Die Pürin - Noëmi Lerch - E-Book

Die Pürin E-Book

Noëmi Lerch

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Beschreibung

Die Geschichte über eine Pürin und ihre Gehilfin. Die Gehilfin notiert sich alles, was sie nicht vergessen will: von den Kühen, den Hühnern, der Arbeit im Kreislauf der vier Jahreszeiten. Die Pürin merkt an, ergänzt, fragt nach, schliesst den Reissverschluss ihrer Jacke bis unters Kinn. Lässt die Gehilfin machen. Man sieht, wie Die Pürin geht. Wie sie kommt, weiss man nicht. Sie ist dann einfach wieder da. Die Gehilfin kehrt jeden Abend zurück in die alte Villa ihrer Grosseltern. Längst wohnt dort niemand mehr, aber auf dem Tisch stehen noch immer die beiden Tassen. Die Gehilfin versucht sich zu erinnern, oder zu vergessen. Wer war der andere, der mit ihr aus diesen Tassen getrunken hat? Und wo ist er jetzt? Noëmi Lerch hat für Die Pürin den renommierten Terra-Nova Schillerpreis für Literatur 2016 bekommen. Außerdem war Die Pürin auf der Shortlist des bekannten Rauriser Literaturpreises 2017.

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Noëmi Lerch

Die Pürin

verlag die brotsuppe

Noëmi Lerch

Die Pürin

verlag die brotsuppe

www.diebrotsuppe.ch

ISBN 978-3-905689-83-9

Alle Rechte vorbehalten

© 2015, verlag die brotsuppe, Biel/Bienne

Gestaltung, Satz, Umschlag: Ursi Anna Aeschbacher, Biel/Bienne

Umschlag unter Verwendung eines Bildausschnitts

von Walter Lerch aus »Landschaft im Toggenburg«

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Erklärungen

Die Autorin

für Vrena

Prolog

Als die Pürin Pürin werden wollte, sagte man ihr, das ist gegen das Gesetz. Die Pürin gibt es nur als die Frau vom Bauer. Und eine Pürin ohne Mann, das sei schon kompliziert genug. Aber die Pürin wollte alleine, und als Frau, Bäuerin werden. Man sah sich ihren Hof an. Fand da ein paar Pferde und eine illegale Kuh, welche die Pürin von einer nordischen Insel importiert hatte. Die Kuh war für eine Kuh sowieso zu klein. Man sah darüber hinweg. Als erste Frau besuchte die Pürin die Schule für Landwirtschaft. Sie bestand mit Bestnote. Ihr Mann spä­ ter war froh, dass er nicht Bauer werden musste.

Im selben Jahr, als die Pürin besagtes Gesetz umgegra­ ben hatte, baute mein Grossvater die Villa Laudinella. Er baute sie für die Grossmutter auf der Sonnenterrasse über dem Tal. Wollte ihr, die vom anderen Ende der Welt gekommen war, die schöne Aussicht zeigen. Aber meine Grossmutter liebte die Berge nie. Sie war froh, dass sie nicht Bergsteigerin werden musste.

Ich wäre gerne Bergsteiger geworden wie mein Grossva­ ter. Es sollte nicht sein. So kam ich als jemand anderes zur alten Villa. Sie war ganz eingewachsen. Ich öffnete die Tür, ohne zu wissen, was ich tat. Drinnen sass die Grossmutter und sang das Lied von den Kosaken. Als sie fertig war, fragte sie, ob ich schon wisse, wo ich einmal bleiben werde. Ich ging wieder nach draussen. Da traf ich die Pürin, sie sass auf dem Rücken des alten Schimmels. Sie sagte, in diesem Jahrhundert der unbegrenzten Mög­ lichkeiten, warum nicht Pürin werden? Für die Gross­ mutter wäre ich überall geblieben. Wie die Pürin hoch zu Ross sein, das wünschte ich mir.

Herbst

Heute habe ich die erste fliegende Ameise gesehen. Die Pürin sagt, jetzt kommt der Herbst. Ich schaue hinauf, zum Wald, den Wiesen. Darüber stehen die Berge, und dahinter, da bricht die Welt ab. Im Sommer sind wir zusammen hier heraufgekommen, erinnerst du dich? Du immer einen Schritt voraus, mit deinem Rucksack, diesem Geschwür, das dir in die Arme geschnitten, dei­ nen Rücken aufgeschürft und dich kaum hat aufschauen lassen, wenn du bergan gingst. Du hingst an ihm, einen neuen Rucksack zu kaufen wäre dir nicht im Traum in den Sinn gekommen. Du mochtest die neuen Farben nicht, die neuen Stoffe, die neue Art zu schwitzen und dabei nach nichts zu riechen. Du rochst gerne und stark, und alles, was an dir hing, begann mit der Zeit so zu riechen wie du. Das war dein erster grosser Zauber. Nachts habe ich meinen Kopf heimlich an deine Achseln geschmiegt, um den Zauber mit meinen Haaren einzufangen. Ich stahl dir ein wenig davon, wie von einem Parfüm, das mich später umfinge, wenn du weg warst. Denn das war dein zweiter grosser Zauber, deine karge Anwesenheit.

Damals klirrten die Weingläser in deinem Rucksack so schön bei jedem Schritt. Ich zählte die Stunden, die uns noch blieben, vergrösserte den Abstand und fiel kaum merklich zurück, als liesse mein Körper sich so auf den nahenden Abschied vorbereiten. Es misslang jedes Mal. Beim grossen Felsen machten wir Rast, tranken Wein und sahen, wie Rauch aus dem Tal aufstieg. Bald kamen die Vögel, wir hörten sie fliegen, den Schlag ihrer Flügel in der Luft.

Heute komme ich allein. Zwischen den Tannen verdich­ ten sich die Schatten, verschlucken die letzten Lichtfle­ cken. Es dunkelt. Jetzt meine ich, die Pürin im Dorf unten ans Küchenfenster kommen zu sehen. Ihr Glas wird leer auf dem Tisch stehen, an den Rändern ein trü­ ber Film aus Milch. Von hier aus sehe ich auch die alte Villa der Grosseltern, das Dorf mit dem schrägen Kirch­ turm, darüber die Geröllhalden und der Wald mit der Ruine. Als es ganz dunkel geworden ist, kehre ich um. Ich steige den Wald hinab, dem Bach entlang, der zur Brücke führt, von dort ist es nicht mehr weit. Dem Weg entlang stehen die Sträucher der Hecken, sie begleiten mich wie eine Karawane seltsamer, im Wind hin und her wankender Gestalten. Beim Dorf oben läuten die Glo­ cken im schrägen Kirchturm. Es muss gegen Mitternacht sein, als ich den Rucksack von meinen Schultern nehme und die Tür zur Villa öffne.

Auf dem Küchentisch stehen unsere beiden Tassen. Vergeblich versuche ich an der Art und Weise, wie sie sich gegenüberstehen, eine Botschaft abzulesen, das Orakel verrät mir nichts. Auch möglich, dass ich deine Tasse selbst dort hingestellt habe, als ich meinte, du wärst wieder da. Du öffnest die Tür, noch im Gehen lässt du alles fallen, ziehst eine Spur aus deinen Schuhen, dei­ nen Socken, deinem Pullover in die Küche, es ist heiss bei dir, würdest du sagen, auch wenn es in Wirklichkeit kalt ist.

Am Morgen kommt die Sonne die Hänge herab, wäh­ rend der Nebel vom Fluss heraufsteigt. Im Nebel sehe ich Pferde. Wilde, sich aufbäumende und sich wieder zer­ reissende Pferde. Nachts galoppieren sie durch die Was­ serleitungen der alten Villa. Nachdem ich es mir Nacht für Nacht genau überlegt habe, weiss ich heute, dass die Nebelpferde keine Hufeisen tragen, es fehlt ihrem Schritt der metallische Klang. Jetzt drehen sie hier im Tal ihre Kreise wie in einer Manege, die Sonne ist ihr Scheinwer­ fer und der Wind zerzaust ihre Mähnen. In ihre Kreise stürzen sich die Schwalben, diese halsbrecherischen Akrobaten mit ihren weissen Bäuchen und den schwar­ zen Fliegermützen. Solange sie fliegen, kennen sie nichts, weder die Angst vor der Höhe noch vor der Tiefe, und im Gegensatz zu den Tassen sagen mir die Schwalben immerhin etwas über das Wetter.

Auch die Schwalben bleiben nicht für immer, sagtest du, als ich dir vom Bahnhof aus zeigte, wie sie dort oben um die alte Villa kreisen. Und wenn auch, nebst den Schwal­ ben gibt es ja noch die Elstern, die Raben, die Buch­ finken, den Buntspecht. Aber in diesem Dorf, sagtest du, da wohnt doch keiner mehr. Wenn man schon nur den Kirchturm ansieht, wie schräg der ist. Der wird als erster ins Tal herunterwandern. Und in ein paar Jahren, da brauchst du abends nach der Arbeit nicht mehr den Berg hochzugehen. Dann ist nämlich der Berg, die alte Villa und das ganze Dorf hier unten im Tal. Ich steckte meine Hände in die Hosentaschen. Was tun, wenn einer so redet und da steht in seinen Jägerhosen? Stillsein, sagte ich mir. Man wird schon sehen, wer noch wohin geht.

Unter dem schrägen Kirchturm und den Geröllhalden ist über dem Tal, so viel ist sicher. Über dem Tal steht die alte Villa der Grosseltern und schaut mit ihren rie­ sigen Fensteraugen hinunter zum Fluss. An der Südwand der Villa ist ein Name in den Stein gehauen, weil der Grossvater meinte, Häuser müssten Namen tragen wie die Dinge und die Tiere auch, sonst liefen sie davon. Die Villa trägt den Namen der Familie, und die Familie trägt den Namen des Vogelfängers. Der Grossvater hat Villa Laudinella in den Stein gehauen und den Vogel am Leben gelassen.

Für den Weg zum Stall trage ich die alte Skijacke vom Grossvater. Im Stall tausche ich die Jacke gegen den blauen Kittel und die Wanderschuhe gegen die grossen Gummistiefel. An der Stalltür sind über Nacht weisse Schnäuze gewachsen. Das Thermometer zeigt minus zehn, tiefer kann es nicht. Wenn es Schnäuze hat, ist es kälter als minus zehn, sagt die Pürin. Ich stehe in der Sat­ telkammer und fülle die Taschen vom Kittel mit Kara­ mells. Mit Karamells im Mund mache ich mich an die Arbeit.

Wenn ich allein so schnell wäre wie mit dir, sagt die Pürin. Ich stelle mir die Pürin mit vier Armen und vier Beinen vor. Sehe sie wie eine indische Göttin zwischen zwei Kühen sitzen, je ein Paar Arme an einem Euter. Die Hände der Pürin sind riesig. Sie haben Furchen und Fal­ ten und sehen um Jahre älter aus als ihr Gesicht. Nur jetzt, beim Melken sind sie verwandelt, zärtlich und schön.

Raus aus dem Tempel, sagt die Pürin zu den Kälbern, wenn sie fertig getrunken haben. Die Kälber verneigen sich und prallen mit den Köpfen zusammen. Sie ziehen das Kämpfen dem Beten vor. Raus jetzt aber, sagt die Pürin. Die Kälber prallen erneut mit den Köpfen zusam­ men. Sie kämpfen um den Titel des Tempelherrn. Die Pürin packt die Kälber und wirft sie nach draussen, oder so sagt sie das immerhin. Hier gibt es nur einen Tempel­ herrn, und der ist eine Frau.

Mephisto, der Kater, sitzt auf der Zwischenwand. Kommt ihm ein Kalb zu nahe, langt er mit der Pfote nach des­ sen Nase und vermisst den Grössenunterschied zwischen dem, der unten im Stallgang steht und dem anderen, der oben auf der Zwischenwand hockt. Mephisto ist sich ganz sicher: Er ist und bleibt auf der Zwischenwand das grösste Kalb im Stall.

Am Abend schneit es, und die Pürin leiht mir ihren Jeep für den Heimweg. Sie sagt, du musst im ersten Gang par­ kieren und die Handbremse lösen, sonst friert sie an. Wie im Traum fahre ich die verschneite Passstrasse hinauf durch die Nacht. Der Mann am Radio erzählt von einem neuen Radargerät, das die Bewegungen im Berg lesen kann. In verschiedenen Bergsturzgebieten der Schweiz werde es nun zum ersten Mal getestet. Der Sensor eines Georadars wird auch auf die Geröllhalden oberhalb vom schrägen Kirchturm gerichtet. Millionen Kubikmeter Fels seien dort in Bewegung, sagt der Mann am Radio. Die Grossmutter kümmert das wenig. Sie sitzt neben mir auf dem Beifahrersitz und lässt ihre weissen Haare im Wind flattern. Als wir bei der alten Villa ankommen, muss ich ihr sagen, dass sie mit dem Jeep nicht wegfahren soll bis morgen früh. Ich bin mir sicher, sie sitzt noch immer da. Ich gehe zurück, prüfe den Gang, die Hand­ bremse, den Winkel der Räder. Alles ist wie es sein sollte. Und der Beifahrersitz ist leer.

In der Stubenwand hat es ein grosses Fenster. Im Glas vom Fenster ist der Wald. Das Anschauen dieses Waldes ist wie ein Schlafen mit offenen Augen. Als Wand ste­ hen mir jetzt die Tannen gegenüber und wandern, wie ein Heer seltsam steifer Soldaten mit spitzen grünen Hüten, ins Tal hinunter und von da wieder herauf, alles einnehmend, alles begrabend unter ihren dunkelgrünen Mänteln. Ich bleibe trotzdem stehen. Als wäre es nur eine Mutprobe und als könnte ich mir sicher sein, dass du meine Angst spürst und am selben oder spätestens am nächsten Tag wieder zurückkommst, um mich aus den Fingern der dunkelgrünen Soldaten zu befreien.