Die Rache des Pangolin - Matthias Glaubrecht - E-Book

Die Rache des Pangolin E-Book

Matthias Glaubrecht

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Beschreibung

Viren haben schon immer die Menschheit beeinflusst – und neuerdings schafft der Mensch selbst die Voraussetzungen für neue Infektionskrankheiten. Weil wir die Welt verändern, lösen wir Pandemien aus, die wir dann nicht mehr beherrschen. Denn weltweit schlummern in Tieren – vom Pangolin bis zur Pute, von Fledermäusen bis zu Rindern – zahllose Erreger, die auch Menschen infizieren. Unsere globalisierte, immer dichter von Menschen besiedelte Welt macht es zunehmend wahrscheinlich, dass dadurch bald noch gefährlichere Pandemien verursacht werden ‒ weil die Wildnis zerstört wird, riesige Flächen entwaldet werden und durch Jagd und Wilderei, weltweiten Handel und Schmuggel, aber auch unsere Nutztierhaltung neue Krankheiten zu uns gelangen. Deshalb darf unsere Aufmerksamkeit nicht allein dem Wettlauf um immer neue Impfstoffe gelten; wir müssen uns vielmehr dringend dem Schutz von Natur und Artenvielfalt widmen. Es wird Zeit, für künftige Pandemien zu lernen und den menschlichen Krieg gegen die Natur zu beenden. Evolutionsbiologe Matthias Glaubrecht zeigt, wie die Vernichtung natürlicher Lebensräume und der Artenvielfalt mit Seuchen zusammenhängt und warum es sinnvoller ist, gegen die Zerstörung der Natur zu kämpfen, als Krieg gegen ein Virus zu führen.

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Das Buch

Viren haben stets die Menschheit beeinflusst – und inzwischen schafft der Mensch selbst die Voraussetzungen für neue Infektionskrankheiten. Weil wir die Welt verändern, lösen wir Pandemien aus, die wir dann nicht mehr beherrschen. Der Evolutionsbiologe Matthias Glaubrecht zeigt in einer spannenden Spurensuche, woher das Coronavirus wirklich kommt, welche Rolle Tiere dabei spielen und wie die immer rasantere Vernichtung natürlicher Lebensräume und der Artenvielfalt neue Seuchen heraufbeschwört.

Der Autor

Matthias Glaubrecht, geboren 1962, ist Evolutionsbiologe und Professor für Biodiversität an der Universität Hamburg sowie am Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB). Er schreibt regelmäßig für Zeitungen und Zeitschriften und hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt Das Ende der Evolution, das zu einem Bestseller wurde.

Matthias Glaubrecht

DIE RACHE DES PANGOLIN

Wild gewordene Pandemien und der Schutz der Artenvielfalt

Ullstein

Aus Gründen der Lesbarkeit wurde im Text die männliche Form gewählt. Nichtsdestoweniger beziehen sich die Angaben auf Angehörige aller Geschlechter.

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ISBN 978-3-8437-2800-3

© 2022 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Karten in Vor- und Nachsatz: Peter Palm

Lektorat: Katharina Hellriegel-Stauder

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagabbildung: © Matthijs Kuijpers / Alamy Stock Photo

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis
Über das Buch / Über den Autor
Titel
Impressum
Widmung
Prolog: Ansteckung und Übersprung
Einleitung: Göttliche Strafe oder eigene Schuld?
Zwei Paradoxien und eine Chance
Globale Krise
Rätselraten um den Ursprung
Die Sage von der »Naturkatastrophe in Zeitlupe«
Evolution in Echtzeit und das Leben in fiebriger Aktion
Worum es bei Zoonosen und in diesem Buch geht
Teil 1: Woher die Seuche kommt
Der Ursprung der Corona-Pandemie
Die Höhle: Übersprungshandlung
»The Seeker« und warum wir überhaupt etwas wissen
Neuartige Coronaviren entdeckt
Fledermausviren aus Mojiang
Was Viren mit Äpfeln zu tun haben
Eine kleine Virenkunde
Porträt eines Killers
Aus der Trickkiste des neuen Coronavirus
Exkurs zu den »Schwarzen Schwänen« – oder: Über den Zufall
Von »narrativen Verzerrungen« und dem »Friedhof der stummen Zeugen«
Die »Fledermaus-Frau«
Das Viren-Labor in Wuhan
»Shut your stinky mouth«
Eine dubiose Volte zur Labor-Hypothese
Zoonosen als Ursache von Seuchen
Rückblende: Die ersten Gerüchte um den Huanan-Wildtiermarkt
Zur Zoologie von Zoonosen
Anatomie einer angekündigten Pandemie
Wenn Säuger fliegen: Von Fledertieren als Virenwirte
Anti-Aging unter Fledermäusen: Wenn die Temperatur den Unterschied macht
Ein Blick in die virale Umwelt von Fledermäusen
Was sich in Laborkühltruhen in Kambodscha und Laos findet
Zwischenspiel auf dem Wildtiermarkt
Ein Larvenroller ist ein Larvenroller – und keine Zibetkatze
Die Sache mit dem Pangolin
Freispruch für den Pangolin
Von Wuhan in die Welt
Auf verschlungenen Pfaden zur Pandemie: Vom versteckten Treiben eines Virus
Frühe unbemerkte Anfänge
Überall Coronaviren: Vom evolutionären Übersprung
Wenn Viren mit alten Tricks neue Wirte erobern
Virale Weichenstellung
Warum Wuhan?
Eine etwas andere Corona-Chronologie
Die Fischverkäuferin: Auf der Suche nach »Patient Null«
Wie die Epidemie Fahrt aufnimmt
Ground Zero der Zoonose
Superspreading: Auf und davon
Fazit: Wie das Virus wirklich in die Welt kam
Teil 2: Was wir über frühere Seuchen wissen
Wie Viren und Bakterien Geschichte machen
Athen, Attische Halbinsel, 430 bis 426 vor christus
Rom, Hauptstadt des Römischen Reichs, 166 nach Christus
Zwischenspiel: Rom, 248 nach Christus
Szenenwechsel: Konstantinopel, Hauptstadt des Oströmischen Reichs – 541 bis 544
Das Drama frühmittelalterlicher Entvölkerung
Menschen und Mikroben: Die einstmals »neuen Seuchen«
Miasmen und andere Missverständnisse
Frühe Wegbegleiter: Ein Fall für die Paläovirologie
Tödliche Tuberkel: Die neue Geschichte uralter Erreger
Wie alt ist alt wirklich? Vom Ursprung der Tuberkulose
Von den Masern: Kam die erste Pandemie mit der Polis?
Die Pest: Ein Drama von Tieren und ihren Parasiten, die Geschichte machen
Steinzeitpest und Steppenpferde
Karriere eines Nagers aus dem Südosten
Fliegende Leichen – Oder: Die Rückkehr der Pest
Neue Lebenswelten und der Ursprung des Schwarzen Todes
Alte Pocken: Vom Ausbruch und Ende einer Seuche
1492 – oder: Die Geschichte einer verlorenen Welt
Die Aztekenseuche Cocoliztli und die Weltgeschichte der Seuchen
Seuchen als Teil der Umweltgeschichte
Die Wiederkehr der Seuchen
Vom Ganges um den Globus
Von Hamburg nach Haiti und in den Jemen
Das Rätsel der »Russischen Grippe«: Vorspiel einer weltweiten Corona-Epidemie?
Die Spanische Grippe – Oder: Von wilden Vögeln in Haskell County, Kansas
Camp Funston, Kansas:Wie ein Armee-Camp zum Seuchenherd wurde
Der Krieg und das Virus
»… and influ-enza«: Die Welt im Fieber des Virus
Wildgänse und die Jagd nach dem Virus H1N1: Rekonstruktion einer Seuche
Das Wellenmuster tödlicher Viren: Was uns altes Archivmaterial noch erzählt
Die Rückkehr der Influenza-Viren: Die fortgesetzte Gefahr von Vogelgrippen
Warum beim evolutiven Dreier die nächste Pandemie um die Ecke lauert
Sars, Dr. Liu und der Larvenroller
Mers – oder: Das Dromedar-Dilemma
Aids: Altes Erbe vom Schimpansen
Wie das Virus entstand und durch die Arten reiste
Krieg und Lust: Unfall der Evolution oder menschengemacht?
Ein Kinderspiel: Wie Ebola begann
Affen, Antilopen und Ansteckungsketten
»Reawakening«: Die Gefahr ist nicht gebannt
Teil 3: Warum wir es selbst in der Hand haben
Die Zerstörung der Natur und wild gewordene Viren: Wie der Mensch sich selbst Krankheiten schafft
Schwarzer Elefant statt Schwarzer Schwan
Ein neues epidemisches Narrativ
Die Rache des Pangolin?
Thesen zum Auftauchen von Pandemien
newly emerging – Nehmen EIDs wirklich zu?
Neue Umwelten bieten evolutive Chancen
Wir sind viele und werden vorerst noch mehr!
Biological annihilation: Die rasante Zerstörung von Lebensräumen und Lebensformen
Öko-Gewinner und Verlierer
»Es ist angerichtet« – Wenn Menschen Schwein haben
Wildtiere und ihre Märkte: Pingpong mit den Pathogenen
Das schmutzige Geschäft mit wilden Tieren
Tödliche Kombination: ein modernes Pangäa für pandemische Pathogene
Von wo die nächste Pandemie kommt
Tanz mit dem Teufel – Auswege aus einer menschengemachten Krise
Lehren aus der Geschichte und der Krise
Virales Wechselspiel
Wenn Perfektion zur evolutionären Sackgasse wird
Noch ein Irrtum: Vom vermeintlichen Gleichgewicht in der Natur
In neuer Perspektive: Warum EIDs ein evolutionsbiologisches Phänomen sind
Katalysator in einer menschengemachten new nature
Was können wir wirklich tun?
Koordinierte Virenjagd
Pandemie-Radar: Wie wir Viren überwachen
Kein Krieg gegen die Natur
Wie Artenvielfalt vor Pandemien schützt
Pandemie-Resilienz – Oder: Die Verwundbarkeit unserer globalisierten Gesellschaft
Planetary Health versus business as usual
Coda und Ausblick – Natur neu denken
Danksagung
Glossar der wichtigsten Fachbegriffe und Abkürzungen
Kleine Chronologie der wichtigsten Seuchen
Chronik einer angekündigten Epidemie: Die etwas andere Chronologie der Corona-Pandemie 2019–2021
Anmerkungen
Literatur
Feedback an den Verlag
Empfehlungen

Für Hannelore

Prolog: Ansteckung und Übersprung

Am Anfang ist es keine Nachricht. Denn es beginnt immer im Verborgenen und bleibt unsichtbar. Daher weiß man später auch nicht, womit alles begann.

Alles begann damit, dass 2019 in der Volksrepublik China die Afrikanische Schweinepest grassierte – ausgerechnet im Jahr des Schweins, das dort eigentlich im Zeichen von Wohlstand und Lebensfreude stehen sollte. Ausgebrochen war sie bereits im August des Vorjahres, als die ersten Tiere hohes Fieber bekamen und innerhalb von wenigen Tagen dahingerafft wurden. Doch die betroffenen bäuerlichen Betriebe vor Ort meldeten wegen der zu befürchtenden Nachteile diese Infektionen mit dem für den Menschen harmlosen Virus nicht. So konnte sich die unter den Schweinen hochansteckende Seuche im ganzen Land ausbreiten. Die Schweinepest stürzte China – das mit mehr als 400 Millionen Tieren knapp die Hälfte des gesamten Schweinebestands der Welt hält und wo mehr Schweinefleisch konsumiert wird als in jedem anderen Land – in eine beispiellose Versorgungskrise.1 In der Volksrepublik, die als weltweit größter Schweinefleischproduzent gilt, ist Schweinezucht ein Markt im Wert von knapp 130 Milliarden Dollar und ernährt mehr als 30 Millionen meist kleine landwirtschaftliche Schweinezuchtbetriebe mit weniger als 50 Tieren.

Da Millionen Tiere an der Schweinepest starben oder auf Anordnung der Behörden notgeschlachtet wurden, fiel ein erheblicher Teil der Schweineproduktion aus. Immerhin wurde bis Ende des Jahres mit mehr als 150 Millionen Schweinen beinahe die Hälfte der gesamten Schweineherde des Landes gekeult. Der Versorgungsengpass ließ die Preise explodieren – zuerst für Schweinefleisch, dann für sämtliches Fleisch auch anderer Nutztiere und von Wildtieren, nicht nur in China. Dort allerdings ist Schweinefleisch, von dem pro Kopf durchschnittlich rund 30 Kilo im Jahr konsumiert werden, ein beliebtes Grundnahrungsmittel und wichtigste Proteinquelle. Schnell machte man sich auf die Suche nach Alternativen, nachdem die strategische Reserve von tonnenweise eingefrorenem Schweinefleisch weitgehend aufgebraucht und die Versorgung mit dem Fleisch dieser Tiere um mehr als elf Millionen Tonnen binnen eines Jahres zurückgegangen war. Natürlich versuchte man dies zuerst durch vermehrte Importe beispielsweise aus Europa zu kompensieren und das fehlende Schweinefleisch durch andere Fleischprodukte – etwa von Rind und Huhn, aber auch durch Fisch – auszugleichen. Es half nichts: Der Preis für Schweinefleisch erreichte bis November 2019 Rekordhöhen, er war mehr als doppelt so hoch wie im Vorjahr.

Daher wichen die Konsumenten auf andere Fleischarten aus – auf Nutztiere, aber auch auf Wildbret vor allem aus dem Süden Chinas, wo Wildfleisch traditionell stärker genutzt wird. Diese vermehrte Nachfrage sowie der entsprechende Handel und Transport haben sowohl Wild- wie auch Farmtiere als potenzielle Virenüberträger verstärkt mit dem Menschen in Kontakt gebracht. Ein lebhafter, nicht nur regionaler Handel mit Fleischprodukten setzte ein. Dabei könnten lebend wie auch gefroren transportierte Tiere und deren Fleisch etwa aus dem Süden Chinas einem neuartigen Virus neue Wege der Ausbreitung selbst über Tausende von Kilometern eröffnet haben – so in die großen aufwachsenden Millionenstädte, die sich entlang des Jangtsekiang in Zentralchina wie Perlen auf einer Kette aufreihen: von Shanghai mit seinen 25 Millionen Bewohnern über Wuhan mit 11 Millionen Einwohnern bis hin zur einwohnermäßig größten Stadt der Welt, Chongqing mit 34 Millionen.2

Die dadurch möglich gewordenen vielfältigen Kontakte mit einem sich anfangs im Verborgenen vermehrenden und mutierenden Virus könnte schließlich den – aus Sicht des Erregers erfolgreichen – Übersprung in die menschliche Population eingeleitet haben. Möglich, dass dieser Erreger bereits lange vor dem eigentlichen Ausbruch zirkulierte, zuerst im Süden Chinas oder in angrenzenden Staaten wie Laos und Vietnam. Möglich auch, dass er dabei immer wieder einmal Menschen infizierte. Doch haben sich die Mutationen anfangs wohl noch nicht effektiv etabliert. Erst als eine kritische Anzahl von Mutationen in immer mehr infizierten Wirten, Tier wie Mensch, stattfand, adaptierte sich das Virus. Diese genetischen Veränderungen ließen es nicht nur besser in Lungenzellen eindringen, sondern führten auch dazu, dass es von Mensch zu Mensch weitergegeben werden konnte. Schließlich explodierte Ende 2019 in Wuhan die Virus-Population und löste die Corona-Pandemie aus.

Letztlich spielte die Millionenmetropole am Jangtse dabei wohl eher zufällig eine – wenn auch zentrale – Verteilerrolle. Seinen eigentlichen Ursprung aber könnte das neuartige Virus sehr wohl anderswo gehabt haben. Durch weitere Funde von Coronaviren auch in Laos, Kambodscha und Thailand rückte Südostasien mit seinen zahlreichen natürlicherweise dort vorkommenden Wildtieren ebenso wie den vielen Farmtieren in den Fokus.

Dass dort und anderswo auf den zahllosen Märkten weiterhin Wildtierfleisch verkauft und verzehrt wird, macht weitere Fälle von contagion (Ansteckung) und von spillover (das Überspringen mutierter Viren vom Tier auf den Menschen) sehr wahrscheinlich – darunter auch solche, die noch weitaus tödlichere Varianten hervorbringen könnten.

***

So könnte es begonnen haben. So könnte sich aus einem anfangs vergleichsweise harmlosen, wenigstens außerhalb Chinas kaum beachteten Vorkommnis ein historisches Ereignis von globaler Tragweite entwickelt haben.

Eine Nachricht wurde dieses Ereignis erstmals, als sich im Dezember 2019 in der chinesischen Millionenstadt Wuhan rätselhafte Lungenerkrankungen häuften, die innerhalb weniger Tage immer mehr Menschen in die Krankenhäuser strömen ließen und an denen die ersten bald verstarben. Schnell wurde den Medizinern klar, dass die Ursache ein unbekannter Erreger sein könnte, der durch Tröpfcheninfektion sehr leicht von Mensch zu Mensch übertragen wird. Daraufhin ging Wuhan Ende Januar in einen Lockdown, und die Menschen dieser Metropole wurden geradezu in Isolationshaft genommen, um die Ausbreitung der neuen Seuche zu verhindern. Doch da hatte die Pandemie längst ihren Lauf genommen. Während Menschen nun in immer mehr Ländern starben und sich das Virus weltweit verbreitete, wurde der mysteriöse Erreger als ein neues Coronavirus identifiziert und fortan als Sars-CoV2 bezeichnet. Als tierische Wirte und eigentlichen Infektionsherd identifizierte man Rhinolophus-Fledermäuse aus der südchinesischen Provinz Yunnan. Aufgrund eher zufälliger Funde beim Zoll zuerst in Guangxi, dann auch in Guangdong nahe Hongkong gerieten bald die auch Pangoline genannten Schuppentiere, die massenhaft nach und in Asien geschmuggelt werden, in den Verdacht, den neuartigen Erreger als Zwischenwirte von den Fledermäusen auf den Menschen zu übertragen. Irgendwo auf diesem Weg mutierte das Virus, sodass es sich auch ohne weiteres Zutun von Tieren direkt unter den noch immer viel zu unvorsichtigen Menschen ausbreitete.

Abermals in kürzester Zeit, rekordverdächtig in weniger als einem Jahr, wurden neuartige Impfstoffe entwickelt, mit denen sich 2021 weltweit immer mehr Menschen schützen konnten – selbst gegen immer neue Varianten des weiter lebhaft mutierenden Virus. Als dank breiter Impfung der Bevölkerung immer weniger Menschen schwer erkrankten oder gar starben und schließlich die meisten entweder geimpft oder von einer Erkrankung genesen waren, schien die Pandemie endlich abzuebben.

Das neue Coronavirus hat bis heute mehrere Millionen Menschen weltweit umgebracht. Es hat dafür gesorgt, dass sich überall Abermillionen Menschen voneinander isolieren, Länder für Wochen und Monate lahmgelegt werden und sich ganze Kontinente abriegeln, begleitet von wirtschaftlichen Verwerfungen und erheblichen sozialen Belastungen und Spannungen. Regierungen wurden wegen des Virus oder des Umgangs mit ihm abgewählt, andere fanden dadurch – wenigstens vorübergehend – neuen Zuspruch.

Rätselhaft aber bleibt bis heute, woher das Virus wirklich kam. Wie und wo sind die ersten Erreger dieser Pandemie entstanden? Wie konnte das Virus auf den Menschen gelangen? Vor allem: Welche Rolle spielen besagte Fledermäuse aus Südchina dabei – und welche die Pangoline? Nicht zuletzt auch fragt man sich: Wie ist der Erreger ausgerechnet nach Wuhan gelangt? Dorthin, wo man seit Jahren in einem Forschungslabor mit den aus Fledermäusen isolierten Coronaviren hantiert und Experimente durchführt, die anderswo aus gutem Grund verboten sind.

Und wenn wir noch einen Schritt weiter zurücktreten, um die Dinge mit etwas größerem Abstand zu betrachten, können wir fragen: Ist das, was dem Menschen hier gerade passiert, ein Naturereignis, wie viele annehmen? Handelt es sich tatsächlich um eine Naturkatastrophe, wie selbst namhafte Virologen immer wieder meinen? Oder ist die Coronakrise, vergleichbar etwa dem Einschlag eines Meteoriten, gleichsam höhere Gewalt? Vielleicht gar eine Art Strafe Gottes?

Wir wollen hier untersuchen: Wo kommen Seuchen wie diese her? Hat diese Pandemie einen natürlichen Auslöser? Und welche Rolle spielen wir Menschen wirklich dabei?

Einleitung: Göttliche Strafe oder eigene Schuld?

Um es vorwegzunehmen und damit gleich einen Irrtum auszuräumen: Es ist natürlich nicht die Schuld des Pangolins. Weder rächt sich der auch Schuppentier genannte Mitbewohner des Planeten an uns noch die Natur selbst. Sicher: Beide hätten hinreichend Grund dazu. Denn wir sind es, die das Unheil einer solchen Pandemie wie Covid19 verursachen. Wir setzen den Tieren, darunter auch dem stellvertretend genannten Pangolin, in vielerlei Weise zu, indem wir die Natur verändern.

Corona ist mithin mehr als eine vom Sars-CoV2Erreger ausgelöste Plage – die Seuche steht symptomatisch für das Verhältnis der Menschheit zu ihrer Umwelt. Dabei geht es nicht um das Leben und den Tod des Einzelnen, nicht einmal um die vielen Menschen, die infiziert wurden, erkrankt und gestorben sind. Es geht um unsere Welt und den Planeten, den wir mit anderen Lebewesen teilen. Das Virus stellt uns und unsere Lebensweise insgesamt infrage. Denn der Mensch ist zu einem Faktor geworden, der für die Entstehung von Seuchen sorgt und dafür, wie diese sich ausbreiten.

Das war anders, als der Mensch auf diesem Planeten noch weniger dominant war und Krankheiten, die ihn ohne sein Zutun trafen, ausschließlich natürliche Ursachen hatten. Doch seit Langem haben wir nun unsere Finger im Spiel, heute mehr denn je.

Davon handelt dieses Buch: dass viele Infektionen – von Kinderkrankheiten wie Masern und Röteln über Pest und Pocken, Aids und Affenpocken bis hin zu Covid19 – einen tierischen Ursprung haben und vom Tier auf den Menschen übergesprungen sind, und dass sie als solche Anschauungsunterricht in Sachen Evolution liefern. Das Buch untersucht aber auch, warum die neuerliche Pandemie keine unabwendbare Naturkatastrophe ist wie etwa ein Erdbeben. Nein, letztlich ist diese Krise menschengemacht; selbst wenn das Virus nicht unmittelbar, wie Verschwörungserzähler meinen, vom Menschen erschaffen wurde. Solche Pandemien werden durch uns selbst begünstigt, und die jüngste wird nicht die letzte sein. Wobei die Grenzen zwischen dem, was natürlich ist, und dem, was wir als »menschlich« bezeichnen, alles andere als festgezurrt sind. Daher fragen wir in diesem Buch: Wo und wie nahmen diese und andere Seuchen wirklich ihren Anfang? Und warum spielt gerade bei der Corona-Pandemie der Ursprung in China eine Rolle?

Es geht dabei ebenso um Viren wie um uns Menschen, unsere Umwelt und unsere Lebensweise – und darum, weshalb wir die Natur schützen und die Artenvielfalt erhalten müssen.

Zwei Paradoxien und eine Chance

Denn das ist das erste Paradoxon dieser Pandemie: Corona ist eine Seuche mit einer Naturgeschichte und einem tierischen Ursprung. Zugleich aber ist sie auch menschengemacht, gewissermaßen die Folge unseres eigenen evolutiven Erfolgs. Damit liegt es in unserer Hand, solche Pandemien nicht erst zu bekämpfen, wenn sie bereits über uns gekommen sind, sondern zu verhindern, dass sie überhaupt erst zu uns kommen.

Corona ist nicht allein, auch wenn – abgesehen von der Spanischen Grippe – wohl keine Plage in so kurzer Zeit für so viele Todesfälle sorgte. Katastrophen und Apokalypsen sind eine nicht enden wollende Konstante unserer Geschichte. Deshalb handelt dieses Buch auch von dem, was wir – gleichsam mit dem Blick in den Rückspiegel der Geschichte – über solche Seuchen lernen können, welche Lektion wir aus der Vergangenheit mitnehmen. Eine davon ist zweifelsohne die Einsicht in das zweite Paradoxon: dass zwar Pandemien ganz bestimmt zur Menschheitsgeschichte gehören und allgegenwärtig sind und kleinste Erreger schon immer die Geschicke der Menschen und die großen Linien geschichtlicher Geschehnisse entscheidend geprägt haben – dass dies aber den meisten Menschen kaum bewusst ist, geschweige denn, dass wir hinreichende Konsequenzen daraus zögen.

Wie andere Katastrophen – etwa Sintfluten und Dürren, Erdbeben und Vulkanausbrüche – begleiten Epidemien uns Menschen schon seit Urzeiten. Wie wir mit diesen Krisen umgehen, ist existenziell und essenziell für das Überleben der Menschheit. Doch seit den Einsichten der Mikrobiologie und den Erfolgen der Immunologie hat sich unser Blick auf Pandemien radikal verändert; mit dem Effekt, dass wir irrigerweise bis vor Kurzem kollektiv annahmen, Seuchen weitgehend ausgerottet zu haben. Genau damit aber haben wir aus der Geschichte das Falsche gelernt und noch immer nicht die Gesetzmäßigkeiten der Natur verstanden.

Geschichte, so sagt man, wiederhole sich nicht. Aber sie spiegelt sich in dem, was während der jüngsten Pandemie passierte. Oder, wie es die amerikanische Lyrikerin Amanda Gorman gerade erst so wunderbar erfasst hat: »For while we have our eyes on the future, history has its eyes on us« – denn während wir in die Zukunft schauen, schaut die Geschichte auf uns.1 Sich mit der Geschichte verheerender Seuchen zu beschäftigen vermag durchaus den Blick auf die gegenwärtige Lage und damit unsere Zukunft zu verändern – nicht nur, weil der Schrecken früher ungleich größer war, da man überhaupt nicht wusste, wie man sich vor der Plage schützen konnte. Vielmehr ist Seuchengeschichte auch Fortschrittsgeschichte geworden, da Epidemien nicht das Ende der Welt bedeuteten, sondern seit der Antike immer auch als Warnsignal verstanden wurden. Mit Quarantäne und Hygiene lernten die Menschen, geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Als Erbe der Pest entstanden Lazaretthäuser wie etwa die Charité in Berlin. Und bei einer Pockenepidemie beobachtete der englische Landarzt Edward Jenner, dass die vorherige Infektion mit Kuhpocken gegen die Infektion schützt, was zur ersten Impfung führte. Choleraausbrüche durch mit Bakterien verunreinigtes Trinkwasser führten in den dicht besiedelten Armenvierteln von Berlin und Hamburg zum Bau der Kanalisation.

Und was lehrt uns Corona? Gerade aus der gegenwärtigen Pandemie können wir etwas über unseren wahren Platz auf diesem Planeten und in der Natur lernen, auch über die eigene Verwundbarkeit und die unserer Zivilisation. Denn wir sehen, wie gefährlich es ist, wenn wir die Erfahrungen der Geschichte vergessen oder meinen, diese ignorieren zu können. Und wir erfahren, wie tödlich politische Indolenz und gar Wissenschaftsfeindlichkeit sein können oder in welche Sackgassen die stammtischgleichen Echokammern moderner Internetkommunikation führen können.

Vor allem aber verstehen wir: Nicht das Virus ist es, das sich verbreitet, sondern wir Menschen verbreiten es. Nicht das Virus kommt aus dem Nichts zu uns; vielmehr kommen wir dem Virus immer näher, indem wir dahin gelangen, wo gefährliche Viren auf uns warten. Wie schon bei vorangegangenen Seuchen sind wir, die Menschen, das eigentliche Problem. Die jüngst zunehmenden Virenausbrüche geschehen nicht zufällig; sie spiegeln vielmehr unsere Lebensumstände und Verhaltensweisen wider. Ganz abgesehen davon, dass wir in Hochsicherheitslaboren zwecks Erforschung von Viren auch das Stück von Johann Wolfgang Goethes Zauberlehrling neu inszenieren und ein buchstäblich mordsgefährliches Risiko eingehen: »Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.« Erst all diese Einblicke machen den Weg frei für einen neuen Umgang mit der Natur – mit tief greifenden Veränderungen in unserer Lebensweise, einem neuen systemischen Ansatz unseres Wirtschaftens und des Umgangs mit unserer Umwelt. Nicht aus ideologischen, sondern aus logischen Gründen; nicht um eine politische Utopie zu leben, sondern um zu überleben. Leicht vergessen wir es – aber letztlich geht es um nichts weniger.

Daher beschäftigt uns hier, wie die neuen Erkenntnisse uns in Zukunft auf derartige Pandemien vorzubereiten vermögen. Angesichts des immer größeren Einflusses des Menschen im angebrochenen Anthropozän – dem Zeitalter des Menschen – stellt sich die Frage, ob die Sars-Seuche, die die Welt überzog, gar der Auftakt eines neuen, eines pandemischen Zeitalters ist, wie manchmal behauptet wird.2 Ist Corona also eine Jahrhundert-Pandemie oder eher der Beginn eines neuen Jahrhunderts der Pandemien? Die anfangs vorherrschende Konzentration auf den Augenblick und die meist eingenommene Nahperspektive nur auf den Verlauf der Pandemie dürfte eine Falle sein, wurde zu Recht gewarnt.3 Mit einigem Abstand können wir nunmehr sagen, dass wiederkehrende Pandemien alles andere als auszuschließen sind. Tatsächlich schafft der Mensch selbst die Voraussetzungen dafür. Gerade darin lauert die Gefahr; auch darum geht es bei dieser Geschichte.

Globale Krise

Mit Sars-CoV2 war die Welt nicht mehr dieselbe. Und nach Jahren läuft die Pandemie weiter; alle hoffen, dass sie bald auslaufe, um dann zu vergessen, wie es dazu kam. Sie entstand, weil irgendwann, lange, bevor wir es bemerkten, irgendwo in Südostasien ein Erreger sehr wahrscheinlich aus einer Fledermaus auf einen noch nicht näher ausgemachten Zwischenwirt übergesprungen ist. Weil er dann unbemerkt die ersten Menschen infizierte, die ihn weitertrugen und ihn so auf eine rasante Reise um den Globus schickten. Das jedenfalls legen alle Indizien nahe, die wir derzeit haben.

Dieser Erreger, der – wie sein Vorgänger Sars vor zwei Jahrzehnten – aus dem Tierreich kam, hat das Leben der Menschen beinahe überall auf diesem Planeten vor unseren Augen innerhalb kürzester Zeit grundlegend verändert. Mehr als 400 Millionen Menschen sind bis Mitte 2022 weltweit an Covid19 erkrankt, mehr als sechs Millionen sind angeblich daran gestorben. Das zumindest behauptete bis vor Kurzem noch die offizielle Statistik.

Doch diese Zahlen dürften kaum richtig sein; bereits nach zwei Jahren der Pandemie gibt es mit annähernd 18 bis 20 Millionen Corona-Toten sehr wahrscheinlich eher dreimal so viele, wie jüngste Analysen zeigen. Zwar verläuft die Erkrankung in der Regel vergleichsweise harmlos; im Verhältnis zur Zahl der Infizierten versterben nur wenige. Und doch führt sie zu einer Übersterblichkeit, die nur von der Grippe-Pandemie Anfang des 20. Jahrhunderts übertroffen wurde.4 Zudem wurden die Pandemien nicht nur tödlicher, sondern auch immer teurer. Allein in Deutschland hat Corona in den ersten zwei Jahren rund 350 Milliarden Euro an Wirtschaftsleistung gekostet; weitere 50 Milliarden kamen im ersten Quartal 2022 laut dem Institut der deutschen Wirtschaft dazu. Amerikanische Forscher, darunter auch Ökonomen, um den Ökologen Andrew Dobson haben indes errechnet, dass die Kosten zur Prävention von Pandemien mit etwa 20 Milliarden USDollar jährlich weltweit weniger als ein Zehntel der jährlich dadurch zu erwartenden ökonomischen Verluste ausmachen.5

Fast niemand blieb von den Ereignissen und Folgen der Covid19Pandemie in den Jahren 2020 und 2021 verschont. Mit neuen Varianten und dem erratischen Hin- und Herspringen zwischen den Menschen sowie tierischen Wirten hat Sars-CoV2 inzwischen ein neues Stadium erreicht. Bisher standen weltweit meist das Infektionsgeschehen sowie seine wirtschaftlichen und sozialen Folgen im Zentrum der Aufmerksamkeit. Weniger Beachtung fanden dagegen die eigentlichen Ursachen. Etwa die Tatsache, dass die Menschen gerade in Asien auf der Suche nach Ressourcen immer tiefer in einst weit abgelegene Lebensräume vordringen und dort mit Wildtieren in Berührung kommen, die sie wiederum mit ihren massenhaft gehaltenen Nutztieren in Kontakt bringen – und neuerdings auch mit dem Rest der Welt.

Das eröffnet zuvor begrenzt vorkommenden Erregern unbegrenzte Möglichkeiten; gerade solchen aus den artenreichen Tropen, wo nicht nur die Biodiversität insgesamt am größten ist, sondern auch das Vorkommen potenziell gefährlicher Viren. Da dort die Weltbevölkerung in unserer Generation gleichsam explodiert ist, bietet sie dem Virus mithin eine wahre Brutkammer zur weiteren Evolution. Zudem hat die Plünderung der Natur dort ein Ausmaß ohnegleichen erreicht.

Wenn demnächst die Pandemie mithilfe von Impfstoffen bezwungen ist und der Mensch wieder meint, Herr der Lage zu sein, werden viele erwarten, dass alles wieder so ist, wie es vor Beginn der Seuche und der damit verbundenen Angst und den Abweichungen vom Alltag war. Sosehr wir uns das vielleicht wünschen, werden wir feststellen, dass eben doch nicht mehr alles so ist wie zuvor. Auf ihre Weise hat diese Pandemie eine Büchse der Pandora geöffnet, und es ist ein Geist aus der Flasche, der nicht wieder hineingehen wird. Bereits am Anfang der Pandemie, als sich die ersten so fatalen wie globalen Auswirkungen abzeichneten, die durch eine Welt in Lockdown und Isolation ausgelöst wurden, diskutierten die ersten Historiker, inwieweit das Virus die Weltordnung verändere. Einige waren sich sicher, dass Covid19 einmal als Geschichtszeichen eine Marke setze, dass es als Epochenwende gesehen werde. Schnell waren sich alle einig, dass die Welt durch die Pandemie in den Krisenmodus versetzt worden sei; und dass sich in so einer Krise immer etwas entscheide. Ausgerechnet das chinesische Wort für Krise besteht aus zwei Silben, die durch zwei Schriftzeichen ausgedrückt werden: eines für Gefahr, das andere für Chance. Die Ahnen müssen geahnt haben, dass Krisen aus diesen beiden Komponenten bestehen, dass sie ebenso gefährlich sind, wie sie Chancen bieten können. So zeichnet die Krise auch den Weg entweder zur Genesung oder in den Untergang vor. »In diesem Sinn ist Krise ein Begriff, der die Zeit unterteilt in ein Davor und ein Danach.«6 Die Krise ist unsere Chance, die Erkenntnisse und Möglichkeiten, die uns diese Pandemie eröffnet, für uns zu nutzen. Denn, so wusste schon der Schweizer Schriftsteller Max Frisch: »Krise kann ein produktiver Zustand sein. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.«7 Wie jede Krise legt auch diese Pandemie offen, was vorher verdrängt und ignoriert wurde. Zur Aufarbeitung gehört dann auch eine schonungslose Untersuchung der Ursachen und der Frage, warum die Welt so offensichtlich blind in die Krise geraten ist. Dieser Punkt wird uns noch beschäftigen.

Was das Epochale betrifft, waren andere vorsichtiger und meinten, es sei durchaus nicht sicher, ob man bereits von einer weltgeschichtlichen Zäsur sprechen solle. »Historisch gesehen sind die Zeitgenossen solcher Epochenwenden oft nicht die besten Zeugen dafür, dass so ein Epochenwechsel tatsächlich stattfand.«8 Allerdings muss man beachten, dass die Selbstbeobachtung der Gesellschaft heute viel ausgeprägter ist, soll heißen: Wir nehmen, anders als etwa zur Zeit der Spanischen Grippe, die Pandemie in Echtzeit und gleichzeitig überall auf der Erde wahr. Dennoch werden viele Zusammenhänge erst im Nachhinein klar. Erst im Rückblick lassen sich Muster erkennen; wie etwa, dass viele solcher Seuchen in Verbindung mit Kriegen auftauchten. Zumindest ist das eine These des Historikers Herfried Münkler, der darauf hinweist, dass bereits der Autor der biblischen Offenbarung, Johannes von Patmos, in der Figuration seiner vier apokalyptischen Reiter die Seuchen mit Krieg, Gewalt und Hunger verbunden hat. Tatsächlich war das beispielsweise bei der sogenannten Attischen Pest in Athen der Fall, die während des Peloponnesischen Krieges auftrat (und uns hier ebenfalls noch beschäftigen wird). Oder bei den regelmäßig auftretenden Seuchen während des Dreißigjährigen Krieges. Denken wir auch an die Spanische Grippe 1918 bis 1919, die es ohne den Ersten Weltkrieg nicht gegeben hätte.

Im Unterschied dazu traf uns Corona in Zeiten der scheinbaren Normalität; doch nur, wenn wir vom Krieg gegen die Natur absehen, den wir von den meisten unbemerkt seit Langem führen. Bereits dieser Umstand eröffnet uns einen anderen, einen neuen Blick auf diese Pandemie. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass die Globalisierung die Gesundheit gefährdet; und das nicht erst seit heute, sondern seit dem Beginn der europäischen Expansion vor 600 Jahren. Im Grunde standen Viren am Anfang der Eroberung und Inbesitznahme immer neuer Territorien durch europäische Konquistadoren und Kolonisatoren wenigstens seit Beginn der Moderne. Auch darum wird es in diesem Buch gehen; und darum, dass dank der Globalisierung heute die nächste Seuche gleichsam immer schon um die Ecke wartet. Sie braucht indes nicht mehr Jahre, um sich auszubreiten, wie einst etwa die Pest im Mittelalter, die vom Ende der Seidenstraße am Schwarzen Meer noch zwei Jahre unterwegs war, bis sie zu uns in die Mitte Europas gelangte. Allein schon das öffnet uns die Augen über die Natur unserer modernen Gesellschaft, die gerade erst weltweit in Quarantäne ging und bei der dadurch zur medizinischen Seuche noch eine ökonomische Verheerung ungeheuren Ausmaßes hinzukam. Es zeigt uns die Verletzlichkeit unserer immer komplexer werdenden Welt, die starke Vernetzung von Menschen- und Handelsströmen – von der wir profitieren, von der wir uns aber auch nicht mehr lösen können und die uns nachhaltig zu schaden vermag, wenn wir die Globalisierung nicht resilient gestalten.

Rätselraten um den Ursprung

Die allgegenwärtige Diskussion um Lockdown und Lockerung, um Impfstoffe und Impfpflicht, um Escape-Varianten, die kurzfristig jeder Immunantwort entgehen, um die Langzeitfolgen durch Long Covid und die gesellschaftlichen Verwerfungen – all dies hat den Blick auf die Herkunft des Virus und die Historie von Seuchen verstellt. Die beängstigende Flut der Infizierten und die Folgen für die Krankenhäuser haben die Fragen nach den eigentlichen Ursachen lange verdrängt. Woher genau und wie dieses neuartige Coronavirus so plötzlich auf den Menschen kam, schien in den ersten Wochen und Monaten auch weitaus weniger wichtig als die gewaltige Welle selbst, mit der es dann um die Welt raste. Nun ist die Flut zurückgegangen – und damit tauchen die Fragen wieder auf.

Ihren Anfang nahm die Corona-Pandemie – mehr ließ sich nicht mehr ermitteln, so hieß es lange – auf einem Wildtiermarkt in der zentralchinesischen Millionenstadt Wuhan. Von den ersten mit den Symptomen einer neuartigen Lungenkrankheit in Kliniken eingelieferten Patienten hatten die meisten nachweislich Verbindung zum Huanan Seafood Market. Wie auf vielen asiatischen Märkten wurden dort neben Fisch und Meeresfrüchten auch Dutzende Arten exotischer Wildtiere zum Verkauf angeboten – unter oft abenteuerlichen hygienischen Bedingungen. Dicht gedrängt waren Schlangen, Schildkröten und Vögel bis hin zu Nagetieren und allerlei Katzenverwandten lebend in Käfige gepfercht, während nebenan frisch geschlachtete Tiere zum Verzehr zerlegt wurden. Ideale Bedingungen für einen spillover – den Übersprung tierischer Viren, die in dem einem oder anderen dieser Tiere zirkulierten, auf den Menschen. Just dies kannte man bereits vom ersten Sars-Erreger, der 2003 und 2004 von Hongkong aus eine Epidemie mit Tausenden Infizierten und Hunderten Toten ausgelöst hat, nachdem die nachweislich von Fledermäusen stammenden Erreger über lebend zum Verzehr angebotene Schleichkatzen auf den Menschen übergesprungen waren. Damals.

Bei Covid19 verdichtete sich in den ersten Wochen und Monaten 2020 die Erkenntnis, dass Sars-CoV2 ebenfalls aus Fledermäusen stammt; und zwar solchen der Gattung Rhinolophus, bei denen man Jahre zuvor bereits Viren isoliert hatte, die sich nun beim Vergleich als genetisch sehr ähnlich erwiesen. So weit, so sicher; doch bereits dies warf mehr Fragen auf, als sich bis heute beantworten lassen, wie wir in Teil 1 sehen werden. Für weitere Rätsel sorgte dann aber vor allem der Zwischenwirt. Zwar meinte man bald, Pangoline als tierischen Überträger ausgemacht zu haben, nachdem sich – wenn auch etwas entfernter verwandt – ähnliche Viren in einigen geschmuggelten und beschlagnahmten Schuppentieren nachweisen ließen. Tatsächlich aber wissen wir bis heute nicht, ob und von welchem Tier das Virus wirklich auf den Menschen übergesprungen ist. Die erste Vermutung jedenfalls, dass die Pandemie auf dem Wildtiermarkt von Wuhan ihren Anfang nahm, trifft nicht mehr zu – unabhängig davon, für wie wahrscheinlich man eine genetische Manipulation im Zusammenhang mit der sogenannten »Labor-Hypothese« hält. Keine Frage: Die ganze Geschichte ist komplizierter; aber sie birgt dadurch auch tiefere Einblicke in den tatsächlichen Ursprung dieser Seuche.

Was wir wissen, ist, dass solche spillover weitaus häufiger und weiter verbreitet sind, als meist angenommen wird. Infektionskrankheiten, die von Tieren auf den Menschen überspringen, nennen Wissenschaftler Zoonosen. Etwa zweihundert solcher Zoonosen sind beschrieben. Jedes Jahr erkranken Millionen Menschen an ihnen – die meisten in Asien und Afrika; viele sterben daran. Bekannte und weniger bekannte Infektionskrankheiten haben einen solchen zoonotischen Ursprung. Tollwut und Tuberkulose etwa, die Pest und Pocken, auch Aids, Affenpocken und Ebola oder Hepatitis, Hendra und Hanta, genauso wie Zika und Chikungunya, Dengue und Lassa – sie alle stammen ursprünglich von Tieren. Und was wir oft verkennen: Selbst einige unserer Kinderkrankheiten stammen von Nutz- und Haustieren wie Rindern, Ratten oder Mäusen, von denen sie auf uns kamen und anfangs oft genug verheerende Epidemien auslösten. Dies ließ sich allen voran von Masern und Röteln erst jüngst nachweisen; was uns hier neue Einblicke verschafft.

Um solche Zoonosen wird es in diesem Buch gehen – um die Geschichte alter und neuer Infektionskrankheiten, um Seuchen, die den Menschen seit langer Zeit begleiten und als einer jener apokalyptischen Reiter Leiden und Tod über die Menschen bringen. Denn so viel ist sicher: Viren und Bakterien gehören seit Urzeiten zum Inventar der Evolution, und sie sind auch die ältesten Bekannten des Menschen. Sie haben immer schon – und mehr als alle Kriege – die Geschichte und Geschicke der Menschheit beeinflusst, ja diese einst vermutlich sogar zum Glauben gebracht. Und sie zeigen uns mit Corona einmal mehr unsere Grenzen auf. Angesichts derartiger weltgeschichtlicher Einflussnahme durch die Erreger darf man allerdings mit voller Berechtigung fragen, warum wir von der jüngsten Pandemie derart überrascht wurden. Immerhin kam Corona für die meisten als Schock, so plötzlich und gewaltig wie vielleicht ein Asteroiden-Einschlag. Wenn aber Pandemien nichts Neues sind, warum waren wir dann nicht gewarnt? Warum kommen Viren so unvermutet auf uns? Warum treffen sie uns so unvorbereitet, dass es ihnen innerhalb kürzester Zeit gelingt, uns so vollständig lahmzulegen?

Dieser Eindruck der Überraschung trügt freilich ebenso wie der des Unabwendbaren. Dass wir von der Pandemie so kalt erwischt wurden, hat vielmehr mit einer Verkettung von Irrtümern, Missverständnissen und Fehlannahmen zu tun. Zum einen ist das Auftreten von Pandemien eben kein seltenes Naturereignis, das nur ausnahmeweise passiert. Zum anderen ist es keine Naturkatastrophe.9 Unter den Virenökologen zumindest hat der jüngste Ausbruch niemanden wirklich überrascht. Stattdessen haben viele Fachleute seit Jahrzehnten eine tödliche Infektion in Touristville in Anycountry sowie die Bedrohung der weltweiten Gesundheitssituation vorhergesagt und nachdrücklich davor gewarnt. Nur hat niemand darauf gehört. Die Weltgesundheitsorganisation WHO spielte unter dem Platzhalternamen »Disease X« schon lange entsprechende Szenarien durch. Auch die Bundesregierung hatte einen nationalen Pandemieplan in der Schublade, und der Bundestag war über ein konkretes Risikoszenario unterrichtet, das den Ausbruch einer mysteriösen Lungenkrankheit simuliert. Nur haben die Abgeordneten dies vollständig ignoriert. Immer gab es scheinbar Wichtigeres.10 Dabei rechneten die meisten Fachleute zwar mit einem mutierten Grippevirus (und tun dies übrigens immer noch), in mehreren Szenarien folgt dann aber die Infektion mit einem Coronavirus.

Wie buchstäblich virulent das Thema ist, zeigte bereits Mitte der 1990er-Jahre Richard Preston mit seinem Tatsachen-Thriller The Hot Zone. Zeitgleich kam mit dem Hollywoodfilm Outbreak ein ganz ähnlicher Plot in die Kinos. Beide beschwören mit dem Ausbruch einer rätselhaften Viruskrankheit, die wie etwa Ebola oder HIV aus dem afrikanischen Regenwald stammt und die sich über die Luft von Mensch zu Mensch verbreitet, Horrorszenarien ausgerotteter Dörfer, abgeriegelter Regionen und einer über Labortiere verschleppten Seuche herauf.11 Dann brach in Hongkong 2003 die Sars-Epidemie aus. Wissenschaftsautoren wie David Quammen mit Spillover. Animal Infections and the Next Human Pandemic und Virenforscher wie Nathan Wolfe mit The Viral Storm. The Dawn of a New Pandemic Age haben vor einem Jahrzehnt in eindrücklichen Büchern vor solchen Pandemien gewarnt. Kaum erschienen, folgte Mers. Der Medizinhistoriker Mark Honigsbaum, um nur einen zu nennen, hat in The Pandemic Century – im Jahr vor Sars-CoV2 erschienen – auf die Geschichte und Gefahr der Pandemien aufmerksam gemacht. Doch sämtliche Warnungen wurden überhört und übersehen.

Die Sage von der »Naturkatastrophe in Zeitlupe«

Der existenzielle Charakter der Krise, die jüngst mit dem Coronavirus über die Welt kam, war unmittelbar greifbar und hat die ersten Wochen und Monate der Pandemie entscheidend geprägt. Dennoch ist Covid19 keine »Naturkatastrophe in Zeitlupe«. Namhafte Virologen – und in ihrem Gefolge die von der Realität überraschten Politiker – haben just dieses Credo einer Naturkatastrophe, gar einer »Jahrhundertkatastrophe«, die wir ernst nehmen müssten, weil es ernst sei, seinerzeit geradezu mantraartig wiederholt. Man muss zugeben, dass auch ausgewiesene Experten, wie der erwähnte Virenökologe Nathan Wolfe, dieses gängige Bild einer Naturkatastrophe beschwören, wenn sie davon sprechen, Pandemien seien »wie Hurrikane«, die gleichzeitig den gesamten Planeten träfen.12 Wir müssen genauer hinsehen und klären, was eigentlich unter einer Naturkatastrophe zu verstehen ist. Denn mit diesem Begriff verbindet sich ein bestimmtes Narrativ, und das wird gern, oft ungewollt, als Ausflucht missbraucht.

Ganz unverdächtig bedeutet das griechische katastrophé so viel wie »jäher Umschwung«; das Wort war bis ins 16. Jahrhundert für den Wendepunkt einer Komödie gebräuchlich. Erst später erhielt es seine negative Konnotation, als der Begriff verallgemeinert wurde und man ihn allmählich für ein entscheidendes Ereignis im Leben eines Menschen oder einer Gruppe verwendete. Heute steht er für ein Extrem- und Großereignis, das den Menschen und seine Kultur in zerstörerischer Weise trifft. Tatsächlich lässt sich die Geschichte der Menschheit auch als Geschichte der Katastrophen schreiben, wobei jeweils die größten Krisen nicht nur historische Meilensteine markieren, sondern auch Wendepunkte der Menschheitsgeschichte definieren. Das beginnt anderswo noch früher, aber im Westen handeln vor allem die biblischen Erzählungen oftmals von unheilvollen Naturereignissen, etwa von der Sintflut, Heuschreckenplagen und eben von Seuchen. Wobei wir festhalten müssen, dass im Grunde – noch ein Zitat von Max Frisch – »die Natur keine Katastrophe kennt. Nur der Mensch kennt Katastrophen, sofern er sie überlebt.«13

Mittlerweile bezeichnen wir als Katastrophe nicht nur überwältigende natürliche Ereignisse wie Erdbeben oder Vulkanausbrüche und andere Naturgewalten, sondern jede Art von Unfall, Krieg oder Gewaltakt; also jedes plötzliche, einschneidende Ereignis oder Unglück mit verheerenden Folgen.14 Versuchen wir es anders: Im Englischen wird ein unabwendbares und unvorhergesehenes Ereignis – Stürme, Überflutungen, Vulkanausbrüche, Erdbeben, Tsunamis etwa – als act of god bezeichnet, als höhere Gewalt und als Zeichen göttlicher Einmischung. Dahinter verbirgt sich zwar der Widerspruch, dass einerseits von einem natürlichen Vorkommnis die Rede ist, es sich andererseits aber um einen göttlichen Willen handeln soll. Dessen ungeachtet liefert es uns aber den Hinweis auf einen wesentlichen Zusammenhang. Denn bei krisenhaften Ereignissen suchen wir Menschen immer nach den Ursachen. Das scheint in unserer Natur angelegt zu sein. Es dürfte einst also jenen einen entscheidenden Überlebensvorteil verschafft haben, die sich so vor der nächsten Überraschung zu schützen versuchten, indem sie den Dingen auf den Grund gehen wollten. Irgendwann kamen dabei die Götter als überirdische Instanz ins Spiel, wurden anders nicht erklärliche Kalamitäten im Nachgang als Zeichen göttlicher Einmischung, eines himmlischen Willens oder als Warnung gesehen, etwa als Strafe für Fehlverhalten und frevlerisches Treiben.

Da die Menschen auch im Fall von Seuchen nicht wussten, woher sie kamen, hielten sie diese verheerenden Katastrophen ebenfalls für eine göttliche Strafe oder Prüfung, die ihnen auferlegt wurde, eben als act of god. Zwar mögen sich die Menschen in der Antike gelegentlich im Status von Halbgöttern gesonnt und sich später sogar für gottgleich gehalten haben; dennoch erfanden sie Götter und dann den einen Gott als Instanz höherer Gewalt. Vor allem, sobald der Mensch offenkundig nicht mehr Herr seines Schicksals ist, bemüht er sich, Naturkatastrophen als göttliche Antworten zu verstehen. So erschien ihm auch jede neue Epidemie lange als Beweis überirdischer Aktivitäten. Später, mit dem Beginn der modernen Wissenschaft und der Aufklärung, galt dies allmählich als Aberglaube. Erste Vorstellungen von Hygiene und die Entwicklung der Medizin begleiteten die Moderne bis hin zur Infektionsbiologie unserer Tage. Schließlich gewährte uns die Wissenschaft Einblicke in die Natur der Zusammenhänge. Die Sache mit einem zürnenden Gott hat sich erledigt, lediglich in der Sprache bleibt es ein act of god.

So wandelte sich das Katastrophen-Narrativ, und jede Zeit entwickelte ihre eigene Vorstellung von Krisen samt mitgereichter Erklärung. Zum Beispiel hielt in der antiken Welt jedes der vier aristotelischen Elemente seine eigene Katastrophe bereit: die Erde das Beben, das Wasser die Flut, die Luft den Sturm und das Feuer den Vulkan. Götter erfüllten die Aufgabe der Wissenschaft, bevor es diese gab. Heute erkennen wir vor allem die Aktivität der Plattentektonik als Ursache für Erdbeben, Vulkanausbrüche und Tsunamis. Zur tödlichen Naturkatastrophe werden sie indes nicht durch die Geologie und Natur an sich, sondern dadurch, dass der Mensch etwa in erdbebengefährdeten Gebieten siedelt, auf falsche Weise und mit ungeeigneten Materialien baut oder seine Frühwarnsignale versagen.

Bei den Seuchen ist es ganz ähnlich. Zwar ist die jüngste Pandemie ein Naturereignis, aber dadurch noch lange keine Naturkatastrophe. Sie hat weder eine göttliche noch allein eine natürliche Ursache. Doch warum dann diese Natur-Konnotation, wenn wir es als Wissenschaftler besser wissen? Warum werden die einst für göttliche Strafe gehaltenen Plagen in der aufgeklärten Moderne gemeinsam mit anderen Krisen zu Naturkatastrophen befördert? Weil damit weiterhin gleichsam die Macht naturalisiert wird – und der Mensch sich selbst gegenüber abermals die wahren Zusammenhänge verschleiert. Erst waren die Götter schuld, jetzt ist es die Natur – aber in jedem Fall ist der Mensch einmal mehr die Verantwortung los. Gott oder die Natur, immer taugt eine höhere Gewalt zur Erklärung. Doch in beiden Fällen machen wir es uns zu einfach.

Indem wir Menschen Pandemien als natürliche Kalamität erscheinen lassen, täuschen wir uns selbst darüber, dass sie tatsächlich vielfach erst durch Menschenhand entstanden sind. Das ist es, was wir uns in diesem Buch vor Augen führen wollen. Nicht jedoch, weil es im Fall der Corona-Pandemie eine dubiose Labortheorie vom Zauberlehrling und menschlichen Hexenmeister zu belegen (oder zu widerlegen) gilt. Selbst ohne dieses unmittelbare Zutun in einem chinesischen Viren-Labor – das ist die eigentliche Botschaft hinter der bloßen Feststellung – ist der Mensch in der Verantwortung. Anders ausgedrückt: Selbst wenn er im konkreten Fall an einer bestimmten Stelle seinen Finger am Abzug gehabt hätte, hat er auch ohne dies bereits seine Hände im Spiel.

Evolution in Echtzeit und das Leben in fiebriger Aktion

Nicht um das Dafür oder das Dagegen einer Hypothese zum Ursprung des Virus in einem Labor geht es also. Vielmehr interessiert uns die Frage: Welche Rolle spielt der Mensch bei der Entstehung von Pandemien allgemein, unabhängig von den mordsgefährlichen Experimenten der Labor-Virologen? Es geht um die Evolution von Viren und um Virenökologie; auch um historische Muster und ökonomische Zusammenhänge. Denn so betroffen wir durch Covid19 sind und so fertig uns die Corona-Pandemie vielfach macht – was wir gerade erleben, ist nicht mehr und nicht weniger als ein klarer Fall von Evolution in Aktion. Viren mutieren ziellos, so wie sich sämtliche Organismen auf genetischer Ebene primär ungerichtet verändern. Dann aber setzen sich solche mit vorteilhaften Mutationen durch, wie in der Theorie der natürlichen Selektion einst von den britischen Naturforschern Charles Darwin und Alfred Russel Wallace unabhängig voneinander beschrieben. Es überleben und verbreiten sich jene Variationen, die das Virus ansteckender machen. Und weil das so schnell geht und so viele Menschen als Wirte betroffen sind, in denen sich das Virus gleichzeitig vermehren kann, lässt sich Evolution quasi live und in Echtzeit verfolgen. »Der Brutkasten Menschheit liefert immer schneller Nachschub.«15 Mindestens eine Viertelmillion Mutationen allein von Sars-CoV2 sind inzwischen bekannt. Unklar ist, welche dieser Mutationen in welcher Kombination das Potenzial hat, noch infektiöser zu sein als die vorherrschende Variante. Auch hier lässt sich die Evolution nicht in die Karten sehen.

Damit verhält sich dieses Virus nicht anders, als Biologen es generell erwarten würden – bei allen Problemen, die es Virologen, Infektiologen und Epidemiologen im Einzelnen bereitet. Die Evolution durch Mutation und Selektion macht solche Pandemien zum Alltag auf unserem Planeten – und dank des Zusammenspiels mit Tieren und deren Ökologie zu einem Phänomen der Naturkunde und der Evolutionsbiologie. Durch Viren und Bakterien ausgelöste Krankheiten gibt es seit Urzeiten; sie stellten lange eine existenzielle Bedrohung dar. Sie gehören seitdem nicht nur zum menschlichen Leben, sondern sind uralte Bekannte der Biologie, die uns Evolution in Echtzeit vorführen.

So wenig wie Covid19 eine Naturkatastrophe ist, so wenig sind dafür in erster Linie im Urwald verborgene exotische Tiere als Überträger verantwortlich. Es ist weder die Schuld der Fledermäuse noch der Schuppentiere oder anderer potenzieller Zwischenwirte. Ist dann Sars-CoV2 nicht, wie unterstellt, ein wild gewordenes »Dschungel-Virus«? Seit sich der virale Erreger der neuen Lungenkrankheit von Südchina aus um die Erde verbreitete, hieß es immer wieder, es handle sich um ein Virus aus dem Urwald, das (ähnlich wie bei Ebola oder HIV in Afrika von Flughunden) nun in entlegenen Regionen Asiens von Fledermäusen über weitere Wirtstiere auf den Menschen übergesprungen sei. So zutreffend das an sich ist: Zur biologischen Wirklichkeit und daher zur Wahrheit gehört, dass es der Mensch ist, der Zoonosen wie Covid19 fördert, indem er die Lebensbedingungen von Wildtieren einschneidend verändert, während er gleichzeitig überall massenhaft Nutztiere züchtet und so das Auftreten von immer weiter mutierenden Viren provoziert. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass Tiere, die uns krank machen, entweder jene sind, die wir domestiziert haben, oder solche, die am besten in vom Menschen dominierten Lebensräumen gedeihen. Indem der Mensch immer mehr Natur zu seinem Nutzen umwandelt, erntet er unabsichtlich auch immer mehr der gefährlichen Infektionskrankheiten. Während Wildtiere natürlicherweise entweder das Reservoir darstellen und andere zu Zwischenwirten werden, fungieren unsere Nutztiere – Schweine, Rinder, Hühner bis hin zu Pferden und Kamelen – zunehmend als eine Art Brückenwirte. Sie erlauben es Pathogenen und Pandemie-Verursachern, den Weg zu uns zu finden. Entscheidender noch ist, dass vor allem die massenhaft gehaltenen Populationen solcher Brückentiere ihnen eine perfekte Brutkammer bieten.

Fassen wir zusammen, was die Krise offenlegt, aber dennoch bisher meist in Angst und Aufregung untergegangen ist: Die Pandemie hat uns auf geradezu brutale Art zurückgeworfen in die archaische und sehr reale Welt der Viren sowie anderer Krankheitserreger, der wir hofften längst entgangen zu sein. Doch nach wie vor gehört auch der Mensch zu dieser Natur, beeinflussen auch uns Ökologie und Evolution ebenso wie die eigene Geschichte und Kultur. Gleichwohl ist die Pandemie keine Naturkatastrophe – sie ist das Leben mit all seinen Krisen. Ganz zu schweigen davon, dass sie als solche nicht unvorhergesehen kam. Vielmehr verursachen wir unsere Krankheiten selbst, in historischer Zeit ebenso wie jetzt. Paradoxerweise sind diese zwar natürlichen Ursprungs, zugleich aber auch menschengemacht in dem Sinne, dass wir durch unsere Ressourcennutzung überhaupt erst die Voraussetzungen für neue Seuchen schaffen. Damit aber sind Pandemien keineswegs unabwendbar. Das ist die gute Nachricht.

Allerdings gehört zur Analyse und zur Aufarbeitung dieser Krise auch die Erkenntnis, dass wir möglicherweise Pandemien auslösen, die wir dann nicht mehr beherrschen. Corona liefert uns die Chance zu einem Crashkurs in Evolutionsbiologie und Ökologie – und der führt zu der Selbsterkenntnis, dass die Lebensweise des Menschen auf diesem Planeten längst ökologisch höchst bedenklich und problematisch geworden ist. Die Pandemie offeriert aber auch die Chance, sich nicht nur von lieb gewonnenen Gewissheiten zu verabschieden, sondern tatsächlich etwas zu ändern. Dabei steht uns aber die fortgesetzte Rede von einer »Naturkatastrophe« im Weg, denn sie maskiert ein eklatantes Erkenntnisdefizit. Wir haben zwar inzwischen das viel bemühte Narrativ von einer vermeintlichen Strafe Gottes für sündhaftes Verhalten als ideologischen Missbrauch erkannt und die Ursache vieler Krisen wissenschaftlich durchschaut. Dennoch unterstellen wir, wenn wir die Krise zur Naturkatastrophe erklären, dass die Natur in einer Art Machtprobe unablässig die menschliche Kultur herausfordert – mit der Implikation, dass wir dann dank unserer Kultur schließlich die Kontrolle wieder zurückerlangen. Insgeheim schwingen wir uns damit gleichsam doch wieder zu gottgleicher Macht und Herrschaft auf.

Wie weit wir uns damit tatsächlich vom religiösen Gott-Narrativ entfernt haben, mag eine eigene Untersuchung an anderer Stelle wert sein. Wir wollen hier nur noch eine Befürchtung erwähnen, die sich in diesem Kontext aufdrängt. Sosehr wir sie nicht missen wollen und mithin feiern: Die Erfolge der Medizin lassen leicht auch eine fatale Selbstgefälligkeit aufkommen. Mit der Entwicklung von Impfung und Impfstoffen sowie von Antibiotika schienen Infektionskrankheiten lange besiegt, die meisten Kinderkrankheiten wurden zurückgedrängt, die Pocken ausgerottet. Und selbst dort, wo wir noch keine Impfstoffe und Medikamente haben – etwa gegen HIV, Hepatitis C oder Malaria –, hoffen wir, dass dies bald der Fall sein wird. Doch folgt auf dem Fuß, dass wir uns selbst täuschen, wenn wir daraus ableiten, keine Unterworfenen der Natur zu sein. Es nährt zugleich eine möglicherweise trügerische Hoffnung. Denn so viele Menschen auch an und mit Covid19 gestorben sind, so vielen Menschen die Pandemie auch Leid gebracht hat und jenen, die immunologisch weiter naiv sind, noch bringen wird: Wir hoffen, dass Corona demnächst nicht mehr sein wird als ein lästiger Schnupfen. So wie Masern, Pest und Pocken inzwischen entweder ausgerottet oder dank Impfung beherrschbar geworden sind, hoffen wir, dass auch Covid zur Normalität werden wird.

Wir mögen zwar inzwischen dank der Impfstoffe etwas besser für den evolutionären Wettlauf mit dem Virus gerüstet sein und Vakzine auf der Basis von mRNA schnell an neue Varianten anpassen können. Aber Grund für die dem Menschen eigene Hybris haben wir nicht; und wir sollten uns nicht in der Gewissheit wiegen, unsere Innovationen würden es schon richten. Vielmehr lenken Hoffnung und Hybris von unserer Verantwortung ab. Wir missbrauchen einerseits das Katastrophen-Argument, indem wir die Natur verantwortlich machen, andererseits täuschen wir uns mit dem Verweis auf eine mögliche Entstehung im Labor über die eigentlichen Ursachen hinweg. Denn nur vordergründig müssten dann konkrete Mängel diskutiert und behoben werden; wir aber wären vor tiefer greifenden Änderungen sicher, weil wir ja weder Naturkatastrophen noch Laborexperimente verschuldet hätten.

Wir Menschen haben es sehr wohl in der Hand, ob und in welchem Ausmaß Naturgefahren uns treffen. Nur müssen wir dazu nicht ins Reagenzglas und in Probenröhrchen schauen, sondern in die Natur und auf unser Zusammenleben mit Tieren. Das kaum vermeidbare Auftreten neuer Viren muss keineswegs zwangsläufig in weltweiten Seuchen enden.

Worum es bei Zoonosen und in diesem Buch geht

Der Wunsch nach Verdrängen und Vergessen im Anschluss an eine Krise wäre nicht wirklich überraschend. Wie oft haben Menschen genau das immer schon getan? Doch nachdem selbst Historiker lange nicht die gestalterische Macht von Viren anerkannt haben, mehren sich inzwischen Analysen, die Pest, Pocken und anderen Pandemien eine Wirkungsmacht auch in Politik und Geschichte zubilligen. Ebenso werden Evolutionsbiologen aufmerksam, für die Viren nicht bloße Plagegeister sind, sondern zu Leben und Tod dazugehören. Für sie kommen die tödlichen Viren nicht urplötzlich und unvermittelt aus der unberührten Wildnis abgelegener Urwälder zu uns. Für sie sind Pandemien nicht allein ein globales Problem der Medizin im Allgemeinen und der Virologie insbesondere, sondern ein weiteres evolutionsbiologisches Phänomen, zu dem sie Konkretes beitragen können.

Daher ist dies vornehmlich ein Buch über Evolution, über die Geschichte von Pathogenen und deren Wirten. Es erzählt, wie Erreger von einer Wirtstierart auf eine andere gelangen und wie es Erregern dadurch auch gelingt, vom Tier auf den Menschen überzuspringen. An Zoonosen wollen die einen Forscher verstehen, was beim Wirtswechsel passiert und wie er abläuft; die anderen interessiert, wie dies mit den jeweiligen Umweltbedingungen zusammenhängt. Ihr gemeinsamer Ansatz aber ist zu zeigen, dass es immer von uns Menschen neu geschaffene Mitwelten sind, in denen durch Viren und Bakterien verursachte Infektionskrankheiten ihre Seuchenzüge starten. Im evolutiven Rahmen haben viele der Infektionskrankheiten ihren Ursprung in Wildtieren, mit denen der Mensch in seiner Frühzeit in Berührung kam. In historischer Zeit, seit dem Übergang zu Sesshaftigkeit und Domestikation von Nutztieren, sind viele Menschheitsseuchen hinzugekommen, die ihre Herkunft ebendiesem grundlegenden Umstand verdanken.

Erst diese sogenannte Neolithische Revolution machte den Menschen zu dem, was er ist. Indes öffnete sie auch ein neues evolutionsbiologisches Kapitel der Menschheitssaga, in dem das ohnehin dynamische Verhältnis zwischen Parasit und Wirt an Fahrt aufnahm. Betrachtet man Epidemien und ihre eigentlichen Ursachen aus dieser Perspektive, rücken Tiere – unsere Nutztiere ebenso wie die verschiedenen Wildtiere, exotische wie Pangoline und Fledermäuse sowie weniger exotische wie Mäuse und Ratten – in den Mittelpunkt von Seuchen und Infektionen, die auf den Menschen überschwappen. Dadurch werden die Mechanismen zoonotischer Infektionskrankheiten besser verständlich und lassen sich Pandemien wie die jüngste besser einordnen.

Nun werden im Anthropozän, der zum Zeitalter des Menschen erklärten und in unserer Generation angebrochenen geologischen Epoche, die Karten neu gemischt. So beobachten wir, dass neue Seuchen – sogenannte emerging infectious diseases – nicht nur zunehmen, sondern zur geradezu zwangsläufigen Konsequenz jener Wirklichkeit werden, die hoch angepasste Viren ihre Wirte wechseln lässt, sobald wir ihnen dafür den Boden bereitet haben. Jüngst haben Evolutionsbiologen diese Erkenntnis wie folgt zusammengefasst: »The danger is great, time is short, and we are unprepared. But we are not dead yet.«16 Im Zentrum dieses Buches steht unser Krieg gegen die Natur und die Frage, wie die mit dem Anthropozän zunehmende Vernichtung natürlicher Lebensräume und der Vielfalt darin lebender Arten mit der Wiederkehr der Seuchen zusammenhängt. Wir werden dazu benennen, was wir wissen; aber auch, was noch unklar und ungesichert ist und hypothetisch bleiben muss.

Damit will das Buch das Phänomen der Corona-Pandemie als eine prägnante Signatur der Moderne einordnen. Weltweit schlummern zahllose Viren in Tieren, die auch uns Menschen infizieren können. Unsere moderne, vor allem stetig enger werdende globalisierte Welt macht es immer wahrscheinlicher, dass Krankheitserreger überspringen. Deshalb wird die Corona-Pandemie auch nicht die letzte der neuen Infektionskrankheiten sein. Denn zum einen ist der Mensch ein idealer Wirt für epidemische Viren, jene evolutive Brutkammer; zum anderen ist er selbst Verursacher von deren jüngstem Eroberungszug um den Erdball. Weil wir die Welt verändern, lösen wir Pandemien aus, die wir dann nicht mehr beherrschen. Deshalb werden wir in Zukunft mit mehr Zoonosen rechnen müssen. Grund genug, diese von Tieren auf den Menschen überspringenden Seuchen und ihre Ursachen näher zu beleuchten.

Die Erkenntnis am Ende, dass wir Menschen mit schuld sind an der Zunahme von Zoonosen, wird diese allein nicht aus der Welt schaffen. Aber sie kann entscheidend dabei helfen, das Risiko zukünftiger Pandemien zu verringern – und ganz nebenbei auch die Natur und ihre Artenvielfalt zu bewahren. Denn – das ist die Botschaft des Buches – die Menschheit steht den Pandemien nicht hilflos gegenüber. Da sie, obwohl von einem natürlichen Ursprung ausgehend, von uns Menschen entscheidend mit verursacht werden, kann es auch gelingen, diese Krankheiten zu kontrollieren – wenn wir sie erkennen, bevor sie sich auf den Weg machen können. Vor allem aber, wenn wir ihnen nicht länger ahnungslos die Grundlagen geben, die sie zur Gefahr werden lassen.

Damit helfen wir nicht nur, die globale Gesundheit als ein wertvolles Gut zu erhalten. Eine weitgehend intakte oder wieder instandgesetzte Natur muss uns dabei zukünftig als wichtige Lebensversicherung dienen. Das Ende der gegenwärtigen Pandemie wird dann hoffentlich nicht der Auftakt zu regelmäßig wiederkehrenden Seuchen sein, sondern der Beginn eines neuen Verständnisses und Verhältnisses zur Natur. Nur das wird – gleichsam als die bessere Schutzimpfung – gegen globale Krisen infolge von Infektionskrankheiten wirken.

Teil 1:

Woher die Seuche kommt

Hier lernen wir zuerst Viren allgemein und im Besonderen das jüngst entdeckte Coronavirus kennen, gehen der Frage nach, wo dieses Virus herkommt und wie es auf andere Arten und vor allem den Menschen überspringen konnte. Wir fahnden danach, wie und wann das Virus nach Wuhan kam und dann in die ganze Welt. Wir wollen wissen, ob in einem Viren-Labor vielleicht etwas schiefgelaufen sein könnte, was es überhaupt mit Zoonosen als Ursache von Seuchen auf sich hat und warum doch alles auf einen Wildtiermarkt in Wuhan hindeutet.

Der Ursprung der Corona-Pandemie

Es war immerhin ziemlich genau ein ganzes Jahrhundert her, seit zuletzt durch eine Infektionskrankheit eine globale Pandemie mit Abermillionen Toten verursacht worden ist. Daher rechnete niemand ernsthaft mit einer Pandemie noch gewaltigeren Ausmaßes, als am vorletzten Tag des Jahres 2019 die ersten Fälle einer mysteriösen Atemwegsinfektion bekannt wurden. Nachdem dann Anfang Januar 2020 die Fälle von Krankenhauseinweisungen in der in Zentralchina gelegenen Millionenstadt Wuhan am Jangtse regelrecht explodierten, war die Ursache schnell ausgemacht: ein bis dahin unbekanntes Coronavirus, das sich in gefährlicher Weise über die Luft direkt von Mensch zu Mensch überträgt. Dadurch breitete es sich rasend schnell von Wuhan ausgehend erst in China und anschließend überall auf der Welt aus – überholt noch von der Angst vor diesem neuartigen Erreger, der den Tod bringt.

In dieser Anfangszeit setzte sich bei den meisten Menschen das Narrativ fest, dass das Virus von Fledermäusen stammen und auf einem der im Westen ohnehin für dubios, wenigstens aber für kurios gehaltenen typisch asiatischen Wildtiermärkte – dem Huanan Seafood Market in der Innenstadt Wuhans – auf den Menschen übergesprungen sein könnte. Auch, weil sich dort keine Spuren mehr finden ließen, nachdem der Markt von den Behörden bereits in den ersten Januartagen geschlossen worden war und man alles komplett gereinigt und entsorgt hatte, griff bald ein anderer Verdacht um sich: dass das Virus einem Labor entstammen könne, das sich ausgerechnet in Wuhan der Forschung an Coronaviren aus Fledermäusen widmet. War das Virus unabsichtlich aus dem Labor entkommen? Hatte man gar mit gefährlichen Viren experimentiert und war dabei etwas schiefgegangen?

Wenn wir heute alle verfügbaren Befunde und Indizien zusammennehmen, müssen wir feststellen: Der eigentliche Ursprung des bald als Sars-CoV2 identifizierten neuartigen Coronavirus liegt weder im Huanan-Markt noch in Wuhan, unabhängig davon, ob wir an einen tierischen Ursprung oder an einen Laborunfall glauben. Vielmehr weist der Vergleich der molekularen Strukturen des aus Menschen isolierten Virus darauf hin, dass es nächstverwandt ist mit ganz ähnlichen Viren, die man in Fledermäusen im äußersten Südwesten Chinas, in der Provinz Yunnan, entdeckt hat – und damit etwa 1500 Kilometer entfernt, eine Entfernung, die in Europa etwa der Strecke von Kopenhagen nach Rom entspricht. Zudem sollten die chinesischen Fledermäuse nicht die einzigen Tiere bleiben mit auffälligen Ähnlichkeiten zum Coronavirus in Menschen. Die entscheidende Frage ist mithin, wie ein neuartiges Virus nach Wuhan und auf den Menschen kommen konnte.

Um zu verstehen, was es mit dem Ursprung dieser Pandemie wirklich auf sich hat, woher das neue Virus stammt und warum es ausgerechnet in Wuhan ans Tageslicht kam, wie überhaupt neue Seuchen in unserer Zeit entstehen und warum sie so gefährlich sind, müssen wir uns in den subtropischen Südosten Asiens begeben. Dort beginnt unsere Spurensuche – lange vor dem ersten Ausbruch der Corona-Pandemie. Denn die hat eine brisante Vorgeschichte.1

Die Höhle: Übersprungshandlung

Mojiang-Höhle, Tongguanzhen, Provinz Yunnan – Anfang April 2012

Wie ein schmaler heller Faden windet sich der Fluss Babian durch meist noch bewaldete Höhenzüge rund 20 Kilometer südlich der kleinen Siedlung Tongguanzhen. Hier ziehen sich an einigen Hügeln Terrassenanlagen hinauf, auf denen neben Bananen und Orangen vor allem Tee und Tabak angebaut werden; an anderen Stellen gehen Kautschukplantagen in die dichte tropische Vegetation über. Ein schmaler Bachlauf, der bei den Einheimischen Bengpinghe heißt, schlängelt sich vom Tal hinauf in die Hügel, wo ein kleines Dorf namens Danaoshan liegt. Von hier sind es auf einer unbefestigten Straße knapp 1,4 Kilometer bis zu einer verlassenen Kupfermine in einer Höhle, von der wir heute immerhin die genaue Position kennen: 101° 21' 28"E 23° 10' 36"N. Während einer ersten Industrialisierungsphase bis Ende der 1950er-Jahre war sie unter dem Namen des Bachlaufs als Bengping-Kupfermine in Betrieb, wurde dann aber aufgrund magerer Erträge wieder aufgegeben. Erst als um 2011 der Kupferpreis weltweit anzog, kam jemand auf die Idee, die stillgelegte Mine wieder in Betrieb zu nehmen.

In der Zwischenzeit hatten Fledermäuse von den Minenschächten, die man in die Höhle hineingetrieben hatte, Besitz ergriffen. Anfang April 2012 wurde deshalb eine kleine Gruppe von Arbeitern beauftragt, den Grund der 150 Meter tief in den Felsen getriebenen Mine von den Hinterlassenschaften der dort zu Tausenden rastenden, den Tag verschlafenden Fledermäuse zu befreien. Der Kot der Tiere einschließlich der sich davon ernährenden, ebenfalls höhlenbewohnenden Insekten, Pilze und Bakterien hatte sich zu erbärmlich stinkenden Guano-Schichten aufgehäuft. Diese nun nur mit Schaufeln bewaffnet zu beseitigen, dürfte nicht nur eine dreckige, staubige und schweißtreibende Angelegenheit gewesen sein. In der Folge erkrankten dementsprechend von den im April und Mai 2012 dort arbeitenden Einheimischen sechs Männer an einer eigenartigen Lungenentzündung. Statt in eines der Krankhäuser in näher liegenden Städten brachte man die Erkrankten in das Universitätshospital in der sechs Stunden Autofahrt entfernt im Norden gelegenen Provinzhauptstadt Kunming.

Nur dadurch sollte der Fall dieser erkrankten Arbeiter später überhaupt der Weltöffentlichkeit bekannt werden. Wer weiß, wie viele ähnlich mysteriös verlaufende Erkrankungen von Einheimischen es zuvor schon gegeben hat, die auf diese oder andere Weise mit Fledermäusen der Region in Berührung kamen? Hier jedenfalls nahm das erste Aufflackern einer durch Coronaviren vom Sars-CoV2Typ verursachten Epidemie ihren Ausgang.

Kunming Medical University Hospital, Provinz Yunnan – April bis September 2012