Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace - Matthias Glaubrecht - E-Book

Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace E-Book

Matthias Glaubrecht

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Beschreibung

Der erste Entdecker der Evolutionstheorie und der verwegenste aller Naturforscher. Ein Wissenschaftskrimi um den größten Naturforscher des 19. Jahrhunderts neben Humboldt und Darwin Er hatte ein enorm spannendes Leben, seine wissenschaftliche Reichweite war atemberaubend, sein soziales Engagement legendär – und er entdeckte das Evolutionsprinzip. Verglichen mit dem bedächtigen Charles Darwin war er ein Indiana Jones der Naturforschung und ein Ernest Hemingway der Naturbeschreibung. Nach ihm sind Mond- und Marskrater, Flugfrösche und ganze geographische Regionen benannt. Warum aber ist so einer heute so wenig bekannt?Auf seiner ersten abenteuerlichen Reise erforschte der Schulabbrecher und Autodidakt vier Jahre lang Brasilien – doch bei der Rückreise fing sein Schiff mitten auf dem Ozean Feuer und sank. Wallace rettete nur sein Leben, seine fantastische naturwissenschaftliche Sammlung ging verloren.Seine zweite Expedition führte ihn durch den malaiischen Archipel, wo er im Alleingang 125.000 naturwissenschaftliche Objekte sammelte, über 1000 Tier- und Pflanzenarten davon noch unbeschrieben – eine unglaubliche Leistung. Während der Reise entwickelte er auch eine Theorie über den Ursprung der Arten, die er brieflich an Charles Darwin sandte. Ein Jahr später erschien dessen Buch »Die Entstehung der Arten«, Darwin wurde weltberühmt und gilt seitdem als alleiniger Vater der Evolutionstheorie.Seit einiger Zeit wird in Fachkreisen heftig gestritten: Was für die einen Zufall oder Zeugnis der Zusammenarbeit zweier bedeutender Forscher ist, wird für andere zur übelsten Fälschungsaffäre der Biologiegeschichte. Matthias Glaubrecht geht zum 100. Todestag Wallaces den Fakten und Gerüchten um den unbekanntesten aller Titanen der Wissenschaftsgeschichte nach – das erste Buch über Wallace in Deutschland, ein Augenöffner für den Leser. Das erste deutsche Buch über Alfred Russel Wallace 100. Todestag am 7.11.2013 «Was er ausgesprochen hat, war wahrscheinlich das Einflussreichste was im 19. Jahrhundert gesagt worden ist.» Gregory Bateson

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Seitenzahl: 713

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Matthias Glaubrecht

Am Ende des Archipels

Alfred Russel Wallace

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Matthias Glaubrecht

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungMottoKartenProlog – Verschollene BriefeZur Einführung – Der junge Mann in EileAru. Oder: Am Ende des ArchipelsAnfänge – Die Evolution eines EvolutionistenAm Amazonas – Die erste ExpeditionDie Katastrophe – Londoner ZwischenspielErster Klasse in den Malayischen ArchipelSarawak. Oder: Das Naturgesetz des Wandels»Nichts sonderlich Neues« – Darwins IrrtumVon Bali nach Aru – Die LinieTernate – Das ManuskriptPremiere ohne HauptdarstellerEngland – Der menschliche GeistBiogeographie und Auslese – Der erste DarwinistDas wundervolle JahrhundertDer Mann und seine WirkungEpilog – Verschwundene WälderWallace im Original – Der Sarawak-Essay von 1855Wallace im Original – Der Ternate-Essay von 1858Eine kurze Chronologie der EreignisseDanksagungKommentierte Literatur, Lese- und Website-Empfehlungen zu Alfred Russel WallaceAlphabetisches Verzeichnis der OriginalliteraturTafelteilRechtenachweis
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Für Karen, die endlich angekommen ist

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»Es ist ein gewöhnliches Vorurteil, die Größe des Menschen nach dem Stoffe zu schätzen, womit er sich beschäftigt, nicht nach der Art, wie er ihn bearbeitet.«

– Friedrich Schiller (1759–1805)

»Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr wuchs meine Überzeugung, dass ich schliesslich das langgesuchte Gesetz der Natur gefunden hatte, das die Frage nach dem Ursprung der Arten beantwortet.«

– Alfred Russel Wallace (1905)

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Südlicher Theil des Malayischen Archipel’s mit Herrn Wallace’s Reiserouten

The Rio Negro

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Prolog –Verschollene Briefe

»Dear Sir …«, beginnt der Schreiber in ungelenker Handschrift. Seine wenigen Zeilen, offenkundig schnell und wie beiläufig dahingeworfen, berichten indes von einem ungeheuerlichen Sachverhalt. Er habe vor Jahren schon, nach dem Tod der letzten Erben, ein altes Haus auf dem Land erworben. Nun standen längst überfällige Arbeiten am Dach dieses Hauses an. Als er deshalb begann, den Dachboden der ihm unbekannten einstigen Bewohner zu entrümpeln, fielen ihm alte Briefe und andere vergilbte Papiere in die Hände, bis dahin verborgen in einer offenbar lange ungeöffneten Holztruhe. Darunter seien auch einige gewesen, die auf recht dünnem Papier geschrieben waren, wie man es vor langer Zeit für die Post aus Übersee zu verwenden pflegte. Diese hätten insofern seine Aufmerksamkeit erregt, so der Schreiber, als sie wohl aus der Hand eines gewissen Alfred R. Wallace stammten; zumindest sei dessen Name dort mehrfach zu lesen. Er selbst kenne sich mit diesen Dingen zu wenig aus, doch vermute er, dass man in London durchaus an solchen Briefen und Papieren interessiert sein könnte. Wenn dem so sei, so schließt der Schreiber seine Nachricht, dann möge man diese Fundsachen vom Dachboden doch bitte gelegentlich bei ihm abholen. Hochachtungsvoll.

Das kurze Schreiben ist an George Beccaloni gerichtet, adressiert an das Natural History Museum in London, Cromwell Road, South Kensington – gleichsam das Epizentrum naturhistorischer Forschung seit den Tagen des britischen Empire. Wer immer in England ein Anliegen in Sachen Naturkunde hat, wendet sich dorthin. Dass nun gerade Beccaloni diese handschriftliche Nachricht erhält, ist dabei kein Zufall. Von Haus aus Insektenforscher, arbeitet er als Kurator am Londoner Museum; und seit Jahren ist er in England die treibende Kraft bei allen Aktivitäten in Sachen ebenjenes Alfred Russel Wallace. Nicht nur dessen Insektensammlung hat Beccaloni in sorgfältiger Kleinarbeit wieder zusammengetragen und einen Katalog der von Wallace gesammelten Schmetterlinge erstellt; er hat unlängst auch das Wallace-Korrespondenz-Projekt aus der Taufe gehoben und sich damit vorgenommen, sämtliche Briefe von oder an Wallace zu katalogisieren und zu digitalisieren.

Zwar ist vieles aus dem Briefwechsel von Alfred Russel Wallace bekannt, wenigstens auszugsweise sogar veröffentlicht. Bereits kurz nach seinem Tod wurde ein nicht unerheblicher Teil seiner Korrespondenz abgedruckt, von der sich heute allein 1800 Briefe in der British Library und weitere, mehr als 1200 Briefe und assoziierte Dokumente (wie etwa gestempelte Umschläge) im Natural History Museum in London befinden. Doch vermutlich noch einmal so viele Briefe dürften überall auf der Welt verstreut in weiteren Bibliotheken und Museen liegen – oft unerkannt oder zumindest nicht allgemein zugänglich. All diese Briefe werden zukünftig online gestellt und Forschern und Interessierten weltweit zur Verfügung stehen. Mit diesem Korrespondenz-Projekt hofft Beccaloni aber nicht nur Neues aus dem Leben von Wallace zu erfahren; vor allem will er damit die Suche nach einigen lange vermissten Briefen anheizen, die – so spekuliert er – irgendwo in einer privaten Sammlung oder übersehen und vergessen in einem Archiv die Zeit überdauert haben.

Jahrelang hat George Beccaloni darauf gehofft, jetzt wähnt er sich am Ziel. Und doch kann er kaum fassen, was er dann auf dem Dachboden eines alten englischen Landhauses in den Händen hält. Endlich hat er jenen ominösen Brief gefunden, den Alfred Russel Wallace im März 1858 von der Gewürzinsel Ternate im fernen Malayischen Archipel an den britischen Naturforscher Charles Darwin in England geschickt hat. Mehr noch: In der Holztruhe auf dem Dachboden findet sich auch eines der wichtigsten Dokumente in der Geschichte der Biologie – Wallace’ handschriftliches Manuskript über die Entstehung von Arten, geschrieben auf zwanzig Seiten dünnen Auslandsbriefpapiers. Eine Sensation. Wenn die eben geschilderte Szene tatsächlich geschehen wäre und nicht nur erfunden. …

 

Brief und Manuskript jedoch kennt man leider nicht im Original. Es gibt nur Hinweise auf den Brief, eine Abschrift des Manuskriptes. Immer wieder haben Biographen und Historiker auf den durchaus eigenartigen Umstand hingewiesen, dass ausgerechnet wichtige Teile der Korrespondenz von Alfred Russel Wallace mit Charles Darwin nicht erhalten sind. Amerikanische Wissenschaftshistoriker haben sogar eine Verschwörung unterstellt und vermutet, dass die Urheberschaft an wenigstens einem Teil der vielleicht wichtigsten naturwissenschaftlichen Theorie dem Falschen zugesprochen worden sein könnte. Ihre britischen Kollegen wollen davon meist nichts wissen und sind den immer wieder einmal geäußerten Plagiatsvorwürfen kaum ernsthaft nachgegangen. Darwin vom Sockel zu heben, erscheint angesichts der Faktenlage zu Recht als ein allzu gewagtes Unterfangen.

Man nimmt allgemein an, dass Wallace’ Manuskript und Brief an Darwin wohl verloren gegangen sind; mit gutem Grund, hatte doch Wallace selbst dies noch zu Lebzeiten so vermerkt. Im Korrespondenz-Projekt am Naturhistorischen Museum in London hat George Beccaloni ein Dokument online gestellt, das diesen Umstand erhellt, wenngleich nicht aufklärt. In einem beigen Briefumschlag, der sich später im Nachlass von Alfred Russel Wallace fand, hat dieser die ersten acht Briefe gesammelt, die er einst von Charles Darwin erhalten hatte, während er noch im Malayischen Archipel unterwegs war, wie er in eigener Handschrift auf dem Umschlag vermerkte. Darunter notierte er: »Das Manuskript meines an Darwin gesandten Artikels, gedruckt im Journal der Linnéschen Gesellschaft, wurde nicht an mich zurückgegeben und ist verschollen. Die Druckfahnen mit dem Manuskript könnten vielleicht an Sir Charles Lyell oder den Sekretär der Gesellschaft geschickt wordensein und könnten durchaus eines Tages gefunden werden. Es war auf dünnem Auslandsbriefpapier geschrieben.« Gezeichnet Alfred Russel Wallace.

Doch fanden sich dann später nicht sämtliche der erwähnten acht Briefe Darwins in besagtem Umschlag. Ausgerechnet jener Brief, mit dem Darwin einst Wallace auf dessen Manuskript-Sendung von 1858 geantwortet hat, war irgendwann dem Umschlag entnommen worden. In der Reihenfolge der Darwin’schen Briefe an Wallace ist er der dritte und ohne Zweifel historisch der wichtigste. Ein Brief, der sicher dabei helfen könnte, gleichsam eine Art Kriminalfall in der Biologiegeschichte aufzuklären – endlich, nach Jahrzehnten des Rätselratens, der Plagiatsvermutungen und Verschwörungstheorien. Was Darwin damals wohl geschrieben hat? Was und wie hat er sich Wallace gegenüber wirklich erklärt?

George Beccaloni findet es nicht nur höchst bemerkenswert, dass ausgerechnet einige der entscheidenden Dokumente der Biologie-Geschichte offiziell verschollen sind. Er vermutet vielmehr, dass jemand jenen dritten Brief Darwins aus dem Umschlag entfernt haben könnte – und sich dann die Mühe gemacht hat, einen anderen – freilich unbedeutenden – Brief in den Umschlag zu legen, damit es wieder acht Briefe sind, wie zuvor von Wallace darauf vermerkt worden war.

Doch wer könnte das gewesen sein, und warum wurde der Brief entfernt? Auf welchem Weg und durch wessen Hände sind die Darwin-Briefe aus dem Wallace-Nachlass nach dessen Tod im November 1913 in die Londoner Archive gelangt? »Was immer tatsächlich geschehen ist, mir fällt es schwer zu glauben, dass Wallace just diesen Brief anders als alle anderen Briefe Darwins nicht aufgehoben hat«, meint Beccaloni.

Deshalb hoffen auch andere Historiker, eines Tages die verschollenen Dokumente der Wallace-Darwin-Korrespondenz zu finden. Diese würden nicht nur den – indes ohnehin riesigen – Nachlass zweier berühmter Naturforscher um wichtige Schriften bereichern; sie würden zweifellos endlich neues Licht werfen auf eines der zentralen Ereignisse beim vermeintlichen Wettlauf um die Entdeckung der Evolution. Immerhin reden wir hier über eine Zäsur in der europäischen Geistesgeschichte: Denn mit Wallace und Darwin änderte sich das Denken über die Natur.

 

Tatsächlich aber bleibt es bis auf den heutigen Tag nur ein aufregender Gedanke – nicht mehr als eine höchst unwahrscheinliche Möglichkeit, dass Wallace’ Manuskript und Darwins Brief irgendwo aufbewahrt werden; vielleicht wirklich in einer alten Holztruhe auf einem maroden Dachboden, ohne dass diese Papiere jemand entdeckt oder entdecken sollte.

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Zur Einführung –Der junge Mann in Eile

Alfred Russel Wallace, britischer Naturaliensammler par excellence und verwegener Naturforscher, war ein Mann, für den sich leicht Superlative finden lassen. Zweifelsohne war er einer der brillantesten, bemerkenswertesten und bedeutendsten, ja einstmals auch einer der berühmtesten Wissenschaftler seiner Zeit. Überdies war er eine schillernde und kontroverse Persönlichkeit, nicht zuletzt dadurch einer der faszinierendsten, weil facettenreichsten Forscher im viktorianischen England.

Wallace durchstreifte die Tropenwälder der Erde – und er hat gemeinsam mit Charles Darwin das Denken der Welt verändert. Immerhin. Nach ihm sind viele Tierarten benannt, darunter Vögel und Flugfrösche; sogar ganze geographische Regionen der Erde und eine markante Faunengrenze tragen seinen Namen, aber auch Krater auf dem Mond und Mars. Zwar ist Wallace neben Darwin einer der wichtigsten Naturforscher des viktorianischen Zeitalters; doch ist er heute kaum noch allgemein bekannt. In Deutschland gab es bislang nicht einmal eine Biographie über ihn.

Dabei bietet sein Leben fraglos Stoff genug. Es hat geradezu romanhafte Züge, ideal auch für eine Verfilmung. Zumal Alfred Russel Wallace um so vieles lebendiger wirkt als sein Landsmann und vierzehn Jahre ältere Zeitgenosse – jener bedächtige, abwägende und abwartende, beinahe ist man versucht zu sagen: vergleichsweise dröge Darwin. Gegen diesen kommt uns Wallace gleichsam vor wie ein Indiana Jones der Naturforschung, ein Ernest Hemingway der naturkundlichen Reisebeschreibung. Ohne dabei nur Draufgänger und Abenteurer gewesen zu sein; vielmehr überaus kundiger Amateur, als der er sich stets sah, und der dennoch Zugang zur wissenschaftlichen Elite Englands gewann. Einerseits also war das Leben dieses »selfmade«-Biologen höchst abwechslungsreich, geradezu abenteuerlich. Andererseits sind seine Person und sein Denken weitaus vielschichtiger und komplexer als bislang bekannt. Zugleich stecken beide, Person und Denken, voller Widersprüche, die bisher – kaum einmal offengelegt – auch nicht aufgelöst wurden.

Wenn wir indes versuchen, Wallace zu verstehen, erfahren wir mehr über die vielfältigen Facetten und Implikationen jener Theorie von der Entstehung und Entwicklung der Arten und des Menschen, wie wir sie beim Blick allein auf Darwin vielleicht nie verstanden haben. Sind tatsächlich auch wir, Homo sapiens, ein Produkt der Evolution durch Selektion, einschließlich unseres Gehirns und unseres Geistes, wie Darwin feststellte? Oder gibt es neben der natürlichen Auslese noch eine Art höhere Instanz, wie Wallace annahm, der wie viele seiner Zeit vom Spiritualismus und Theismus überzeugt war, der also jenseits jeglicher Konfession an das Wirken eines Heiligen Geistes und an die Existenz eines Gottes glaubte?

Wer war Wallace?

Wallace ist einer der ganz Großen, aber auch ein lange Verkannter der Naturforschung. Einst machte er sich nicht nur durch seine vierjährige Feldforschung am Amazonas einen Namen; er reiste weitere acht Jahre kreuz und quer durch die Inselwelt des indo-australischen Archipels zwischen Malaysia und Neuguinea. Dass er diese wohl gewagteste und erfolgreichste Ein-Mann-Expedition bis ans Ende der damals zugänglichen Welt überlebte und dann bei guter Gesundheit mehr als 90 Jahre alt wurde, ist bis heute erstaunlich. Ebenso erstaunlich wie die Tatsache, dass er außer den weit mehr als einhunderttausend naturkundlichen Sammlungsstücken aus den Tropen von dieser Reise auch die zentrale Theorie der Naturforschung mit zurückbrachte. Fernab im indo-australischen Archipel hatte Wallace im Frühjahr des Jahres 1858 – und unabhängig von Charles Darwin – mit seherischer Intuition jenen Mechanismus entdeckt, der die Entstehung von neuen Arten möglich macht. Mit dem Prinzip einer natürlichen Auslese gelang ihm der entscheidende Durchbruch beim Wettlauf um die Entwicklung der Evolutionstheorie. Wenn überhaupt noch, so ist Wallace uns heute als Mitentdecker dieser Theorie in Erinnerung.

Doch Wallace ist auch Begründer einer eigenen Wissenschaftsdisziplin, die derzeit eine Renaissance erlebt: die evolutionäre Biogeographie – das Studium der geographischen Verbreitung von Tieren und Pflanzen. Warum leben bestimmte Arten nur dort, wo sie leben, andere aber anderswo? Bei seiner Reise bis ans Ende des Archipels findet Wallace eine schlüssige Erklärung – und lüftet so ein weiteres großes Geheimnis der Biologie. Wallace war hochangesehener Käfersammler und Schmetterlingsfänger, Weltreisender auf der Suche nach bunten Insekten, Paradiesvögeln und dem Orang-Utan; er war zugleich ein scharfer Beobachter wie auch Theoretiker. Bis heute ist er der Mann, nach dem eine höchst interessante Faunenregion zwischen Asien und Australien (Wallacea) sowie eine markante biogeographische Trennlinie (Wallace-Linie) benannt sind.

Als junger Mann war Wallace zuerst Landvermesser und Lehrer, in späteren Jahren bekennender Spiritualist und radikaler Sozialist, der sich für Landreformen und Menschenrechte einsetzte; aber auch jemand, der noch im hohen Alter über die Möglichkeit von Menschen auf dem Mars und unsere Stellung im Universum nachdachte. Er war naturkundlicher Autodidakt und wurde zum erfolgreichen Autor, dessen Bücher man liest, weil sich darin wissenschaftliche und populäre Darstellung in idealer Weise vereinigen. Er, der Amateur ohne akademischen Abschluss, erhielt die wichtigsten Auszeichnungen seiner Profession und seiner Zeit, die den Nobelpreis noch nicht kannte – als Erster die Darwin Medal sowie die Copley und Royal Medal der britischen Royal Society, die Darwin-Wallace und Gold Medal der Londoner Linnean Society, dann auch die höchste Auszeichnung Order of Merit, die die britische Monarchie zu vergeben hat. Nicht zuletzt war er der Letzte, will heißen: Jüngste, in einer Reihe bedeutender Naturalisten und Evolutionisten.

Der vermeintliche Wettlauf mit Darwin

Alfred Russel Wallace war auch, wie er selbst sagte, »der junge Mann in Eile«. Ausgedacht in zwei Stunden und ausgearbeitet an nur drei Abenden in einer palmwedelgedeckten einfachen Pfahlhütte auf einer abgelegenen Insel am Ende des Archipels, hat er ein zweites Mal jenes universelle Prinzip gefunden, mittels dessen in der Natur neue Arten entstehen. Wallace’ Beiträge zur Evolutionstheorie und zu Vorkommen und Verbreitung von Lebewesen waren dabei ebenso wichtig wie die Darwins. Doch wurde er anders als dieser bald nach seinem Tod vergessen – und mit ihm seine Rolle als Mitentdecker der natürlichen Selektion. Darwin, der Zauderer und Zögerer, erntete den Ruhm allein. Spätere Generationen sollten dann stets annehmen, Darwin habe als Erster und Einziger die Theorie von der Veränderlichkeit der Organismen durch Anpassung und Auslese entwickelt und 1859 in seinem Buch über »Die Entstehung der Arten« veröffentlicht. Wallace wurde zur Fußnote der Wissenschaftsgeschichte.

Kein Zweifel: Von Evolution kann man nicht reden, ohne Charles Darwin zu erwähnen. Doch die Theorie von der Veränderlichkeit der Arten durch natürliche Selektion hat zwei Väter und ist zweimal unabhängig voneinander entdeckt worden. Kein Zweifel aber auch, dass dem, was Alfred Russel Wallace beitrug, heute kaum noch Beachtung geschenkt wird. Viele seiner Arbeiten sind unbekannt, die wenigsten etwa ins Deutsche übersetzt. Lange hat die Wissenschaftsgeschichte das Wirken Wallace’ vernachlässigt; allenfalls ist die auffällige Koinzidenz mit Darwin bei der Entdeckung der Evolutionstheorie in ihren Annalen vermerkt.

Wallace aber ist weitaus mehr als nur der Mann im Schatten Darwins oder gar der ewige Zweite, der nie in gleicher Weise wie dieser für seine Entdeckung anerkannt wurde. Und das keineswegs nur, weil er es war, der in einem kurzen, klarsichtigen Aufsatz jene Theorie von der Veränderlichkeit der Arten durch natürliche Auslese entwarf und als Erster eine bündige und zum Druck bestimmte Abhandlung darüber verfasste. Diese wurde dann unmittelbar danach auch veröffentlicht, gemeinsam mit kurzen Auszügen aus Schriften von Darwin. Während dieser seinen eigenen Beitrag damals als kaum veröffentlichungsreif ansah, äußerte er sich lobend über Wallace’ ebenso einsichtsreichen wie wohlformulierten Aufsatz.

Erst später als »Darwinismus« bekannt geworden, hat die noch zu seinen Lebzeiten als Darwin-Wallace-Theorie bezeichnete Idee von der Evolution durch Selektion für eine Epochenwende gesorgt – und für die Grundlage der modernen Biologie. Die öffentliche Präsentation der Darwin-Wallace-Papiere im Sommer 1858 stellt mithin nicht nur eine zentrale Episode der Biologiegeschichte dar; sie leitete auch eine der größten wissenschaftlichen Revolutionen ein, die bis heute in den Biowissenschaften nachwirkt. Tatsächlich kam es zu einer kopernikanischen Umwälzung unseres Weltbildes.

Rätsel um die Entdeckung der Evolution

Die Episode der vermeintlich gemeinsamen Vorstellung am 1. Juli 1858 vor der Linnean Society in London, bei der jedoch weder Darwin noch Wallace tatsächlich anwesend waren, ist inzwischen vielfach erzählt worden, zumal wir 2009 ein großes und doppeltes Darwin-Jubiläum gefeiert haben. Mittlerweile ist auch klar, dass das Zustandekommen dieser Präsentation keineswegs jener selbstlose Akt zweier Gentlemen war, weder Zufall noch Zeugnis vom Großmut zweier bedeutender Forscher, als den er beinahe ein Jahrhundert lang dargestellt wurde.

Aus Kollegialität und Kompromiss aber wurde Konkurrenz, aus Koinzidenz und Kuriosum unlängst ein Komplott gestrickt. So bekannt diese Episode ist, so umstritten sind indes bis heute die genauen Umstände des tatsächlich höchst delikaten, weil fragwürdigen Arrangements durch engste Freunde Darwins. Zwar gehört die Kette der Ereignisse, die zur ersten Vorstellung der Selektionstheorie führten, zu den am gründlichsten untersuchten Kapiteln der Wissenschaftsgeschichte; tatsächlich gleichen sie einem Krimi, beinahe einem Mord(s)fall. Dennoch sind viele wichtige Details um diese Veröffentlichung noch immer nicht vollständig aufgeklärt. Offene Fragen haben zu Spekulationen und Verschwörungstheorien eingeladen; von einer der übelsten Fälschungsaffären in der Biologie-Geschichte ist die Rede. Und der Disput darüber, was wirklich geschah, dauert an. Hat Darwin tatsächlich zentrale Teile seiner Theorie aus dem ihm zugesandten Manuskript von Wallace abgeschrieben – ein Plagiatsfall auf höchstem intellektuellem Niveau und verbunden mit einer kontroversen wissenschaftlichen Theorie?

Aus dem Blickwinkel Charles Darwins ist die Geschichte hinlänglich bekannt. Doch kaum einmal wurde die Kette der Ereignisse aus der Perspektive Alfred Russel Wallace’ rekonstruiert. Und tatsächlich ist vieles dabei übersehen worden, was zur Aufklärung führen könnte. Neben einigen – durchaus nicht unerheblichen – Ungereimtheiten hat Wissenschaftshistoriker und Biographen immer verwundert, dass Wallace so scheinbar bereitwillig Darwin das Feld überließ. Immerhin war es Wallace selbst, der 1889 – sieben Jahre nach Darwins Tod – den bis heute gängigen Begriff »Darwinismus« für die gemeinsam entwickelte Selektionstheorie prägte. So hat er vielleicht am nachhaltigsten dazu beigetragen, dass er selbst später in Vergessenheit geriet. Überdies hat sich eine regelrechte Darwin-Industrie ausführlich mit beinahe jedem Stück Papier und jeder Zeile aus der Feder Darwins beschäftigt und, so scheint es, jeden Moment und Aspekt im Leben dieses britischen Privatgelehrten von allen Seiten beleuchtet. Während Historiker und Biographen Darwin mit dickleibigen Büchern über Werk und Wirken beinahe zu Tode gewürdigt haben, ist uns Alfred Russel Wallace eigenartig fremd geblieben – tatsächlich ein erschütternd Unbekannter, zu Unrecht Vergessener; ein ewiger Zweiter, dieser Mann im Schatten Darwins.

Der paradoxe Wallace

Zwar verschaffen uns eine Reihe gelehrter Biographien, die jüngst vor allem in England erschienen sind, wertvolle Einblicke in Wallace’ Leben (ein kommentiertes Literaturverzeichnis dazu befindet sich am Ende dieses Buches). Doch bleibt noch vieles zu entdecken bei dem Mitentdecker der Evolutionstheorie und Begründer der Biogeographie.

Kaum einmal sind bisher sämtliche Aspekte der Persönlichkeit von Wallace in der Zusammenschau abgewogen worden. War es wirklich allein seine Bescheidenheit und sein benachteiligter Status im klassenbewussten viktorianischen England, die Wallace bewogen, Darwin das Feld zu überlassen? War er wirklich ein ruheloser Sonderling und eigenartiger Außenseiter, der zudem manchem Irrglauben anhing? Es ist vor allem dieses Paradoxon, das vielen seiner Biographen immer wieder Kopfzerbrechen bereitet hat: Wallace war ein brillanter Denker und Entdecker, ein Mann der Wissenschaft; aber er glaubte an Wunder. Beinahe könnte man meinen, es gäbe ihn zweimal: hier der Naturforscher Wallace, der sich jahrelang unter Lebensgefahr auf die Suche nach Fakten begibt, die jene umwälzende Theorie von der Transmutation der Arten unterfüttern sollen. Dort der überzeugte und durch nichts zu erschütternde Anhänger des Spiritualismus auf der Suche nach dem Wirken eines mystischen Wesens in uns allen. Wie passt das zusammen? War Wallace einfach nur unkonventionell in vielen Lebenslagen und Lebensfragen, ein frei und unabhängig denkender, ja gar ein radikaler Geist mit Freude am Widerspruch zur allgemein geltenden Meinung? Oder verwirrte das hohe Alter sein Denken?

Bis heute haben Biographen, trotz aller Bemühungen, keine eindeutige Antwort gefunden. Die meisten schildern vordergründig nur mehr die Stationen von Wallace’ Leben, vor allem und ausführlich seine abenteuerlichen Reisen in den Tropen, denen einige sogar selbst nachforschten. Andere beschäftigt beinahe ausschließlich sein wissenschaftliches Werk, der Wissenschaftler selbst dagegen bleibt geradezu leblos. Die einen blenden Wallace’ paradoxe Seiten, insbesondere den Spiritualismus, möglichst aus; andere verlieren sich ganz in psychologischen Spekulationen, ohne das spezifische gesellschaftliche und wissenschaftliche Umfeld im viktorianischen England zu berücksichtigen.

Der neue Wallace

Im Französischen kennt man den Ausdruck »un homme nécessaire« zur Beschreibung einer historischen Gestalt, die im rechten Moment die Bühne der Geschichte betritt. Alfred Russel Wallace verkörpert solch einen notwendigen Charakter in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Notwendig, um Darwin gewissermaßen auf die Sprünge zu helfen; doch notwendig auch für uns heute, um die Entdeckung des Evolutionsgedankens mit all seinen feinen Verästelungen vollständig verständlich zu machen.

Dies hier nun ist die Geschichte des neuen, wahren Wallace. Er war nicht nur ein naturkundlicher Amateur und waghalsiger Abenteurer, nicht nur der andere Käfersammler neben Darwin, der bei seinen Sammelreisen zufällig auf die Theorie der Selektion stieß; der in einem Wettlauf um die Entdeckung der Evolution Darwin zwar anspornte, dann aber den Kürzeren zog. Gerade wer Wallace nur verkannt und vergessen als Darwins Alter Ego, gleichsam als eine Art Doppelgänger im Schatten Darwins sieht, ihn als dessen Mond immer nur um diese zentrale Lichtgestalt der Naturforschung im viktorianischen Zeitalter kreisen lässt, der marginalisiert ihn. Wallace jedoch gilt gänzlich zu Unrecht als ein Hinterbänkler der Historie; er besetzt nicht etwa nur die zweite Reihe in der Garde großer Geister.

Vielmehr ist er eine weitaus komplexere Persönlichkeit als bislang dargestellt; sein Denken war vielschichtiger und sein Werk umfangreicher, als es bisher je einmal gewürdigt wurde. Kein Wunder bei 22 Büchern und mehr als 760 Fachartikeln. Zudem schrieb er neben naturkundlichen Arbeiten über ein erstaunlich breites Spektrum – vom Darwinismus und Spiritualismus über die Lebensmöglichkeit auf dem Mars bis hin zur weltweiten Handelkrise, Pockenschutzimpfung und zu der Erneuerung der Demokratie. Wallace sei ein »wonderful creative thinker« gewesen, hat Ernst Mayr – selbst ein berühmter Naturforscher und Evolutionsbiologe – einmal über ihn gesagt; »generous to a fault and full of ideals«, eine »truly loveable person« – großzügig, voller Ideale und überaus liebenswert. Wohl wahr. Aber der kreative Wallace hat auch sein Geheimnis. Er ist ruhelos und unorthodox, in vielen Lebenslagen; er verachtet und missachtet Konventionen, und wenn es sich nur um Verbotsschilder handelt, hinter denen er soziale Ungleichgewichte sieht. Weder in politischen noch in religiösen Dingen vermag er – anders als Darwin – zu schweigen. Doch, so die These im vorliegenden Buch, just jenes mutige und unkonventionelle Denken, das Wallace einst die Evolution entdecken ließ, führte ihn später auch auf unsicheres Terrain und entlang abseitiger Wege.

 

All dies sind Gründe genug, sich das Leben, Werk und Wirken des verwegenen Naturforschers Alfred Russel Wallace näher anzusehen; denn er weist uns den Weg zu einem besseren Verständnis der Evolutionstheorie und zu jenem Denken, das zur Aufklärung der dynamischen Vorgänge und Veränderungen in der Natur und zur Entstehung auch des Menschen führte.

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Aru. Oder:Am Ende des Archipels

(Januar–Juli 1857)

Von allen Etappen seiner großen Reise durch den Archipel sollte diese die erfolgreichste werden, einträglich in vielerlei Hinsicht, ein Fest für den Forscher und ein Ausflug in eine wahre Märchenwelt voller Wundertiere, die kaum ein Naturkundiger vor ihm sah. Er sollte Menschen mit schwarzer Haut und krausen Haaren begegnen, fremder, als er sie je zuvor erlebt hat; anders als er selbst und auch als jene, denen er weiter westlich einer geradezu magischen Linie begegnet ist. Hier sollte er ebenso eigenartige wie seltene Vögel, Schmetterlinge, Käfer und andere Insekten entdecken; eigenständige Formen, die nur hier leben, anderswo aber fehlen. Zwar würde er auch Arten finden, die in benachbarten Regionen vorkommen; nur sahen selbst diese hier etwas anders aus, waren verschieden gefärbt und gezeichnet. Hier auf den Inseln am Ende des Archipels stößt er in unbekannte Regionen vor, als Reisender wie als Denker; hier fügen sich seine akribischen Beobachtungen und Befunde schließlich zu einem Ganzen, einem generellen Naturprinzip. »Neue Arten entstehen allmählich, sie gehen unmittelbar aus vorangegangenen hervor«, so fasst Wallace den zentralen, aber ketzerischen Gedanken zusammen, der bald alles verändern wird. Wenn es einen Ort gibt, an dem je das Fundament einer wissenschaftlichen Theorie bereitet wurde, dann auf diesen fernen und fremden Eilanden am Rande der bekannten Welt.

Die Expedition zu den Kai- und Aru-Inseln, vor der Südwestküste Neuguineas gelegen, wird zum Wendepunkt nicht nur der großen Reise von Alfred Russel Wallace, sondern auch seiner theoretischen Überlegungen. Für ihn wird Aru zum wahren Galapagos, mehr noch als es jener Archipel im Pazifik je für Charles Darwin sein konnte. Dem war erst rückblickend aufgegangen, als wie bedeutend sich die Zoologie solcher Inselgruppen für die Naturforschung erweisen sollte. Wallace dagegen erkennt sofort, was es mit Aru auf sich hat. Hier sammelt er wichtige Belege, die letzten fehlenden Mosaiksteine zu einer bahnbrechenden Idee – jener Idee, mit der er den entscheidenden Schritt im Wettlauf um die Entdeckung der Evolutionstheorie macht und die im Sommer 1858 eine Kette von Ereignissen auslösen wird. Er veröffentlicht zur Naturkunde von Aru einen seiner wichtigsten Aufsätze; detailreich in den Fakten, zugleich voller synthetischer Kraft, einsichtsvoll und visionär ein ganzes Forschungsprogramm beschreibend, das ihn das lange gesuchte Evolutionsprinzip finden lässt. Doch mit diesem so wichtigen Aufsatz ergeht es ihm wie mit anderen seiner Arbeiten. Zwar erscheint er, noch im Dezember 1857, in den renommierten »Annals and Magazine of Natural History« in London; indes wird er weder von Wallace’ Zeitgenossen noch von späteren Forschern bis heute in seiner wahren Bedeutung erkannt. Ihnen entgeht, dass es von Aru tatsächlich nur noch ein kleiner Schritt ist, bis Wallace kurz darauf während eines Fieberanfalls auf den Gewürzinseln den Schlüssel zu jenem Rätsel – dem Geheimnis der Geheimnisse – findet, das ihn seit Langem umtreibt; ein Rätsel, das ihn hierher ans Ende des Archipels gebracht hat: die Frage nach der Entstehung von Arten.

Beinahe drei Jahre ist er zu diesem Zeitpunkt schon in der indo-australischen Inselwelt unterwegs. Nachdem er in Singapur angekommen war, hat er zuerst einen Abstecher nach Malaka auf der malayischen Halbinsel unternommen. Anschließend war er mehr als ein Jahr lang in Sarawak im Norden Borneos unterwegs, bevor er endlich über Bali und Lombok eine Überfahrt weiter nach Osten fand, auf die Insel Celebes. Doch Anfang Dezember 1856 holt ihn dort der Monsunregen ein. Auf der großen Insel gießt es unaufhörlich. Unter den heftigen Regenfällen verwandelt sich der trockene Boden in einen Sumpf. Die Reisfelder, die sich kilometerweit in der flachen Küstenregion um den Hafenort Makassar ausbreiten, versinken im Wasser. Der ganze Landstrich ist nur mit Booten passierbar oder über ein wahres Labyrinth schmaler Wege, die auf den zu Wällen aufgeschütteten Uferbänken entlang der Reisfelder verlaufen. Bei diesem Wetter würde das Sammeln für Monate unmöglich sein, sagt man ihm. Nur Enten und Wasserbüffel fühlen sich jetzt wohl, und die Frösche stimmen vom Abend bis zum Morgen eine unglaubliche Kakophonie an. Immerhin sind sie dank einer tief vibrierenden Note musikalischer, als Wallace es bei ihresgleichen in Malaka und Borneo gehört hat. Sogleich schließt er daraus, dass die Frösche – wie die meisten Tiere auf Celebes – einer nur dieser Insel eigentümlichen Art angehören.

Wallace sucht nach einer Ausflucht in trockenere Regionen. Endlich findet er einen einheimischen Kaufmann und Handelskapitän, einen gewissen Herrn Warzbergen, halb Javaner, halb Holländer, mit dessen Prau er gen Osten segeln kann. Wie auch andere Handel treibende Bewohner auf Celebes bricht dieser einmal im Jahr mit dem Nordwestmonsun zu den Aru-Inseln auf. Die Inselgruppe liegt rund tausend Seemeilen östlich von Celebes, dicht unter der Küste Neuguineas, und am Ende jenes riesigen Archipels, der seine Inseln wie verschieden große Perlen zu einer Kette aufreiht. Aru ist der äußerste Punkt der per Schiff zu Wallace’ Zeiten erreichbaren Welt. Wenn dort die Trockenzeit beginnt, holen die Händler wertvolle Ware; schiffladungsweise Perlmutt und Perlen, Bälge von Paradiesvögeln und Schildpatt sowie anderes für den europäischen Markt; dazu essbare Vogelnester und getrocknete Seegurken vor allem für die in kulinarischer Hinsicht mutigeren Chinesen. Sobald der Wind gedreht hat, kehren die Händler ein halbes Jahr später mit dem Ostmonsun wieder nach Celebes zurück; glücklich, wenn sie die abenteuerliche Reise ohne Piratenüberfälle, Unwetter und Untiefen oder andere lebensbedrohliche Gefahren überstanden haben.

Wallace’ Überfahrt nach Aru verläuft unerwartet angenehm; es ist vielleicht die ruhigste, die er je auf seiner jahrelangen Expedition durch das Inselreich zwischen Asien und Australien erleben wird. Die Prau, in der sie mit 30 Mann Besatzung segeln, ist ein hölzernes Lastschiff mit zwei Masten, ähnlich einer chinesischen Dschunke von knapp 70 Tonnen Last; mit einem großen und einem kleineren Matten-Segel, die der jetzt aus Westen wehende Wind beständig füllt und sie mit bis zu fünf Knoten laufen lässt. In nur zwei Wochen fahren sie so bei meist ruhiger See und schönem Wetter stetig gen Osten; vorbei an Buru, Ambon und den Banda-Inseln, die in strahlenden Sonnenschein getaucht wie grüne Juwelen in der See liegen. Als sie die Banda-Gruppe passieren, sieht Wallace zum ersten Mal mit eigenen Augen einen tätigen Vulkan. Dessen Rauch steht wie eine kleine Wolke über dem vollkommenen Kegel. Unterwegs bewundert er fliegende Fische, die dicht wie Schwalben über die Wasseroberfläche schwirren. Er probiert erstmals gebratenen Hai und findet ihn durchaus schmackhaft. Den Weihnachtstag feiern sie an Bord der Prau bescheiden mit einem Extraglas Wein zum üblichen Reis und Curry. Als sich das Jahr 1856 dem Ende zuneigt, kommen bei Tagesanbruch die Kai-Inseln in Sichtweite. Alfred Russel Wallace ist in einer anderen, nie zuvor gesehenen Welt angekommen.

Kai-Inseln, Januar 1857:

Das Meer um sie ist ruhig, spiegelglatt, wie man es sonst von einem See kennt; die tropische Sonne taucht alles in goldenes Licht. Außerordentlich reizvoll ist die Szenerie, notiert Wallace in seinem Tagebuch, als sie die den Kai-Inseln vorgelagerten Atolle und winzigen Korallen-Eilande passieren. Das Wasser, das ihre Prau durchpflügt, ist kristallklar. Je nach Tiefe und Untergrund gehen die Schattierungen von tiefblau, beinahe schwarz, und kobaltblau bis zu jadegrün über; nahe dem flachen Riff der Inseln wird das Wasser helltürkis und bricht sich weiß schäumend. Als sie der malerischen Küste näher kommen, zeichnen sich die steilen Kalksteinklippen ab, die die Inseln säumen und an vielen Stellen den üppig wuchernden Regenwald überragen, wo er bis ans Meer reicht. Immer wieder wird die dichte Vegetation, mit stattlichen Kokospalmen durchsetzt, von kleinen Buchten unterbrochen, die innen mit blendend weißen Sandstränden ausgekleidet sind.

Wallace malt sich die wundersamen Tierformen in den Wäldern und in der Meeresunterwasserwelt aus. Doch bald schon fesselt etwas anderes seine Aufmerksamkeit, als die Prau von drei, vier Kanus der Einheimischen umringt wird. »Diese Kai-Leute kamen singend und schreiend heran, tauchten ihre Ruder tief ins Wasser und warfen Wolken von Schaum auf; als sie sich näherten, standen sie in ihren Kanus auf und ihr Geschrei und ihre Gestikulationen vermehrten sich noch; und als sie an unsere Seite gekommen waren, kletterte der größte Teil von ihnen, ohne erst um Erlaubnis zu fragen, und ohne auch nur einen Moment zu zögern, auf unser Deck, gerade als wenn sie von einem gefangenen Schiffe Besitz ergreifen wollten. Es begann dann eine Szene unbeschreiblicher Verwirrung. Diese vierzig schwarzen, nackten, krausköpfigen Wilden schienen vor Freude und Erregung berauscht. Nicht einer konnte auch nur einen Moment still sein.« Es sind Papuas, denen Wallace hier zum ersten Mal in ihrer eigentlichen Heimat begegnet. Weniger als fünf Minuten, während der er das muntere Treiben dieser Inselbewohner beobachtet, lassen ihn zu der festen Überzeugung kommen, hier zwei der unterschiedlichsten Menschenformen nebeneinander zu sehen. »Wenn ich blind gewesen wäre, so hätte ich sicher sein können, dass diese Inselbewohner keine Malaien sind«, notiert er. »Die lauten, schnellen, scharfen Töne, die fortwährenden Bewegungen, die intensive Lebenstätigkeit, welche sich in Sprache und Handlungen ausprägt, sind die geraden Gegensätze des ruhigen, wenig impulsiven und phlegmatischen Malaien. … Schulknaben an einem unerwarteten Feiertage, Irländer auf einem Jahrmarkt oder Seekadetten an Land geben nur eine schwache Vorstellung von der übermäßigen, tierischen Freude dieser Menschen.«

Tatsächlich ist ein größerer Kontrast zwischen zwei Menschengruppen kaum denkbar; mehr noch in ihrem Verhalten als im unterschiedlichen Aussehen der schwarzhäutigen, kraushaarigen Papuas von den Kai-Inseln und den aus Asien stammenden, braunhäutigen, glatthaarigen und schmalgliedrigen Malaien an Bord der Prau. »Jene kamen mir vor wie eine Gesellschaft bescheidener und wohlerzogener Kinder, in welche plötzlich eine Schar wild sich balgender, ausgelassener Knaben hineinbricht, deren Betragen höchstaußergewöhnlich und sehr unerzogen zu sein scheint.« Wallace ist äußerst beeindruckt; später wird er in seinen Reiseberichten mehrfach ausführlich auch die in so markanter Weise voneinander verschiedenen physischen Merkmale beider Ethnien beschreiben. Obgleich Malaien und Papuas direkte Nachbarn im großen Insel-Archipel sind, stammen sie von recht unterschiedlichen und nur entfernt verwandten Vorfahren ab, folgert Wallace; offenbar gehen sie also schon seit Langem getrennte Wege und entwickelten sich in verschiedenen Regionen unabhängig voneinander. »Wenn wir eine Linie ziehen, erstreckt sich diese mitten durch den Archipel. Diese Linie trennt die Malaien und Asiaten von den Papuas und pazifischen Rassen des Menschen, und obgleich es entlang dieser Linie Austausch und Vermischung gegeben hat, ist diese Trennung im Ganzen dennoch beinahe so klar ausgebildet und vollständig wie die entsprechende zoologische Trennung des Archipels in eine indo-malaiische und australo-malayische Region.«

Jene zoologische Trennlinie beschreibt Wallace in einer eigenen Arbeit bereits 1863, kaum ein Jahr nach seiner Rückkehr nach England; er markiert sie darin in einer farbigen Karte des Archipels. Diese Linie wird ihn berühmt machen, für immer seinen Namen tragen und ihn zum Begründer einer eigenen Wissenschaft, der Biogeographie, werden lassen. Was er dagegen im Januar 1864 vor der Ethnologischen Gesellschaft in London über die unterschiedlichen Varietäten des Menschen vorträgt, denen er im indo-australischen Archipel begegnet ist, wird bis heute meist ebenso verkannt wie schon zuvor seine Arbeit zur Naturkunde der Aru-Inseln. Dabei schildert Wallace in dem Varietäten-Aufsatz sehr ausführlich, dass auch bei den Menschenvölkern eine ebenso markante Trennlinie existiert wie in der Tierwelt. Der Aufsatz, der gedruckt erst im darauffolgenden Jahr erscheint, ist ein weiterer seiner bedeutenden Beiträge, ein einsichtsvolles Meisterwerk und Dokument seines Denkens. Wir können aus den verschiedenen Varietäten des Menschen, die heute die Erde bewohnen, schließen, so schreibt Wallace darin, dass auch wir selbst zu einem gewissen Grad wandelbar sind, überdies sogar in nur sehr kurzer Zeit. Und, so fährt er fort, bei der gegenwärtigen geographischen Verbreitung der Menschengruppen haben geologische Veränderungen der Erdoberfläche eine entscheidende Rolle gespielt. Kaum jemand wagt zu dieser Zeit eine derartig unerhörte Schlussfolgerung; geschweige denn, dies so offen zu formulieren. Doch Wallace ist bis zum Ende des Archipels gefahren, auch und nicht zuletzt, um die Anfänge des Menschen zu erkunden.

»Hier also hatte ich eine neue von einem fremdartigen Volke bewohnte Welt erreicht.« Eine Welt voller Überraschungen, die ihm fundamentale Einsichten bringen sollte – und jene wahrlich epochale Idee. Seine Ausflüge auf den Kai-Inseln in den ersten Tagen 1857 liefern dafür weitere Bausteine. Der Kapitän hat die Prau um die nördliche Spitze von Kei Besar, oder Groß-Kai, gesteuert und an der Ostküste nahe einem Dörfchen namens Har geankert. Dort gibt er zwei kleine Boote bei den Inselbewohnern in Auftrag, die talentierte Bootsbauer sind; nun muss er einige Tage warten, bis sie fertiggestellt werden. Wallace nutzt diese wertvolle Zeit, um auf Exkursion in die Wälder der Insel zu gehen und nach Vögeln und Insekten zu suchen.

Allerdings ist das Wetter oft regnerisch und der verwitterte Korallenkalkstein, aus dem die Kai-Inseln beinahe ausschließlich bestehen, macht ein Fortkommen nur schwer möglich, wie Wallace in seinen Berichten über diesen Zwischenstopp mehrfach festhält. Nicht jedoch ohne sogleich fortzufahren, dass er mit seinen einheimischen Helfern Ali und Baderoon bereits am ersten Tag eine prächtige, hübsch blauweiß gefärbte Fruchttaube aus einem hohen Baum herunterschießt, nachdem diese in den Wipfeln durch beständige tiefe Rufe auf sich aufmerksam machte. Die Taube hat intensiv grün gefärbte Flügelschwingen und Schwanzfedern mit einem goldenen, blauen und violetten Schimmer, korallenrote Füße und goldgelbe Augen. Zunächst hält Wallace sie für die schon bekannte und weiter westlich verbreitete Bronzefruchttaube (Carpophaga aenea). Diese hat bereits der schwedische Systematiker Carl von Linné 1766 beschrieben (heute wird sie zur Gattung Ducula gestellt). Doch bald erkennt Wallace, dass er eine nur auf den südöstlichen Molukken vorkommende eigenständige Art entdeckt hat. Folgerichtig beschreibt er sie später als Molukken-Bronzefruchttaube unter eigenem Namen (Carpophaga concinna). Tatsächlich kommt sie nur auf einigen kleineren Inseln dort am Ende des Archipels vor, wo sie indes recht häufig ist und sich, etwa auf der Banda-Insel, von Blüten und Früchten der Muskatbäume ernährt.

Einmal mehr findet er bei den Bronzefruchttauben ein geographisches Muster bestätigt, das ihm bald überall auffällt. Ein nicht unerheblicher Anteil der Arten auf den Kai-Inseln sind neue, bislang der Wissenschaft unbekannte Spezies. Die bereits beschriebenen Arten dagegen kommen entweder auch auf weiter westlich gelegenen Inseln des Archipels oder aber auf Neuguinea vor. Etwas ganz Ähnliches findet Wallace bei einem prächtig rubinrot und smaragden gefärbten Käfer. Diesen entdeckt er überhaupt erst, weil einer der Kai-Insulaner dessen glänzende Flügeldecken als Schmuck auf seinem Tabakbeutel befestigt hat. Wallace wendet einen bereits mehrfach bewährten Sammlertrick an, lobt wohlriechenden Tabak für all jene aus, die ihm dafür die – in ihren Augen wertlosen – schwarzen und grünen Käfer bringen. »Bald hatte ich Dutzende von Besuchern, Männer, Frauen und Kinder, welche Bambusstücke voll kriechender Insekten brachten«, berichtet er später. Unter dieser Ausbeute befinden sich auch zahlreiche Stücke jener neuen Art, die Wallace dann unter dem zungenbrecherischen Namen Cyphagastra calepyga beschreibt.

Jeden Morgen geht er selbst auf die Jagd nach Schmetterlingen, »welche in ziemlicher Menge vorhanden und mir fast alle neu waren; denn ich fand mich jetzt auf der Grenze zwischen den Molukken und Neuguinea – einer Region, deren Produkte damals zu den kostbarsten und seltensten der europäischen Kabinette gehörten«. Scharlachrote Loris und Papageien erfreuen Wallace’ Auge, prächtig gelb und schwarz gefärbte Schmetterlinge der Gattung Papilio, hübsche kleine Bläulinge, blau-schwarze und schöne grüne Blumen- und Tigerkäfer, weiße Schmetterlings-Orchideen der Gattung Phalaenopsis, kleine grüne Eidechsen mit »Schwänzen vom schönsten, himmlichen Blau«. Wallace schwärmt davon noch Jahre danach. Dagegen machen sich Säugetiere auf Kai rar. »Nur zwei Vierfüßer bewohnen, wie die Eingeborenen sagen, die Insel«; die einen sind verwilderte Schweine – uninteressant für ihn; aber auch ein Kletterbeutler der Gattung Cuscus, den Wallace indes hier nicht zu Gesicht bekommt, ein Beuteltier wie in Australien, ihm aber bislang ganz fremd.

Nur sechs Tage bleibt er auf der Großen Kai-Insel. Doch an vier Sammeltagen fangen er und seine Helfer insgesamt 13 Vogelarten und 194 Arten von Insekten, einschließlich 35 verschiedener Schmetterlinge; noch dazu drei Arten von Landschnecken. Viele dieser Tiere sind in Europa gänzlich unbekannt. Allein ihr Verkauf wird ihm die Kosten seiner Expedition wieder einbringen. Und Wallace steht erst am Beginn der Reise ans Ende des indo-australischen Archipels. Anfang Januar haben die Kai-Insulaner die beiden kleinen Boote fertiggestellt, und er segelt mit der Prau des Herrn Warzbergen gen Osten ab, weiter nach Aru.

Auf den Aru-Inseln:

Noch einmal verbringt Alfred Russel Wallace anderthalb Tage auf See. Ohne davon mehr als eine vage Vorstellung zu haben, verlässt er bei seiner Überfahrt von knapp sechzig Seemeilen jene Region des Archipels, in der das Meer bis in mehr als zweitausend Meter Tiefe abfällt. Hier, kurz vor den Aru-Inseln, springt der Meeresboden nun förmlich sockelartig herauf und formt den Rand des riesigen Sahul-Schelfs. Von Aru bis Neuguinea und Australien ist das Meer dann keine hundert Meter mehr tief. Wallace segelt über ein seit erdgeschichtlich erst kurzer Zeit überflutetes Land; ein geographischer Umstand, der sich bald als höchst bedeutungsvoll herausstellen soll.

Am Abend des 8. Januar 1857 kommt Wallace auf der kleinen Aru-Insel Wamma an. Es ist sein Geburtstag, 34 Jahre alt ist er an diesem Tag. Die Aru-Inselgruppe, wo er sechs Monate bleiben wird, markiert den östlichsten Punkt seiner gesamten Expedition durch den Archipel. Nur wenig weiter als hundert Kilometer von der Küste Neuguineas entfernt gelegen, bestehen die Arus aus etwa einhundert kleineren Eilanden und einem halben Dutzend größerer Inseln, von denen Wallace später in seiner Karte Wokan, Maikar und Kobror als die drei größten verzeichnet (eine vierte im Süden, Trangan, bleibt ihm noch unbekannt). Die Aru-Inseln mit ihren von Korallenriffen eingefassten Küsten sind gleichmäßig und üppig von Mangroven und tropischem Tiefland-Regenwald bedeckt; anders als die Kai-Inseln aber niedrig und flach, kaum irgendwo erheben sie sich höher als 70 Meter. Auf den ersten Blick ist es eine eher unspektakuläre Inselgruppe, aufgebaut aus Korallenkalk mit einer nur dünnen Bodenschicht, durchzogen von eigenartigen, schmalen Wasserstraßen. Wallace wird diese Kanäle für Überreste von Süßwasser führenden Strömen halten; doch es sind – einmalig auf der Welt – fünf schmale Meeresarme, nicht breiter als anderswo Flüsse. Sie lassen die Aru-Inseln auf seiner Karte wie ein Stück Land erscheinen, das an fünf Nahtstellen auseinanderplatzt.

In dem winzigen Dörfchen Dobbo schlägt Wallace sein Quartier auf. Dobbo ist zu dieser Zeit ein saisonaler Außenposten der Handel treibenden Chinesen und Bugis, der Seenomaden von der Insel Celebes, die jährlich Aru besuchen. Der Ort besteht aus kaum mehr als drei Reihen von Häusern und Hütten, die zugleich als Lagerschuppen dienen; sie sind aus Pfosten, Balken und geflochtenen Palmblättern als Wände gebaut, Stroh bedeckt die Dächer. Mit Bedacht gewählt, liegt Dobbo auf einer schmalen, sich ins Meer erstreckenden, von Sand und Korallenbänken aufgebauten Landzunge. Sie bietet den Booten und Praus zu beiden Seiten Schutz vor den beständigen Monsunwinden, während eine stetige Meeresbrise die mehr als lästigen Stechmücken abhält, die Malaria verbreiten. Noch ist es früh in der Saison, der Ort beinahe verlassen, nur wenige der Handeltreibenden sind bereits angekommen. Wallace richtet sich auf Anraten des Herrn Warzbergen in einer der noch leer stehenden Palmblätterhütten ein. Ein aus Rohr gefertigter Stuhl, eine breite Bambusbank als Sofa und Bett zum Schlafen, grobe Holzbretter für Tisch und Regal dienen Wallace als durchaus zufriedenstellendes Mobiliar. Einige Matten werden auf dem Boden ausgebreitet und kurzerhand ein Fenster für mehr Licht in die Palmblattwand geschnitten. Mehr braucht er hier nicht, um sich so wohlzufühlen, »als hätte ich eine gut ausgestattete Villa erworben; dem Aufenthalt in dem Haus sah ich mit ungetrübtem Vergnügen entgegen« – er, der nun als erster Europäer überhaupt für einige Zeit auf den Aru-Inseln leben wird.

Schon am nächsten Tag machen sich Wallace und seine beiden Helfer Ali und Baderoon auf, geleitet von einem ortskundigen Führer, ins Innere der Insel vorzudringen. Doch der Weg ist mühsam. Entweder führen die schmalen Pfade sie in Sumpfland oder werden durch umgestürzte Bäume und die kräftigen, klebrigen Netze großer Spinnen versperrt. Nur mit einigen Schwierigkeiten, so schildert Wallace diese erste Exkursion auf Wamma, befreit man sich aus den Gespinsten der großen, gelb gefleckten Monster mit einem Körper von über fünf Zentimeter und entsprechend langen Beinen; keine angenehmen Zeitgenossen, man möchte nicht mit der Nase voran gegen sie laufen, wenn man auf der Jagd nach Schmetterlingen ist oder zu einem Vogel hochschaut, der irgendwo im Geäst singt.

Allerdings wird ihm bereits dieser erste Ausflug auf Aru reichlich belohnt. Neben einigen Landschnecken, die Wallace entlang eines sumpfigen Urwaldpfades aufsammelt, sowie hübschen Käfern und einer »süperben« Wanze fängt er gleich am ersten Tag dreißig Schmetterlinge; »mehr, als ich jemals an einem Tage, seit ich die ergiebigen Jagdgründe am Amazonas verlassen, gefangen hatte«, wird er später berichten. »Der große und schöne Geisterfalter, Hestia d’urvillei, ein Tagpfauenauge mit blassfarbenen Flügeln, Drusilla catops, und die brillanteste und wundervollste der hellschwingigen Motten, Cocytia d’urvillei, waren besonders interessant, ebenso mehrere kleine ›Bläulinge‹, die an Glanz und Schönheit allem, was die Schmetterlingswelt produzieren kann, die Waage halten«. Die Schmetterlinge, die er hier findet, sind nicht nur farbenprächtig und schön; es sind wahre Kostbarkeiten. Denn kaum ein Sammler vor ihm hat sie jemals gefangen; und wenn überhaupt, sind sie nur durch einige wenige Exemplare aus Neuguinea bekannt.

Zwar verhindert wechselhaftes Wetter mit tagelangen Regenfällen zunächst weitere Exkursionen. Doch am dritten Tag scheint die Sonne von einem strahlend blauen Himmel und Wallace hat das Glück, eines der prächtigsten und größten Insekten der Erde zu fangen – den zu den Ritterfaltern oder Papilioniden gestellten Vogelschwingen-Schmetterling Ornithoptera; mit einer Spannweite, die immerhin einer ausgestreckten Hand entspricht. Dieses zarte Gliedertier wird ihn zu einer fundamental wichtigen Einsicht führen, die während der kommenden Monate auf Aru und den anderen Inseln im Archipel heranreift. Auch darüber wird er wieder einen eigenen klar formulierten Aufsatz schreiben. Diesem folgt, dadurch angeregt, ein zweiter, mit allgemeineren Schlussfolgerungen, den aber in England zu diesem Zeitpunkt kaum jemand in seinem wahren Wert erkennt. Ähnliche Vogelfalter, deren Männchen seidig grün schimmernde Flügel besitzen (die Weibchen sind unscheinbarer braun gefärbt), hat Wallace erstmals 1855 in Sarawak, im Norden der Insel Borneo, fliegen gesehen. Es gelang ihm sogar, diese Vertreter einer neuen Art zu fangen, die er in einer kurzen, prägnanten Arbeit sogleich als Ornithoptera brookiana beschrieb. Und erst vor wenigen Tagen sah er auf der Kai-Insel ebenfalls solche grünschwingigen Ornithoptera; sie flogen indes stets zu hoch, um ihrer habhaft zu werden. Den grün-schwarz gefärbten Schmetterling hier auf Aru hält Wallace zunächst für einen Vertreter der Art poseidon. Mit zwei typischen schwarzen Flecken auf den Hinterflügeln ist sie bisher nur von Neuguinea beschrieben worden. Als er das Tier dann genauer untersucht, erkennt er jedoch, dass ihm offenbar eine für Aru typische Form ins Netz gegangen ist. Denn sein Schmetterling hat drei dieser markanten Flügel-Flecken. Wallace ist überrascht, weiß er doch, dass auch auf anderen Molukken-Inseln ganz ähnlich irisierend grün gefärbte Vogelfalter vorkommen. Bereits der emsige Systematiker Carl von Linné in Schweden hatte ein Jahrhundert zuvor einen Ornithoptera priamus – frei nach der homerschen Sage – benannt, der von der benachbarten Molukken-Insel Ambon stammt. Dank seiner Studien in den Londoner Museumssammlungen weiß Wallace, dass dieser priamus stets vier der typischen Flügelflecken besitzt. Zwei Flügelflecken bei poseidon im Osten, vier bei priamus im Westen und nun drei bei diesem Falter hier auf Aru, der sich damit in seinen äußeren Merkmalen wie seinem örtlichen Vorkommen gleichsam zwischen beide schiebt. Immer häufiger denkt Wallace nun über solche eigenartigen Abänderungen nach. Es ist, als ob die Natur geradezu spielerisch mit jeweils lokalen Formen umgeht und je nach Insel das gleiche Thema und Motiv wie ein begabter, experimentierfreudiger Komponist immer wieder variiert. In nächster Zeit wird Wallace die Frage nicht mehr loslassen, was solche Abwandlungen bis hin zu völlig neuen Arten hervorbringt.

Noch aber tritt in ihm der einem großen Geheimnis nachspürende Naturforscher zurück; Wallace’ spätere Schilderung seines Vogelfalter-Fangs zeigt ihn vor allem als leidenschaftlichen Naturaliensammler. »Ich zitterte vor Erregung, als ich ihn majestätisch zu mir herabkommen sah, und konnte kaum glauben, dass mir wirklich der Streich gelungen, bis ich ihn aus dem Netz gezogen hatte und in Bewunderung verloren auf das samtige Schwarz und schillernde Grün seiner Flügel mit achtzehn Zentimeter Spannweite, auf seinen goldenen Körper und seine karmesinrote Brust starrte; wohl hatte ich ähnliche Insekten in Kabinetten meiner Heimat gesehen, aber es ist eine ganz andere Sache, selbst so etwas zu fangen, es zwischen seinen Fingern sich winden zu fühlen und auf seine frische und lebendige Schönheit zu schauen – ein leuchtendes Juwel, das aus dem stillen Dunkel des finsteren und verschlungenen Waldes hervorstrahlt. Das Dorf Dobbo barg an jenem Abend wenigstens einen Zufriedenen!«

Nicht jeder Tag auf Aru verläuft allerdings für ihn so erfolgreich. Das Wetter bleibt unbeständig, Regenwolken verdunkeln den Himmel, bevor sich wieder schönster Sonnenschein zeigt. Regen und Wind verhindern oft weitere Ausflüge in die Umgebung; nur an vier der ersten sechzehn Tage kann er losziehen. Dennoch wird ihm Aru zum gelobten Land. Wallace fängt weitere Insekten, die in großer Zahl vorkommen. An seinen Handelsagenten, Samuel Stevens, der in London für den Verkauf seiner Naturalien sorgt, schreibt er im März 1857 aus Dobbo. »Beruhigen Sie unsere entomologischen Freunde. Wohl neun Zehntel aller Arten, die ich hier finde, sind neu für englische Sammler.« Stevens sorgt in England dafür, dass Wallace’ wertvolles Sammelmaterial sogleich potente Käufer unter den auf exotische Naturalien Versessenen findet. Für sie vor allem jagt Wallace hinter Ritterfaltern, Schwalbenschwänzen und allerlei Käfern hinterher, von denen er weitere, besonders schöne Exemplare sammeln will. Und wahrlich: diese hier auf Aru seien »truely lovely creatures«, murmelt der Naturaliensammler in ihm.

Sechs Wochen lang sieht Wallace fast täglich Schmetterlinge mit stahlblauen Flügeln, die er als Papilio ulysses erkennt, den begehrten Ulyssesfalter; doch jedes Mal bleibt er ohne Chance, einen von ihnen zu fangen. Auch dieser Schmetterling fliegt zu hoch und zu schnell, sein Flug senkt sich nur hin und wieder einmal tiefer gen Boden herab, bevor er wieder zu den Baumwipfeln aufsteigt. Wallace leidet beinahe körperlich, schon fürchtet er, nie einen von ihnen zu fangen. Auch bei den Käfern fängt er bei Weitem zu wenig, um ihn zufriedenzustellen. Nach zwei Monaten intensiver Suche und des Sammelns hat er fünfzig dieser Krabbeltiere erbeutet; so viele wie in zehn Tagen in Singapur, notiert er einigermaßen frustriert. Oft fängt er zudem nur ein einziges Exemplar von jeder Art; so wie es ihm auch mit anderen Insektengruppen geht. Indes fällt Wallace bei ihnen ein eigenartiger Umstand auf. Bereits während der wenigen Tage auf der Kai-Insel hat er einige hübsche Käfer gesammelt, darunter jenen mit dem zungenbrecherischen Namen, den wohl schönsten, den er bisher überhaupt fand; und so wenig Insekten es auf Kai auch waren, sinniert er nun, die meisten von ihnen waren deutlich andere Arten als hier auf Aru. Zwischen Kai und Aru aber liegen nur sechzig Meilen, die hohen Berge von Kai sind bei klarem Wetter von hier aus zu sehen. »Das veranlasst mich anzunehmen, dass ich auf jeder Insel in diesem Teil des Archipels sehr verschiedene Arten erwarten darf«, schreibt Wallace ahnungsvoll an Samuel Stevens in jenem Brief. Es soll ihm bald ein sehr vertrautes Muster werden – und eine Erkenntnis, die nicht ohne Folgen bleibt.

Vögel wie aus dem Paradies:

»Hier bin ich also; ich lebe und bin gesund – und ich arbeite hart!« Zwei Monate sind vergangen, als Wallace dies am 10. März 1857 aus Dobbo an Stevens schreibt. Wir wissen davon, weil dieser die meisten solcher Nachrichten und Briefe unmittelbar nach ihrem Eintreffen in London vor der Königlichen Entomologischen Gesellschaft verliest, die sie kurz darauf in ihren Verhandlungsberichten veröffentlicht. Doch bei allem Sammeleifer, den Wallace an den Tag legt, sind es nicht die Insekten, denen sein eigentliches Interesse gilt. Vor allem unter den Vögeln beobachtet er seltene und wieder nur für Aru oder die australische Region eigene Formen. Dazu zählt der große Palmkakadu Probosciger aterrimus goliath, die später nach ihm benannte Weißkehl-Fruchttaube Ptilinopus wallacei sowie ein großer Buschtruthahn und ein Straußenverwandter, der Kasuar. Diesen sonst nur in Neuguinea und Australien vorkommenden Tieren begegnet Wallace erstmals, als er Anfang Februar an einem schönen ruhigen Tag von Dobbo zur Insel Wokan übersetzt, die Teil der »tanna besar« genannten Hauptinsel ist, um dort zu jagen und zu sammeln. Hier überrascht ihn auch der Anblick einiger der schönsten Palmen, die sonst in diesem Landstrich nicht eben häufig sind; ebenso wie dank eines Stammes hoch aufwachsende Baumfarne, die er zum ersten Mal sieht. »Nichts in der tropischen Vegetation ist so vollkommen schön«, schwärmt er später in seinem Reisebericht. Auf Wokan schießen seine Gehilfen fünf Arten von Vögeln, darunter einen hübschen Fliegenschnäpper, den Goldmonarch Monarcha chrysomela,»von brillant schwarzen und glänzend orangenen Farben, der von einigen Schriftstellern als der schönste aller Fliegenfänger angesehen wird«. Ebenso wie eine zweite Schnäpper-Art war dieser bis dahin nur von der Nordküste Neuguineas bekannt.

Der Abstecher nach Wokan bestätigt Wallace darin, dass er in das tierreiche Innere Arus vordringen muss, wenn er weitere und neue Arten finden will. Doch erst nach wochenlanger Verzögerung und nur dank nicht geringer Überredungskünste gelingt es ihm, Bootsleute und Führer anzuheuern, die sich mit ihm auf diese Exkursion wagen. Denn in diesen Tagen verunsichern Seeräuber in den Gewässern rund um Aru Händler wie Einheimische. Tatsächlich plündern Piraten hier immer wieder die reich mit Waren beladenen Schiffe, bringen die Mannschaften um und kommen sogar gelegentlich an Land, wo sie Siedlungen niederbrennen, die Männer morden und Frauen und Kinder verschleppen. Mitte März erreicht Wallace endlich mit seiner kleinen Schar nach einigen Stunden Fahrt durch einen der von Mangrovensümpfen gesäumten Kanäle das Zentrum der Insel Wokan. In einer höchst einfachen Hütte, die von einem Dutzend Aruaner bewohnt wird, räumen diese ihm etwas Raum ein, wo er eine Woche bleiben kann; seine Helfer schlafen derweil im Boot, um seine Ausrüstung zu bewachen. Einmal mehr schränkt Regen während der nächsten zwei Tage das Sammeln ein; »aber endlich, als ich schon zu verzweifeln begann, kehrte mein Bursche Baderoon eines Tages mit einer Beute zurück, welche mich für Monate vertaner Zeit und unerfüllter Erwartungen entschädigte«.

Es ist ein kleiner Vogel, kaum größer als eine Drossel, doch von einer geradezu aberwitzig verschwenderischen Pracht, die in Wallace Fragen an die Sinnhaftigkeit einer hier waltenden Schöpfung aufkommen lässt. »Der größere Teil seines Gefieders war intensiv zinnoberrot mit einem Glanz wie von gesponnenem Glas. Auf dem Kopf wurden die Federn kurz und sammetartig und gingen in ein prächtiges Orange über. Darunter von der Brust abwärts war er rein weiß von Seidenweiche und -glanz, und quer über der Brust trennte ein Band von tiefem metallischen Grün diese Farbe von dem Rot der Kehle. Über jedem Auge befand sich ein Fleck von demselben metallischen Grün. Der Schnabel war gelb, und die Füße und Beine, von einem schönen Kobaltblau, kontrastierten auffallend mit allen anderen Teilen des Körpers.« Höchst detailliert schildert Wallace später Gefieder und Aussehen dieses »Edelsteins vom reinsten Wasser«. Das vielleicht Bemerkenswerteste an diesem Vogel sind indes eigenartige, grau und grün gefärbte Federbüschel, die der Vogel zu Fächern entfaltet, sowie zwei lange, schlanke Mittelfedern des Schwanzes. Diese ragen aus den übrigen Federn heraus, rollen sich nach etwa 12 Zentimetern spiralig auf und bilden jeweils an der Außenseite einen Fahnenbart, ein Paar eleganter, glitzernder Plättchen, ebenfalls schön metallisch grün gefärbt. »Zusammen mit der höchst exquisiten Schönheit des Gefieders machen diese aufgerollten Federstrahlen ihn zu dem lieblichsten aller lieblichen Naturprodukte«, so schließt Wallace seine Beschreibung jenes Vogels, den die Wissenschaft als Cicinnurus regius kennt – den Königs-Paradiesvogel (bei Wallace heißt er noch Paradisea regia). Die Einheimischen auf Aru nennen ihn schlicht »goby-goby«, und sie sehen in ihm nicht mehr als wir in einer Singdrossel. Für Wallace indes bedeutet er, am Ziel seiner Reise auf die östlichsten Inseln des Archipels angelangt zu sein.

Denn nicht zuletzt wegen dieser »cenderawasih«, die es nur hier gibt, ist er gekommen. Mit diesem Wort aus der Bahasa-Sprache – der Lingua franca in den meisten Orten, die er im indo-australischen Inselreich bereist – bezeichnen die Einheimischen bis heute die vielleicht exotischsten Vögel weltweit. Cenderawasih oder Paradiesvögel haben in Europa von jeher die Phantasie beflügelt. Es sind ebenso exquisite wie legendäre Vögel, die ihren Namen verdienen, ihn aber nicht wegen ihres phantastischen Gefieders bekamen; obgleich dieses zweifelsohne zum Kuriosesten gehört, was sich die Natur in Sachen Vogelschmuck hat einfallen lassen. Als im 16. Jahrhundert die ersten Weltumsegler nicht nur Reichtum verheißende Gewürzladungen, sondern auch die ersten Bälge – die ausgenommene Federhaut – dieser prächtigen Vögel nach Europa brachten, verbreiteten sich rasch wilde Gerüchte. Denn nirgends entdeckte man an ihnen Beine und Füße; so glaubte man lange, die Tiere seien Sylphen – Luftgeister, die in der Unendlichkeit des Himmels lebten –, oder dass sie gar direkt aus dem Paradies kämen. Dabei hatten die Eingeborenen auf Neuguinea und den umliegenden Inseln der Molukken diesen vermeintlich paradiesischen Vögeln schlicht die Beine abgehackt, bevor sie die Tiere abbalgten. Importeure und Händler freilich schürten die »himmlischen« Gerüchte um die exotischen Vögel. Portugiesische Seefahrer, die zuerst zu den Gewürzinseln kamen, haben sie »Passaros de Sol« genannt, die ihnen nachfolgenden Holländer »Avis paradiseus«; und jener bereits erwähnte Linné beschrieb 1760 aufgrund eines wie üblich beinlosen Balgs den Großen Paradiesvogel als Paradisea apoda, der ohne Füße.

Tatsächlich haben die etwas mehr als knapp vierzig bekannten Paradiesvogelarten die wohl bizarrsten Federbildungen im Tierreich. Während die Weibchen meist schlicht grau und braun gefärbt sind, entfalten die Männchen ein in den buntesten Farben strahlendes, von Lichteffekten sprühendes Prunkgefieder. Bei den Paradiesvögeln kennt die künstlerische Gestaltungsfreiheit der Natur keine Grenzen. Noch Jahrzehnte nach Wallace’ Reise zu den Paradiesvögeln dachte ein britischer Vogelkundler am Londoner Naturhistorischen Museum zuerst an eine Fälschung, als er den Balg eines anderen Federwimpel tragenden Exoten von den Gewürzinseln untersuchte. Er meinte, die Wimpelfedern müssten doch wohl ganz offenkundig von Menschenhand angekleistert worden sein; ein dreister Scherzbold habe damit eine Art ornithologischen Wolpertinger fabriziert. Dabei sind die Tiere aber alles andere als ein Scherzartikel der Natur.

Paradiesvögel wurden zu begehrten Sammlerobjekten; nicht nur bei prunksüchtigen Damen in den adeligen Kreisen europäischer Fürsten- und Königshäuser, die sich buchstäblich mit falschen Federn schmückten; auch bei Naturforschern und Naturaliensammlern wurden sie bald zu heiß begehrten Trophäen. Heute zieren Cenderawasih indonesische Banknoten; und wer unter den wohlhabenderen Indonesiern auf sich hält, hat einen ausgestopften Paradiesvogel – meist mit abgespreiztem Gefieder montiert, unter einer Art gläsernen Käseglocke – prominent im Haus zur Schau gestellt. Er dient als Statussymbol und ist ein Prestigeobjekt, das ein Jahrhundert nach Wallace über eine Million Paradiesvögel das Leben gekostet haben dürfte und inzwischen das Überleben der meisten ihrer Arten trotz formalen Schutzes ernstlich gefährdet.

Von Wokan nach Wanumbai:

Bei seinem Abstecher auf die Insel Wokan gelingt es Wallace im März 1857 noch am selben Tag, sogar ein zweites Männchen des Königs-Paradiesvogels zur Strecke zu bringen, »mit gleich vollkommenem Gefieder«. Er ist hochbeglückt, denn bis dahin sind von Cicinnurus regis, dem Kleinsten unter den Paradiesvögeln, keine wirklich gut erhaltenen Exemplare je nach Europa gelangt. Meist werden sie über viele Zwischenhändler weitergegeben, was ihr Gefieder erheblich leiden lässt. Die von Wallace auf Aru selbst erbeuteten Exemplare sind dagegen absolut perfekt. Zudem kann Wallace seinen Cicinnurus erstmals sogar lebend einige Zeit beobachten. »Er besucht die niederen Bäume des weniger dichten Waldes, ist sehr lebhaft, fliegt mit kräftigem Flug und einem schwirrenden Geräusch und hüpft und flattert unablässig von Zweig zu Zweig. Er ißt Früchte mit harten Steinen so groß wie eine Stachelbeere und schlägt mit seinen Flügeln, wobei er die schönen Fächer, mit denen seine Brust geziert ist, erhebt und ausbreitet.«

Wallace fühlt sich privilegiert, diesen »vollkommenen kleinen Organismus« angeschaut zu haben und zu besitzen. Bescheiden fügt er hinzu, dass die Empfindungen eines Naturforschers angesichts solch einer Rarität zu beschreiben einer poetischeren Ader und literarischerer Fähigkeit bedürfe, als er sie besitze, »wenn sie vollkommen zum Ausdruck gelangen sollen«. Dann aber versucht er sich doch daran: »Ich dachte an die lange vergangenen Zeiten, während welcher die aufeinanderfolgenden Generationen dieses kleinen Geschöpfes ihre Entwicklung durchliefen – Jahr auf Jahr zur Welt gebracht wurden, lebten und starben, und alles in diesen dunklen, düsteren Wäldern, ohne dass ein intelligentes Auge ihre Lieblichkeit erspähte – eine üppige Verschwendung von Schönheit. Solche Gedanken wecken eine melancholische Stimmung.« Als Wallace Jahre nach seiner Rückkehr aus dem Malayischen Archipel seinen Reisebericht verfasst, reflektiert er in Erinnerung an den kaum drosselgroßen Paradiesvogel auf eine Weise, die ihn uns heute als seiner Zeit um wenigstens ein Jahrhundert voraus ausweist. »Auf der einen Seite erscheint es traurig, dass so außerordentlich schöne Geschöpfe ihr Leben ausleben und ihre Reize entfalten nur in diesen wilden, ungastlichen Gegenden, welche für Jahrhunderte zu hoffnungsloser Barbarei verurteilt sind; während es auf der anderen Seite, wenn zivilisierte Menschen jemals diese fremden Länder erreichen und moralisches, intellektuelles und physisches Licht in die Schlupfwinkel dieser Urwälder tragen, sicher ist, dass sie die in schönem Gleichgewicht stehenden Beziehungen der organischen Schöpfung zur unorganischen stören werden, sodass diese Lebensformen, deren wunderbaren Bau und deren Schönheit der Mensch allein imstande ist zu schätzen und sich ihrer zu erfreuen, verschwinden und schließlich aussterben. Diese Betrachtung muss uns doch lehren, dass alle lebenden Wesen nicht für den Menschen geschaffen wurden.« Was für ein einsichtsvolles Fazit, welcher Weitblick und welche Ahnung des zerstörerischen Tuns des Menschen!

Diese Passage aus Wallace’ Bericht über die erlesenen und so verletzlichen Vögel gehört in geradezu ikonographischer Weise zu den frühesten Vorboten eines Umweltbewusstseins. Vom zierlichen Vogel streifen seine Überlegungen zum fragilen Ökosystem tropischer Regenwälder; und er formuliert, was wir am Beginn des 21. Jahrhunderts nicht anders ausdrücken würden. Dabei steht die Passage auf kuriose Weise im Widerspruch zu jenem Grund, der Wallace auf die Aru-Inseln führte: um Paradiesvögel für Sammler und Museen in Europa zu erbeuten. »Freuen Sie sich mit mir, denn ich habe bekommen, was ich bei meinem Besuch auf Aru suchte. Ich habe die Paradiesvögel!«, meldet er triumphierend seinem Agenten Samuel Stevens. »Ich glaube, ich bin der einzige Engländer, der jemals selbst Paradiesvögel geschossen und abgebalgt, überdies auch gegessen hat«, so Wallace weiter; »der erste lebende Europäer, der das auf eigenes Risiko und eigene Kosten unternommen hat.« Die exotischen Paradiesvögel sind auch für ihn der große Preis.

Tatsächlich bringen ihm seine gut erhaltenen Exemplare nicht eben wenig ein. Aber auch sie erstmals lebend zu beobachten, ist ihm wichtig: