Dichter, Naturkundler, Welterforscher: Adelbert von Chamisso und die Suche nach der Nordostpassage - Matthias Glaubrecht - E-Book

Dichter, Naturkundler, Welterforscher: Adelbert von Chamisso und die Suche nach der Nordostpassage E-Book

Matthias Glaubrecht

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Beschreibung

Die bewegte Lebensgeschichte eines Heimatlosen zwischen Krieg, Kunst, Wissenschaft und Weltumseglung  Als Flüchtling kam Adelbert von Chamisso in den Wirren der französischen Revolution nach Deutschland. Seine Heimat und seine Sprache hatte er verloren – in der Fremdsprache Deutsch begann er zu dichten, erfand die Gestalt des schattenlosen Peter Schlemihl und wurde damit berühmt. Aber damit war er nicht angekommen, im Gegenteil: In einer Zeit, in der selbst die Fahrt zur nächsten Stadt noch ein Abenteuer war, zog es ihn hinaus in die Welt. Als Mitglied einer Forschungsreise auf der Suche nach der legendären Nordostpassage fand er als Naturkundler unbekannte Pflanzenarten und deckte Naturgesetze auf, die noch Darwin beeindruckten. Seinem Schlemihl nicht unähnlich verfasste er glänzende, poetische Berichte über seine dreijährige Weltreise. Matthias Glaubrecht hebt bei seiner detektivischen Spurensuche in Museumssammlungen und in Chamissos Nachlass einen bis heute übersehenen Schatz. In dieser Biographie eines Heimatlosen können wir endlich den ganzen Chamisso entdecken. Er zeigt erstmals in aller Deutlichkeit, wie bei dieser Ausnahmegestalt zugleich Literatur und naturkundliche Erkenntnis entstanden, was Chamisso selbst aus seiner Weltreise machte und was die Nachwelt aus ihm.

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Matthias Glaubrecht

Dichter, Naturkundler, Welterforscher: Adelbert von Chamisso und die Suche nach der Nordostpassage

Kurzübersicht

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Titelseite

Über Matthias Glaubrecht

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

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Über Matthias Glaubrecht

Der Evolutionsbiologe Matthias Glaubrecht, geboren 1962 in Hamburg, ist Gründungsdirektor des Centrums für Naturkunde der Universität Hamburg. Er schrieb mehrere Bücher, darunter eine Biographie Charles Darwins und Das Ende der Evolution – Der Mensch und die Vernichtung der Arten. Bei Galiani Berlin erschienen Am Ende des Archipels – Alfred Russel Wallace und Abenteuer am Amazonas und am Rio Negro.

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Über dieses Buch

Als Flüchtling kam Adelbert von Chamisso in den Wirren der französischen Revolution nach Deutschland. Seine Heimat und seine Sprache hatte er verloren – in der Fremdsprache Deutsch begann er zu dichten, erfand die Gestalt des schattenlosen Peter Schlemihl und wurde damit berühmt.

Aber damit war er nicht angekommen, im Gegenteil: In einer Zeit, in der selbst die Fahrt zur nächsten Stadt noch ein Abenteuer war, zog es ihn hinaus in die Welt. Als Mitglied einer Forschungsreise auf der Suche nach der legendären Nordostpassage fand er als Naturkundler unbekannte Pflanzenarten und deckte Naturgesetze auf, die noch Darwin beeindruckten. Seinem Schlemihl nicht unähnlich verfasste er glänzende, poetische Berichte über seine dreijährige Weltreise.

Matthias Glaubrecht hebt bei seiner detektivischen Spurensuche in Museumssammlungen und in Chamissos Nachlass einen bis heute übersehenen Schatz. In dieser Biographie eines Heimatlosen können wir endlich den ganzen Chamisso entdecken. Er zeigt erstmals in aller Deutlichkeit, wie bei dieser Ausnahmegestalt zugleich Literatur und naturkundliche Erkenntnis entstanden, was Chamisso selbst aus seiner Weltreise machte und was die Nachwelt aus ihm.

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Motti

Prolog – Die Welt erkunden

Vorwortlich einleitend – Chamisso neu entdecken

Wie die Spurensuche begann

Der doppelte Chamisso

Mit Chamisso die Welt erfahren

Fremdes Land Vergangenheit

Teil Eins – In Humboldts Stiefeln

Erstes Kapitel

Die Frauen von Friedland

Des Botanikers lebendes Gedächtnis

Der wundersame Peter Schlemihl

Ein märchenhafter Humboldt

Zweites Kapitel

Napoleon, Revolution und die Flucht von Schloss Boncourt

Berliner Exil

Rousseau und das preußische Militär

Leutnant und Literatus – Die Anfänge eines Dichters

Cérès. Oder: »Nichts für die Unsterblichkeit getan«

Napoleon in Preußen – Chamisso in Frankreich

Paris, die Frauen und ein »Cherub im Scharlachkleid«

Unvergessliche Tage bei Madame de Staël

Drittes Kapitel

Im »botanischen Garten Europas«

Der Studiosus

»Lichtenstein liebt mich«

Die Befreiung vom Despoten

Kunersdorf. Oder: »Die Zeit hat kein Schwert«

Viertes Kapitel

Der Schlemihl-Coup

Das Manuskript

Was der Schlemihl uns erzählt

Selbstauskunft – Wie der Schlemihl einst wirklich entstand

Schlemihls Schicksal – Der Pakt mit dem Teufel

Die Deutung des Schattens

Von den Siebenmeilenstiefeln – Schlemihls Itinerar

Der Schlemihl »hilft sich selber durch«

Reisevorbereitung – Ein erster Fehlstart

Wie der Schlemihl dann doch noch an Bord geht

Bildteil

Teil Zwei – Schlemihl auf Reisen

Fünftes Kapitel

Die Expedition des Lapérouse

Depesche an den König

»In die neuen Verhältnisse uneingeweiht«

Sechstes Kapitel

Profaner Aufbruch mit der Martermaschine

Des Kaufmanns Röding Museum und der Zweck der Reise

Instruktionen für den Naturforscher

Erste Notizen der Reise

Schiffe als Instrumente

Die Brigg Rurik

Der Kapitän und vergessene Weltumsegler Otto von Kotzebue

Rumjanzew und die russische »Erfahrung« der Welt

Der Auftrag und die Konkurrenz der Karten

Die anderen Rurikianer – Wormskiold

Eschscholtz und Choris

Siebtes Kapitel

Eine abgesonderte kleine Welt

Oben, unten, hinten, vorn – Passagier in der gezimmerten Welt

Erste Spannungen

Protest gegen das Sammeln?

Ambivalente Beauftragung

Naturforscher oder nur Passagier an Bord?

Die Weltreisetagebücher

Ansegeln

Achtes Kapitel

Die »reizendsten Rätsel der Natur«

Wie Chamisso der Coup mit den Salpen gelingt

Erste Manuskripte zu De Salpa

Drei Tage auf Teneriffa

Nebenbuhler und Verbündete in einer zu kleinen Welt

Von Chronometern und Kalendern

Einblicke in Chamissos Schreibwerkstatt

Neuntes Kapitel

Bleibende Eindrücke einer »noch freien Natur«

Pflanzen sammeln in »fast beständigem Regen«

Unglückliche Menschen wie wir

Wie bei der Umrundung von Kap Hoorn der Kapitän beinahe über Bord geht

Das Kreuz des Südens

»Wir sahen keine wilden Tiere«

Geographische Gewissheiten

In die Südsee

Auf der Osterinsel – »Von lauter Affen umringt«

Die »Wilden« der Großen Insel

Landung auf Romanzoff – Im Archipel der zahllosen Atolle

Die Penrhyns. Oder: Erinnerung an Nuku Hiva

Quer über den Pazifik nach Norden

Zehntes Kapitel

Kamtschatka – Russischer Vorposten im Nordpazifik

Das »Jahr ohne Sommer« in Chamissos Reisetagebuch

Der Ausbruch des Tambora und seine Folgen

Kurs ins Beringmeer

Erste Begegnungen mit Eskimo

Chamissos Schädel

Spurensuche im Museum

Berings Expeditionen

Ein »ganz ungewöhnliches unbekanntes Seegeschöpf«

In der Beringstraße – Kotzebue-Sund und Chamisso-Insel

Eschscholtz entdeckt den Permafrostboden

Bei den Tschuktschen – »Wir haben von dort herrliche Beutestücke mitgebracht«

Das Bellen der Seebären im Nebel

Die »traurigen Inseln« der Aleuten

Chamissos origineller Kunstgriff – Die Wale von Unalaska

»Den Walfisch zähmen«

Elftes Kapitel

Chamissos Goldmohn

Der russische Vorstoß nach Kalifornien

Port Bodega und Fort Ross – Russen gegen Spanier

Von Seeottern, einem Bären – und Kotzebue als Spion

»Mit einer unbegrenzten Verachtung der Völker« – Von Franziskanern und Indianern

Ankunft auf den Inseln »unbescholtener Sitten«

Der Archipel des Königs Kamehameha

Russlands »fabelhafter« Vorstoß nach Hawaii

In Cooks Fahrwasser

Botanische Exkursionen und eine Schnecke namens Auriculella

Von schönen Insulanerinnen

»Ein Wilder der Sandwich-Inseln«

»Weltenbrand« auch auf Hawaii

Zwölftes Kapitel

Mit Forster in Bougainvilles Arkadien

Im »inneren Meer« der Inseln. Oder: Vom Mythos Südsee

Mit Rousseau unterwegs auf Ratak

Kadu – »edler Wilder« oder »wilder Edler«?

»Hier herrscht also Krieg«

Von Gärten, Ratten und Katzen – Zur gestörten Ökologie Rataks

»Geheimnißreiche Blicke« in die Riffe von Ratak

Eine kurze Exegese der Korallen-Essays

»Alles vorhergesagt« – Abschied vom Paradies

Dreizehntes Kapitel

Der große Sturm und lange noch Schnee

»Treibeis angetroffen« – »Wir halten Süd«

Rufmord, Ruhmsucht – und nochmals Ratak

»Trennung vom Südmeer« – Über Guam nach Luzon

Piratenüberfall, Kapstadt – und ein Kalenderfehler?

Über London nach Sankt Petersburg – Am Ende der Reise

Teil Drei – Die Rückkehr des Königs der Stillen Inseln

Vierzehntes Kapitel

»Schlemiel kommt wieder« – Geschäftiges Warten in Sankt Petersburg

Gewagtes Manöver

Nach dem Ende Napoleons – Eine Welt im Umbruch

Das atemberaubende Jahr 1819 

Die Heirat des Hausväterchens

Die Affäre Marianne Hertz

Fünfzehntes Kapitel

Chamisso als Botaniker in Berlin

Eine »große königliche Heumanufaktur« und die »Botanik für Nichtbotaniker«

Das Herbarium als »lebendiges Gedächtnis«

De Salpa – Wie Chamisso als »wissenschaftlicher Märchendichter« verspottet wird

Spurensuche im Museum – Was von Chamissos Salpen und Korallen noch übrig ist

Vom zoologischen Rohstoff der Reise

Die Verwandlung der Arten

Warum Chamisso kein »Wissenschaftskünstler« ist

Liebeslyrik für den Hausgebrauch – Wie Chamisso zum gefeierten Dichter wird

Ein Lyriker des Biedermeier?

Sechzehntes Kapitel

Kotzebue und der kompilatorische Reisebericht von 1821 

Paris 1825. Oder: Die Vermächtnisse von Choris und Rousseau

Der »literarische Weltreisebericht« – Ansätze einer Einordnung

Fakten und Fiktion im Reisewerk des »romantic traveler«

Der »Reiz eines neuen Weltdramas«

Fehde auf dem literarischen Feld

Siebzehntes Kapitel

Chamisso als Linguist

Lorbeer für einen müden Mann – Leiden, Lungentumor und Tod

»Die Stimme ist mir ausgegangen«

Ein Grab, eine Büste, ein Park im Berliner Kiez

Fazit – Was von Chamisso bleibt

Was außerdem bleibt – Das Vermächtnis des »Blumensuchers«

Epilog – Das Ende der Idylle in der Südsee und die neue Arktis

Anhang

Zeitleiste I – Leben und Werk von Adelbert von Chamisso

Zeitleiste II – Schlemihls Reise um die Welt – Routen und Stationen im Vergleich

Zeitleiste III – Das Itinerar der Rurik-Reise, August 1815–August 1818 

Zeitleiste IV – Das Itinerar von Chamissos Entdeckung der Salpen – Eine Rekonstruktion der Reisejournale und -tagebücher, Oktober 1815 

Anmerkungen

Alphabetisches Verzeichnis der Literatur

Register der wichtigsten Personen

Bildnachweis

Für Nora

 

in Liebe und Dankbarkeit

»Man nimmt sich auch auf einer solchen Forschungsreise mit.«

Adelbert von Chamisso (in einem Brief, Februar 1816)

»Ich bin nach Weisheit weit umhergefahren.«

Adelbert von Chamisso (Gedicht, 1824)

Prolog – Die Welt erkunden

Solange die Völker in den verschiedenen Regionen der Erde noch wenig voneinander wussten, oder gar über die Länder und die Natur, in denen sie lebten, war eine von Europa aus unternommene Reise um die Welt derart außergewöhnlich, dass sie noch jeden Teilnehmer, der sie überlebte, zu einer Berühmtheit machte.

Wie etwa einen Georg Forster, der schon als Jugendlicher seinen Vater – den Naturforscher Reinhold Forster – auf James Cooks zweiter Reise um die Welt begleitete. Sein literarischer Bericht darüber machte ihn zu einem der berühmtesten Forschungsreisenden nicht nur seiner Zeit. Und lässt den Rest der wenigen Jahre des jungen Forster beinahe wie einen unerfreulichen Appendix erscheinen.

 

Ebenfalls zu einer Reise um die Welt, vor allem aber zur Suche nach einer lange mysteriösen, angeblich schiffbaren Passage im Norden des Pazifiks bricht kaum ein halbes Jahrhundert später auch Louis Charles Adélaïde de Chamissot de Boncourt auf, der sich selbst Adelbert von Chamisso nennt. Ein Mann mit gleich doppelter Begabung, selten genug auch in der Zeit von Goethe und Humboldt. Denn der Abkömmling französischen Adels wird zum deutschen Dichter und zu einem der meistgelesenen Lyriker seiner Zeit. Doch zugleich ist Chamisso auch Botaniker aus Profession und ein begabter Naturforscher – wenngleich lange verkannt und dann vergessen.

 

Um ihn geht es in diesem Buch; und um seine Weltreise mit der russischen Brigg Rurik von 1815 bis 1818, die nach eigenem Bekunden für ihn »das Hauptstück« seines Lebens und zum bestimmenden Element seiner Biographie wird.

Es geht darum, wie aus dem, was Chamisso dabei sammelt und mitbringt, Literatur und naturkundliches Wissen über die Welt entsteht – aus seinen Beobachtungen der Natur und der Menschen, aus einer Fülle naturkundlicher Objekte, deren Fährte hier gefolgt wird, und aus seinen akribischen Tagebuchaufzeichnungen von dieser abenteuerlichen Weltreise.

Es geht um eine detektivische Spurensuche in seinem Nachlass und in Museumssammlungen, beides lange übersehen und mithin weitgehend unbekannt.

Es geht aber auch um eine Fehde im literarischen Feld, zwischen einem ambitionierten Kapitän und einem sich selbst inszenierenden Dichter, beide mit ambivalentem Auftrag und selbstgesteckten Zielen.

Nicht zuletzt geht es um die Frage, was der Poet und Naturforscher Adelbert von Chamisso selbst aus seiner Reise um die Welt macht – und was die Nachwelt aus ihm.

Vorwortlich einleitend – Chamisso neu entdecken[1]

»Es tut gut, daran erinnert zu werden, dass eine historische Gestalt niemandem gehört und eine Geschichte jeweils dem, der sie gerade erzählen möchte.«

Daniel Kehlmann[2]

Wann und wie wir zum ersten Mal von einer bestimmten Begebenheit oder einer Person, zumal einer historischen Figur, erfahren haben, wissen wir später oft nicht mehr zu sagen. Wann ich zum ersten Mal auf Adelbert von Chamisso aufmerksam wurde oder gar in welchem Zusammenhang, erinnere ich nicht mehr genau. Im Zweifel war es in der Schule, im gar nicht so schlechten Deutschunterricht. Immerhin haben wir damals einige der Gedichte Chamissos behandelt. Und auch sein wohl bekanntestes Prosastück gelesen, die phantastische Novelle Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte; jene eindrückliche Erzählung vom faustischen Handel eines Mannes, der seinen Schatten eintauscht, um sich schließlich mit Siebenmeilenstiefeln auf große, wundersame Reise um die Erde zu machen. Nicht zuletzt hat Chamissos Geschichte dazu beigetragen, dass heute fast jeder die Siebenmeilenstiefel kennt.

Vages Wissen um Adelbert von Chamisso indes sollte ich später häufiger bei nicht wenigen beobachten, mit denen ich über ihn sprach. Beinahe jeder hatte von Chamisso schon einmal gehört; doch was dieser tatsächlich getan und geleistet hatte, das wussten die wenigsten. Diese wenigen waren meist Literaturwissenschaftler. Unter ihnen gilt Chamisso als einer der Großen, einer der bis ins 20. Jahrhundert hinein kanonisierten Autoren der deutschen Literaturgeschichte – sprich einer, den man gelesen haben muss. Nach ihm ist mitten in Berlin-Kreuzberg ein Platz benannt; in seinem Namen wurde und wird wieder ein renommierter Literaturpreis vergeben.[3]

Dagegen ist Chamisso bei den Vertretern meiner eigenen Zunft, der Biologie, so gut wie unbekannt; beinahe niemand weiß heute mehr, welche grundlegenden Erkenntnisse wir ihm verdanken. Wer kennt ihn schon als den Entdecker des Generationswechsels? Dabei hat er zuerst an Salpen – die zu den Manteltieren gehören und im Meer schwimmend an Quallen erinnern, ohne systematisch zu ihnen zu gehören – ein keineswegs seltenes biologisches Phänomen entdeckt. Vergleichbar der Metamorphose ist der Generationswechsel immerhin ein bedeutender Zyklus in der Fortpflanzung vieler verschiedener Tiere. Chamisso beobachtete ihn bei den Manteltieren eher zufällig, aber er machte damit Karriere.

Und wer weiß schon, dass sich der britische Naturforscher Charles Darwin bei einer seiner ersten Theorien – noch vor der Entdeckung der Evolution – ausdrücklich auf Chamissos Erkenntnisse zur Entstehung von Atollen und Riffen bezog? In seinen Schriften hat Chamisso den Korallen als kleinsten Baumeistern des Meeres wahrlich Großes zugeschrieben und als einer der Ersten erkannt, dass diese sogenannten »Blumentiere« tatsächlich die riesigen Riffformationen aufbauen.

Bei jenen, die Chamisso als Lyriker kannten, erntete ich mit solchen Feststellungen meist Verwunderung: Chamisso – ein Naturforscher? Ach, wirklich!?

Wie die Spurensuche begann

Auf den unbekannten Chamisso, den meiner eigenen Disziplin, bin ich eher durch Zufall aufmerksam geworden. Im Rahmen meiner eigentlichen Forschungen zur Vielfalt und Entstehung von biologischen Arten und der Vorbereitungen einer Ausstellung zu »Evolution in Aktion« im Berliner Naturkundemuseum stieß ich auf einen Artikel, den beinahe zwei Jahrzehnte zuvor ein ehemaliger Direktor des dortigen Zoologischen Museums verfasst hatte und in dem er Chamissos frühe Vorstellungen von biologischen Arten umriss.[4] Eher beiläufig erwähnt wurde darin, dass sich viele der Objekte, die Chamisso von einer dreijährigen Weltreise auf dem russischen Expeditionsschiff Rurik von 1815 bis 1818 mitbrachte, noch immer wohlverwahrt in der entsprechenden Sammlung des Museums befinden.[5] Naturalien einer frühen Weltreise, noch dazu von einem als Dichter gerühmten Mann; für mich klang das spannend und vielversprechend, nicht nur für unsere geplante Ausstellung, in der wir Objekte zum Sprechen bringen wollten. Ich besorgte mir also einige der Werke Chamissos sowie der Schriften über ihn – was sich dann in der Folge bald zu einer Flut an Chamisso-Literatur auswachsen sollte.

So begann, anfangs beinahe unmerklich und eher nebenbei, meine Spurensuche nach dem Naturforscher Chamisso; zuerst nach dem Verbleib seiner Naturalien und Sammlungen, später nach seinen Reiseaufzeichnungen und anderen Handschriften, in beiden Fällen aber nach den dank seiner buchstäblichen »Erfahrung« der Welt gewonnenen Erkenntnissen. Diese Spurensuche wurde dabei für mich zu einer gleich doppelten Entdeckungsreise: Zum einen verhilft uns Chamisso zu einer facettenreichen Reise durch die Gefilde der Naturkunde ebenso wie der Literatur. Zum anderen zu einer historischen Reise durch den nördlichen Pazifik und die Südsee vor 200 Jahren, im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, als das sogenannte zweite Zeitalter der Entdeckungen bereits auszuklingen begann, als die Küsten sämtlicher Kontinente beinahe vollständig kartiert waren und heroische Taten – mit denen jene von Josef Conrad so sprechend benannten »weißen Flecken auf der Landkarte« gefüllt wurden – allenfalls noch im Landesinneren warteten.[6]

Das erste dieser Entdeckungszeitalter hatte im 15. Jahrhundert mit den tastenden Erkundungen vor allem der Portugiesen entlang der Küsten Afrikas bis nach Indien begonnen. Es hatte 1492 zu Kolumbus’ erster Fahrt zu den Westindischen Inseln geführt und 1522 mit Magellans Durchquerung des vermeintlich Pazifischen Ozeans einen heute oftmals verkannten Höhepunkt gefunden. Dieser markiert zugleich den Beginn der ersten Globalisierung, die Europäer hinaus in und um die Welt führt, die sie bald unter sich aufzuteilen beginnen. Auch Chamisso wird später an dieser vielfältigen europäischen Expansion teilhaben; er wird sie bezeugen – und damit für uns heute buchstäblich erfahrbar und die Zerwürfnisse seiner Zeit verständlicher machen.

Der doppelte Chamisso

Im Grunde gibt es Adelbert von Chamisso gleich zweimal: Da ist zum einen der empfindsame Dichter und Lyriker, immerhin einer der berühmtesten seiner Zeit; zum anderen der originelle Naturforscher, der seine vielfältigen Beobachtungen in seinem zum Reisetagebuch stilisierten Bericht über die Fahrt der Rurik niederlegt; ein Bericht, den er allerdings erst zwei Jahrzehnte nach seiner Reise und am Ende seines Lebens verfasst hat.[7] In der Wissenschaftsgeschichte aber galt Chamisso lange eher als Epigone, mehr Wegbegleiter denn Wegbereiter, und nicht eigentlich als Naturforscher.

Doch offenkundig hatte sich seit langem niemand mehr mit Chamissos zahlreichen zoologischen, botanischen und ethnographischen Schriften oder gar mit den Sammlungsmaterialien seiner Weltreise beschäftigt. Mir fiel ein zuletzt Anfang der 1980er Jahre erschienener Band in die Hände, der immerhin einige von Chamissos naturwissenschaftlichen Arbeiten versammelte, diese dann aber nicht näher untersuchte oder gar denn den Versuch einer Einordnung unternahm.[8] Die meist lediglich mit den Geisteswissenschaften vertrauten Chamisso-Forscher und -Biographen taten sich schwer damit, seine Beiträge als Botaniker und Naturkundler zu bewerten; dabei hatten diese ihm seinerzeit Namen und Anerkennung unter seinesgleichen gesichert. Mich aber zog Chamisso nun in seinen Bann, gerade weil er ein ebenso hellsichtiger Naturforscher und Literat wie unabhängiger Denker und Dichter war.

Das vorliegende Buch fahndet daher nach jener bislang vernachlässigten Facette Chamissos: dem Naturkundler im Dichter und Autor des Peter Schlemihl. Mit ihm brechen wir gleichsam nochmals zu einer großen Weltumsegelung auf, die uns von Kopenhagen durch den Atlantik nach Brasilien und ums Kap Hoorn nach Chile und in die Südsee, nach Hawaii und schließlich auf den Ratak-Archipel führt – die heutigen Marshallinseln mitten im Pazifik. Mit Chamisso gelangen wir an die Küste Kaliforniens und nach Kamtschatka, auf die arktischen Inseln der Aleuten und nach Alaska. Mit ihm begeben wir uns auf die Suche nach der vermuteten schiffbaren Nordostpassage durch die Beringstraße und kehren über Kapstadt ins Herz des russischen Reichs nach Sankt Petersburg und schließlich in die preußische Hauptstadt Berlin zurück, wo Chamisso sesshaft und zum auswertenden Wissenschaftler wird. Das vorliegende Buch verknüpft dabei erstmals, was bislang unabhängig voneinander von Chamisso und von anderen Expeditionsteilnehmern erzählt wurde, deren Reiseberichte sich ebenfalls erhalten haben. Wenn diese Weltreise hier nachgezeichnet wird, so interessieren mich dabei nicht zuletzt jene Umstände und Ereignisse, die diese russische Expedition bedingt haben; ebenso wie jene, die sie nach sich zog.

Meine Recherchen entwickelten sich dabei zu einer intellektuellen Reise durch ungewohntes Terrain, die neben wissenschaftshistorischen auch literaturwissenschaftliche Ein- und Ausblicke gewährte – und sogar kunstgeschichtliche. So entdeckte ich in der Bibliothek des Ethnologischen Museums in Berlin eine der heute sehr seltenen vollständigen kolorierten Originalausgaben der Voyage pittoresque autour du monde jenes Ludwig Choris, der als Expeditionsmaler die Rurik begleitete. Als ich den Folioband durchblätterte, wurde mir höchst anschaulich, in wie idealer Weise Choris’ farbige Lithographien Chamissos lebhafte Reiseeindrücke und lebendige Erzählungen von Landschaften, Menschen, Tieren und Pflanzen der von der Rurik angelaufenen fremden Erdteile und Eilande ergänzen.[9] Sie unterstreichen seine romantisierende Schilderung der Südsee und ihrer Bewohner, die dabei aber von tiefen Einblicken in die Natur des Menschen wie von der Vorahnung des ihnen bevorstehenden Schicksals geprägt ist. Als einer der ersten Europäer, die uns Bericht von den Urvölkern jener fernen Kontinente und Koralleninseln ablegen, bezeugt Chamisso auch ihren nahen Untergang.[10] Aus dem vielstimmigen Chor der frühen Reiseschilderungen ragt Chamissos Darstellung auch heraus, weil sie den vielseitig Interessierten gleichermaßen als reisenden Dichter wie als dichtenden Naturalisten ausweist, als talentierten Naturforscher und genauen Beobachter ebenso wie als begnadeten Literaten – in jedem Fall als einen auf seine Weise durchaus originellen Kopf.

Das vorliegende Buch unternimmt nicht den Versuch einer umfassenden literaturwissenschaftlichen Bewertung Chamissos, am wenigsten seiner umfangreichen Lyrik; und auch nicht seiner reiseliteraturspezifischen Werke und Materialien, die wir unlängst in einem eigens dazu initiierten Forschungsprojekt untersucht haben.[11] Wie formulierte Chamisso doch in seinen Reiseerinnerungen: »Ich werde nicht von jedem Vogel, den ich habe fliegen sehen, Rechenschaft ablegen.« Aus den gleichen naheliegenden Gründen ist dieses Buch auch nicht der Versuch einer vollständigen systematisch-chronologischen Biographie. Ansätze gerade dazu haben andere (in den Anmerkungen zu den Quellen am Ende des Bandes näher bezeichnete) Arbeiten geliefert oder sind dort wenigstens angelegt. Allerdings fehlt diesen Werken bisher der fokussierende Blick auf die Weltreise und insbesondere die Naturforschung Chamissos, die immerhin einen Großteil seines Lebens und Schaffens einnimmt.

Mit Chamisso die Welt erfahren

Während wir der Spur von Chamissos naturkundlichen Originalstücken und Handschriften folgen, lernen wir mithin einen neuen Chamisso kennen. Sein charmanter, aber eben auch leicht exzentrischer Charakter wurde von der Nachwelt nicht selten verklärt. Ich trete ihm hier durchaus kritisch gegenüber, gerade wenn es um die literarische Fehde mit dem Kapitän der Rurik geht.

Dieses Buch zeigt aber nicht zuletzt, wie dank der Sammlung von Naturalien und von Beobachtungen, die Chamisso entlang der Stationen seiner Weltreise und oft unter widrigen Umständen machte, Wissen entsteht – Wissen über Naturdinge und Wissen über die Welt. Dahinter steht die Frage, wie einzelne Befunde in allgemeine Einblicke übersetzt werden, wie aus naturkundlichen Objekten und ihrer Beschreibung wissenschaftliche Erkenntnisse generiert werden; auch, wie seinerzeit neue Fachdisziplinen entstanden oder sich ausdifferenzierten und welchen Anteil daran reisende Naturforscher wie Chamisso hatten. Dazu habe ich danach gefahndet, was nach den eindrücklichen Begebenheiten, den mitunter atemberaubenden Reiseepisoden und den spektakulären Funden aus den einst in entlegenen Weltregionen gesammelten Tieren und Pflanzen später geworden ist – neben den abgezogenen Bälgen von Vögeln, den Schädeln und Knochen von Säugetieren auch den Manteltieren und Weichtieren, den Korallen und Käfern oder aus seinen vielen Herbarbelegen. Ich wollte wissen, wie sie zuerst an Bord der Rurik gelangten, dann in Museen verbracht wurden und was dort mit ihnen geschah; welche Wege die durch sie generierten Erkenntnisse anschließend nahmen – und warum diese Naturalien, deretwegen Chamisso vor allem ausgezogen war, am Ende in ebendiesen Museumssammlungen doch wieder in Vergessenheit gerieten. Dabei sind es gerade solche Naturalien der Weltreisenden, die nicht nur die wahre Geschichte der Naturgeschichte erzählen, sondern die überdies die Geschichte der Naturerforschung wahr werden lassen.

Meine Spurensuche führte in Berlin vom Museum für Naturkunde in die weitläufigen Magazine der Staatsbibliothek am Potsdamer Platz, ebenso in weitere Bibliotheken in Berlin und anderswo – bis schließlich zu den Magazinen der Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg. Auf kuriose Weise haben ausgerechnet in der russischen Metropole, wo einst die Fahrt der Rurik begann und endete, große Teile seiner Pflanzensammlung beinahe gänzlich unbeachtet überdauert – ein bis heute nicht gehobener Schatz, zudem ein stark gefährdeter.

Gleichfalls über viele Jahrzehnte weitgehend unberührt hatte auch der beinahe vollständige schriftliche Nachlass Chamissos in der Staatsbibliothek in Berlin gelegen. Nicht einmal eine Handvoll Literaturwissenschaftler haben von jenen 35 grünen Archivkästen gewusst oder diese gar genutzt, in denen zahllose Familienbriefe, Studienhefte und Notizbücher, Manuskripte und andere Handschriften Chamissos verwahrt werden. Zu diesem Schatz zählte lange auch die Urschrift (oder genauer gesagt: eines der beiden überlieferten Autographe) jener phantastischen Novelle, die wir heute als Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte kennen. Vor allem aber bergen diese Kästen Chamissos originale Tage- und Notizbücher seiner Reise mit der Rurik – ein literarisches Vermächtnis, das wir in den vergangenen Jahren endlich im Rahmen jenes erwähnten interdisziplinären, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Forschungsprojekts erschlossen haben. Vor allem die minutiös transkribierten und editierten Weltreisetagebücher Chamissos liegen nun, zwei Jahrhunderte nach ihrer Entstehung, dieser Biographie Chamissos zugrunde.

Diese Tagebücher sind für Experten nicht weniger als eine kleine Sensation – Echtzeitdokumente wie etwa auch die Reiseaufzeichnungen Alexander von Humboldts. Denn damit halten wir die ursprüngliche und wahrhaft authentische Quelle auch von Chamissos naturkundlichem und literarischem Werk in den Händen, sofern es sich aus seiner Weltreise speist. Mit der authentischen Stimme des Beobachters vor Ort berichtet Chamisso nicht nur von einer Fülle naturkundlicher Phänomene. Wir erfahren – buchstäblich am Rande seiner vielfältigen Aufzeichnungen während der Weltreise – etwa von den erdumspannenden Folgen einer einschneidenden Kurzklimakatastrophe der Neuzeit. Auch bezeugt Chamisso darin den Anfang vom Ende indigener Völker an den Küsten und auf den Inseln des Pazifiks. Seine Reisenotizbücher repräsentieren Naturforschung »in the making«, indem sie einen seltenen Einblick in die alltägliche und fortschreitende »Erfahrung« (im doppelten Sinn des Wortes) einer außereuropäischen Fremde gewähren. Sie führen uns damit nicht nur exemplarisch den Prozess naturkundlicher Forschung und Erkenntnisproduktion vor Augen; sie zeigen auch, wie diese bei Chamisso unweigerlich zur Befragung der eigenen Lebenswelt führte.

Fremdes Land Vergangenheit

Damit gelingt es schließlich, Chamisso neu zu entdecken – als Vermittler und Grenzgänger zwischen Literatur und Naturforschung, als einen der wenigen Dichter deutscher Sprache, die für sich beanspruchen können, die Welt im Wortsinn erfahren zu haben. Chamisso ist einerseits Zeitzeuge jener sogenannten Sattelzeit der Jahrzehnte um 1800. Wie im ersten Teil des Buches leitmotivisch angelegt, verknüpfen und kreuzen sich seine Lebenslinien unsichtbar mit denen Napoleons, werden von dessen Aufstieg und Fall sowie den daraus sich entwickelnden weltgeschichtlichen Folgen wegweisend vorgezeichnet. Andererseits lernen wir Chamisso als eine Geistesgröße kennen, deren vielfältige Zeugnisse sich endlich in der Zusammenschau sehen lassen. Chamisso gleicht darin dem bisher weitaus populäreren Alexander von Humboldt, dessen vielbändige Reisetagebücher seiner gemeinsam mit Aimé Bonpland durchgeführten Reise nach Süd- und Mittelamerika 1799 bis 1804 in einem ähnlichen Transkriptions- und Editionsprojekt erschlossen werden (das indes ungleich aufwendiger ist und sich noch über Jahre erstrecken wird).

Über die Person und das Beispiel Chamisso hinaus relevant und wichtig – weil von allgemeiner Bedeutung – ist, dass die Wiederentdeckung seiner Naturaliensammlung exemplarisch dafür angesehen werden kann, wie sich Zeitgenossen und mit ihnen auch nachfolgende Generationen unsere Welt erschlossen haben. Weit mehr noch als jene lange aus dem Blick verschwundenen Illustrationen des Malers Ludwig Choris legen nun Chamissos wiederentdeckte literarische wie naturkundliche Materialien und Dokumente beredtes Zeugnis davon ab, wie dieser aus Frankreich stammende deutsche Dichter – an Bord eines russischen Expeditionsschiffes als einer der wenigen seiner Epoche die Erde umrundend und den Pazifik erkundend – ein einzigartiges Bild jener fernen Welt und einer längst vergangenen Zeit entwirft.

Dieselben Materialien zeugen zudem davon, welche Vorstellungen Europäer nach und nach von den Menschen und anderen Lebewesen in ihnen lange unbekannt gebliebenen Erdregionen entwickelten. Durch ihre Art der Wahrnehmung wie auch ihre Darstellung in den Reiseberichten und Forschungsarbeiten haben Weltumsegler wie Adelbert von Chamisso die Welt von damals abgebildet und eingefangen. Sie haben damit letztlich auch unser heutiges Weltbild mitgestaltet.

Und durch sie tauchen wir wieder ein in eine längst vergangene Welt, kommen deren längst verschwundenen Bewohnern nahe. Es ist dies die einzige Art der Zeitreise, die uns je vergönnt sein wird; eine Zeitreise in jenes fremde Land mit anderen Regeln, das die Vergangenheit letztlich immer für uns sein wird.[12]

Teil Eins – In Humboldts Stiefeln

»Ich habe, so weit meine Stiefel gereicht, die Erde, ihre Gestaltung, ihre Höhen, ihre Temperatur, ihre Atmosphäre in ihrem Wechsel, die Erscheinungen ihrer magnetischen Kraft, das Leben auf ihr, besonders im Pflanzenreiche, gründlicher kennen gelernt, als vor mir irgend ein Mensch. Ich habe die Tatsachen mit möglichster Genauigkeit in klarer Ordnung aufgestellt in mehrern Werken, meine Folgerungen und Ansichten flüchtig in einigen Abhandlungen niedergelegt.«

Adelbert von Chamisso, Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte (1814)

Erstes Kapitel

»Ich habe die Erde gründlicher kennen gelernt, als vor mir irgend ein Mensch.«Wie ein Sommer auf dem Land bei derer von Itzenplitz das Leben Chamissos verändert und ihn zum ersten Mal auf Weltreise gehen lässt

»Wer mich teilnehmend auf der weiten Reise begleiten will, muss zuvörderst erfahren, wer ich bin, wie das Schicksal mit mir spielte und wie es geschah, dass ich als Titulargelehrter an Bord des ›Rurik‹ stieg.« – Diese Worte Adelbert von Chamissos, sein Reisetagebuch einleitend, gingen mir nicht aus dem Kopf, als ich an einem wolkenverhangenen Tag kaum eine Stunde von Berlin entfernt in die weite Ebene gelangte, mit dem Fluss ganz im Osten – ins Oderbruch. Noch lagen Reste des letzten Schnees in den Furchen der Äcker und in Winkeln, wo die spärliche Frühlingssonne sie nicht erreicht hatte. Südöstlich von Bad Freienwalde und einige Kilometer weiter hinter dem Ort Wriezen erreichte ich das Ziel meiner kleinen Exkursion: das Dörfchen Kunersdorf, von dem weithin sichtbar zuerst die kuppelbedachte Kirche auftauchte.[13]

Wer auf den Spuren Chamissos wandeln wolle, der müsse nach Kunersdorf im Oderbruch fahren, hatte man mir empfohlen. Natürlich war ich neugierig auf diesen Genius Loci, den literarisch-historischen Ort, in den sich seinerzeit, kaum eine Tagesreise von Berlin entfernt, Chamisso im späten Frühjahr 1813 geflüchtet hatte. Nachdem die Heere Napoleons einmal mehr durch Europa marschiert waren, hatte man endlich begonnen, sich von seiner Herrschaft zu befreien. Um in diesem Krieg gegen den französischen General und Kaiser nicht zwischen die Fronten zu geraten, verbrachte der geborene Franzose und Wahlpreuße auf Anraten und Vermittlung wohlmeinender Freunde einen Sommer auf dem Land. Und schrieb seine phantastische Novelle Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte.

Ich wollte den Geburtsort dieser Geschichte kennenlernen, mit der sich Chamisso erstmals wenigstens in Gedanken auf Weltreise begeben hatte. Von hier aus hatte er seinen Peter Schlemihl, ausgerüstet mit den sagenhaften Siebenmeilenstiefeln, rund um die Erde geschickt. Kaum aber war ich an jenem trüben Tag in das Dorf mit seinen nicht einmal 200 Einwohnern gelangt, wurde mir klar: Es ist zweifelsohne einer der unwahrscheinlichsten Orte, wenn es um den Startpunkt zu einer großen abenteuerlichen Weltreise geht. Kunersdorf heute ist brandenburgische Provinz par excellence, das diametrale Gegenteil von Weltläufigkeit und Abenteuer; ein gänzlich unscheinbares märkisches Dorf, im Schatten der Geschichte und auch nach der Wende lange kaum verändert. Dabei hat dieser Ort keineswegs immer so weltvergessen vor sich hin gedämmert.

Die Frauen von Friedland

Immerhin hat er eine lange Geschichte. Als »Kunradestorp« oder »Dorf eines Konrads« wird es im Jahre 1343 erstmals urkundlich erwähnt. Im Jahre 1765 wurde das alte Rittergut Kunersdorf verkauft, und der friderizianische General Hans Sigismund von Lestwitz begann, ein Schloss zu bauen, das genau genommen eher ein geräumiges Landhaus war, ein dreigeschossiger, beinahe 40 Meter langer Massivbau mit Mansardwalmdach, Rokokofassade und breiter Freitreppe. Der einzigen Tochter, der 1754 geborenen Helene Charlotte von Lestwitz, wurde nach Heirat und baldiger Scheidung erlaubt, den Namen des einstigen Ehegatten mit dem Namen der vom König vermachten Familiengüter zu vertauschen. Als »Frau von Friedland« übernahm Helene Charlotte 1789 nach dem Tod ihres Vaters jene Friedländischen Güter, zu denen nun auch Kunersdorf mit seinem Herrenhaus gehörte. Weniger dieses, sondern die Frau von Friedland selbst hat bei Zeitgenossen einen tiefen Eindruck hinterlassen. Sie war, wie Theodor Fontane es in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg ausdrückte, »eine seltene und ganz eminente Frau; ein Charakter durch und durch«. Energisch und entschlussfreudig, unabhängig im Geist, vor allem aber durch das Gedankengut der Aufklärung geprägt, versuchte sie, mit der Anwendung neuer Ackerbaumethoden die Erträge ihrer Güter zu steigern. Statt auf traditionellen Frondienst setzte sie auf die Selbständigkeit der Bauern, führte geregelte Lohnarbeit ein, unterrichtete sie in deren Arbeit, wie sie auch deren Kinder zur Schule gehen ließ. Vor allem führte sie fortschrittliche landwirtschaftliche Methoden im damaligen Preußen ein und machte die Friedländischen Güter so zu einem geachteten sozialen Agrarunternehmen, in dem auch mit der Ansiedlung neuer Pflanzenarten in der Forst- und Agrarwirtschaft experimentiert wurde. Für die Entwicklung des Oderbruchs, in dem sich seinerzeit eine blühende Agrarlandschaft ausbreitete, blieb das nicht ohne Folgen. Die »Baronesse von Friedland in der Mark« war mehr als »bloß eine Landwirtin«, vielmehr, nach Urteil eines Zeitgenossen, »eine höchst geistreiche und in allen Dingen unterrichtete Frau«.[14]

Zudem hatte Helene Charlotte auf ihren Friedländischen Gütern erstmals eine systematische Pflanzensammlung angelegt; insbesondere von Gräsern, mittels deren man die Bewirtschaftung der Grünlandflächen zu verbessern suchte. Dazu wurden gezielt Samen von ohnehin im Oderbruch gedeihenden Pflanzen gesammelt. Diese und andere Pflanzen – darunter auch fremdländische Gehölze, deren Nutzungsmöglichkeiten man testen wollte – wurden einst in Kunersdorf in einem eigens dazu von Helene Charlotte von Lestwitz angelegten botanischen Garten kultiviert. Gern hätte ich diesen Garten gesehen. Aber ich wusste, ich würde ihn in Kunersdorf vergeblich suchen. Bei meinem Streifzug durch das Dorf konnte ich mich schnell davon überzeugen, dass unmittelbare Zeugnisse aus der Zeit dieser ersten Frau von Friedland höchst rar sind. Jener botanische Garten, den Chamisso einst in reichem Maße zu nutzen wusste, verschwand bereits in den Jahrzehnten nach seinem Sommeraufenthalt ebenda.

Helene Charlotte starb 1803, nur 49-jährig, an den Folgen einer schweren Erkältung. Die Güter samt Schloss und Garten übernahm ihre 1772 geborene Tochter Henriette Charlotte. Auch sie, die das Erbe ihrer Mutter bewahrte, nannte sich Frau von Friedland. Henriette war im September 1792 zu Kunersdorf mit Peter Ludwig Alexander Johann Friedrich von Itzenplitz vermählt worden, dem sie in den ersten sieben Jahren ihrer Ehe vier Kinder gebar.[15] Auf ihren Gütern setzte sie die fortschrittliche landwirtschaftliche Tätigkeit ihrer Mutter fort, von der sie neben der für die Landwirtschaft auch die Liebe zur Botanik geerbt hatte. Durch Henriette entwickelte sich Schloss Kunersdorf zu einem Treffpunkt bedeutender Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kunst und Politik; nach dem Vorbild der geistig-künstlerischen Berliner Salons, gleichsam als deren ländliche Dependance im Oder-Märkischen. So war zur Zeit Chamissos das Schloss derer zu Itzenplitz als Kunersdorfer Musenhof allgemein bekannt, wenngleich als ein Ort mehr des wissenschaftlichen denn des künstlerischen Austausches.

Die Aufzählung der Besucher aus der preußischen Hauptstadt, die sich hier einst ein Stelldichein gaben, liest sich wie ein »Who’s who« der Berliner klassischen Zeit. Unter den Gästen waren etwa die Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt; aber auch Albrecht Daniel Thaer, der als Begründer der Landwirtschaftslehre gilt. Dieser siedelte sich, auf Betreiben der Eheleute von Itzenplitz, im Jahre 1804 auf dem Kunersdorf benachbarten Rittergut Möglin an, wo er kurz darauf ein landwirtschaftliches Lehrinstitut begründete, in dem Hunderte Landwirte wissenschaftlich ausgebildet wurden. Und über Fragen der Bewirtschaftung von Gütern wie das derer von Itzenplitz stand Thaer im engsten Kontakt vor allem mit Henriette Charlotte. Ihn beeindruckten nicht nur deren botanisches Interesse und ökonomische Kompetenz; vielmehr sei sie, so urteilte er, versierte Gutsherrin, Gelehrte und Frau von Welt. In den Quellen wird Albrecht Thaer mit den Worten zitiert: »Die Frau besorgt die ganze Wirtschaft, … studiert, schreibt in allen Sprachen, korrespondiert mit den größten Gelehrten in Europa über die verschiedenartigsten Gegenstände, erzieht ihre Kinder, … kennt alle Menschen in der Hauptstadt und im Lande und ist unter ihnen wie die alltäglichste Weltfrau.«

Dass Chamisso in Kunersdorf erscheint, verdankt er seinem Mentor am Zoologischen Museum in Berlin, bei dem er studiert. Der Mediziner und leidenschaftliche Zoologe Martin Hinrich Carl Lichtenstein, Afrika-Reisender und erster Professor auf dem Lehrstuhl für Zoologie an der Universität in Berlin, spielt in Chamissos Leben ohnehin eine Schlüsselrolle. Er ist im damaligen Berlin, wie wir heute sagen würden, sehr gut vernetzt und auch dem Hause derer von Itzenplitz freundschaftlich verbunden. Lichtenstein empfiehlt Chamisso, den talentierten und an Botanik höchst interessierten Studiosus der Naturwissenschaften, als Hauslehrer nach Kunersdorf. Und es dürfte wohl die Frau von Itzenplitz gewesen sein, die an seinem Kommen Interesse gehabt hat; obgleich wir darüber bei Chamisso selbst leider so gar nichts erfahren. Dabei kann ich mir angesichts ihrer Charakterisierung kaum vorstellen, dass Henriette Charlotte keinen starken Eindruck auf ihn gemacht hat. Während ich durch Kunersdorf wanderte, rätselte ich, warum sie wohl keine weitere Erwähnung bei Chamisso findet.[16] Und als ich dort zurück zum einstigen Schlosspark ging, fiel mir ein kurioser Umstand auf. In Chamissos Erzählung des Peter Schlemihl wird dieser als Graf Peter in die Geschichte eingeführt; hier dürfte Chamisso doch bestimmt seinen Gastgeber, jenen Peter Alexander von Itzenplitz, im Sinn gehabt haben, der tatsächlich 1815 zum Grafen erhoben wurde. In den Schriften der Literaturkundigen finde ich dazu allerdings nichts (obgleich sich die einschlägige Forschung ansonsten, so kommt es mir vor, wohl allen nur erdenklichen Aspekten der Schlemihl-Geschichte gewidmet hat).

Der leibhaftige Peter von Itzenplitz schreibt, ganz tätiger Gastgeber, in einem Brief am 3. Juni 1813 an den dortigen Landrat: »Seit etwa 3 Wochen hält sich zu Cunersdorf der jetzt zu Berlin als Student domilizierende geborene französische Untertan Ludwig Carl v. Chamisso auf.« Seit Oktober des Vorjahres sei er auf der Berliner Universität eingeschrieben; »sein Studium sind Naturwissenschaften, insbesondere Botanik«. Offenbar firmierte Adelbert von Chamisso seinerzeit unter anderem als dem uns heute geläufigen Vornamen. Mag er in Kunersdorf auch als Hauslehrer fungiert haben, Chamisso kam keineswegs als Dichter, sondern vornehmlich in Sachen Botanik. Dass er hier der Pflanzenkunde auch seine erste fachkundliche Veröffentlichung widmet, ist dabei kein Zufall.

Des Botanikers lebendes Gedächtnis

Für Chamisso ist das Itzenplitzer Landgut alles andere als ein einsamer Verbannungsort weitab in märkischer Einöde. Der erwähnte Albrecht Thaer lässt uns wissen: »Cunersdorf ist fürstlich. Der Garten gehört unter die schönsten, die ich gesehen. Da sind Pflanzungen von amerikanischen Bäumen, die viertel Meilen im Umfang haben und die herrlichste Vegetation, da es an das fruchtbare Oderbruch grenzt. Überdem ein beträchtlicher botanischer Garten, der 1800 Pflanzen enthält. In dem großen Saale ist ein unschätzbares Herbarium, welches aus vielem Zusammengekauften und dem, was die Itzenplitzen in England gesammelt hat, zusammengesetzt ist. Dabei eine höchst vollständige botanische Bibliothek.«

Über den eigentlichen Grund, der Adelbert von Chamisso nach Kunersdorf bringt, gibt er später im Brief an einen Freund selbst Auskunft; es liest sich beinahe, als wäre es ein Stück aus einem Märchen: »Nun fand sich eben zu der Zeit, dass ein reicher Edelmann, der Lust an der Botanik hat und sieben Meilen von hier im schönen Oderbruch Pflanzungen amerikanischer Bäume, einen botanischen Garten, ein Herbarium, eine Bibliothek und mehrere Millionen Güter besitzt, sich nach einem jungen Gelehrten umsah, der die Hand an dieses alles den Sommer über legte. Ich ward hinbefördert, angekündigt als ebenbürtiger Gast und Liebhaber der Botanik zu dem Herren von Itzenplitz. Ich widmete da in freundlicher Umgebung unter guten Leuten meinen Sommer ausschließlich der Botanik, und es ward mir so wohl, als ich immer nur sein konnte.«

Chamisso lebt in Kunersdorf nach »keiner andren Uhr, keinem andern Kalender, als den Blumen«, wie er in einem Brief schreibt; und dass er sich »allein mit Botanik« beschäftige, »wozu ich die herrlichsten Hülfen habe«. Mit dem langjährigen Itzenplitzer Obergärtner Friedrich Walter hat er einen ausgewiesenen Fachmann in der Pflanzenkunde zur Seite. Walter hatte bereits gemeinsam mit Helene Charlotte die Pflanzensammlung aufgebaut. Dank der Verbindung zu dem Botaniker und Apotheker Carl Ludwig Willdenow – der in Berlin auch der botanische Lehrmeister des jungen Alexander von Humboldt gewesen ist und Professor für Naturgeschichte am Mediziner-Collegium in Berlin – gelangten für die damalige Zeit ungewöhnliche botanische Besonderheiten nach Kunersdorf. Diese wurden im Garten und auf dem Gut kultiviert, während man die botanisch relevanten Teile der Pflanze zudem in einem Herbarium sammelte. Zwischen Stöße von Papier gelegt, auf diese Weise zugleich getrocknet und gepresst, dienen die Pflanzen eines Herbars als Nachweis und Beleg. Wie in einem Buch, das man nicht schreibt, sondern darin gleichsam Erinnerungen und Wissen sammelt, kann der Botaniker nachschlagen und vergleichen; so weiß er, was ihm bereits begegnet ist und was er schon kennt.

Das Herbarium sei »des Botanikers lebendiges Gedächtnis«, wird Chamisso später einmal schreiben, »darin lieget ihm zu jeder Zeit die Natur zur Ansicht, zu Vergleichung, zur Untersuchung vor«. Er selbst hatte im Frühjahr 1812, als ihn sein zielloses Herumvagabundieren an den Genfer See verschlug (wo er eine höchst unproduktive Zeit verbrachte), mit dem Botanisieren angefangen und dabei auch recht bald ein erstes Herbarium angelegt. Bäuchlings auf einer Bergwiese hatte Chamisso damals gleichsam Trost bei den Pflanzen gefunden; seine Untätigkeit wich in den Sommermonaten einer neuen Leidenschaft – eben dem Herbarisieren. Plötzlich begeisterte er sich nicht nur für die Botanik, sondern entschloss sich zum Studium der Naturwissenschaften.

Die Geschichte hält hier eine – überdies auch noch verräumlichte – Duplizität bereit. Denn nicht weit von seiner Geburtsstadt Genf entfernt hatte der als Philosoph bekannte Jean-Jacques Rousseau in einem ebenfalls unruhigen Lebensabschnitt Halt im Botanisieren gefunden. »Ich verdanke mein Leben den Pflanzen«, schrieb dieser, »nicht wirklich, aber sie haben es mir ermöglicht, im Strom des Lebens weiter zu schwimmen und nicht unterzugehen von Bitterkeit beschwert.«[17] Weiter schrieb er, und man könnte meinen, hier zugleich Chamisso zu hören: »Meine Situation war insofern eine glückliche, weil ich wenig wusste, alles schien mir neu, und ich war offen, neue Kenntnisse zu erwerben.« Wie jeder gute Botaniker bis heute begann Rousseau bald, seine erste systematische Sammlung getrockneter Pflanzen anzulegen. Zwar welken diese, ihre Farbe verbleicht und ihr Duft vergeht; aber als Herbarbeleg halten sie Erinnerungen an schöne Stunden fest und bewahren ein Stück Natur. »Mein Herbar ist das Tagebuch meiner Wanderungen«, so Rousseau. »Ich sehe wieder alles vor mir: Wiesen, Wasser, Wälder, Einsamkeit, und vor allem verspüre ich den Frieden und die Ruhe, die über ihnen weilte, und dieses ›Je voudrais que cet instant durat toujours!‹«; der Wunsch, dass dieser Moment für immer andauern möge.

Über diese neu entdeckte Leidenschaft zum Pflanzensammeln verfasste Rousseau, Schriftsteller, der er nun einmal war, für eine Freundin didaktisch angelegte botanische Lehrbriefe. Diese erschienen erstmals vier Jahre nach seinem Tod 1781 in Paris und wurden als Lettres élémentaires sur la botanique weithin bekannt; es gibt sie bis heute zu lesen. Rousseau nahm die Gewächse sinnlich wahr, wollte von ihrem Liebesleben erzählen. »Alle wurden eifrige Botanikerinnen; alle wollten des schwärmerischen Glückes theilhaft werden, das aus der Versenkung in die Welt der Pflanzen auf Rousseau’s Seele ausstrahlte«, so ein späteres Urteil. Sein Brieflehrbuch sollte auch diejenigen befähigen, »die niemals eine Pflanze angesehen, diese allein und ohne mündlichen Unterricht zu studieren«, hoffte Rousseau, der damit zugleich auch zum Wegbereiter populärwissenschaftlicher Literatur wurde. Nicht nur in Frankreich sorgte dieser heitere Botanikunterricht bald für breite Begeisterung, die reiche Adelige, Bürger und Bürgerinnen für Gärten und botanische Ausflüge schwärmen ließ. Auch Johann Wolfgang von Goethe empfahl »diese allerliebsten Briefe, in denen er die Botanik auf das Faßlichste und Zierlichste einer Dame vorträgt; es ist recht ein Muster, wie man unterrichten soll«.[18]

Chamisso war ohnehin ein früher Verehrer Jean-Jacques Rousseaus. Bereits während seiner Zeit als kaum 18-jähriger Fähnrich bei der preußischen Armee in Berlin hatte er seit 1799 begonnen, sich mit dessen philosophischen Schriften auseinanderzusetzen; zwar war es kein ernsthaftes Studieren, doch machte er sich viele Gedanken des Genfers zu eigen. Jetzt entdeckte Chamisso auf den Spuren des botanisierenden Philosophen auch an sich diese ganz neue Seite. Ganz ähnlich wie dem zunehmend unter Verfolgungswahn leidenden Rousseau die Welt der Blumen zum »einzigen Asyl« wurde, wie er einmal sagte, half das Botanisieren in den Schweizer Bergen auch Chamisso über eine Zeit der Ziellosigkeit und Leere hinweg. Blatt für Blatt, gepresst und sauber klassifiziert, füllte sich das erste Herbarium Chamissos. Sein »Heu«, wie er es nannte, konnte sich bereits sehen lassen, als er im August 1812 den Genfer See verließ. »Ich hatte sehr anspruchslos Pflanzen zu trocknen angefangen. Nun zählt mein Herbarium bald tausend Gattungen und nun fängt es an, als eine Habe mir zu erscheinen.«

Kaum ein Jahr darauf weiß Chamisso dann in Kunersdorf auch das Herbarium der Frauen von Friedland zu schätzen. Dieses Herbar taucht später nochmals bei Theodor Fontane auf, als der ein halbes Jahrhundert nach Chamisso bei seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg auch Schloss Kunersdorf besucht. Fontane berichtet, dass Chamisso hier während der Zurückgezogenheit eines Sommers mit dem Anlegen eines Herbariums beschäftigt war, »das einerseits die Flora des Oderbruchs, andererseits alle Garten- und Treibhauspflanzen des Schlosses enthalten sollte«; eine Aufgabe, der sich dieser »mit gewissenhaftem Fleiß« unterzog, wie Fontane feststellt; bevor er anmerkt: »das Herbar Chamissos ist noch vorhanden«. Zwar war es nicht wirklich Chamissos Herbar, wie wir jetzt wissen; vielmehr das der Frauen von Friedland. Fontanes Hinweis auf deren wertvolle Kunersdorfer Pflanzensammlung, zu der dann auch Chamisso seinen Teil beigetragen hat, ist indes der letzte. Nach dem Tod des Gärtners Friedrich Walter (er starb 1855) ging das Herbar in den Besitz des Itzenplitzer Erben; und der schenkte es später der Universität Straßburg, wie die verfügbaren Quellen noch verraten. Damit aber verliert sich dessen Spur – und mit ihm wie so oft ein bedeutendes naturkundliches Zeugnis.[19]

Immerhin enthielt das Kunersdorfer Herbarium nicht weniger als 1735 Arten, Formen und Sorten von wild lebenden und kultivierten Pflanzen des Oderbruchs. Dass wir das trotz des Verlustes so genau wissen, ist einer entsprechend sorgfältigen botanischen Inventur zu verdanken, an der Chamisso während jenes Landaufenthalts im Sommer 1813 mitarbeitete. Seinerzeit noch unter der ersten Frau von Friedland hatte ihr Obergärtner Friedrich Walter gemeinsam mit dem Berliner Botaniker Carl Ludwig Willdenow damit begonnen, ein – so der Titel – Verzeichnis der auf den Friedländischen Gütern cultivierten Gewächse anzulegen. Es wurde erstmals Anfangs 1804 gedruckt und dann später noch zweimal neu aufgelegt und dazu entsprechend bearbeitet. Als Walters Kunersdorfer Pflanzenverzeichnis im Februar 1815 in der dritten Auflage erschien, steuerte Chamisso einen Anhang bei – seine Adnotationes quedam ad Floram Berolinensem C.S. Kunthii, übersetzt so viel wie »Bemerkungen, nämlich zur Berlinischen Flora von C.S. Kunth«. Diese auf dreizehn Seiten zusammengefassten Anmerkungen, die er – wie sämtliche andere seiner Fachpublikationen und entsprechend der damaligen Konvention wissenschaftlichen Arbeitens – in lateinischer Sprache verfasst, sind Chamissos erster botanischer Aufsatz, seine erste wissenschaftliche Abhandlung überhaupt.[20]

Chamissos Zusätze und Anmerkungen zur Berliner Flora zeigen, dass er sich in Kunersdorf vor allem mit Wasserpflanzen beschäftigt, mit Vertretern der nicht eben seltenen Gattung des Laichkrauts Potamogeton und des Nixenkrauts Najas. Diese kommen auch in Berlin und in der Umgebung der Oder vor; selbst im kleinen Schlossteich des Landgutes dürften sie zu finden gewesen sein. »Die untergetauchten Arten des Potamogeton«, berichtet Chamisso, »streben mit ihren Befruchtungsorganen in die Luft, um Verlobung zu feiern.« Und am Laichkraut beobachtet Chamisso ein uns heute wohlvertrautes und weit verbreitetes Phänomen zahlloser Lebewesen – die natürliche Variabilität. Dass bei vielen Pflanzen und Tieren beinahe jedes Individuum etwas anders aussieht, macht es Naturforschern bis heute schwer, die einzelnen nächstverwandten und sich ähnelnden Arten gegeneinander abzugrenzen. Dadurch »scheinen die Potamogeton-Arten oft in andere Arten überzugehen und verspotten den Forscher, indem sie den Habitus einer fremden Art vortäuschen«, notiert Chamisso.

Dann holt der junge Studiosus zu einer allgemeinen Überlegung von einiger Tragweite aus. »Wer leugnet, daß den Arten von der Natur Konstanz verliehen wird und einen Übergang aus irgendeiner Art in alle zu sehen behauptet, könnte aus den Laichkräutern bequem Beweise für seine Meinung heraussuchen. Wir aber sind überzeugt, daß es konstante Arten gibt.« Hier, bei einer der wohl wichtigsten grundsätzlichen Fragen der Naturforschung am Beginn des 19. Jahrhunderts, nämlich der nach Konstanz oder Wandelbarkeit von Arten, folgt Chamisso der damals noch vorherrschenden Ansicht, dass Arten in der Natur nicht veränderlich sind. Es sollte noch beinahe ein halbes Jahrhundert vergehen, bis schließlich mit dem britischen Naturforscher Charles Darwin dieses scheinbar gesicherte Wissen ins Wanken gerät. Doch nicht etwa, dass Chamisso dies am Laichkraut nicht erkannte, gilt es hier zu bemängeln; bemerkenswert ist vielmehr jenes Selbstvertrauen, mit dem der junge Botaniker bereits allgemeine Schlüsse aus seinen alltäglichen Beobachtungen zieht.

Neben solcherlei botanischer Betätigung schreibt Chamisso in Kunersdorf dann auch, »ich weiß nicht wie, ein Buch, und zwar ein ganz fabelhaftes«: seine wundersame Geschichte des siebenmeilengestiefelten Peter Schlemihl.

Der wundersame Peter Schlemihl

»Sieben Meilen von hier im schönen Oderbruch …«, notiert Chamisso in einem Brief im Frühjahr 1813; und meint die Entfernung von Berlin, sieben preußische Landmeilen, knapp 53 Kilometer. Die sieben Meilen der deutschen Märchen und Sagen, die mit Schlemihls Siebenmeilenstiefeln zugleich die Schrittlänge seiner phantastischen Weltreise vorgeben, verschmelzen bei Chamisso ganz ohne Zweifel mit jener Distanz, die er nach Kunersdorf zurücklegte. Selbst bei den Siebenmeilenschritten vermischt Chamisso in ganz eigener Weise das Reale mit dem Phantastischen, nutzt er die ihm bekannte Wegstrecke nach Kunersdorf gleichsam als das normierte Maß für märchenhafte Erkundungszüge rund um die Erde.

Mein kurzer Rundgang durch Kunersdorf hat mich an jenem Tag schließlich auch dorthin geführt, wo sich Schloss und Park einmal befanden. Weder vom einstmals prächtigen Landsitz noch von dem Park ist etwas übrig geblieben. Den Park fand bereits Fontane in anderem Gewand vor; denn im Jahr 1830 wurde er umgestaltet. »Eine Einfahrt von der Dorfgasse her bildet zugleich die Scheidelinie zwischen den ausgedehnten Wirtschaftsgebäuden zur linken und den Wohngebäuden zur rechten Seite. Das Schloß ist in jenem Stil gebaut, der damals in der Mark ausschließlich Geltung hatte und am richtigsten als ›verflachte Renaissance‹ bezeichnet worden ist. Ein Erdgeschoß, eine Beletage, eine Rampe, ein geräumiges Treppenhaus, ein Vorflur, dahinter ein Gartensalon und von dem Salon aus ein Blick in den Park. Das Ganze breit, behaglich, gediegen«, lesen wir bei Fontane.

Hier, in den stilvoll möblierten und dekorierten Räumen, vielleicht im Bibliothekszimmer des Hauses, am offenen Fenster mit Blick auf den schönen Park, lässt sich Chamisso denken, wie er in seinen Mußestunden die Geschichte des Peter Schlemihl beginnt. Er selbst hat später nur wenig zur Entstehung der Märchenfigur und des Schattenmotivs erklärt. Unverkennbar aber, dass sich seine kreative Energie an der Kunersdorfer Atmosphäre entzündet hat. Heute zeugt weder etwas Authentisches von Chamissos Aufenthalt im Sommer 1813 noch tragischerweise überhaupt vom historischen Adelssitz derer von Itzenplitz. Zwar steht am Zuweg zum Parkeingang, linker Hand hinter dem ehemaligen Eingangstor zum Gut, eine kräftige Linde; jener gleich, unter der Chamisso gesessen haben soll, glaubt man früheren Berichten. Doch stammt dieser viel zu junge Baum sicher nicht aus dessen Zeit. Immerhin steht in seinem Schatten ein Gedenkstein zu Ehren Chamissos, der dort im Jahre 1988 anlässlich seines 150. Todestages aufgestellt wurde.

Einst soll es im schattenreichen Park einen Chamisso-Platz gegeben haben, und im Schloss selbst soll man dem Besucher früher ein Chamisso-Zimmer gezeigt haben. Das alles aber gehört, wie so vieles in Berlin und der Brandenburger Umgebung, der Geschichte an, seit die Rote Armee mit Ende des Zweiten Weltkriegs unter verlustreichen Kämpfen diesen Teil Deutschlands erreichte und besetzte. Am 17. und 18. April 1945 tobten schwere Kämpfe um Kunersdorf, in deren Wirren und vor allem Nachwehen das Landgut mit Herrenhaus und Park nahezu vollständig zerstört wurde. Als deutsche Soldaten das Dorf fluchtartig verlassen mussten, so berichtet die Ortschronik, haben sie die Gutsgebäude, den Park und die Kirche noch weitgehend unversehrt gesehen. »Ausgebrannt sind diese Gebäude erst, als der Ort längst von sowjetischen Soldaten besetzt war.« Die Gewölbekeller des Herrenhauses und einige erhaltene Räumlichkeiten dienten dann Flüchtlingen als notdürftige Unterkunft.

Das Schicksal des einstmals gerühmten Musenhofs zeigt sich exemplarisch an der wertvollen Friedländischen Bibliothek, die Chamisso einst beste Dienste während der Entstehung seines weltreisenden Peter Schlemihl geleistet haben dürfte. Immerhin befanden sich in ihr allein mehr als 50 Bände Reisesammlungen aller Art und nochmals etwa doppelt so viele Bände über europäische Reisen; zusammen dürften es an die 30000 Bücher gewesen sein. Dass wir das wissen, verdankt sich dem Umstand, dass der in Geldschwierigkeiten befindliche Kunersdorfer Gutsherr Achim von Arnim, der das Gut geerbt hatte, diese Bibliothek laut einem Bericht aus dem Jahr 1932 dem Landkreis Oberbarnim zum Kauf anbot. So wurde die Bibliothek aus dem Schloss Kunersdorf in das Hohenzollernschlösschen im benachbarten Bad Freienwalde überführt.[21] Von dort wurden die Bücher im Februar 1945 vor der herannahenden Front in ein Kinderheim der knapp 30 Kilometer weiter westlich gelegenen Stadt Werneuchen ausgelagert. Geholfen hat dieser Rettungsversuch nichts. »Dort sind vermutlich viele Bände buchstäblich verheizt worden«, berichtet ein Historiker.[22]

Vom Schloss in Kunersdorf selbst blieb unmittelbar nach Ende des Krieges nur eine Ruine, die 1948 abgetragen wurde. Da war das Gut längst enteignet und das Land an die Bauern sowie an Flüchtlingsfamilien vergeben worden. Etwa zwei Dutzend von ihnen blieben und bauten aus dem Ziegelwerk und Abbruchmaterial des einstigen Schlosses eine neue, höchst schmucklose Siedlung aus giebelständigen Wohnstallhäusern; so schließt mein Ortsführer dieses traurige Kapitel der Kriegs- und Nachkriegszeit, die Kunersdorf seitdem unübersehbar ihren Stempel aufgedrückt hat.

Als nicht weniger deprimierend empfand ich bei meinem Besuch den Anblick des heutigen Parks und des verlandenden kleinen Teiches in seiner Mitte. Das lag indes nicht nur am Wetter. Der einstmals viel gelobte Garten hat unmittelbar nach dem Krieg schweren Schaden genommen, als zuerst die Bäume abgeholzt wurden und ihn dann ein Hochwasser schwer in Mitleidenschaft zog. Die den Park und seine früheren Sichtachsen schräg zerschneidende Landstraße, die man später mitten hindurchführte, und die LPG-Landwirtschaft der nachfolgenden Jahrzehnte taten ein Übriges, das Kernstück eines historischen Dorfensembles zu überschreiben.

Etwas tröstet mich, dass sich dort in Kunersdorf Chamisso-Liebhaber vor Ort und aus Berlin mit viel Engagement darum bemühen, die Erinnerung an ihn und die Geschichte des einstigen Musenhofes der Frauen von Friedland lebendig zu halten. Bevor ich zurückfuhr, besuchte ich im wiedererrichteten ehemaligen Gesinde-Wohnhaus des Schlosses gleich neben der Kuppelkirche den neuen Kunersdorfer Musenhof. In der alten Dependance ist heute ein kleines Chamisso-Literaturhaus nebst Ausstellung zu Leben und Werk des Dichters untergebracht; hier belebt die Chamisso-Gesellschaft die alte Tradition der literarischen Zusammenkünfte wieder.

Aufgebrochen, Aura und Atmosphäre des Genius Loci zu erkunden, kehrte ich eher enttäuscht aus Kunersdorf zurück. Allzu gewaltig haben der Zahn der Zeit und die Dramatik der jüngsten Geschichte die Spuren Chamissos und seiner Zeit getilgt. Welche Ironie: »Vielleicht gibt es bessere Zeiten, doch diese ist die unsere«, lautete die Inschrift der steinernen Sonnenuhr, die einzig vom Kunersdorfer Schloss übrig geblieben ist.

Noch einige Zeit nach der Rückfahrt kreisten meine Gedanken um das einstige Landgut als Geburtsort und zugleich Kulisse von Chamissos Erzählung des Peter Schlemihl – jenem gelehrigen Schüler Carl von Linnés, der leichtsinnig seinen Schatten dem Teufel verkauft und dafür, als Außenseiter geächtet, büßen muss. Bereits ein flüchtiger Blick in die Novelle zeigt, dass sich Chamisso darin gleich in mehrfacher Weise selbst beschrieben hat. »Durch frühe Schuld von der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen, ward ich zum Ersatz an die Natur, die ich stets geliebt, gewiesen, die Erde mir zu einem reichen Garten gegeben, das Studium zur Richtung und Kraft meines Lebens, zu ihrem Ziel die Wissenschaft.« In diesen Zeilen sind Schlemihl und Chamisso tatsächlich identisch. Literaturforscher haben auf die biographischen Bezüge Adelbert von Chamissos zu seiner Phantasiefigur des Peter Schlemihl vielfach hingewiesen; auch darauf, dass sich im Schlemihl Erfindung und Wirklichkeit ständig abwechseln. Das macht bereits die konstruierte Rahmenhandlung klar, die Chamisso in die ländliche Kulisse des Oderbruchs einbettet, indem er sein Vorwort mit Ort und Datum, »Kunersdorf, den 27sten September 1813«, unterschreibt. »Noch ein Wort über die Art, wie diese Blätter an mich gelangt sind. Gestern früh bei meinem Erwachen, gab man sie mir ab.« Ein gewisser Peter Schlemihl habe, »aus Berlin zu kommen vorgegeben«, sich auf dem Landgut nach ihm erkundigt und diese Papiere für ihn hinterlassen.[23]

Chamisso macht sich nicht nur selbst zum Teil der traurig-schönen Geschichte, indem er diese mit Schlemihls Worten ausklingen lässt: »Und Dich, mein lieber Chamisso, hab’ ich zum Bewahrer meiner wundersamen Geschichte erkoren.« Auch äußerlich gleicht die Gestalt des Schlemihl seinem Schöpfer buchstäblich bis aufs Haar. Von einem wunderlichen Mann lesen wir da eingangs, der zwar einen langen grauen Bart trug; doch dann erkennen wir Chamisso, der »eine ganz abgenützte schwarze Kurtka an hatte, eine botanische Kapsel darüber umgehangen, und bei dem feuchten, regnerischen Wetter Pantoffeln über seinen Stiefeln«. An anderer Stelle seiner Novelle ist zu lesen: »Du hattest ihn nämlich schon, Gott weiß, wo und wann, in einer alten schwarzen Kurtka gesehen, die er freilich damals noch immer trug, und sagtest: ›der ganze Kerl wäre glücklich zu schätzen, wenn seine Seele nur halb so unsterblich wäre, als seine Kurtka‹.« Und in einem Postskriptum zum Vorwort schreibt Chamisso, an einen Freund gerichtet: »Ich lege dir eine Zeichnung bei, die der kunstreiche Leopold, der eben an seinem Fenster stand, von der auffallenden Erscheinung entworfen hat. Als er den Werth, den ich auf diese Skizze legte, gesehen hat, hat er sie mir gerne geschenkt.«

So wie Chamisso die Kleidung und das Aussehen des Schlemihl beschreibt, wirkt dieser am Ende wie er selbst. Tatsächlich schmückte des Dichters eigene karikierte Gestalt in Form einer Zeichnung »nach dem Leben«, aus der Hand des erwähnten Zeichenlehrers Franz Joseph Leopold, das Titelblatt der 1814 erschienenen ersten Druckfassung seiner Novelle; sie fehlt zudem in kaum einer der vielen späteren Ausgaben. Das stilisierte Porträt Chamissos als Peter Schlemihl zeigt uns diesen mit einem von ihm während der Studentenzeit getragenen, eigenartigen geschnürten Waffenrock –eine vorne kurze, hinten mit langen Stößen versehene polnische Husarenjacke –, eben einer Kurtka, die mit Pelz und über der Brust mit gelben Schnüren besetzt ist; dazu auf dem Kopf eine schief aufgesetzte polnische Mütze aus schwarzem Samt und von ganz eigener Form, deren tellerförmiges Dach nachlässig zur rechten Seite herabhängt, einem französischen Barett nicht unähnlich; in den Händen Manuskriptpapier und lange Pfeife samt Tabaksbeutel, die Botanisiertrommel umgehängt.

Vor allem die Kurtka, die um 1809 in Berlin Mode geworden war, wurde zu Chamissos Markenzeichen, zum »Symbol ruhelosen Wanderns, rastlosen Forschens, tiefen Leidens, stillen Glücks, Kleid des Umhergetriebenen, der überall nimmt und gibt, überall und doch nirgends heimisch ist, Zeichen aber auch der Treue zu sich selbst«. Je älter und abgeschabter die Kurtka wurde, je öfter sich vornehme Freunde bei ihrem Anblick entsetzten, desto lieber war sie Chamisso. In dieser Kurtka samt schiefer Mütze zeichnet auch Ludwig Choris ihn später während der Weltumsegelung. Und nicht nur der Kunsthistoriker erkennt, dass sich hier ein Schriftsteller und Naturforscher selbst inszeniert.[24]

Ein märchenhafter Humboldt

Mit der Figur des Schlemihl hat Chamisso in seiner poetischen Beichte jedoch nicht nur sich selbst beschrieben. Das, was er seiner Märchenfigur gleichsam in die Feder diktierte, das traf damals als Beschreibung idealtypisch und einzig nur auf einen weltreisenden Naturforscher zu: auf Alexander von Humboldt. »Ich habe, so weit meine Stiefel gereicht, die Erde, ihre Gestaltung, ihre Höhen, ihre Temperatur, ihre Atmosphäre in ihrem Wechsel, die Erscheinungen ihrer magnetischen Kraft, das Leben auf ihr, besonders im Pflanzenreiche, gründlicher kennen gelernt, als vor mir irgend ein Mensch. Ich habe die Tatsachen mit möglichster Genauigkeit in klarer Ordnung aufgestellt in mehrern Werken, meine Folgerungen und Ansichten flüchtig in einigen Abhandlungen niedergelegt.«

Mit diesen Worten entwirft Chamisso seinen Schlemihl als einen märchenhaften Humboldt. Dieser hatte während seiner Südamerikaexpedition in den Jahren 1799 bis 1804 tatsächlich geographische, geologische, geophysikalische, vor allem auch botanische Forschungen betrieben und darüber in einem ersten, ihn bald berühmt machenden Werk – seinen Ansichten der Natur – berichtet. In vielerlei Hinsicht war Humboldt während der Zeit des sich selbst findenden Adelbert von Chamisso dessen großes Vorbild. Zwar ist er damit nicht allein; doch bei ihm kann man darüber hinaus sagen, dass er sich nicht nur an Humboldt ausrichtete, sondern sich gleichsam als Naturforscher selbst erfinden wollte. Für ein solches »reenactment« war tatsächlich niemand besser geeignet als Humboldt, zweifellos der berühmteste Intellektuelle einer Zeit, die mit Napoleon begann und mit Darwins Werk über die Entstehung der Arten endete. Als Gelehrter von Weltruf und als Prunkstück, mit dem sich der preußische Hof in Berlin schmückte, war es ihm später gelegentlich schwer geworden, »Humboldt zu sein«, wie er einmal schrieb. Andere aber wollten es ihm nachtun, wollten so sein wie dieser reisende Naturforscher. »Der Ruhm ist größer als je«, schrieb Alexander in einem Brief an seinen Bruder Wilhelm, in dem er ihm auch davon berichtet, dass nun selbst der große Napoleon, seiner angesichtig, von einer heftigen Eifersuchtsattacke übermannt wurde.[25]

Der junge Humboldt hatte einst, im Tegeler Wohnsitz der Eltern (den er später als »Schloß Langweil’« titulieren sollte), vor allem die Reiseschilderung Georg Forsters verschlungen. Diesem war es vergönnt, gemeinsam mit seinem Vater, dem Naturkundler Reinhold Forster, auf der zweiten Forschungsreise des James Cook die Welt zu umrunden. Und so wie Forster nach Humboldts eigenem Bekunden »der hellste Stern seiner Jugend« war, so hat sich Adelbert von Chamisso an der Lichtgestalt Humboldt ausgerichtet. Chamisso hatte nicht nur die einschlägigen Schriften von Forster und des Nestors der deutschen Naturforschung gelesen; er kannte Humboldt, der ihm zum Vorbild wurde, auch persönlich, seit er ihm während eines Aufenthalts in Paris Anfang 1810 im Kreis der dortigen deutschen Literaten und Gelehrten erstmals vorgestellt worden war.

Bei meinem Besuch in Kunersdorf wurde mir zudem eine weitere Parallele klar, als ich an Chamissos erste botanische Veröffentlichung dachte, die während seines dortigen Sommer-Intermezzos entstanden war – jene Adnotationes … Floram Berolinensem. Auch Alexander von Humboldt hatte in seinen Anfangsjahren zuerst ein botanisches Werk vorgelegt, seine Florae Fribergensis, mit der er an der ehrwürdigen Bergakademie in Freiberg im sächsischen Erzgebirge seine bergbauliche Ausbildung beendete und in der er 258 Arten von Flechten und Pilzen beschrieb.[26] Dieses frühe botanische Werk Humboldts könnte, so der Gedanke, zusätzliche Motivation für Chamisso gewesen sein, sich bei dem in Kunersdorf angelegten Verzeichnis der Pflanzen der Friedländischen Güter einer bis dahin vernachlässigten Gruppe eher unscheinbarer Pflanzen zu widmen, ebenjenen Laichkräutern.[27]

Zwar wissen wir nicht, welche Kenntnis Chamisso im Einzelnen von Humboldts Werken hatte, da er nirgends direkt auf dessen diesbezügliche Schriften eingeht. Wenigstens einen versteckten Hinweis auf sein Leit- und Vorbild liefert uns Chamisso aber im Schlemihl. Im zweiten Kapitel beschreibt er das kleine Zimmer seiner Märchenfigur, wo diese, »am Arbeitstische zwischen einem Skelet und einem Bunde getrockneter Pflanzen« sitzend, vor sich botanische Werke aufgeschlagen hat, darunter auch solche von Humboldt.[28] Kein Zweifel: Bei Chamisso wird dieser nicht nur zum Vorbild des weltreisenden Schlemihl; vielmehr beschreibt er mit dem gleichsam märchenhaften Humboldt auch sein Wunschbild eines reisenden Naturforschers, der er zu diesem Zeitpunkt gern werden wollte. Einen Botaniker, der von seinen Wanderungen über weite Kontinente und Meere überreiche Sammelausbeute nie gesehener Pflanzenspezies einbringt, wie es ausklingend im Schlemihl heißt. Dieser habe eine Flora universalis terrae