Die Quellen - Marie-Hélène Lafon - E-Book

Die Quellen E-Book

Marie-Hélène Lafon

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Beschreibung

Ein abgelegener Hof in der Auvergne, wo Kühe grasen und Milch für den berühmten Käse Saint­-Nectaire geben. »Man ist hier am Ende der Welt. Niemand kommt vorbei, außer dem Briefträger, dem Viehhändler oder dem Tierarzt.« Draußen hängt Wäsche, die drei Kinder klettern auf Bäume, und die junge Frau – sie wird von ihrem Mann verprügelt.Immer am Samstag. Seit neun Jahren. Niemandem kann sie es sagen, selbst wenn sie ihr Leben kaum aushält und auch die Kinder die Beklemmung spüren. Der Hof, den sie gemeinsam mit ihrem Mann nach der Hochzeit gekauft hat, ist zum Gefängnis ge­worden. Denn mit einer Scheidung, so weiß sie, steht die ganze Existenz auf dem Spiel.Anhand einzelner weniger Tage, die sich von 1967 bis ins Heute erstrecken, erzählt der Ro­man von einer Frau, die lange leidet und plötz­lich aufbegehrt, und von einem Bauern, dem nur der Hof wichtig ist. Die körperlichen wie auch seelischen Härten eines Daseins in dieser von Landwirtschaft geprägten Gegend werden greifbar, wo eine Familie zerbricht – und doch auch ein Wunder geschieht. Das Wunder, dieser rohen, emotionsarmen Welt entkommen zu sein und heute als Schriftstellerin in Paris zu leben.

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Seitenzahl: 102

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Marie-Hélène Lafon

Die Quellen

Roman

Aus dem Französischen von Andrea Spingler

atlantis

Pascale Gautier gewidmet

»Der einsame Keiler schnüffelt in Richtung der Höfe.

Er kennt die Zeit des Mittagsschlafs.

Er trottet unter dem Laubwerk einen großen Bogen, dann bricht er aus dem nächsten Gebüsch hervor.

Da ist er. Er suhlt sich im Wasser. Der Schlamm reicht ihm an den Bauch.

Die Kühle durchdringt ihn vom Bauch bis zum Rückgrat.

Er beißt hinein in die Quelle.«

 

Jean Giono, Colline

Samstag, 10., und Sonntag, 11. Juni 1967

Er schläft auf der Bank. Sie rührt sich nicht, ihr Körper verharrt auf dem Stuhl, die Mädchen und Gilles sind im Hof. Nach dem Essen sind sie sofort hinausgegangen, sie wissen, dass man keinen Lärm machen darf, wenn er auf der Bank schläft. Claire hat die beiden Türen hinter sich geschlossen, die Küchentür und die zum Flur. Der Tisch ist nicht abgeräumt, sie wird sich später darum kümmern, wenn er seinen Mittagsschlaf beendet hat. Im Garten trocknet Wäsche, Nicole hat sie auf die Leine gehängt, bevor sie gegangen ist, alles muss abgenommen, gebügelt, aufgeräumt, für morgen früh müssen die Kleider der Kinder und auch ihre eigenen zurechtgelegt und die Schuhe geputzt werden. Sie freut sich, zu ihren Eltern hinunterzufahren, sie möchte sich freuen, sie werden bei ihr, bei ihrer Familie sein, man kann lachen und laut reden, er hat nicht die Oberhand; bei ihr zu Hause hat er nicht die Oberhand, er isst und schweigt. In drei Wochen, am 30. Juni, wird sie dreißig. Dreißig, drei Kinder, Isabelle, Claire und Gilles, zwei Mädchen und ein Junge, sieben, fünf und vier Jahre alt, ein Bauernhof, ein schöner Bauernhof, dreiunddreißig Hektar, ein großes Haus, siebenundzwanzig Kühe, ein Traktor, ein Kuhhirt, ein Gehilfe, ein Dienstmädchen, Auto und Führerschein. Zum Glück hat sie den Führerschein; ihre Mutter hatte recht, darauf zu bestehen, dass sie ihn macht. Isabelle, Claire, Gilles. Die drei Namen kommen immer auf ihren Listen vor; drei Kinder, drei Namen, dreiunddreißig Hektar, dreißig Jahre. Sie klammert sich an ihre Listen. Isabelle und Claire sind auf den Schaukeln; Gilles schaut ihnen zu, er sitzt auf der Mauer, die Arme vor der Brust verschränkt, er streckt seine nackten Beine aus und ahmt den Takt der Schwestern nach, die Schwung holen. Sie wird kein weiteres Kind bekommen, er ist das letzte, sie mag es, ihn an sich zu drücken, ihn zu behüten, er ist sanft, er riecht süßlich warm nach Baby, noch. Er lacht, wenn er aufwacht, er ist fröhlich, wenn sie morgens allein im Schlafzimmer sind, sie und er. Die Mädchen entziehen sich schon, sie spürt es; sie laufen, sie springen, sie sind ernst, sie schweigen. Isabelle ist in die Schule gekommen, der Schulbus hält an der Straße, morgens und abends; die Lehrerin sagt, sie lernt gut. Sie macht ihre Aufgaben am Küchentisch, man braucht sie nicht zu beaufsichtigen. In etwas mehr als einem Jahr wird Claire in die erste Klasse kommen. Sie denkt an ihre Mutter und ihre Tanten, die immer sagen, dass alles schnell vorbeigeht, das Leben, die Zeit, die jungen Jahre, wenn man die Kinder bei sich im Haus hat. Sie fängt an, es zu verstehen, sie schluckt in der Stille des Mittagsschlafs, sie stützt ihr Kinn auf die Hände und die Ellbogen zu beiden Seiten ihres Tellers auf das Wachstuch, sie schluckt wieder. Bald acht Jahre ist die Hochzeit her; sie rechnet nach, noch sechs Monate und siebzehn Tage, am 30. Dezember 1959 haben sie geheiratet. Sie denkt nicht gern daran, besser nicht. Acht Jahre Ehe und vier davon auf dem Hof, hier, weit weg von allem, am Ende der Welt. Sie möchte aufstehen, hinausgehen, die Wäsche abnehmen, tun, was getan werden muss, ein wenig Vorsprung gewinnen vor dem Baden der Kinder, das am Samstag länger dauert, wenn man am nächsten Tag zu den Großeltern fährt, zu ihr und zu ihm nach Hause, die drei müssen tadellos aussehen, immer. Ihr Körper ist schwer. Sie wartet.

Nicole ist sechzehn, bald siebzehn. Vor ihr war Annie da, über drei Jahre, ihr erstes Dienstmädchen. Annie war wirklich nett, so lebhaft und fröhlich, lustig, von morgens bis abends. Man sah, dass sie an Arbeit gewöhnt war. Die Wäsche für eine fünfköpfige Familie, die Sachen der beiden Arbeiter nicht mitgerechnet, ein großes Haus sauber halten, die Hühner und die Kaninchen, der Garten, Gießen, Jäten, nichts machte ihr Angst. Sie war im Dorf geboren und nie weggegangen. Ihre Eltern bewirtschafteten einen kleinen Hof auf der Höhe, und ihr Vater arbeitete zusätzlich als Tagelöhner im Tal, um über die Runden zu kommen. Annie kannte die Leute, die Familien, die Geschichten und sprach gut über sie, ohne Bosheit, aber immer mit einem Scherz auf den Lippen. Annie wurde zwanzig, sie heiratete und folgte ihrem Mann, der in Mauriac am anderen Ende des Departements eine Autowerkstatt aufmachte. Die Frauen gingen mit den Männern. Nicole wird dem ihren folgen, Nicole wird einen Mann haben, auch wenn sie weniger hübsch ist als Annie, weniger adrett, und langsamer, schwerfälliger. Man gewöhnt sich an alles; sie hat sich an Nicole gewöhnt, die manchmal ein bisschen einfallslos ist, aber sehr gut arbeitet. Nicole kommt auch von einem Hof, sie ist die Älteste einer kinderreichen Familie, und man merkt, dass sie streng erzogen worden ist. Sie selbst ist nicht streng erzogen worden. Besser auch daran nicht denken, ihr werden jedes Mal die Knie weich, aber sie kann nicht umhin, ihren Kleinmädchengeschichten nachzuhängen. Selbst wenn sie nicht reich waren, es fehlte an nichts, und während der Vater in Deutschland in Gefangenschaft war, hat die Mutter sich allein um alles gekümmert, mit den vier Großeltern, die sie, die Kleine, die Prinzessin, die Königin, gar nicht genug verwöhnen konnten. In Fridières lief sie von einem Haus zum anderen, die Höfe lagen gleich nebeneinander, die Eltern kannten sich von jeher. Sie wurde vier, sechs, sieben Jahre alt, der Vater kam nicht zurück. Man sprach von ihm, man schickte Päckchen. Als sie schreiben konnte, kritzelte sie unten auf den Brief an den Gefangenen ein paar Worte, die Mutter und Großmutter ihr diktierten; sie gab sich Mühe, aber sie erinnert sich, gedacht zu haben, ohne es auszusprechen, dass es ihr nicht gefiel, einen Gefangenen als Papa zu haben, die beiden Wörter passten nicht zusammen. Dann kam er wieder, er sah alt und müde aus, sie erkannte in ihm nicht den Mann vom Hochzeitsfoto, und nach ein paar Tagen fragte sie ihre Mutter, ob der Monsieur nicht bald abreisen würde.

Sie vergräbt ihr Kinn in den Händen, und unter dem Tisch bewegen sich ihre Zehen in den blauen Pantoffeln. Sie schließt die Augen. Sie durfte bei ihrer Mutter schlafen; bis zur Rückkehr des Gefangenen schlief sie bei ihrer Mutter im großen Bett, in ihrer Wärme, an den Rücken ihrer Mutter geschmiegt, die Nase im gelösten Haar ihrer Mutter, mit ihr verschlungen. Dann, nach der Rückkehr, nie mehr. Nie. Sie spürt einen Kloß im Hals, bloß nicht, sie möchte es unterdrücken, sie muss Kräfte sparen, um alles zu schaffen, sonst gibt es wieder Zirkus, Zoff. Sie hat jetzt Wörter dafür, nicht viele, zwei oder drei, das genügt; in all diesen Jahren hat sie Wörter gefunden, um mit sich zu sprechen, in ihrem Innern, über das, was mit ihr passiert, über das, was von Anfang an passiert ist, gleich nach der Hochzeit. Sie sagt diese Wörter zu niemandem, wie soll man sie sagen, vor den Leuten muss man so tun als ob, alle anderen sind Leute, auch ihre Mutter, ihr Vater und ihre Schwestern. Ihre Schwestern wissen es, sie haben es gespürt, sie haben es verstanden, sie haben es einmal gesehen, nach Gilles’ Geburt, wo er vor ihnen nicht an sich halten konnte. Seitdem sind sie nicht wiedergekommen, um ein paar Tage auf dem Hof zu verbringen, wie sie es taten, als die Mädchen kleiner waren, aber sie weiß nicht, ob ihre Schwestern mit ihrer Mutter darüber gesprochen haben. Ihre Mutter hat nichts gesagt und sie auch nicht. Die Wörter kommen ihr nicht, der Stolz blockiert sie. Sie nennt es Stolz, das, was sie aushalten und bleiben lässt und was auch für ihre Mutter zählt; sie weiß es, sie kennt ihre Mutter besser als jeder sonst, besser als ihre Schwestern und ihr Vater. Das kommt von den Kriegsjahren, dem Geruch des Haars ihrer Mutter, wenn sie beide in der Wärme des Betts lagen. Sie hebt das Kinn, öffnet die Augen und drückt ihre Finger ins Fleisch der Wangen. Sie gingen auch auf den Friedhof am Sonntag, nach der Messe. Die beiden Großmütter, mütterlicherseits und väterlicherseits, die Mémé und die Mamie, folgten ihnen aus einiger Entfernung, blieben zurück. Ihre linke Hand lag in der rechten Hand ihrer Mutter, sie standen vor dem Grab, das dauerte nicht lang; ihre Mutter sagte nichts und drückte ihre Hand nur ein wenig fester in der ihren, die feucht wurde. Dann war es vorbei, sie verließen den Friedhof. Später, als sie in die Dorfschule ging, konnte sie auf dem Grabstein lesen: André 1935–1937.

Er regt sich ein wenig auf der Bank, er bewegt seinen linken Arm, der angewinkelt über den Augen das Licht abhält, er hat seine Brille auf dem Tisch gelassen, neben seinem zugeklappten Messer, und so schläft er, auf der schmalen Bank ausgestreckt, das linke Bein über dem rechten, die Füße verschränkt. Sie kennt seine Zeiten, zehn Minuten wird er noch schlafen. Mit einem Ruck wird er wach und aufgestanden sein. Er wird zuerst seine Brille aufsetzen, er wird sein Messer nehmen und sie ohne einen Blick fragen, worauf sie wartet mit dem Tischabräumen. Während seines Mittagsschlafs duldet er nicht das geringste Geräusch. Sie antwortet nicht. Der Kloß in ihrem Hals wird hart. Sie hat ihren Stolz, wie ihre Mutter, das ist eine Wesensart, auch wenn es nicht alles erklärt. Ihre Mutter hätte die Heirat verhindern können, wenn sie unbedingt darauf bestanden hätte, sie tat es nicht. Einmal hat ihr Vater mit ihr gesprochen in dem letzten Sommer, als sie noch zu Hause wohnte, 1959. Sie kamen von der runden Wiese, er mit der Sense, sie mit dem Rechen; es war eine kleine Wiese am Hang, ganz bucklig, unter Eschen versteckt, die die Sonne abhielten. Der Vater hatte gemäht, sie hatte hinter ihm das Gras zusammengerecht, das nicht hoch war und eher spärlich, aber man musste es trotzdem aus dem Schatten der Eschen herausholen, damit es besser trocknete. Sie arbeitete gern mit dem Vater, er war ruhig und sanft. Nach der letzten Kehre war er oben am Hang stehen geblieben; von dort aus sah man alles, zuerst Fridières und gegenüber, auf der anderen Seites des Bachs, des Résonnets, den Hof von Soulages, der stattlich wirkte, die beiden Gebäude, die Wiesen, die Tiere und das große Haus, wo sie nach der Hochzeit wohnen würde, in weniger als sechs Monaten, man hatte den Termin festgelegt, den 30. Dezember. Pierre würde mit seinem Vater arbeiten, wie er es schon vor dem Militärdienst getan hatte. Er würde in neun Wochen heimkommen, er bestätigte es in seinem letzten Brief; Ende September oder Anfang Oktober. Der Vater drehte sich zu ihr um, er sagte, das ist ein schöner Hof, du wirst in Soulages nicht weit weg sein, aber dein Verlobter gefällt mir nicht, ich mag nicht, wie er dich ansieht.

 

 

Im Hof ist es grün. Isabelle ist in den Ahorn gestiegen, sie klettert fast ganz hinauf und bleibt lange oben; man sieht ihre Füße, wenn man dicht am Stamm unterm Baum steht, man ahnt, dass sie da ist, aber sie antwortet nicht, wenn man sie ruft. Sie weiß nicht recht, wie sie mit Isabelle umgehen soll, die die Älteste ist, alles versteht, sich ihr widersetzt und sich in Acht nimmt vor ihrem Vater. Claire und Gilles hocken vor den Kaninchenställen und reden mit den Kaninchen. Von der Tür aus sieht sie die beiden von hinten; das Licht spielt in ihrem kastanienbraunen Haar, lockig bei Claire, glatt bei Gilles, mit goldenen Reflexen. Sie sind nicht blond, sie hat keine blonden Kinder bekommen. Isabelle hat ziemlich dunkles Haar und ist kraus wie ihr Vater. Es ist Claire, die mit den Kaninchen spricht, Gilles hört zu und dreht den Kopf bald zu seiner Schwester, bald zu den Kaninchen, als würden die Kaninchen antworten. Sie wird ihn fragen, ob die Kaninchen