Standesgenossen«.[67]

Trotzdem dauerte es lange, bis sich die europäischen Staaten prinzipiell von Ehren- und Schandstrafen verabschiedeten. Der napoleonische Code Pénal von 1810 hatte sie sogar unter Hinweis auf ihre Abschreckungswirkung wieder verschärft. Wer zu lebenslänglicher oder temporärer Zwangsarbeit bzw. Gefängnis verurteilt wurde, musste vor Antritt der Strafe öffentlich ausgestellt werden (exposé aux regards du peuple sur la place publique).[68] Seit 1832 konnte diese exposition publique bei zeitlich begrenzten Strafen entfallen, um die Reintegration der Verurteilten in die bürgerliche Gesellschaft zu erleichtern.[69] Es bedurfte einer weiteren Revolution, um die Strafe der öffentlichen Ausstellung endgültig aus dem französischen Gesetzbuch zu verbannen. Am 12. April 1848 erging ein entsprechendes Dekret; begründet wurde es unter anderem mit dem Verweis auf die »dignité humaine«, die am Pranger mit Füßen getreten werde.[70]

Menschenwürde als Argument

Mit der menschlichen Würde zu argumentieren war damals nicht ungewöhnlich. Bereits 1818 hatten die Mitglieder einer rheinischen Justizkommission gefordert, »daß auch in dem Schuldigen, in dem Verbrecher immer noch die Menschenwürde zu achten ist«. Deshalb sei jede Strafe abzulehnen, die »das Ehrgefühl auslöscht, und den Menschen zum Thiere herabwürdigt«.[71] Sie bemühten damit eine Denkfigur, die schon 1798 in Bergks Kommentaren zu Beccarias Schrift aufgetaucht war, ohne die allgemeine Debatte merklich zu beeinflussen. Zwar bemängelten auch andere Zeitgenossen, dass beschimpfende, demütigende und beschämende Strafen »den Ehrtrieb ersticken« und so »die mächtige Triebfeder zum Wohlverhalten in dem Staate« beschädigten.[72] Allerdings blieb Ehre bei ihnen auf den Dienst am Staat und an der bürgerlichen Gesellschaft bezogen, während Bergk und die rheinischen Juristen erstmals Ehrgefühl und Menschenwürde zusammendachten. Damit begann ein neuer, moderner Diskurs, der die Debatte über Ehrenschutz und Ehrenstrafen bis heute prägt.

Als die Kommission dem preußischen Justizminister 1818 ihre Gutachten vorlegte, verfolgte sie das Ziel, die Übertragung preußischen Rechts auf die Rheinprovinzen zu verhindern. Seit den Revolutionskriegen des späten 18. Jahrhunderts standen diese unter französischem Recht, woran die Wiedereingliederung in den preußischen Staat 1815 zunächst nichts geändert hatte. Das französische Recht kam bürgerlichen Interessen in vielerlei Hinsicht entgegen, weshalb man es nicht widerstandslos aufgeben wollte. Was die Schand- und Ehrenstrafen betraf, galten jedoch andere Standards. Hatten französische Soldaten die in den besetzten Gebieten vorgefundenen Pranger als Symbole des Ancien Régime zunächst abgerissen, führte die Verwaltung sie kurz darauf wieder ein. Nach Napoleons Niederlage 1813 beeilten sich die neuen preußischen Gouverneure, die »zweckwidrige(n) Ehrenstrafen« des französischen Strafgesetzbuchs zu eliminieren und »eine der Achtung und dem Werthe des Menschen und dem deutschen Sinne angemessene Milde« walten zu lassen. Der Pranger, schärften sie den Gerichten ein, sei »nicht nothwendige Folge einer Criminalstrafe«; vielmehr bleibe es richterlichem Ermessen überlassen, »in welchen Fällen darauf mit zu erkennen sei«. 1815 wies der Koblenzer Oberpräsident alle Prokuratoren an den Gerichtshöfen ausdrücklich an, verhängte Prangerstrafen nicht zu vollstrecken und »mir das Urtheil mit den Acten einzusenden«.[73]

Das ging auf eine Verfügung des Justizministers zurück, der solche Strafen weitestgehend einschränken wollte. Nur dann, wenn sie aller Voraussicht nach tatsächlich »als Abschreckungsmittel« wirkten, hielt er sie für angemessen, etwa im Fall zweier Elberfelder Schneider, die einem Tuchfärber auf offener Straße die Pelzkappe geraubt hatten und dafür 1837 zu Prangerstrafe und fünfjähriger Zwangsarbeit verurteilt wurden. Ging es dagegen um »widernatürliche« und »scheußliche« Verbrechen wie die Vergewaltigung der eigenen Schwester, empfahl der Minister dem König, die Prangerstrafe fallenzulassen, damit die Tat »im Interesse des Publikums und dessen sittlicher Wohlfahrt, zweckmäßiger der Vergessenheit übergeben« werde. Hier suchte der Staat die Moralität der Bürger zu schützen, indem er die »Publicität« in Form öffentlicher Ausstellung begrenzte.[74] Andererseits gab es Verbrechen, für die der Pranger, verglichen mit der vom französischen Gesetz vorgesehenen Strafe, geradezu menschenfreundlich schien. So ordnete König Friedrich Wilhelm III. 1835 an, dass bei Münzvergehen »statt des Staupenschlags auf Ausstellung am Pranger zu erkennen« sei.[75] Staupenschlag, das öffentliche Auspeitschen eines Verurteilten, war mit dem »deutschen Sinne« offenbar nicht mehr vereinbar, während dem Pranger unter Umständen noch eine abschreckende Wirkung zugebilligt wurde.[76]

In dieser Funktion tauchte er auch in den juristischen und politischen Debatten auf, die in Preußen seit den 1820er Jahren über eine notwendige Gesetzrevision geführt wurden. Das Allgemeine Landrecht galt schon bald nach seinem Inkrafttreten 1794 als überarbeitungsbedürftig und schien mit den Zeitverhältnissen, die sich durch die Ereignisse in Frankreich und die ihnen folgenden preußischen Reformen gründlich verändert hatten, nicht Schritt zu halten. Als die vom König eingesetzte Revisionskommission 1827 den ersten Entwurf für ein neues Strafrecht vorlegte, sah dieser einen Paragraphen vor, der ähnlich wie der Code Pénal von 1810 lebenslange Zwangsarbeit mit öffentlicher Ausstellung koppelte. Auch nachfolgende Entwürfe hielten daran fest, wollten die Strafe aber auf Männer beschränken und auf eine halbe Stunde begrenzen, beides »zur Vorbeugung der dadurch oft veranlaßten Exzesse«.[77] Seit Mitte der 1830er Jahre jedoch war von dieser Strafform keine Rede mehr, und sie wurde auch im neuen Strafgesetzbuch von 1851 nicht erwähnt. Das Prinzip der Abschreckung war endgültig dem der Besserung und, wie es Kammergerichtsrat Bode 1827 ausdrückte, Aussöhnung »mit dem Bürgervereine« gewichen. Und auch die Menschenwürde beziehungsweise das, was man 1813 mit der »Achtung und dem Werthe des Menschen« gemeint hatte, kam fortan verstärkt zum Zuge.[78]

Körperliche Züchtigung und der Charakter der Nation

Was genau unter Würde, Achtung und Wert des Menschen zu verstehen war, blieb allerdings umstritten. Dabei sorgte vor allem die Strafe der körperlichen Züchtigung für Zündstoff. Schon während der jahrzehntelangen Arbeit an der preußischen Gesetzrevision wurde darüber sehr viel ausführlicher und kontroverser debattiert als über den Pranger, von der Brandmarkung ganz zu schweigen. Der Meinungsstreit lässt sich sogar bis zu den Vorarbeiten zum Allgemeinen Landrecht zurückverfolgen. Als Svarez den preußischen Kronprinzen 1791/92 in die Grundsätze der Rechtswissenschaft und Rechtspolitik einführte, übte er scharfe Kritik an der Prügelstrafe. Sie sei zwar beim Militär üblich, bei »Verbrechern des Zivilstandes« hingegen durchweg schädlich: »Einesteils wegen der darin liegenden zu großen Willkürlichkeit, andernteils, weil dadurch der Charakter der Nation zu sehr erniedrigt wird«, wie man es bei Russen und Chinesen beobachten könne.[79]

Mit dieser liberalen Position vermochte sich Carmers Starjurist aber nicht durchzusetzen. Svarez’ Kollege Ernst Ferdinand Klein, der für das Strafrecht des ALR verantwortlich zeichnete, stand körperlichen Züchtigungen keineswegs negativ gegenüber. Das Gesetzbuch, das sich mit Ehren- und Schandstrafen ansonsten eher zurückhielt, sah Prügel denn auch für alle möglichen Vergehen und Verbrechen vor: für Diebstähle, Tumulte, die Beschädigung öffentlicher Denkmäler, doppelte Taufen, »gegen muthwillige Buben, welche öffentliche Unruhe erregen oder grobe Unsittlichkeiten begehen« sowie »bei verheimlichter Schwangerschaft und Niederkunft«.[80]

Kleins Handschrift prägte auch eine königliche Verordnung aus dem Jahr 1799