Die Psychologie des Totalitarismus - Mattias Desmet - E-Book

Die Psychologie des Totalitarismus E-Book

Mattias Desmet

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Beschreibung

Totalitarismus ist kein Zufall und bildet sich nicht in einem Vakuum. Der Ursprung liegt in dem Phänomen der "Massenbildung", einer Art kollektiver Psychose. Mit detaillierten Analysen, Beispielen und Ergebnissen aus jahrelanger Forschung legt Mattias Desmet die Schritte dar, die zur Massenbildung führen: Aus einem allgemeinen Gefühl der Einsamkeit und des Mangels an sozialen Bindungen und Sinnhaftigkeit entstehen Ängste und Unzufriedenheit, die sich wiederum in Frustration und Aggression manifestieren. Diese werden von Regierungsvertretern und Massenmedien mithilfe von bestimmten Narrativen geschickt ausgenutzt und kanalisiert. In der Folge dehnt sich der Einfluss des Staates auf das Privatleben des Individuums immer mehr aus. Neben einer glasklaren psychologischen Analyse und aufbauend auf Hannah Arendts grundlegendem Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft formuliert der Autor auch eine scharfe Kritik am kulturellen "Gruppendenken" und der Angstkultur – die bereits vor der Pandemie existierten, mit der COVID-Krise aber exponentiell zugenommen haben –, warnt vor den Gefahren unseres Medienkonsums und unserer Abhängigkeit von manipulativen Technologien. Dabei zeigt er aber auch sowohl individuelle als auch kollektive Lösungsansätze auf, um zu verhindern, dass wir unsere Freiheiten freiwillig opfern.

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DIE PSYCHOLOGIE DES TOTALITARISMUS

MATTIAS DESMET

Aus dem Niederländischenvon Arne Braun

INHALT

EINLEITUNG

TEIL IWISSENSCHAFT UND IHRE PSYCHOLOGISCHEN AUSWIRKUNGEN

Kapitel 1. Wissenschaft und Ideologie

Kapitel 2. Wissenschaft und ihre praktischen Anwendungen

Kapitel 3. Die künstliche Gesellschaft

Kapitel 4. Das (un)messbare Universum

Kapitel 5. Die Sehnsucht nach einem Meister

TEIL IIMASSENBILDUNG UND TOTALITARISMUS

Kapitel 6. Die Entstehung der Masse

Kapitel 7. Die Lenker der Masse

Kapitel 8. Verschwörung und Ideologie

TEIL IIIJENSEITS DES MECHANISTISCHEN WELTBILDS

Kapitel 9. Das tote versus das lebendige Universum

Kapitel 10. Materie und Geist

Kapitel 11. Wissenschaft und Wahrheit

DANKSAGUNG

QUELLEN

IMPRESSUM

EINLEITUNG

Ein Buch über Totalitarismus zu schreiben – dieser Gedanke kam mir zum ersten Mal am 4. November 2017. Oder besser gesagt: An diesem Tag tauchte er zum ersten Mal in meinem wissenschaftlichen Tagebuch auf – einem Heft, in das ich alles hineinkritzele, was ich möglicherweise irgendwann einmal für einen Artikel oder ein Buch gebrauchen könnte.

Zu dieser Zeit hielt ich mich im Chalet eines befreundeten Paares in den Ardennen auf. Am frühen Morgen, wenn das aufkommende Licht den Wäldern rings um das Chalet ihre Farben und Klänge zurückgibt, schlage ich dort gern mein Tagebuch auf, um die Gedanken aufzuschreiben, die sich nachts gesponnen haben. Vielleicht war es die Ruhe der mich umgebenden Natur, die mich empfänglicher dafür machte – an jenem Morgen im November nahm ich real und akut einen neuen Totalitarismus wahr, der sich langsam aus seinem Samen löste und das Gewebe der Gesellschaft erstarren ließ.

Man konnte es damals eigentlich schon nicht mehr leugnen: Der Einfluss des Staates auf das Privatleben des Individuums nahm immer mehr zu. Das Recht auf Privacy bröckelte (insbesondere seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001), alternative Stimmen wurden zunehmend zensiert und sanktioniert (vor allem im Kontext der Klimadebatte), die Zahl übergriffiger Aktionen der Sicherheitsbehörden stieg exponentiell usw. Die Initiative ging dabei nicht nur vom Staat aus. Mit dem Aufkommen der Woke-Kultur und der Klimabewegung erhob sich der Ruf nach einem neuen, hyperstrengen Staat auch aus der Bevölkerung selbst. Terroristen, Klimawandel, heterosexuelle Männer und später auch Viren waren zu gefährlich, um ihnen mit antiquierten Mitteln beizukommen. Das technologische »Tracking und Tracing« der Bevölkerung wurde zunehmend für vertretbar und sogar notwendig erachtet. Die von Hannah Arendt beschworene dystopische Zukunftsvision, dass nach dem Fall des Nationalsozialismus und des Stalinismus eine neue Form des Totalitarismus entstehen würde – ein Totalitarismus, der nicht mehr von markanten »Mobführern« wie Josef Stalin oder Adolf Hitler bestimmt werden würde, sondern von trockenen Bürokraten und Technokraten –, zeichnete sich bereits realistisch am gesellschaftlichen Horizont ab.

An dem bewussten Morgen skizzierte ich den Grundriss eines Buchs, in dem ich die psychologischen Wurzeln des Totalitarismus untersuchen wollte. Ich stellte mir zunächst die Frage: Warum entstand diese radikal neue Staatsform zum ersten Mal in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts? Und: Worin unterscheidet sie sich von den klassischen Diktaturen der Vergangenheit? Der Kern dieses Unterschieds liegt auf psychologischer Ebene. Diktaturen beruhen auf einem primitiven psychologischen Mechanismus, nämlich auf der Furcht, die das aggressive Potenzial des diktatorischen Regimes der Bevölkerung einflößt. Der totalitäre Staat dagegen basiert auf dem beeindruckenden psychologischen Prozess der Massenbildung. Nur eine gründliche Analyse dieses Prozesses erlaubt es, die geradezu verblüffenden Merkmale einer totalitarisierten Bevölkerung zu verstehen, wie die radikale Bereitschaft der Individuen, ihre persönlichen Interessen aus Solidarität mit dem Kollektiv (d. h. mit der Masse) zu opfern, die Intoleranz gegenüber dissidenten Stimmen und die Empfänglichkeit für absurde (pseudowissenschaftliche) Indoktrination und Propaganda.

Massenbildung ist im Grunde eine Form von Gruppenhypnose, die Individuen jeglicher Fähigkeit zu kritischer Distanz und ethischem Bewusstsein beraubt. Dieser Prozess ist schleichend; eine Bevölkerung fällt ihm arglos zum Opfer. Um es mit Yuval Noah Harari zu sagen: Die meisten Menschen würden es nicht bemerken, wenn sich ein totalitärer Staat installieren würde. Wir assoziieren Totalitarismus vor allem mit Arbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslagern, aber das ist nur der letzte, erschütternde Schritt in einem langen Prozess.

In den Monaten und Jahren, die jenen ersten Notizen folgten, tauchten mehr und mehr Hinweise auf Totalitarismus in meinem Tagebuch auf. Sie spannen sich zu immer längeren Fäden, die sich organisch mit den anderen Themen meines wissenschaftlichen Interesses verbanden. Das psychologische Problem des Totalitarismus berührte zum Beispiel die tiefe Krise, die 2005 die Wissenschaften ereilte, ein Thema, das ich in meiner Dissertation ausführlich untersucht habe. Es zeigte sich, dass Nachlässigkeiten, Fehler, forcierte Schlussfolgerungen und sogar regelrechter Betrug in wissenschaftlichen Untersuchungen so weit verbreitet waren, dass ein erschütternd hoher Prozentsatz der Forschungsartikel – in manchen Wissenschaftsgebieten bis zu 85 Prozent – zu völlig falschen Ergebnissen kommt. Und was aus psychologischer Sicht am interessantesten ist: Die meisten Wissenschaftler sind dabei der Überzeugung, mehr oder weniger korrekt zu handeln. Aus irgendeinem Grund begreifen sie nicht, dass ihre Forschungsmethode sie nicht näher an die »Fakten« oder die »Realität« bringt, sondern vielmehr eine fiktive Wirklichkeit kreiert.

Das ist natürlich ein ernstes Problem, zumal für eine Gesellschaft, die blindes Vertrauen in die Wissenschaft hat. Und dieses Problem hängt direkt mit dem Phänomen des Totalitarismus zusammen. Genau das zeigt uns die deutsch-jüdische Philosophin Hannah Arendt: Die Grundströmung des Totalitarismus ist der blinde Glaube an eine Art statistisch-zahlenmäßig untermauerte »wissenschaftliche Fiktion«, die eine »bemerkenswerte Verachtung für Tatsachen«1 aufweist: »Das ideale Subjekt der totalitären Herrschaft ist nicht der überzeugte Nazi oder der überzeugte Kommunist, sondern Menschen, für die die Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion […] und die Unterscheidung zwischen wahr und falsch […] nicht mehr existiert.«2

Die mangelhafte Qualität wissenschaftlicher Untersuchungen deckt ein fundamentaleres Problem auf: Mit unserem wissenschaftlichen Weltbild stimmt etwas nicht. Und die Folgen davon reichen weit über die akademische Forschung hinaus. Sie sind auch der Ursprung eines tiefen Unbehagens, das in den letzten Jahrzehnten in der Gesellschaft immer spürbarer wurde. Das Zukunftsbild ist zunehmend von Pessimismus und Perspektivlosigkeit gezeichnet. Wenn unsere Gesellschaft nicht durch die steigenden Meere hinweggespült wird, dann durch den Flüchtlingsstrom. Die Große Erzählung dieser Gesellschaft – die Erzählung der Aufklärung – führt, um es vorsichtig zu formulieren, nicht mehr zu dem Optimismus und Positivismus von einst. Der psychologische Zustand der Gesellschaft zeugt davon. Ein großer Teil der Bevölkerung befindet sich in einer nahezu kompletten sozialen Isolation; die Zahl der Krankschreibungen wegen psychischer Leiden und der Gebrauch von Psychopharmaka steigen exponentiell; die Diagnose Burn-out nimmt epidemische Formen an und gefährdet das Funktionieren von Betrieben und Behörden.

2019 wurde dieses Dilemma auch in meinem eigenen beruflichen Umfeld deutlich spürbar. Um mich herum fielen so viele Kollegen wegen psychischer Probleme aus, dass der Fortgang der täglichen Arbeit ernsthaft beeinträchtigt war. Beispielsweise kostete es mich in jenem Jahr fast neun Monate, einen Vertrag unterzeichnet zu bekommen, den ich benötigte, um ein Forschungsprojekt starten zu können. In den universitären Dienststellen, die den Vertrag prüfen und bewilligen mussten, war immer irgendjemand wegen psychischer Probleme krankgeschrieben. Alle gesellschaftlichen Stressindikatoren stiegen in dieser Periode exponentiell an. Wer mit Systemtheorie vertraut ist, weiß sehr gut, was das bedeutet: Das System steuert auf einen Kipppunkt zu; es beginnt, sich zu reorganisieren und nach einem neuen Gleichgewicht zu suchen.

Ende Dezember 2019 – in demselben Ardenner Chalet, von dem schon die Rede war – wagte ich vor der anwesenden Runde von Freunden eine kleine Prophezeiung: Wir werden eines nicht fernen Tages in einer anderen Gesellschaft aufwachen. Diese Eingebung verleitete mich sogar dazu, aktiv zu werden. Einige Tage später ging ich zur Bank, um den Kredit für mein Haus abzubezahlen. Ob das nun vernünftig war oder nicht, ist eine Frage der Perspektive. Aus rein wirtschaftlich-steuerlicher Sicht vielleicht nicht, aber darum ging es mir gar nicht so sehr. Ich wollte vor allem meine Souveränität zurück, wollte nicht mehr einem Finanzsystem verpflichtet und an ihm mitschuldig sein, das meiner Auffassung nach mitverantwortlich war für die gesellschaftliche Sackgasse, in die wir zunehmend gerieten. Der Bankdirektor hörte sich meine Geschichte an – er stimmte mir sogar zu. Doch er wollte unbedingt wissen, woher ich die Entschlossenheit nahm, auch zur Tat überzugehen. Selbst ein anderthalbstündiges Gespräch genügte nicht, um die Leere dieser Frage zu füllen. Ich ließ ihn endlich lange nach Schließzeit nachdenklich und grübelnd in seiner Filiale zurück, die kurz darauf dichtgemacht wurde.

Ein paar Monate später – im Februar 2020 – begann das Weltdorf in seinen Grundfesten zu beben. Es kündigte sich eine Krise an, deren Folgen unabsehbar waren. Innerhalb weniger Wochen gerieten alle in den Griff eines Narrativs von einem Virus – einer Erzählung, die zweifellos auf Fakten beruhte. Aber auf welchen? Über Bilder aus China erhaschten wir zum ersten Mal einen Hauch dieser »Fakten«. Ein Virus veranlasste die Regierung dort zu den drastischsten Maßnahmen. Ganze Städte wurden unter Quarantäne gestellt, in Windeseile wurden neue Krankenhäuser gebaut, Gestalten in weißen Anzügen desinfizierten den öffentlichen Raum usw. Hier und da wurden Stimmen laut, dass der totalitäre chinesische Staat überreagiere und das neue Virus nicht schlimmer sei als eine Grippe. Und auch das Gegenteil wurde suggeriert: dass es viel schlimmer sein müsse, als man durchblicken ließ, kein einziger Staat würde doch sonst solch weitreichende Maßnahmen ergreifen. Damals spielte sich alles noch weit entfernt von unserer Haustür ab, und wir gingen davon aus, dass das Narrativ uns die genauen Fakten vorenthalten würde.

Bis das Virus Europa erreichte. Nun fingen wir selbst an, die Zahl der Infizierten und Toten zu registrieren. Es wurden Bilder von überfüllten Notaufnahmen in Italien gezeigt, von Militärkolonnen, die Leichen abtransportierten, von Räumen voller Särge. Die renommierten Wissenschaftler des Imperial College London sagten mit Entschiedenheit voraus, dass es ohne die drastischsten Maßnahmen weltweit Dutzende Millionen von Toten geben würde. Die in Bergamo Tag und Nacht heulenden Sirenen erstickten jede Stimme, die in der Öffentlichkeit Zweifel an den Fakten äußerte. Von diesem Moment an schienen Narrativ und Fakten zusammenzufallen, und Sicherheit trat an die Stelle der Unsicherheit.

Das Unvorstellbare wurde Wirklichkeit: Innerhalb kürzester Zeit entstand eine weltweite gesellschaftliche Basis dafür, dem chinesischen Beispiel zu folgen und einen großen Teil der Weltbevölkerung faktisch unter Hausarrest zu stellen, etwas, wofür der Begriff »Lockdown« erfunden wurde. Eine unwirkliche Stille senkte sich über die Welt – unheimlich und befreiend zugleich. Das Firmament ohne Flugzeuge, die Verkehrsadern ohne rasendes Blut; der Staub der Jagd nach eitlem Verlangen rieselte herab, und in Indien wurde die Luft so sauber, dass an manchen Orten zum ersten Mal seit dreißig Jahren wieder der Himalaja am Horizont sichtbar wurde.3

Und dabei blieb es nicht. Es fand auch ein regelrechter Machtwechsel statt. Virologen-Experten wurden wie die orwellschen Schweine – die schlausten Tiere des Bauernhofs – aufgefordert, die unzuverlässigen Menschen-Politiker zu ersetzen. Sie sollten die Farm der Tiere in Zeiten der Pest mit korrekten – wissenschaftlichen – Informationen leiten. Doch schon bald zeigte sich, dass auch sie ganz normale, menschliche Schwächen aufwiesen. Sie machten in ihren Statistiken und Grafiken sogar Fehler, die »normale Menschen« nicht so schnell machen würden. Es ging so weit, dass sie irgendwann alle Toten als Coronatote zählten, auch diejenigen, die etwa an einem Herzinfarkt gestorben waren. Und sie hielten nicht immer Wort. Sie versprachen, dass sich die Tore zum Reich der Freiheit nach zwei Impfdosen öffnen würden, doch als es so weit war, tat sich rein gar nichts, und es hieß auf einmal, dass eine dritte Dosis notwendig sei. Und genau wie die Schweine bei Orwell änderten sie mitunter nachts heimlich die Regeln. Zuerst sollten die Tiere die Maßnahmen befolgen, weil die Zahl der Erkrankten die Kapazität des Gesundheitswesens nicht überschreiten durfte (flatten the curve). Aber eines Tages wachten sie auf, und es stand in weißen Buchstaben an der Wand, dass die Maßnahmen verlängert würden, weil das Virus ausgerottet werden müsse (crush the curve). Die Regeln änderten sich im Laufe der Zeit so oft, dass nur die Schweine sie noch zu kennen schienen. Und selbst das war nicht sicher.

Da wurden manche misstrauisch. Wie kann es sein, dass diese Experten Fehler machen, die nicht einmal Laien machen würden? Es sind doch Wissenschaftler, also die Art von Menschen, die uns zum Mond gebracht und uns superschnelles Internet verschafft haben? So dumm können sie doch nicht sein? Worauf wollen die Schweine hinaus? Ihre Politik geht beständig in dieselbe Richtung: Mit jedem neuen Schritt verlieren wir mehr von unseren Freiheiten. Darauf wollen die Schweine hinaus: uns in einem groß angelegten technokratisch-medizinischen Experiment auf einen QR-Code zu reduzieren.

Und so waren sich die meisten Menschen am Ende sicher. Sehr sicher. Aber in Bezug auf die unterschiedlichsten Dinge. Manche waren überzeugt, dass wir es mit einem Killervirus zu tun hätten, andere, dass es nichts als eine saisonale Grippe sei, wieder andere, dass das Virus gar nicht existiere und eine weltweite Verschwörung im Gange sei. Und dann gab es auch noch ein paar, die weiterhin eine gewisse Unsicherheit zuließen und sich fragten: Wie können wir adäquat begreifen, was sich in unserer Gesellschaft abspielt?

Die Coronakrise kam keineswegs aus heiterem Himmel. Sie passt in eine Reihe immer krampfhafter und selbstzerstörerischer werdender gesellschaftlicher Reaktionen auf Angstobjekte – auf den Terroristen, die Klimaerwärmung, das Coronavirus. Jedes Mal, wenn ein neues Angstobjekt in der Gesellschaft aufkommt, gibt es in unserem heutigen Denken nur eine Antwort und eine Abwehrstrategie: mehr Kontrolle. Dass das menschliche Wesen nur ein gewisses Maß an Kontrolle verträgt, wird dabei übersehen. Kontrollzwang führt zu Angst und Angst zu Kontrollzwang. So gerät die Gesellschaft in einen Teufelskreis, der unvermeidlich zu Totalitarismus führt. Das heißt zu extremer staatlicher Kontrolle und letztlich zu radikaler Destruktion der psychischen und physischen Integrität des menschlichen Wesens.

Wir müssen die heutige Angst und das psychische Unbehagen als ein Problem an sich betrachten, ein Problem, das sich nicht auf Angst vor einem Virus oder irgendeinem anderen bedrohlichen »Objekt« reduzieren lässt. Die Ursache unserer Angst liegt auf einer völlig anderen Ebene, der Ebene (des Scheiterns) der Großen Erzählung unserer Gesellschaft. Die Große Erzählung unserer Gesellschaft ist die Erzählung der mechanistischen Wissenschaft, in der der Mensch auf einen biologischen »Organismus« reduziert wird. Eine Erzählung, die zudem die psychologische, symbolische und ethische Dimension des menschlichen Wesens total verkennt und dadurch menschliche Beziehungen unmöglich macht. Etwas in dieser Erzählung führt dazu, dass der Mensch von seinem Mitmenschen und von der Natur isoliert wird, etwas darin führt dazu, dass der Mensch nicht mehr mit der Welt um ihn herum resoniert; etwas darin verwandelt das menschliche Wesen in ein atomisiertes Subjekt. In diesem erkannte Hannah Arendt den elementaren Bestandteil des totalitären Staates.

Totalitarismus ist kein historischer Zufall. Im Endeffekt ist er die logische Folge des mechanistischen Denkens und des damit verbundenen wahnhaften Glaubens an die Allmacht des menschlichen Verstandes. Insofern ist er auch das Symptom par excellence der Aufklärungstradition. Verschiedene Autoren haben diese These bereits vertreten, aber eine psychologische Analyse fehlt bis heute.

Das vorliegende Buch will diese Lücke füllen. Wir werden das Symptom des Totalitarismus analysieren und es in die breitere Logik des gesellschaftlichen Prozesses einordnen, zu dem es gehört. In Teil I (Kapitel 1 bis 5) wird untersucht, wie das vorherrschende Menschen- und Weltbild – die mechanistisch-materialistische Ideologie – genau jenen gesellschaftlich-psychologischen Zustand erschafft, in dem Massenbildung und Totalitarismus gedeihen. Teil II (Kapitel 6 bis 8) beschreibt den eigentlichen Prozess der Massenbildung und dessen Zusammenhang mit dem Totalitarismus. Und in Teil III (Kapitel 9 bis 11) wird der Frage nachgegangen, wie wir das heutige Menschen- und Weltbild überwinden können, sodass Totalitarismus als symptomatische Lösung überflüssig wird. Teil I und Teil III verweisen im Grunde nur am Rande auf den Totalitarismus. Der Fokus dieses Buchs liegt schließlich nicht so sehr auf dem, was man für gewöhnlich mit Totalitarismus assoziiert – Konzentrationslager, Indoktrination, Propaganda usw. –, sondern auf dem breiteren kulturhistorischen Prozess, dem er entspringt. So entdecken wir, dass Totalitarismus aus Entwicklungen und Tendenzen hervorgeht, die sich täglich um uns herum vollziehen.

Auf diese Weise tastet dieses Buch auch die Möglichkeiten ab, einen Ausweg aus der Sackgasse zu finden, in der unsere Kultur momentan steckt. Die immer heftiger werdenden gesellschaftlichen Krisen vom Beginn des 21. Jahrhunderts sind Ausdruck eines tiefer liegenden psychologischen und ideologischen Umbruchs – einer Verschiebung der tektonischen Platten, auf denen ein Weltbild beruht. Wir erleben den Moment, in dem eine alte Ideologie sich noch ein letztes Mal mit aller Macht aufbäumt, bevor sie definitiv untergeht. Jede Behandlung welchen gesellschaftlichen Problems auch immer, die von der alten Ideologie ausgeht, wird das Problem letztendlich nur verschlimmern. Man kann ein Problem nicht mit derselben Art zu denken lösen, die es verursacht hat. Die Lösung für unsere Angst und Unsicherheit liegt nicht in immer mehr (technologischer) Kontrolle. Die eigentliche Aufgabe, vor der wir als Individuen und als Gesellschaft stehen, ist, ein neues Menschen- und Weltbild zu konstruieren, eine neue Grundlage für unsere Identität zu finden, neue Prinzipien für das Zusammenleben mit anderen zu formulieren und einer uralten menschlichen Fähigkeit zu neuer Wertschätzung zu verhelfen – dem Sprechen der Wahrheit.

TEIL I

WISSENSCHAFT UND IHRE PSYCHOLOGISCHEN AUSWIRKUNGEN

KAPITEL 1

WISSENSCHAFT UND IDEOLOGIE

Ein Sommertag im Jahre 1582: Ein junger Student namens Galileo Galilei sitzt im Dom zu Pisa – vor ihm steht ein Priester, der eine Predigt hält. Über dem Kopf des Priesters hängt ein Leuchter, der mit einer feinen Kette am Gewölbe des Doms befestigt ist. Jeder Hauch der warmen Sommerluft, die durch die offen stehenden Türen hereinweht, versetzt den Leuchter in Bewegung. Mal schwingt er weit weg von seinem Ruhepunkt über dem Altar, mal weniger weit. Die Stimme des Priesters tritt in den Hintergrund. Galileos Augen folgen dem Leuchter – hin und her, hin und her … Er fühlt seinen Puls und zählt die Herzschläge. Ob der Leuchter nun weit schwingt oder weniger weit, die Pendelbewegung dauert immer exakt gleich lang.

Was sich dort im Dom zu Pisa abspielte, bekam mythische Dimensionen. Es symbolisiert den Kern des kulturellen und gesellschaftlichen Umbruchs, der sich in den darauffolgenden Jahrhunderten vollziehen sollte. Der religiöse Diskurs mit seinem System von aus sakralen Texten abgeleiteten Dogmen verlor an Autorität. Anstatt Erkenntnis und Wissen als etwas außerhalb seiner selbst zu betrachten, das dem Menschen von Gott offenbart wird, wuchs das Vertrauen, dass der Mensch selbst zur Erkenntnis kommen konnte. Er brauchte nur der Methode der Wissenschaften zu folgen, das heißt, die Fakten mit eigenen Augen zu registrieren und mittels seines Verstands logische Zusammenhänge zwischen ihnen herzustellen.

Der religiöse Diskurs hatte den Blick des Menschen Tausende von Jahren nach innen gerichtet, orientiert an der Auffassung vom Menschen als Wesen mit Lüsten und Trieben, das lügt und betrügt und sich in äußerem Schein verliert, das sich auf den Tod vorbereiten muss, der ihn dereinst holen wird. Wenn der Mensch an der Welt litt, an Gottes Schöpfung, dann lag es an seiner eigenen moralischen und ethischen Unzulänglichkeit, daran, dass er in Sünde lebte. Nicht die Welt musste infrage gestellt werden, sondern der Mensch.

Mit dem Aufkommen der Wissenschaften änderte sich das: Der Mensch glaubte nun, dass er mit der Kraft seines Verstandes die Welt ändern und selbst bleiben könne, wie er war. Er raffte all seinen Mut zusammen und nahm sein Schicksal in die Hand: Er würde sich seines eigenen Denkvermögens bedienen, um die Welt zu verstehen und einer neuen, rationalen Gesellschaft Gestalt zu geben. Allzu lange hatte man ihm den Mund verboten im Namen von Göttern, die niemand je gesehen hatte; allzu lange war die Gesellschaft gebückt gegangen unter Dogmen, die jeglicher rationalen Grundlage entbehrten. Die Zeit war gekommen, die Dunkelheit mit dem Licht der Vernunft zu vertreiben und mutig zu sein, »sich [s]eines eigenen Verstandes zu bedienen«, wie es der deutsche Aufklärungsphilosoph Immanuel Kant 1784 formulierte (siehe S. 120).

Galilei wagte es – zu denken. Nach der Messe im Dom zu Pisa eilte er in seine Studentenkammer und fing an, mit Pendeln zu experimentieren. Er variierte das Gewicht des pendelnden Objekts, die Kraft, mit der es in Bewegung versetzt wurde, und die Länge der Kette, an der das Objekt aufgehängt wurde. Nur wenige Monate später konnte er die Gesetzmäßigkeit formulieren, die den Bewegungen von Pendeln zugrunde liegt: Lediglich die Länge der Kette (der Pendelarm) hat Einfluss auf die Dauer der Pendelbewegung. Und auch andere brillante Geister, wie Kopernikus und Newton, zogen sich den Schleier der religiösen Dogmen von den Augen und registrierten unvoreingenommen die Welt um sich herum. Sie zeigten, dass sich bestimmte Aspekte der Wirklichkeit erstaunlich treffend und präzise in mathematische und mechanistische Formeln fassen ließen. Es schien offensichtlich: Das Buch des Universums ist in der Sprache der Mathematik geschrieben.

Doch nicht nur große intellektuelle Leistungen wurden in dieser Zeit vollbracht. Die betreffenden Denker nahmen auch eine einzigartige menschlich-ethische Position gegenüber der Welt und den Dingen ein. Sie hatten den Mut, die Vorurteile und Dogmen ihrer Zeit – den herrschenden Diskurs – über Bord zu werfen. Sie gestanden ihre Unwissenheit ein und hörten zu, was die Dinge selbst zu erzählen hatten. Und aus diesem ehrlichen Nicht-Wissen wurde ihnen ein neues Wissen zuteil, ein Wissen, für das sie alles gegeben hätten. Sie waren bereit, es mit ihrer Freiheit zu bezahlen, manchmal sogar mit ihrem Leben.

Diese frische Wissenschaft – jenes Wissen im Geburtszustand – wies alle Merkmale dessen auf, was der französische Philosoph Michel Foucault Wahrsprechen nennt.4 Wahrsprechen ist eine Form des Sprechens, das einen (gesellschaftlichen) Konsens durchbricht. Wer die Wahrheit sagt, bricht die erstarrte Erzählung auf, in der die Gruppe Zuflucht, Behaglichkeit und Sicherheit sucht. Das macht das Sprechen der Wahrheit auch gefährlich. Es jagt der Gruppe Angst ein, sorgt für Irritation und Aggression.

Wahrsprechen ist gefährlich, aber auch notwendig. Wie fruchtbar ein gesellschaftlicher Konsens in einem bestimmten Moment auch sein mag, wenn er nicht rechtzeitig durchbrochen wird, entartet er zum toten Buchstaben, zu erstickendem Schein und Heuchelei. Die Wahrheit tritt dann als aufrichtige Stimme hervor, die durch den dumpfen Refrain einer etablierten Erzählung dringt und etwas Altes und Zeitloses auf neue Weise erklingen lässt. »Le vrai est toujours neuf« – die Wahrheit ist immer neu (Max Jacob).5

Wissenschaft ist dem Wesen nach Offenheit des Geistes. Die ursprüngliche wissenschaftliche Praxis, die Erfahrung, die die Grundlage der Aufklärungstradition bildete, setzte alle Vorurteile in Bezug auf die zu untersuchenden Phänomene erst einmal außer Kraft. Sie war offen für die größtmögliche Diversität von Ideen und Gedanken, Annahmen und Hypothesen. Sie kultivierte den Zweifel und erhob Unsicherheit zu einer Tugend. Sie ließ die Fakten selbst sprechen und entscheiden, mit welcher Gedankenform – mit welcher Theorie – sie sich am liebsten vereinigen würden. So wurden die Fakten im Wort wiedergeboren, als frische, zarte Wahrheiten.

Und nicht nur die Fakten erhielten das Recht, zu sprechen. »Ich missbillige, was Sie sagen, aber ich werde bis zum Tod Ihr Recht verteidigen, es zu sagen«, soll Voltaire laut seiner Biografin Evelyn Beatrice Hall geäußert haben. Der wissenschaftliche Diskurs befreite auch den Menschen aus seiner auferlegten Unmündigkeit. Er durchbrach ein System religiöser Dogmen, das im öffentlichen Leben weitgehend zu Zwang und Unterdrückung, zu erstickendem Schein und Heuchelei, zu Betrug und Lügen verkommen war.

Diese Offenheit des Geistes trug reiche Früchte. Die wissenschaftliche Methode wurde genutzt, um die Bewegung der Himmelskörper zu verstehen und vorherzusagen, die Schwingungen von Pendeln zu beschreiben und die Fallbeschleunigung zu berechnen, aber auch um das Verhalten von Tieren zu studieren, die Gesetzmäßigkeiten des Funktionierens der Psyche zu ergründen, die Struktur der Sprache zu untersuchen und Kulturen miteinander zu vergleichen. An jedes Gebiet und jedes Forschungsobjekt wurde sie flexibel angepasst und überall förderte sie das Sublime zutage. Formen und Farben zeichneten sich in ihrem Licht schärfer ab denn je; Töne klangen in ihrer Stille klarer, als Ohren jemals gehört hatten.

Die Offenheit des Geistes, dieses treue Folgen des Verstandes, um welchen Preis auch immer, führte schließlich über eine Arbeit von mehreren Jahrhunderten zu den sublimsten Einsichten. Überraschenden Einsichten auch. Die großen Physiker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bewiesen auf die konkreteste Weise, dass der Kern der Materie nicht unabhängig vom beobachtenden Subjekt betrachtet werden kann, dass die Beobachtung eines materiellen Objekts dieses Objekt selbst verändert (»Looking at something, changes it«, Heisenberg). Und man gab die Illusion auf, dass der Mensch jemals Gewissheit erlangen könne. So zeigte Werner Heisenberg mit seiner berühmten Unschärferelation6, dass selbst rein materielle »Fakten«, wie die Lokalisierung von Teilchen in Zeit und Raum, nicht eindeutig bestimmbar sind. Die großen Geister, die der Ratio und den Fakten am treuesten folgten, kamen sogar zu dem Schluss, dass der Kern der Dinge letztlich nicht in Logik zu fassen sei. Und Niels Bohr resümierte schließlich, nur mit Poesie könne man etwas Wesentliches über das unter logischen Gesichtspunkten absurde Verhalten von Elementarteilchen sagen: »Wir müssen uns klar darüber sein, daß die Sprache hier nur ähnlich gebraucht werden kann wie in der Dichtung.«7

Und die ganze Idee der Vorhersagbarkeit der Welt und der Dinge – von Laplace einst fanatisch verkündet – wurde von dem amerikanischen Mathematiker und Meteorologen Edward Lorenz für ungültig erklärt. Selbst wenn es möglich ist, ein komplexes und dynamisches Phänomen – worunter die meisten natürlichen Phänomene fallen – strikt in mathematische Formeln zu fassen, wird man, mit diesen Formeln in der Hand, dessen Verhalten keine Sekunde im Voraus vorhersagen können. Und schließlich erwies sich auch das Bild vom Universum als totem und ziellosem (nicht-teleologischem) mechanischem Prozess wissenschaftlich als unhaltbar. Die Chaostheorie zeigte auf wahrhaft revolutionäre Weise, dass sich die Materie unablässig in Formen organisiert – ein Vorgang, der mit mechanistischen Begriffen überhaupt nicht erklärt werden kann. Es stecken Zielgerichtetheit und Willen im Universum. Auf all dies gehen wir im letzten Teil dieses Buchs genauer ein.

Newton sagte es schon im 17. Jahrhundert: Die Gesetze der Mechanik sind nur auf einen sehr begrenzten Teil der Wirklichkeit anwendbar. Und je weiter die Wissenschaft voranschritt, desto deutlicher wurde das – zumindest für diejenigen, die es sehen wollten. Der große Mathematiker René Thom formulierte es im 20. Jahrhundert so: »Der Teil der Realität, der gut mit Gesetzen beschrieben werden kann, die Berechnungen erlauben, ist extrem begrenzt.«8 Und das folgende Zitat ist noch wichtiger: »Alle bedeutenden theoretischen Fortschritte sind meiner Meinung nach aus der Fähigkeit ihrer Entdecker hervorgegangen, ›in die Haut der Dinge zu schlüpfen‹, sich in alle Entitäten der externen Welt einfühlen zu können. Es ist diese Art der Identifikation, die ein objektives Phänomen in ein konkretes Gedankenexperiment transformiert.«9

Dies wirft ein überraschendes Licht auf das Wesen wissenschaftlicher Forschung. Wir glaubten, Wissenschaft bestehe darin, trockene logische Zusammenhänge zwischen »objektiv« wahrnehmbaren Fakten herzustellen. Aber eigentlich wird sie durch eine Fähigkeit zur Empathie realisiert, eine Art resonierenden Einfühlens in das zu untersuchende Phänomen. Wissenschaft stößt dabei auf einen Kern, der sich jedem logischen Diskurs entzieht und sich nur in der Sprache der Poesie und der Metaphern beschreiben lässt. Die Berührung mit diesem Kern führt nicht selten zu dem, was wir eine ursprüngliche religiöse Erfahrung nennen könnten – eine religiöse Erfahrung, die jeglicher Form von religiöser Institutionalisierung vorausgeht und nicht durch diese besudelt ist. Max Planck zeugte vielleicht auf die direkteste und auch verletzlichste Weise von dieser Erfahrung: Wissenschaft kommt am Ende dort an, wo Religion einst ihren Ausgang nahm, in einem persönlichen Kontakt mit dem Unsagbaren (vgl. Kapitel 11). Die Physiker des 20. Jahrhunderts begannen, sich aus dieser Erfahrung heraus auch wieder für die großen religiösen und mystischen Schriften, wie die Upanischaden, zu interessieren. Der Inhalt und die Struktur dieser Texte, ihre Bildsprache und Symbolik erfassen die Wirklichkeit besser als jeder logische, rationale Diskurs. Wissenschaft hatte sich von allen Dogmen des religiösen Diskurses befreit, entdeckte jedoch am Ende der Reise die mystischen und religiösen Texte wieder und gab ihnen ihren frischen, ursprünglichen Status zurück: symbolische, metaphorische Texte für dasjenige, was sich dem menschlichen Verstand ewig entzieht.

Wie wir im letzten Teil dieses Buchs besprechen werden, brachte das treue Folgen der Vernunft so seine höchste und erhabenste Leistung hervor: Es zeigte ihre Grenzen auf. Der menschliche Verstand hatte seine eigene Beschränktheit akzeptiert und die letzte Erkenntnis wiederum und endgültig außerhalb seiner selbst situiert. Die ultimative Leistung der Wissenschaft besteht darin, dass sie schlussendlich abdankt, dass sie zu der Einsicht kommt, nicht das richtungweisende Prinzip für den Menschen sein zu können. Nicht die menschliche Ratio ist das Entscheidende, sondern der Mensch als Wesen, das ethische und moralische Entscheidungen trifft, der Mensch in seinem Verhältnis zu seinem Mitmenschen, der Mensch in seinem Verhältnis zum Unsagbaren, das im Kern der Dinge zu ihm spricht.

Am Baum der Wissenschaft wuchs jedoch von Anfang an auch ein Zweig in eine andere Richtung – in die der ursprünglichen wissenschaftlichen Praxis genau entgegengesetzte Richtung sogar. Durch die großartigen Ergebnisse, die die Wissenschaft verbuchte, schlug sie bei manchen von Offenheit des Geistes in Überzeugung um; sie wurde zur Ideologie. Es war vor allem der mechanistisch-materialistische Zweig – die sogenannten harten Wissenschaften –, der die Geister in Entzücken versetzte. Einfach in ihren Grundprinzipien (den Gesetzen der Mechanik), konkret in ihrem Gegenstand (die greifbare, sichtbare Welt) und eindrucksvoll in ihrer praktischen Anwendbarkeit (von der Dampfmaschine über den Fernseher und das Internet bis zur Atombombe) hat diese Wissenschaft alles, um das menschliche Wesen zu verführen. Dank ihr erobert der Mensch das All, durch sie können wir sehen und hören, was am anderen Ende der Welt passiert, und die Gehirnaktivität sichtbar machen; sie verleiht uns die Fähigkeit, uns schneller fortzubewegen als der Schall und mikrochirurgische Eingriffe durchzuführen. Früher warteten wir vergeblich darauf, dass Gott Wunder verrichtete, aber diese Wissenschaft sorgte dafür, dass sie tatsächlich geschehen. Der Mensch hatte die Phase des Glaubens hinter sich gelassen und baute erfolgreich auf das, was er wusste. Das glaubte er zumindest.

Das mechanistische Denken lieferte seit der Aufklärung die einzige noch verbliebene Große Erzählung der westlichen Kultur. Dieser Erzählung zufolge beginnt alles mit einem Urknall, der eine Ausdehnung des Weltalls in Gang setzt und über eine Vielzahl mechanischer Effekte eine immer komplexer werdende Reihe von Phänomenen generiert. Zuerst entsteht Wasserstoff, dann Helium, und danach werden durch abwechselnde Prozesse von Fusion und Explosion alle anderen chemischen Elemente erzeugt. Die Elemente klumpen zusammen und bilden Sterne und Planeten, auf deren einem – der Erde – Wasser existiert. In diesem Wasser entstehen Aminosäuren, die oft als der Ursprung des Lebens betrachtet werden. Von dort aus, in einer durch natürliche Selektion gelenkten Entwicklung von einfachsten Lebensformen hin zu komplexeren, bringt der evolutionäre Prozess den Menschen hervor – den vorläufigen Endpunkt der Evolution. So hat der wissenschaftliche Diskurs seinen eigenen Entstehungsmythos geschaffen.

In einem solchen Menschenbild wird das komplette Register der menschlichen Subjektivität zu einem unbedeutenden Nebenprodukt mechanistischer Prozesse. Der Mensch ist sich dessen vielleicht nicht bewusst, aber seine Menschlichkeit spielt eigentlich keine Rolle, sie ist nichts Wesentliches. Sein Verlangen und sein Begehren, seine romantischen Stoßseufzer und seine oberflächlichsten Bedürfnisse, seine Freude und sein Kummer, sein Zweifel und seine Entscheidungen, seine Wut und Unvernunft, sein Vergnügen und sein Leiden, sein tiefster Abscheu und seine höchste ästhetische Wertschätzung, kurzum: die ganze Dramatik seiner Existenz – all das lässt sich letztendlich auf Elementarteilchen zurückführen, die nach den Gesetzen der Mechanik aufeinander einwirken. Das ist das Credo des mechanistischen Materialismus.

Wer an diesem Credo zweifelt, erklärt sich selbst freiwillig für töricht oder verrückt. Man darf zwar noch zweifeln, aber nur an den »richtigen« Dingen. Dieser Zweig am Baum der Wissenschaft entwickelte sich in die den originalen Trieben genau entgegengesetzte Richtung. Bei ihrer Geburt war Wissenschaft gleichbedeutend gewesen mit Offenheit des Geistes, einer Denkweise, die alle Dogmen über Bord warf und alle Überzeugungen infrage stellte. Doch je mehr sie heranwuchs, desto mehr verkehrte sie sich in Ideologie, Überzeugung und Vorurteil.

So machte die Wissenschaft eine Transformation durch, die jeder Diskurs durchmacht, wenn er dominant wird. Ursprünglich war sie ein Diskurs gewesen, mit dem eine Minderheit einer Mehrheit die Stirn geboten hatte; jetzt wurde sie selbst zum Diskurs der Mehrheit. Damit eignete sie sich nun auch für Zwecke, die den ursprünglichen Zwecken entgegenstanden. Man konnte mit ihr die Masse manipulieren, Karriere machen (je mehr wissenschaftliche Publikationen, desto größer die Chance, Professor zu werden), Produkte an den Mann bringen (»Untersuchungen haben erwiesen, dass unser Waschmittel am weißesten wäscht«), hinters Licht führen (»Ich glaube nur der Statistik, die ich selbst gefälscht habe«, Winston Churchill), andere herabwürdigen und stigmatisieren (»Wer an alternative Heilkunde glaubt, ist ein irrationaler Tor«), ja sogar Segregation und Exklusion verantworten (seit der Coronakrise kein Zugang mehr zum öffentlichen Raum, wenn man das Zeichen der wissenschaftlichen Ideologie nicht trägt). Kurzum: Der wissenschaftliche Diskurs wurde, genau wie jeder dominante Diskurs, zum privilegierten Instrument von Opportunismus, Lügen, Betrug, Manipulation und Macht.

Je mehr der wissenschaftliche Diskurs zur Ideologie wurde, desto mehr verlor er die Merkmale des Wahrsprechens. Nichts illustriert dies besser als die Krise, die 2005 in der akademischen Welt ausbrach – die sogenannte Replikationskrise. Diese Krise begann mit einer Reihe schwerer Fälle von Wissenschaftsbetrug, die ans Licht kamen. Wissenschaftliche Scans und andere Bildgebungen stellten sich als manipuliert heraus,10 archäologische Artefakte als gefälscht,11 Klone von Embryos als erfunden;12 es gab Forscher, die behaupteten, erfolgreich die Haut von Mäusen transplantiert zu haben, aber in Wirklichkeit war der Eingriff nur durch das Einfärben der Haut von Versuchstieren imitiert worden.13 Wieder andere bastelten aus Schädelstückchen von Menschen und Affen selbst ein Missing Link zusammen,14 ja, manche schienen ihre Untersuchungen gar völlig frei ersonnen zu haben.15

Diese regelrechten Formen von Betrug waren relativ selten und stellten insofern nicht das größte Problem dar. Das lag eher bei milderen Formen fragwürdiger Forschungspraktiken, die wahrhaft epidemische Ausmaße annahmen. Daniele Fanelli führte 2009 eine systematische Untersuchung durch, die ergab, dass mindestens 72 % der Wissenschaftler bereit waren, ihre Forschungsergebnisse in irgendeiner Weise zu verdrehen.16 Hinzu kam noch, dass es in den Studien von (unbeabsichtigten) Rechen- und anderen Fehlern wimmelte. Ein Artikel in Nature berichtete zu Recht von einer »Tragödie von Fehlern«.17 Dies alles drückte sich in einem Mangel an Replizierbarkeit wissenschaftlicher Befunde aus. Vereinfacht gesagt, heißt das: Die Ergebnisse wissenschaftlicher Experimente erwiesen sich als nicht stabil. Wenn verschiedene Forscher das gleiche Experiment durchführten, kamen sie zu unterschiedlichen Ergebnissen. In den Wirtschaftswissenschaften misslang beispielsweise die Replikation in ungefähr 50 % der Fälle,18 in der Krebsforschung in ungefähr 60 %19 und in der Biomedizin in sage und schreibe 85 % der Fälle20. Insgesamt war die Qualität wissenschaftlicher Untersuchungen so dramatisch schlecht, dass der weltberühmte Statistiker John Ioannides einen Artikel mit dem vielsagenden Titel »Why Most Published Research Findings Are False«21 dazu veröffentlichte. Ironischerweise kamen auch die Studien, die die Qualität der Forschungsarbeiten untersuchten, zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Das an sich zeigt vielleicht noch am besten, wie fundamental das Problem war.

In den vergangenen Jahrzehnten versuchte die akademische Welt, durch eine Reihe von Initiativen und Maßnahmen die Qualität der Forschung zu verbessern. Man stellte den Publikationsdruck infrage, forderte die Wissenschaftler auf, ihre Ergebnisse öffentlich zugänglich zu machen, nahm die finanziellen Interessen in der Forschung genauer unter die Lupe usw. Doch alles in allem scheinen diese Maßnahmen nicht viel Effekt zu haben. 2021 wurde wieder eine Studie zur Qualität von Forschung durchgeführt, und 50 % der Akademiker gaben anonym zu, dass sie ihre Befunde mitunter tendenziös darstellen. Diese Zahl ist ohnehin schon problematisch hoch, aber laut Fanelli handelt es sich dabei so gut wie sicher noch um eine substanzielle Unterschätzung. Denn auch anonym wagt ein beträchtlicher Prozentsatz der Wissenschaftler nicht, zuzugeben, dass sie sich fragwürdiger Forschungspraktiken bedienen. Die Maßnahmen, wie gut sie in gewissem Sinne auch gemeint waren, haben am Kern des Problems offensichtlich nichts geändert.

Die Replikationskrise zeigt nicht nur einen Mangel an Ernst und Ehrlichkeit in der Forschung auf; sie verweist vor allem auf eine fundamentale epistemologische Krise, das heißt eine Krise der Art und Weise, wie der Mensch Erkenntnis zu erlangen versucht. Unsere Auffassung von Objektivität ist falsch, unter anderem weil sie zu sehr auf der Vorstellung basiert, dass Zahlen das privilegierte Mittel seien, sich Fakten zu nähern. Wenn man betrachtet, in welchen Wissenschaftsgebieten die Probleme am gravierendsten waren, kann man durchaus den Eindruck bekommen, dass die Messbarkeit der Phänomene eine Rolle spielte. In der Chemie und der Physik war es weniger schlimm, in der Psychologie und der Medizin war die Situation jedoch dramatisch. Die beiden letzteren Disziplinen untersuchen typischerweise komplexe und dynamische Phänomene – das körperliche und psychische Funktionieren des Menschen. Solche »Objekte« sind im Grunde nur sehr begrenzt messbar, weil sie nicht auf eindimensionale Merkmale zurückgeführt werden können (siehe Kapitel 4). Und dennoch versucht man allzu oft krampfhaft, sie in Zahlen zu zwängen.

Sowohl in der Medizin als auch in der Psychologie werden Messungen in der Regel anhand diverser Tests durchgeführt, die in numerischen Scores resultieren. Diese Zahlen erwecken den Eindruck, objektiv zu sein, aber das ist (sehr) relativ. Studien zum sogenannten cross-method agreement zeigen uns zum Beispiel, wie problematisch derartige Messungen sind. Diese Studien gehen von einer ebenso einfachen wie interessanten Frage aus: Wenn man dasselbe »Objekt« mittels verschiedener Messverfahren misst, inwieweit werden die Ergebnisse dann übereinstimmen? Bei einigermaßen akkuraten Messverfahren müssten sie normalerweise ungefähr identisch sein. Das ist jedoch nicht der Fall, und zwar bei Weitem nicht. In der Psychologie beispielsweise sind die Korrelationen zwischen Messungen mit verschiedenen Verfahren selten höher als .45. Das ist natürlich eine abstrakte Zahl, deshalb illustriere ich das in meinen Vorlesungen an der Universität gern mit einem konkreten Beispiel. Stellen Sie sich vor, Sie bauen ein Haus, und ein Tischler kommt, um die Fensteröffnungen auszumessen. Er nutzt dafür drei verschiedene Werkzeuge – einen Zollstock, ein Bandmaß und ein Lasermessgerät. Wären die Messungen des Tischlers ebenso unzulänglich wie die eines Psychologen, dann würde er die folgenden Ergebnisse vermelden:

Wir sehen also: Mithilfe des ersten Messinstruments ermittelt der Tischler, dass Fenster 1 180 cm breit ist, mit dem zweiten Messinstrument kommt er für dasselbe Fenster auf 130 cm und mit dem dritten schließlich auf 60 cm. Gleiches gilt für das zweite Fenster: Das erste Instrument zeigt an, dass Fenster 2 100 cm breit ist, das zweite, dass es 200 cm breit ist, und das dritte, dass es 150 cm breit ist. Man braucht sich die Tabelle nur anzusehen. Würde man sich von einem Tischler, der sich solcher Messverfahren bedient, die Fenster für sein Haus anfertigen lassen? Immerhin beträgt die Korrelation zwischen den drei Reihen von Messergebnissen .45, was ungefähr dem Besten entspricht, das man erwarten darf, wenn Psychologen drei verschiedene Messinstrumente gebrauchen. Das bedeutet nicht, dass alle psychologischen Messungen sinnlos sind, aber es relativiert die Vorstellung, sie seien »objektiv«.22 Als ich mich als junger Forscher mit dem Messproblem auseinanderzusetzen begann, glaubte ich, dass nur die Psychologie in diesem Ausmaß damit zu kämpfen habe. Später entdeckte ich, dass es sich genauso in der Medizin stellt (und eigentlich auch in vielen anderen Wissenschaftsgebieten, wie wir in Kapitel 4 sehen werden). Die genutzten Tests und Messinstrumente sind dort – was verwundern mag – durchschnittlich nicht besser als in der Psychologie. In der gründlichen Übersichtsstudie von Gregory Meyer und seinen Kollegen23 lässt sich das nachlesen.

Durch die manifesten Probleme mit den PCR-Tests während der Coronakrise wurde die Relativität medizinischer Messungen vielleicht zum ersten Mal einem breiteren Publikum bewusst. Es wurde auf einmal deutlich, dass es vielerlei Methoden gibt, den Test abzunehmen, dass die Ergebnisse schwanken, dass das Testergebnis im Prinzip auf unterschiedlichste Weise interpretiert werden kann usw. Schon Goethe sagte: »Das Messen eines Dings ist eine grobe Handlung, die auf lebendige Körper nicht anders als höchst unvollkommen angewendet werden kann.«24 Wenn man das Unmessbare dennoch zu messen versucht, wird Messen zu einer Form von Pseudo-Objektivität. Denn statt den Forscher näher an sein Forschungsobjekt heranzubringen, entfernt das Messverfahren ihn nur weiter davon. Es bewirkt, dass das untersuchte Objekt hinter einem Schirm von Zahlen verschwindet.

Tests und Messverfahren mit geringer Validität sind nicht nur problematisch an sich, sie halten den Forscher auch davon ab, seinen Gegenstand auf eine andere, weniger anspruchsvoll wirkende,