Die politische Differenz - Oliver Marchart - E-Book

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Oliver Marchart

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Beschreibung

Kaum ein Begriff wird derzeit heftiger diskutiert als der des Politischen, der im starken Kontrast zu dem steht, was gemeinhin unter »Politik« verstanden wird. Oliver Marchart legt nun den ersten systematischen Vergleich der Denker des Politischen vor. Er unterzieht die Schriften von Jean-Luc Nancy, Claude Lefort, Alain Badiou, Ernesto Laclau und Giorgio Agamben einer kritischen Analyse, verortet sie in den breiteren Strömungen eines Linksheideggerianismus und bezieht sie auf den systematischen Horizont eines Denkens ohne Letztbegründungen. In diesem Horizont zeigen sich die philosophischen, politischen und ethischen Implikationen eines Denkens der politischen Differenz: die heutige Rolle politischer Ontologie, die Möglichkeiten einer »minimalen Politik« und eine demokratische Ethik der Selbstentfremdung.

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Kaum ein Begriff wird derzeit heftiger diskutiert als der des Politischen, der im starken Kontrast zu dem steht, was gemeinhin unter »Politik« verstanden wird. Oliver Marchart legt nun den ersten systematischen Vergleich der Denker des Politischen vor. Er unterzieht die Schriften von Jean-Luc Nancy, Claude Lefort, Alain Badiou, Ernesto Laclau und Giorgio Agamben einer kritischen Analyse, verortet sie in den breiteren Strömungen eines Linksheideggerianismus und bezieht sie auf den systematischen Horizont eines Denkens ohne Letztbegründungen. In diesem Horizont zeigen sich die philosophischen, politischen und ethischen Implikationen eines Denkens der politischen Differenz: die heutige Rolle politischer Ontologie, die Möglichkeiten einer »minimalen Politik« und eine demokratische Ethik der Selbstentfremdung.

Oliver Marchart ist SNF-Professor am Soziologischen Seminar der Universität Luzern.

Oliver Marchart

Die politische Differenz

Zum Denken des Politischenbei Nancy, Lefort, Badiou,Laclau und Agamben

Suhrkamp

Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

© Suhrkamp Verlag Berlin 2010

Der vorliegende Text folgt der 2. Auflage des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1956

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

eISBN 978-3-518-73287-8

www.suhrkamp.de

5Inhalt

Vorwort

I.Grundlagen des Postfundamentalismus

1. Einleitung: Auf dem abwesenden Grund des Sozialen

2. Politik und das Politische:Genealogie einer konzeptuellen Differenz

3. Ein Heideggerianismus der Linken?Postfundamentalismus und notwendige Kontingenz

II. Spielformen der politischen Differenz

4. Der Entzug des Politischen: Jean-Luc Nancy

5. Die doppelte Teilung der Gesellschaft: Claude Lefort

6. Der Staat und die Politik der Wahrheit: Alain Badiou

Exkurs zu Jacques Rancière:Die Polizei und die Politik der Gleichheit

7. Das Politische und die Unmöglichkeit von Gesellschaft: Ernesto Laclau

8. Politische Differenz ohne Politik: Giorgio Agamben

III.Konsequenzen eines non sequitur

9. Politische Ontologie:prima philosophia des Postfundamentalismus

10. Minimale Politik: Bedingungen geringsten Handelns

11. Demokratische Ethik:Die Selbstentfremdung des Sozialen

6Bibliographie

Namenregister

7Vorwort

Politisches Denken ist gegenwärtig mit einer widersprüchlichen, wenn nicht paradoxen Situation konfrontiert. Bis 1989, so hat es den Anschein, konnten die Regime des demokratischen Westens wie des realsozialistischen Ostens auf eine Reihe spiegelbildlicher Gewissheiten bauen. Wähnten die einen die »Gesetze der Geschichte« und das Prinzip der sozialen Gleichheit auf ihrer Seite, so vertrauten die anderen auf die »Gesetze des Marktes« und das Prinzip der individuellen Freiheit. Die Gewissheitssysteme beider Seiten wurden durch den Eisernen Vorhang weniger getrennt als, wie von einer eisernen Klammer, zusammengehalten. Dieses Zeitalter der Gewissheiten, wie man es nennen könnte, schien mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus an ein Ende gekommen.

Doch dieser Eindruck täuscht, denn die Gewissheiten waren alles andere als gewiss, und die wenigsten glaubten blind an sie. Die wirtschaftliche und politische Stagnation der Länder des Ostens sprach der Idee vom unaufhörlichen Fortschreiten des Proletariats in eine leuchtende Zukunft Hohn. Wahrscheinlich war Nicolae Ceausescu der Einzige, der bis zuletzt an der Gewissheit festhielt, in seinem Reich würde, wie im Text der Internationale vorhergesagt, »die Sonn’ ohn’ Unterlass« scheinen – nicht zuletzt deshalb, weil er sich selbst für die Sonne des rumänischen Volkes hielt. Doch auch in den Ländern des kapitalistischen Westens hatte die Systemkonkurrenz dazu beigetragen, dass ein gewisser Zweifel an der segenhaften Wirkung des freien Spiels der Marktkräfte bestehen blieb, ja im fordistischen Nachkriegskompromiss institutionalisiert war. Spätestens nach 1989, wenn auch vorbereitet durch die neoliberalen Experimente im Chile Pinochets, in Thatchers Großbritannien und in den Vereinigten Staaten Reagans, war für Zweifler kein Platz mehr. Es entstand der Eindruck – geschichtsphilosophisch ausformuliert von Francis Fukuyama –, der kapitalistische Westen, nicht der Osten habe die ehernen Gesetze der Geschichte entdeckt, denn sie erwiesen sich identisch mit den vorgeblichen Naturgesetzen des Marktes. Doch bereits ein Jahrzehnt nach dem Mauerfall machte in Seattle eine weltweite antikapitalistische Bewegung auf sich aufmerksam; ein weiteres Jahrzehnt später brach8ten die Folgen der Finanzkrise manch kapitalistische Gewissheit ins Wanken (jedenfalls bis auf die eine, dass im Kapitalismus die Gewinne privatisiert und die Verluste sozialisiert werden). Heute wirkt der Fukuyama von damals, in seinem realitätsfremden Glauben an eine leuchtende Zukunft, die bereits gekommen ist, wie ein kapitalistischer Ceausescu. Noch immer nicht scheint die Sonne ohn’ Unterlass.

Eher erscheint die Welt in ein durchgehendes chiaroscuro getaucht, in ein Zwielicht aus Gewissheit und Zweifel. Die philosophischen, theoretischen und politischen Fundamente, Prinzipien oder Werte, auf denen die Gesellschaft errichtet ist, erweisen sich als brüchig. Das bedeutet aber nicht, dass alle Fundamente verschwunden wären. Etwas anderes ist geschehen: Was in der gegenwärtigen Situation erkennbar wird, ist nicht das völlige Verschwinden aller Fundamente, sondern der strittige, umkämpfte Charakter eines jeden Fundaments. Die historische Konstellation, mit der wir konfrontiert sind, wird daher im Folgenden als postfundamentalistisch, nicht etwa als antifundamentalistisch charakterisiert. Prinzipien, Werte und Fundamente werden dauernd erfunden, verteidigt oder fallengelassen. Selbst das Zeitalter der Gewissheit könnte sich bei näherer Betrachtung als ein, wie Zygmunt Bauman sagt, »Zeitalter der Kontingenz« erweisen. Denn wo zwei eherne Gewissheitssysteme in Konflikt miteinander liegen, dort wird bereits offenbar, dass die eigenen Gewissheiten alles andere als selbstverständlich sind, ja dass sie auch andere Gewissheiten oder die Gewissheiten anderer sein könnten.

Die Politische Theorie, erkennt sie diese postfundamentalistische Konstellation an, steht vor erheblichen Herausforderungen. Wie Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy es formulieren: »Mit dem Zusammenbruch der Sicherheiten, mit dem Verfall ihrer Fundamente und der Auslöschung ihrer Horizonte wurde es möglich – ja sogar notwendig und dringlich, die Frage dessen wieder aufzunehmen, was ›die Essenz des Politischen‹ genannt wurde« (Nancy 1997: 144). Anders gesagt: Politisches Denken muss sich als Denken des Politischen neu erfinden. Und zwar deshalb, weil das Politische auf die Frage der Gründung verweist, die sich jeder Gesellschaft stellt, sobald sich die Gewissheiten, Prinzipien und Werte, auf denen sie gebaut ist, als fungibel erwiesen haben.

Unsere herkömmlichen Politikbegriffe sind wenig geeignet, um 9diese fundamentale Dimension der Gründung unter Bedingungen der Kontingenz, also der Abwesenheit eines letzten Grundes, fassen zu können – zu sehr sind sie einer Art Bereichsdenken, einem Denken in gesellschaftlichen Handlungssphären oder Funktionssystemen verhaftet. Daher hat sich im postfundamentalistischen Denken eine Differenzierung herausgebildet zwischen dem Bereich der Politik und der gründenden und zugleich entgründenden Dimension des Politischen: Nennen wir sie die politische Differenz. In der einen oder anderen Form findet man sie bei vielen der politischen Denker des Postfundamentalismus. Darunter, um nur jene zu nennen, denen im Folgenden ein Kapitel gewidmet sein wird, Jean-Luc Nancy, Claude Lefort, Alain Badiou, Jacques Rancière, Ernesto Laclau und Giorgio Agamben.

Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatten, die sich um deren Werk entsponnen haben, werden mit dem vorliegenden Buch zumindest drei Ziele verfolgt. Zum Ersten wird der Differenz zwischen »Politik« und »dem Politischen« begriffshistorisch nachgespürt. Es werden die philosophischen Umrisse jenes Phänomens gezogen, das wir mit dem Begriff des Postfundamentalismus einzufangen versuchten (Teil I). Ein systematischer Vergleich der eben genannten Denker – sowie einer Reihe anderer – wird uns zweitens ermöglichen, ein Panorama des aktuellen Denkens des Politischen zu entwerfen, oder genauer: dessen Konstellation nachzuzeichnen. Damit sollen die Vorzüge der jeweiligen Ansätze, aber auch die blinden Flecken der Autoren markiert werden (Teil II). Schließlich werden die philosophischen, politischen und ethischen Implikationen eines Denkens entwickelt, das an die genannten Ansätze kritisch anschließt (Teil III).

Dass ein, soweit möglich, systematisches Durchdenken der aktuellen Theorien des Politischen dringend geboten ist, scheint mir unabweisbar. Denn zumeist wird jede für sich, also gleichsam in Isolation diskutiert (gelegentlich werden zwei Ansätze gegeneinandergestellt). Der Sinn und die Bedeutung der politischen Differenz – wie auch des postfundamentalistischen Denkens im Ganzen – erschließt sich jedoch nur, wenn die aktuellen Theorien des Politischen in ihrer Konstellation betrachtet werden. Wie Agnes Heller einmal bemerkte: »Die Kontroverse um den Begriff des Politischen ist von weit ernsterer Natur als nur ein Familienstreit zwischen Paradigmen; sie dreht sich um die Relevanz 10oder Irrelevanz politischer Philosophie in unserer Zeit« (Heller 1991: 336).

* * *

Die vorliegende Fassung ist eine überarbeitete und stark erweiterte Version von Post-foundational Political Thought. Political Difference in Nancy, Lefort, Badiou and Laclau, Edinburgh 2007. Die im Schlusskapitel der englischen Ausgabe nur angerissenen Thesen und Schlussfolgerungen wurden in den Kapiteln des Teils III nun ausführlich entwickelt; darüber hinaus wurde Teil II um einen Exkurs zu Rancière und ein Kapitel zu Agamben ergänzt, das Kapitel zu Laclau wurde stark erweitert. Der Autor bedankt sich bei Edinburgh University Press für die Rückübertragung der deutschen Übersetzungsrechte. Die vorgestellten Argumente haben in der Phase ihrer Formulierung sehr profitiert von Kommentaren von Ernesto Laclau, Chantal Mouffe, Shu-fen Lin, Simon Critchley, Etienne Balibar, Benjamin Arditi, Jeremy Valentine, Linda Zerilli, Majid Yar, Yannis Stavrakakis, Urs Stäheli, Jelica Sumic-Riha, Rado Riha und Kari Palonen. Ihnen allen sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Für Kommentare und Anmerkungen zur deutschen Manuskriptfassung bedanke ich mich vor allem bei Nora Sternfeld und Andreas Gelhard. Frühere Versionen der Kapitel 4, 5 und 7 erschienen in Acta PhilosophicaXXI/2 (2000), S. 51-82; Polygraph 17 (2005), S. 105-26, sowie in Frank Meier, Janine Böckelmann (Hg.), Die gouvernementale Maschine. Zur politischen Philosophie Giorgio Agambens, Münster 2007, S. 10-27.

11I.Grundlagen des Postfundamentalismus

13Kapitel 1Einleitung: Auf dem abwesenden Grund des Sozialen

1.1. Die Erfindung des Politischen

Im Jahr 2001 übernahm Pierre Rosanvallon, ein früherer Schüler Claude Leforts, einen der »modernen und gegenwärtigen Geschichte des Politischen« gewidmeten Lehrstuhl am Collège de France. Des Politischen, so betonte Rosanvallon in seiner Inauguralrede, in ausdrücklicher Unterscheidung von der Politik: »Indem ich substantivisch von dem Politischen [du politique] spreche, qualifiziere ich damit sowohl eine Modalität der Existenz des gemeinsamen Lebens als auch eine Form kollektiven Handelns, die sich implizit von der Ausübung der Politik unterscheidet. Sich auf das Politische und nicht auf die Politik beziehen, d. h. von Macht und von Gesetz, vom Staat und der Nation, von der Gleichheit und der Gerechtigkeit, von der Identität und der Differenz, von der citoyenneté und Zivilität, kurzum: heißt von allem sprechen, was ein Gemeinwesen jenseits unmittelbarer parteilicher Konkurrenz um die Ausübung von Macht, tagtäglichen Regierungshandelns und des gewöhnlichen Lebens der Institutionen konstituiert« (Rosanvallon 2003: 14 [Wenn nicht anders in der Bibliographie angegeben, stammen alle Übersetzungen von O. M.]).

Damit erwies sich eine konzeptuelle Differenzierung zwischen la politique und le politique bzw. zwischen derPolitik und dem Politischen als endgültig kanonisiert, die in den letzten Jahrzehnten in der politischen Theorie und Philosophie Fuß gefasst hatte. Im deutschen Sprachraum wurde sie von zwei der bedeutendsten historischen Wörterbücher schon seit vielen Jahren registriert (Sellin 1978; Vollrath 1989); inzwischen ging sie auf die eine oder andere Weise in Einführungen in die Politik ein (Meyer 2000, auch Meyer 1994). Sie wurde zu Zwecken der Sozialanalyse produktiv gemacht (Negt/Kluge 1992; Beck 1993) und wird derzeit erneut aufgegriffen (Bedorf/Röttgers 2010; Bröckling/Feustel 2010; Buden 2009). Auch in der englischsprachigen Welt wurde the political in Differenz zu politics zu einem durchaus geläufigen theoretischen Terminus (Beardsworth 1996; Dillon 1996; Stavrakakis 1999; Arditi/Valentine 141999; Williams 2000). Es kann aber kein Zweifel daran bestehen, dass die Differenz zwischen Politik und dem Politischen ihre maßgebliche Ausarbeitung im französischen Denken erfuhr. Bereits 1957 wurde sie mit Paul Ricœurs Aufsatz »Das politische Paradox« eingeführt (siehe Kapitel 2) und in den 1980er Jahren von Jean-Luc Nancy und Philippe Lacoue-Labarthe an deren Centrede recherches philosophiques sur le politique aufgenommen, von wo aus sie weitere Philosophen wie Claude Lefort, Alain Badiou und Jacques Rancière motivierte, ihre politischen Theorien in Begriffen der Differenz von la und le politique zu reformulieren oder zumindest mit dieser kritisch abzugleichen.

Natürlich produzieren diese Theoretiker – hinzuzufügen wären Ernesto Laclau, Chantal Mouffe, Giorgio Agamben, Roberto Esposito und viele andere – eine große Bandbreite an Spielformen des Begriffs des Politischen. Die unterschiedlichen Spielformen werden nicht durch einen übergeordneten Rahmen zusammengehalten, sondern eher durch Familienähnlichkeiten, die von der gemeinsamen Distanz gegenüber dem landläufigen Politikverständnis bestimmt sind. Die folgende Untersuchung stellt nicht zuletzt einen Versuch dar, diese Familienähnlichkeiten und die theoretische Konstellation, der sie entstammen, etwas systematischer zu erfassen. Im zweiten Kapitel werden wir einen kurzen Abriss der Begriffsgeschichte des Politischen geben. Dabei wird sich zeigen, dass zumindest zwei Traditionslinien – eine auf Carl Schmitt und eine auf Hannah Arendt zurückgehende – unterschieden werden müssen. In den in Teil II versammelten Kapiteln wird dann die Konstellation aktueller Theoretiker des Politischen vorgestellt – darunter Nancy, Lefort, Badiou, Rancière, Laclau und Agamben. Zwar greifen diese gelegentlich auf schmittianische oder arendtianische Denkfiguren zurück, sie bilden aber doch eine eigenständige, im Rahmen der französischen Heidegger-Rezeption situierte Traditionslinie.

Die vergleichende Darstellung dieser Theorien ist zweifelsohne hilfreich, um den Familienähnlichkeiten im Begriff des Politischen auf die Spur zu kommen. Es würde aber nicht ausreichen, verschiedene Begriffsdefinitionen einfach nur aneinanderzureihen. Was man mit Heidegger die »Grundfrage«[1] dieses Denkens nennen 15muss, erfordert einen etwas riskanteren Schritt: Nicht nur soll die konzeptuelle Genealogie des Begriffs des Politischen nachgezeichnet werden, darüber hinaus soll nach dem Grund seiner ursprünglichen Ablösung von jenem der Politik (bzw. des Sozialen) gefragt werden. Warum erweist sich »Politik«, als ein alleinstehendes Konzept, unter Bedingungen aktueller Theoriebildung als unzureichend und muss um einen weiteren Begriff ergänzt werden?

Unserer Hypothese nach verweist die politische Differenz, und als solche soll die Differenz zwischen der Politik und dem Politischen im Folgenden bezeichnet werden, symptomatisch auf die Krise des fundamentalistischen Denkhorizonts. Unter Fundamentalismus (foundationalism) sind besonders jene Positionen zu verstehen, die von fundamentalen, d. h. revisionsresistenten Prinzipien, Gesetzen oder objektiven Realitäten ausgehen, die jedem sozialen oder politischen Zugriff entzogen sind. Ein einst wirkmächtiges Beispiel ist der ökonomische Determinismus, also die Annahme ökonomisch bestimmter historischer Entwicklungsgesetze, wie sie von Teilen der marxistischen Tradition verfochten wurde. Letztbegründungsphilosophien und -wissenschaften dieser Art gelten heute als ausgestorben. Doch man darf sich nicht täuschen. Der Fundamentalismus lebt in vielen Ansätzen fort – man denke nur an den Neoliberalismus und dessen Behauptung von den unabänderlichen Naturgesetzen des Marktes oder an all die hochsubventionierten Versuche, soziale und psychologische Identitätsmerkmale in den menschlichen Genen aufzuspüren. Es wäre also ein wenig verfrüht, im wissenschaftlichen und theoretischen Fundamentalismus ein Relikt der Vergangenheit zu vermuten – ganz zu schweigen von den politischen Neo-Fundamentalismen, die alles daransetzen, Gesellschaft wieder auf unwandelbare Prinzipien zu gründen.

Und doch bleibt kein Grundlegungsversuch unhinterfragt. Dem Fundamentalismus macht ein Phänomen zu schaffen, das Claude Lefort mit dem Wort von der Auflösung der »Grundlagen aller Gewißheit« (Lefort 1990a: 296) treffend kennzeichnet. Kein gesellschaftlicher Akteur ist heute in der Lage, ein bestimmtes Zeichen der Gewissheit zum positiven Fundament des Sozialen, der Politik oder des Denkens zu erheben. Was daher an den Bruchstellen des 16fundamentalistischen Horizonts sichtbar wird, ist jenes Denken des Postfundamentalismus, das im Zentrum unserer Untersuchung steht.[2] Unter Postfundamentalismus wollen wir einen Prozess unabschließbarer Infragestellung metaphysischer Figuren der Fundierung und Letztbegründung verstehen – Figuren wie Totalität, Universalität, Substanz, Essenz, Subjekt oder Struktur, aber auch Markt, Gene, Geschlecht, Hautfarbe, kulturelle Identität, Staat, Nation etc.

Wie in Kapitel 3 ausgeführt wird, erweist sich der Postfundamentalismus aber nicht einfach als Gegenparadigma zum Fundamentalismus (dann würde es sich um einen bloßen Antifundamentalismus handeln). Wenn sich der Postfundamentalismus als neuer Horizont eröffnet, so nur in Form eines sich ausdehnenden Randes des fundamentalistischen Horizonts (Schürmann 1990: 4). Und zwar deshalb, weil im postfundamentalistischen Denken die Notwendigkeit (partieller) Gründungen nicht rundheraus bestritten wird. Eher arbeitet man mit der Hypothese von der Abwesenheit einesletzten, nicht einesjeden Grundes. In keiner Weise wird von den Postfundamentalisten, die wir im Folgenden diskutieren, also behauptet, wir lebten in Gesellschaften, die aller Fundamente verlustig gegangen wären – das unterscheidet deren Ansätze von einem inzwischen etwas aus der Mode gekommenen anything goes-Postmodernismus oder von Simulationstheorien à la Baudrillard. Bestritten wird die Möglichkeit von Letztbegründungen, nicht die Notwendigkeit partieller und immer nur vorläufiger Gründungsversuche. Nicht zu Unrecht spricht Judith Butler (Butler 1992) daher von contingent foundations – d. h. von einer Vielzahl kontingenter, umkämpfter und früher oder später scheiternder Versuche, das Soziale mit Fundamenten zu versehen.

Man sieht bereits, dass der Postfundamentalismus die im weitesten Sinne politische Dimension des Sozialen in den Vordergrund rückt. Nicht alle sozialen Fundamente haben sich in Luft aufgelöst, so die postfundamentalistische These, sondern der Geltungsanspruch eines jeden Fundaments ist umkämpft und steht prinzipiell zur Disposition. Er kann nur hervorgehen aus dem unabstellbaren Spiel konkurrierender Gründungsversuche. Damit bleibt die Di17mension der Gründung selbst dort noch präsent, wo ein letzter Grund abwesend ist. Ja, mit einer für das postfundamentalistische Denken typischen Volte muss man sogar sagen: Nur unter der notwendigen Bedingung der Abwesenheit eines letzen Grundes werden überhaupt plurale und partielle Gründungsversuche möglich. So gesehen bleibt im postfundamentalistischen Denken der »Grund« anwesend in Form notwendiger Abwesenheit (wir werden dieses Argument in Kapitel 3 ausführen). Oder wie Lefort und Gauchet in erkennbar heideggerianischer Terminologie formulieren: »Indem es in seinem Sein offen ist für seine anwesend-abwesende Gründung, ist das Gesellschaftliche fortgesetzte Stiftung und Institution seiner selbst« (Lefort/Gauchet 1990: 96).

In diesem, sagen wir ruhig, fundamentalen Sinn erscheint der Begriff des Politischen auf der Bühne gegenwärtigen Denkens. Er musste eingeführt werden, so unsere Vermutung, um jene Dimension konzeptuell einzufangen, die sich unübersehbar auftat, nachdem die Gültigkeit aller Fundamente und Prinzipien ungewiss geworden war: die Dimension der immer aufs Neue anstehenden Institution von Gesellschaft. Eine Welt, die sich um stabile Fundamente – z. B. um eine göttlich legitimierte Feudalordnung oder um unhinterfragte Klassenhierarchien – zu organisieren glaubt, benötigt keinen Begriff des Politischen. Erst einer Gesellschaft, der kein archimedischer Punkt, kein substanzielles Gemeingut, kein unhinterfragter Wert verfügbar ist, steht die eigene Institution immer aufs Neue zur Aufgabe. Und zwar deshalb immer aufs Neue, weil diese Gesellschaft nie letztgültig instituiert werden kann. Oder genauer: weil sich zunehmend die postfundamentalistische Gewissheit durchsetzt, die, wenn man so will, Ungewissheitsgewissheit, dass jeder Gründungsversuch in letzter Instanz zum Scheitern verurteilt ist.

Auf diese Weise spiegelt der neu eingeführte Begriff des Politischen der Gesellschaft sowohl die Dimension ihrer eigenen Gründung als auch den Aspekt ihrer Ungründbarkeit zurück. Um seine zwar paradoxe, aber durchaus fundamentale Rolle ausfüllen zu können, muss das Politische freilich vom herkömmlichen Begriff der Politik – im Sinne z. B. eines sozialen Funktionssystems neben anderen – differenziert werden. Dabei handelt es sich um die Grundoperation der postfundamentalistischen Denker des Politischen. Welche konkreten Merkmale und Charakteristika dem 18Politischen von so durchaus unterschiedlichen Denkern wie Nancy, Lefort, Laclau, Badiou oder Rancière auch zugeschrieben werden, immer sieht man die Notwendigkeit, den traditionellen Begriff der Politik von innen her aufzusprengen.[3] Es scheint, als könnten sich all diese Denker den fundamentalistischen Denktraditionen, von denen sie selbst kommen – zumeist die szientistischen Traditionen des Marxismus und des Strukturalismus –, nur entwinden, indem sie eine Differenzierung einführen, die allein aus Perspektive philosophischen Denkens, nicht hingegen aus Perspektive der sogenannten strengen Wissenschaft wahrnehmbar ist. Diese Differenzierung zwischen Politik (im Sinne z. B. von policy, polity oder »Polizei«) auf der einen Seite und dem emphatisch Politischen (im Sinne z. B. von »Ereignis«, Antagonismus oder Institution) auf der anderen dürfte durch das Bedürfnis motiviert sein, die eigene Position von allen ökonomistischen und strukturalistischen, aber auch von allen positivistischen, soziologistischen, empirizistischen, rationalistischen oder spieltheoretischen Politiktheorien abzuheben. Als Differenz wird die politische Differenz der empirischen Wissenschaft entwunden und zur Sache einer politischen Theorie, die einen selbstbewusst philosophischen Beobachtungsstandpunkt bezieht.

1.2. Heidegger – ein Denker aus Frankreich?

Und tatsächlich wurde oft bemerkt, dass die aktuelle Unterscheidung zwischen dem Politischen und der Politik auf merkwürdige Weise mit der philosophischen Unterscheidung zwischen Sein und Seiendem korrespondiert. Heidegger zufolge kreist die gesamte abendländische Metaphysik um diese Differenz: auf der einen Seite das ontische Seiende, auf der anderen die Frage nach der ontologischen Seiendheit alles Seienden (logos, Idee, Substanz, Wille, Gott, bzw. aktuell: die ökonomische Basis, die Marktgesetze, die Gene). Wird nicht im Postfundamentalismus mit einer analogen Differenzierung gearbeitet? Auf der einen Seite die Politik als be19stimmte Handlungsform oder soziales Subsystem, auf der anderen die Frage nach der Institution des Gesellschaftlichen selbst.

Diese Analogie oder Parallele, wenn sie denn eine ist, zwischen politischer und ontologischer Differenz wird nicht weiter überraschen, wenn man bedenkt, in welch hohem Ausmaß die in Teil II dieses Bandes vorgestellten Theoretiker Heidegger verpflichtet sind. Sie alle lassen sich einer breiteren Formation zurechnen, die ich mangels einer besseren Formulierung als französischen Heideggerianismus der Linken bezeichne.[4] Aus deutscher Perspektive mag der Begriff eines »Linksheideggerianismus« vielleicht befremdlich klingen; nicht aus französischer. Der Einfluss Heideggers auf das französische Denken – gerade auch das Denken der Linken in Frankreich – ist nämlich so weitreichend, dass Tom Rockmore Heidegger »zum bedeutendsten ›französischen‹ Philosophen« (Rockmore 2000: 167) erklären konnte, zum französischen Meisterdenker. Erst durch Erfindung eines linksrheinischen Heidegger bewerkstelligten die französischen Interpreten, was Habermas (Habermas 1998: 392), vielleicht ein wenig verfrüht, Gadamer als Verdienst anrechnete: eine Urbanisierung der Provinz.[5]

20Dennoch blieb die Sicht auf Heideggers enorme Wirkung lange Zeit verstellt. Wie Jacques Derrida bemerkte, wurde »Heidegger ein Vierteljahrhundert lang von denen, die viel später in Frankreich privat oder öffentlich anerkennen mußten, daß er in ihrem Denken eine wichtige Rolle gespielt hatte (Althusser, Foucault, Deleuze zum Beispiel), nie in irgendeinem Buch genannt« (Derrida 1994: 111). Erst in einem seiner letzten Interviews ringt sich Foucault das Geständnis ab, Heidegger sei für ihn stets »der wesentliche Philosoph gewesen«. Erst durch Heidegger hindurch habe er, Foucault, die Nietzsche-Lektüre als philosophischen Schock erfahren: »Ich habe hier noch die Notizen, die ich mir über Heidegger zu der Zeit gemacht hatte, als ich ihn las – ich habe Tonnen davon! –, und sie sind auch viel wichtiger als die, welche ich mir über Hegel oder Marx gemacht habe. Mein ganzes philosophisches Werden war durch meine Lektüre Heideggers bestimmt« (Foucault 2005: 868, zu Foucault und Heidegger vgl. die Beiträge in Milchman/Rosenberg 2003). Doch gleichgültig, ob Heideggers Spuren nun verwischt wurden oder sein Einfluss mit Händen zu greifen bleibt – wie etwa bei Blanchot, Levinas oder in der Dekonstruktion –, zumeist wurde er in politisch fortschrittliche Bahnen gelenkt. Die Entwicklung der französischen Nachkriegsphilosophie, die in der einen oder anderen Weise von der Erfahrung des Heidegger’schen Denkens berührt wurde, kann überhaupt nur nachvollzogen werden, wenn dieser politische Impuls – der seinen Höhepunkt natürlich in der Allianz vieler Denker mit der Bewegung des Mai 68 fand – Berücksichtigung findet. Die Urbanisierung des Schwarzwalds verdankt sich nicht zuletzt den Straßenkämpfen von Paris.[6]

21Dass sich der politische Postfundamentalismus auf Heidegger bezieht, erscheint vor diesem Hintergrund erklärlich, sind die meisten postfundamentalistischen Denkfiguren doch in Heideggers Metaphysikkritik vorgeprägt. Vor allem sperrt sich Heideggers »Destruktion« der abendländischen Metaphysik gegen jede Umkehr des Fundamentalismus in einen bloßen Antifundamentalismus. Heidegger zufolge ist es schlichtweg undenkbar, die metaphysischen Grundlegungsfiguren vollständig auszumerzen, ja die Idee einer »Überwindung« der Metaphysik ist ihrerseits nur eine metaphysische Figur. Postfundamentalistische Ansätze folgen diesem Argument. Deshalb zielt die Dekonstruktion des Fundamentalismus nicht auf die Verabschiedung aller Gründe, sondern auf die Schwächung des ontologischen Status dieser Gründe, also auf die Verabschiedung der metaphysischen Idee von einem letzten oder ultimativen Fundament des Denkens oder der Gesellschaft.[7] Das setzt hinreichendes Kontingenzbewusstsein voraus – denn wenn jede Letztbegründung ausgeschlossen ist, dann könnte immer auch ein anderes Fundament gelegt werden. Und so wird man in allen politischen Theorien der heideggerianischen Linken auf Figuren der Kontingenz treffen, mit denen in vielen Fällen an die Heidegger’sche Begrifflichkeit angeschlossen wird. Man denke nur an den Begriff eines Ereignisses, das keiner Grundlegungslogik unterworfen werden kann, sondern auf jenen disruptiven Augenblick verweist, in dem die Fundamente kollabieren. Auch Freiheit oder Geschichtlichkeit lassen sich im strengen Sinn nur unter der Voraussetzung der Abwesenheit eines letzten Grundes denken.

Darüber hinaus erfordert der Postfundamentalismus, sofern er eine Theorie des Politischen entwickelt, zweitens aber eine theoretische Konzeptualisierung jenes Moments partieller (wenn auch in letzter Instanz erfolgloser) Gründungsversuche. Das unabstellbare Spiel zwischen Grund und Abgrund, wie es schon Heidegger gedacht hat, unterhöhlt nicht nur jedes noch so stabil scheinende Fundament, es erzwingt auch ein vorübergehendes Moment der Institution. Es fordert Entscheidungen unter der Prämisse ontologischer Unentscheidbarkeit; und da jede Entscheidung – da sie nie im solitären Vakuum völliger Grundlosigkeit getroffen wird – mit 22konkurrierenden Kräften und Entscheidungsbemühungen konfrontiert ist, steht Gesellschaft immer vor Phänomenen des Streits, der Teilung und der Trennung – kurzum: des Antagonismus. All diesen Begriffen, denen im Lexikon der heideggerianischen Linken ein wichtiger Platz zukommt, werden wir im Laufe der Studie wiederbegegnen.

1.3. Alternative Wege aus dem Fundamentalismus? Oakeshott und Rorty

Keinesfalls soll damit bestritten werden, dass man aus anderen Denkrichtungen zu ähnlichen Ergebnissen kommen könnte. Man muss kein französischer Heideggerianer sein, um zu erkennen, dass wir in einem »Zeitalter der Kontingenz« (Bauman 1996: 51) leben. Denken wir nur an den konservativen Skeptizismus und einen Denker wie Michael Oakeshott, dessen Position durchaus als postfundamentalistisch avant la lettre beschrieben werden könnte. Oakeshotts berühmtes Diktum, im politischen Handeln besegelten die Menschen eine »grenzen- und grundlose See« (»there is no harbour for shelter nor floor for anchorage, neither starting point nor appointed destination«, Oakeshott 1991: 60), richtet sich gegen alle Versuche, Politik gründen zu wollen. Zu diesem Zweck fährt Oakeshott das rhetorische Arsenal nicht-fundamentalistischer Topoi auf: das Prädikat »bottomless« dient ihm als Merkmal eines Grundes, der abwesend bleibt und Grundlegungsversuchen keinen transzendenten Ankerplatz jenseits der Immanenz der See bietet. Politik muss akzeptieren, dass sie ein ergebnisoffener Prozess ist ohne klaren Beginn oder bestimmbares Ziel und Ausgang. Da sie, mit unseren Worten, auf nichts gestellt ist, muss sie mit dem Abgrund umgehen lernen, der ihr zugrunde liegt, ohne in der Abwesenheit des Grundes Anlass für existenzialistisches Pathos oder gar Verzweiflung, Resignation und Passivität finden zu wollen – Affekte, die nur dem frustrierten Wunsch nach einem festen Grund entspringen: »that politics are nur für die Schwindelfreie, that should depress only those who have lost their nerve« (1991: 60). Auch deshalb sieht Oakeshott keinen Anlass zur Verzweiflung, weil er sich eine bloß anti-fundamentalistische Position versagt (damit weist er schon auf den Postfundamentalismus voraus). Wenn die See auch grenzen- 23und grundlos sein mag, sie bleibt strukturiert. Sie ist keine tabula rasa, sondern das strukturierte Terrain, auf dem wir uns bewegen und günstigen Gelegenheiten wie ungünstigen Bedingungen begegnen (»the sea is both friend and enemy«, 6). Politisches Handeln, so ungründbar es ist, findet in keinem sozialen Vakuum statt, sondern bleibt immer Schichten von Traditionen eingeschrieben, die ihrerseits ungründbar, flexibel und veränderlich sind. An keiner Stelle treffen unsere Aktivitäten auf einen soliden Ankerplatz, und doch folgt daraus kein Voluntarismus, denn wir segeln nie auf einer See ohne Wellen.

Auch der amerikanische Pragmatismus kann zum Ausgangspunkt des Postfundamentalismus werden, wie die Arbeiten Richard Rortys – freilich nicht unbeeinflusst von Heidegger und Derrida – belegen. Rorty zufolge sei die Vorstellung, eine liberale Kultur benötige Grundlagen, nur »ein Überbleibsel des religiösen Bedürfnisses nach der Beglaubigung menschlicher Pläne durch nicht-menschliche Autoritäten,« das im »aufklärerischen Szientismus« fortlebt (Rorty 1999a: 96). Wir müssten uns von der Idee eines archimedischen Punktes verabschieden, von dem aus wir unser eigenes, historisch bedingtes Vokabular beurteilen könnten (1999a: 91). Statt nach philosophischen Begründungen zu suchen, solle man eher literarische Neubeschreibungen entwickeln. Dazu müsse man sich der Kontingenz – also Ungründbarkeit – des eigenen Vokabulars und der eigenen Überzeugungen bewusst bleiben und eine in diesem Verständnis ironische Position einnehmen. Das verurteile uns noch lange nicht zum Relativismus, denn wo der Begriff des Objektivismus sich als unplausibel erwiesen hat, macht auch der des Relativismus keinen Sinn mehr (so wie es für jemanden, der nicht an Gott glaubt, auch keine Blasphemie gibt). Rortys an vor allem Wittgenstein und Dewey anschließender »Antifundamentalismus« argumentiert also nicht relativistisch – und somit nicht radikal anti-fundamentalistisch. Rorty vertritt zwar die These, dass kein übergreifendes Sprachspiel zu Verfügung steht, welches eine abschließende und rationale Beurteilung der Gültigkeit einzelner Sprachspiele erlauben würde. Die Wahl eines bestimmten Sprachspiels oder Vokabulars lässt sich durch keinen archimedischen Punkt absichern, aber sie wird durch die Zugehörigkeit des Sprechers zu bereits bestehenden Gemeinschaften geregelt, die alles andere als beliebig verfügbar ist. Mit diesem Faktum heiße es umgehen ler24nen. So erweise man einer liberalen Gesellschaft einen »schlechten Dienst, wenn man versucht, sie mit ›philosophischen Grundlagen‹ auszustatten« (96).

Als Heideggerianer der Linken mögen Postfundamentalisten zu anderen Schlussfolgerungen kommen als der konservative Skeptiker Oakeshott, da sie unter Traditionen wohl vor allem machtdurchtränkte Strukturen verstehen würden, in denen vielgesichtige Formen des Ausschlusses und der Unterordnung perpetuiert werden. Auch von Rortys liberalem Pragmatismus – der, auch das eine kontingente politische Entscheidung, gelegentlich in eine Art Linkspatriotismus zu kippen droht (Rorty 1999b) – würden sich die meisten Heideggerianer der Linken wohl distanzieren. Man sieht hier bereits, nebenbei bemerkt, dass sich aus der Abwesenheit des Grundes keine politische Konsequenz mit Notwendigkeit ziehen lässt; ansonsten wäre es möglich, eine partikulare politische Weltsicht zu gründen, was ex hypothesi ausgeschlossen wurde (folglich kann der Entschluss, eine explizit linke politische Version postfundamentalistischen Denkens zu entwickeln, selbst nur aus einer politischen Entscheidung hervorgehen, siehe dazu Kapitel 9 und 11).

Als Heideggerianer der Linken unterscheiden sie sich aber von Oakeshott oder Rorty nicht allein an politischer Radikalität. Sie verfolgen auch eine andere Strategie der Theoriebildung. Selbsterklärtes Ziel der Theorie Rortys ist es nämlich, »den metaphysischen Drang, den Drang zum Theoretisieren, so gut zu verstehen, daß man vollkommen frei von ihm wird« (Rorty 1999a: 163). Aber ist man tatsächlich gezwungen, die Philosophie zu verlassen (und, wie Rorty vorschlägt, sein Heil bei der Literatur zu suchen), um den Diskurs der Letztbegründung zurückweisen zu können? Kann man sich vom »metaphysischen Drang« überhaupt vollkommen befreien? Zu Recht wurde Rorty von Mouffe daran erinnert, dass es »keinen neutralen, vermeintlich durch Philosophie nicht kontaminierten Boden« gibt, von dem aus man sprechen könne (Mouffe 1999b: 24). Metaphysische Grundlegungsfiguren bestimmen nicht nur die Philosophie, sondern auch das Denken des Alltags und die Diskurse der Politik. Wer meint, ihnen sonstwohin entkommen zu können, wird unbemerkt von ihnen eingeholt. Hieße dies aber nicht, dass der Fundamentalismus außerhalb wie innerhalb des Terrains der Philosophie (im engeren disziplinären Sinn) unterlaufen werden müsste – ja dass es möglicherweise die Metaphysik selbst 25sein könnte, die uns das Vokabular ihrer eigenen Dekonstruktion an die Hand gibt?

1.4. Die politische und die ontologische Differenz

Die Postfundamentalisten, deren Ansätze in Teil II besprochen werden, würden dem Nominalismus eines Rorty daher eine philosophische Form der Philosophiekritik entgegensetzen. Wenn Rorty »das Sein aus dem Spiel läßt und denkt, daß das Seiende alles ist, was es gibt« (Rorty 1999a: 189), dann hält Derrida entgegen, eine Position, für die das Seiende »alles ist, was es gibt«, liefere sich dem Empirizismus, Positivismus oder Psychologismus aus. Stattdessen hieße es, in Form eines (quasi-)transzendentalen Denkens, den Blick von der bloßen Ebene der »ontischen« Tatsachen hin zur »ontologischen« Dimension ihrer Möglichkeitsbedingungen lenken.[8] All die von Derrida im Laufe seiner gesamten Theorieentwicklung diskutierten (Quasi-)Kategoreme wie Spur, Supplement, Gabe, Freundschaft, Gerechtigkeit oder Demokratie – und müssten wir hier nicht auch »das Politische« einfügen? – sind auf dieser paradoxen transzendentalen Ebene angesiedelt. Dieses Erbe Husserls und Heideggers ist bei Rorty – trotz intensiver Heideggerlektüre – völlig verlorengegangen, denn er will die Differenz zwischen einer ontischen und einer ontologischen Dimension des Seins nicht gelten lassen.

Damit kommen wir zurück zur notwendig philosophischen Beobachtungsperspektive, aus der die politische Differenz überhaupt erst sichtbar wird. Für einen Nominalisten wären »Politik« und »das Politische« auf ein und derselben Ebene verortet: die Natur ihrer Differenz entspräche der anderer konzeptueller Differenzen (etwa zwischen policy, polity oder Polizei). Erst mit einem an Heideggers Denken geschulten Blick lässt sich feststellen, dass die Differenz 26zwischen Politik und dem Politischen von anderen Differenzen differiert. Denn wurde oben gesagt, Heidegger habe in der Differenz zwischen »Sein« und »Seiendem« – in all ihren Varianten – die grundlegende Struktur abendländischer Metaphysik entdeckt, so muss diese Darstellung nun spezifiziert werden: Obwohl die ontisch-ontologische Differenz dem metaphysischen Denken zugrunde liegt, kam sie diesem nie als Differenz in den Blick. Heidegger erst lenkt die Aufmerksamkeit auf die ontologische Differenz selbst, auf das Spiel zwischen Sein und Seiendem, das nun in Heideggers Denken unterschiedliche Benennungen erfährt: Ereignis, Streit, Wahrheit, Freiheit oder – in Abhebung vom ontologischen Begriff des Seins – »Seyn«. Dieses, wie man sagen könnte, Differieren der ontisch-ontologischen Differenz gilt Heidegger als unabstellbar: Die Dimensionen des Seins und des Seienden bleiben zwar notwendig aufeinander verwiesen, finden aber nie zu völliger Überlappung. Erst das Ereignis, das »Seyn« oder das Spiel dieser Differenz selbst, also die Unmöglichkeit einer endgültigen Übereinstimmung zwischen Sein und Seiendem, eröffnet uns überhaupt einen Zugang zum ontischen Reich alles Seienden (sprich: zum Reich der Differenzen, die das Soziale strukturieren). Und nicht zuletzt – für uns einschlägig – wird dieses Spiel der Differenz von Heidegger als unaufhörliches Oszillieren zwischen Grund und Abgrund gefasst. D. h., erst der unendliche Aufschub eines letzten Grundes eröffnet uns die Möglichkeit, auf die Suche gehen zu können nach immer nur vorübergehenden, partiellen und notwendig kontingenten Gründen.[9]

Aus diesen Andeutungen, die erst in Kapitel 3 näher ausgeführt werden können, sollte bereits deutlich werden, weshalb Heideggers Denken von Interesse für die Theorien des Postfundamentalismus ist. Zudem dürfte erkennbar sein, dass unsere Diskussion der politischen Differenz vor einer ganz ähnlichen Situation steht wie Heideggers Diskussion der ontologischen Differenz. Seit Carl Schmitt wurden immer neue Definitionen des Politischen entworfen. Dazu 27musste zwangsläufig das Politische von den traditionellen Begriffen von Politik unterschieden werden. Doch äußerst selten wurde dabei die politische Differenz als Differenz thematisiert, und so gut wie niemals wurde nach den Gründen dieser Differenzierung gefragt. Selbst von den französischen Heideggerianern der Linken, die diese Differenz aufgreifen und weiterentwickeln, wird zwar die Frage des Politischen, nicht aber die Frage nach der Differenz zwischen dem Politischen und der Politik als Differenz aufgeworfen. Welche Definition das Politische (oder die Politik) auch immer in diesen Theorien erfährt, sie ist von sekundärer Bedeutung, verglichen mit dem Faktum der Differenz selbst: der Notwendigkeit, eine solche Differenz überhaupt in das politische Denken einzuführen.

Deshalb hatten wir eingangs die Vermutung formuliert, dass es sich bei der politischen Differenz um ein Symptom der Auflösung einstmals unerschütterlicher Fundamente, also um ein Zeichen unserer postfundamentalistischen Kondition handeln könnte. Dass die alten Fundamente nicht länger tragen, so hatten wir eingeschränkt, bedeutet jedoch nicht, dass Gesellschaft völlig grundlos geworden wäre, sondern nur, dass neue Fundamente ständig gelegt und alte verteidigt oder angegriffen werden. Die politische Theorie des Postfundamentalismus, so sehen wir nun, zieht daraus die Konsequenzen, wenn sie die »ontologische« Dimension der Gründung, also das Politische, konzeptuell zu fassen versucht, was ihr nur gelingt, indem sie es auf einer anderen Ebene verortet als die »ontischen« Bereichsbegriffe wie Politik, policy, polity oder Polizei. Auf dieser grundlegenden Ebene übernimmt der Begriff des Politischen die Aufgabe, auf die in letzter Instanz unmögliche Institution von Gesellschaft zu verweisen, eine Aufgabe, für die das Konzept der Politik, für sich genommen, nicht hinreichend ausgestattet wäre. So spaltet es sich von innen her auf in Politik eo ipso (bestimmte Formen des Handelns, ein bestimmtes soziales Teilsystem oder Ähnliches) und eine Dimension, die dem Zugriff sozialer und politischer (systemischer) Domestizierung entkommt: das Politische. Erst durch diese konzeptuelle Differenzierung, so unsere These, lässt sich der merkwürdige Umstand einfangen, dass Neugründungen notwendig, zugleich aber Letztgründungen unmöglich sind, dass also das Spiel zwischen Politik und dem Politischen unabstellbar ist. Mit anderen Worten: dass weder der Tag »bloßer Politik« noch der Tag eines »reinen Politischen« jemals kommen wird.

281.5. Anlage der Untersuchung

Zum jetzigen Zeitpunkt ist diese These freilich nicht viel mehr als das: eine These. Plausibilisieren lässt sie sich nur an der Konstellation postfundamentalistischer Theorien, die wir in Teil II vorstellen: Sie sind vor allem mit den Namen Jean-Luc Nancy, Philippe Lacoue-Labarthe, Claude Lefort, Marcel Gauchet, Alain Badiou, Jacques Rancière, Ernesto Laclau, Chantal Mouffe und Giorgio Agamben verknüpft (doch wäre Platz und Zeit gewesen, hätten selbstverständlich weitere Theoretiker – wie Jean-François Lyotard, Cornelius Castoriadis oder Kostas Axelos – in diese Reihe aufgenommen werden können). Der Diskussion dieser Theorien müssen allerdings vorbereitend einige Überlegungen vorangeschickt werden. Im folgenden Kapitel wird daher zunächst die Begriffsgeschichte des Politischen nachgezeichnet. Ich werde darlegen, wie Politik sich im Zuge der Entwicklung neuzeitlicher politischer Theorien zunächst ihrer Spezifik, dann ihrer Autonomie und schließlich ihres Primats im Verhältnis zu anderen sozialen Handlungssphären versichert. Erst nachdem der letzte Schritt erreicht ist, kann ein starker Begriff des Politischen plausibel formuliert werden. Damit ist ein Name für jenes Erfahrungsmoment gefunden, das ich in Anlehnung an J.G.A. Pococks bahnbrechendes Werk The Machiavellian Moment (1975) als Moment des Politischen bezeichnen möchte. Dieses Moment ist jedoch nicht, so meine Kritik an rein begriffshistorischen (und also nominalistischen) Ansätzen, auf die letzten rund zweihundert Jahre beschränkt. Als gleichsam »ontologisches« Moment der Erfahrung von Kontingenz und Grundlosigkeit des Sozialen kann es in jeder Zeit hervorbrechen, auch wenn es nicht immer im modernen Sprachspiel der Politik oder des Politischen beantwortet wird. Anhand einer ausführlicheren Diskussion Heideggers und der quasi-transzendentalistischen Struktur des Postfundamentalismus werde ich das in Kapitel 3 zu zeigen versuchen.

Die Begriffsgeschichte des Politischen und die Diskussion der strukturellen Merkmale des Postfundamentalismus in Teil I, wie auch der verschiedenen Spielarten der politischen Differenz in Teil II, lässt allerdings die Frage unbeantwortet: Wozu der Aufwand? Geht ein solches Glasperlenspiel mit philosophischen Begrifflichkeiten nicht meilenweit an unseren sozialen und politischen Problemen vorbei? Folgt überhaupt etwas aus der politischen Differenz, 29das von allgemeinerem Interesse wäre? In Teil III der Untersuchung werde ich versuchen, diese Fragen zu beantworten. Auch wenn sich aus dem Spiel der politischen Differenz keine positiven Schlussfolgerungen mit eindeutiger Sicherheit ableiten lassen (ansonsten verblieben wir ja nach wie vor im Fundamentalismus), so eröffnet sich doch ein argumentatives Feld, auf dem manche plausibler gemacht werden können als andere.

In Kapitel 9 werde ich in einem ersten Schritt die innerphilosophischen Konsequenzen schildern, die das Denken des Politischen für die traditionellen Disziplinen politische Theorie und politische Philosophie haben mag. Sie betreffen vor allem deren Status, also den theoretischen oder philosophischen Status eines politischen Denkens, welches nicht zögert, die vollen Konsequenzen aus der konzeptuellen Innovation der politischen Differenz zu ziehen. In diesem frühen Stadium des Arguments können wir nur den Verdacht formulieren, dass keiner der politischen Postfundamentalisten, die in Teil II diskutiert werden, sich der Konsequenzen seines Denkens voll bewusst ist. Während einige, wie Badiou, der politischen Differenz explizit nur einen partikularen Ort innerhalb ihrer Theoriearchitektur zugestehen (bei Badiou ist Politik nur eine von vier »Wahrheitsprozeduren«, neben Liebe, Kunst und Wissenschaft), tendieren andere dazu, die Implikation ihrer eigenen Verwendung der politischen Differenz zu unterschätzen. Wird aber erst einmal zugestanden, dass das Politische als gründendes Supplement aller sozialen Relationen wirkt, dann wird man seine Effekte – und selbst noch die Effekte seiner Abwesenheit – nicht auf das traditionelle Feld der Politik beschränken können. Alle Dimensionen der Gesellschaft (einschließlich der Felder der »Liebe«, »Kunst« und »Wissenschaft« bei Badiou) werden folglich dem konstanten Spiel von Gründung/Entgründung unterworfen bleiben, wie es konzeptuell die politische Differenz einzufangen versucht. D. h. zugleich, dass der Zuständigkeitsbereich einer postfundamentalistischen Theorie des Politischen signifikant ausgeweitet werden muss, ja dass sie womöglich ein Primat gegenüber anderen philosophischen Disziplinen reklamieren kann.

Werden in Kapitel 9 die innerphilosophischen, gleichsam »ontologischen« Konsequenzen des Politischen beleuchtet, so dreht sich Kapitel 10 um Fragen, die die »ontische« Seite der Differenz, also unseren ganz profanen Begriff von Politik betreffen. Damit wären 30wir auch inmitten der sozialen und politischen Problemlagen der Gegenwart angelangt. Denn welcher Begriff von Politik ist einer scheinbar politiklosen Zeit, in der Thatchers Slogan »There is no alternative« zum Credo nahezu aller Politiker wurde, überhaupt noch angemessen? Droht das Bewusstsein von der Möglichkeit politischen Handelns nicht verlorenzugehen? Ich werde zu zeigen versuchen, dass dies nicht der Fall ist, dass wir nur einer perspektivischen Verzerrung unterliegen, sobald wir den Begriff der Politik zu weit aufblasen. Nicht die Idee von »großer Politik« (auch nicht die von »Mikropolitik«) ergibt sich schlüssig aus den Theorien der politischen Differenz, sondern ein Verständnis minimaler Politik. Damit soll zum einen gesagt sein, dass selbst die bescheidensten politischen Handlungsformen (die kleinsten Demonstrationen, die geringsten Proteste, die schwächsten sozialen Bewegungen) potenziell an der instituierenden Dimension des Politischen teilhaben. Zum anderen soll der Versuch unternommen werden, die Minimalkriterien solchen Handelns zu ermitteln, also ein Politikverständnis und ein Handlungs- und Subjektmodell zu entwickeln, das dem Machiavell’schen Moment angemessen ist.

In Kapitel 11 werden abschließend die demokratiepolitischen Implikationen des Postfundamentalismus herausgearbeitet. Zwar lässt sich kaum behaupten, dass jedes postfundamentalistische Denken schon demokratisch wäre (aus der Abwesenheit eines letzten Grundes lassen sich keine konkreten Politiken ableiten), aber demokratisches Denken ist in jedem Falle postfundamentalistisch. Das symbolische Arrangement der Demokratie, wie es unter anderen von Lefort beschrieben wurde, gründet nämlich auf der institutionellen Anerkennung der Unmöglichkeit einer letzten Gründung von Gesellschaft. Anders gesagt, keine Gesellschaft und kein politisches Regime kann auf einem festen Fundament gebaut werden, aber Demokratie ist der Name des einzigen Regimes, welches diesen Umstand institutionell akzeptiert und ihm zur Anerkennung verhilft. Wie ich argumentieren werde, lässt sich aus dieser Überlegung eine demokratische Ethik gewinnen, die sich genauer als Ethik der Selbstentfremdung konturieren lässt. Damit soll unter anderem gesagt sein, dass unter demokratischen Bedingungen der normative Anspruch geltend gemacht werden kann, nicht an die eigene Identität gefesselt und also – sei es polizeilich, sei es rechtlich, sei es kulturell – in die Selbstidentität gezwungen zu werden. 31Und dies deshalb, weil demokratische Verhältnisse die Anerkennung der grundsätzlich selbstentfremdeten Natur sozialer Identität befördern.

Auch wenn zutreffen sollte, dass keine der Schlussfolgerungen unmittelbar aus dem Spiel der politischen Differenz abgeleitet werden kann, ist es doch dieses Spiel – ausgearbeitet in den diversen Spielformen eines Denkens des Politischen –, das überhaupt erst den Horizont eröffnet, vor dem solche und ähnliche Argumente plausibel erscheinen. Auch wenn Philosophie niemals einen letzten Grund finden oder »gründen« können wird, ist doch die Suche nach Gründen im Postfundamentalismus noch lange nicht abgeblasen. Sie wird vielmehr akzeptiert, um eine von Claude Lefort (im Anschluss an Merleau-Ponty 1974) geschätzte Metapher zu verwenden, als unmögliches und doch unvermeidbares Abenteuer. Das postfundamentalistische Denken, das im Zentrum der folgenden Untersuchung steht, unternimmt den womöglich abenteuerlichen Versuch einer Befragung der gründenden wie entgründenden Dimension sozialen Seins.

32Kapitel 2Politik und das Politische: Genealogie einer konzeptuellen Differenz

2.1. Das politische Paradox

1956 besetzten die Truppen des Warschauer Pakts Ungarn und schlugen die Revolution nieder. Dieses Ereignis hatte verstörende Auswirkungen auf das westliche politische Denken, und keineswegs nur auf das des Marxismus. In philosophischer Reaktion auf die Ereignisse in Ungarn veröffentlichte Paul Ricœur einen seiner bekanntesten Essays, »Das politische Paradox« (1974). Darin arbeitet er in deutlicher Absetzung von der Ideologie des Staatsmarxismus die doppelte Originalität des Politischen heraus. Sie besteht in einer spezifisch politischen Rationalität und einem spezifisch politischen Übel. Um diese doppelte Spezifik zu konturieren, muss Ricœur die politikeigene Rationalität von der Sphäre ökonomischer Rationalität unterscheiden, auf die sie durch den Marxismus reduziert wurde. So riefen die Ereignisse in Ungarn bei Ricœur nicht etwa Skepsis bezüglich einer vorgeblichen »Überpolitisierung« von Gesellschaft hervor; im Gegenteil, Ricœurs Ziel war es, der Politik ihre verlorengegangene Spezifität und relative Autonomie zurückzuerstatten. Um dieses Ziel zu erreichen, musste er eine Unterscheidung zwischen dem Politischen und der Politik einführen. Ricœur präsentiert sein »politisches Paradox« in Form der politischen Differenz:

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