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Um wirklich zu lieben, muss sie erst ihre inneren Fesseln abstreifen
Hattie Greenfield hat ihr behütetes Leben satt. Selbst ihr Kunststudium scheint sie nicht weiterzubringen. Doch wegen eines kleinen Fehltritts mit dem berüchtigten Lucian Blackstone vor dem Altar zu stehen, war auch nicht ihr Plan. Nun hat sie einen düsteren Schotten am Hals, der sie offenbar eiskalt manipuliert hat. Obwohl Hattie die Anziehungskraft zwischen ihnen nicht leugnen kann, leistet sie ihm und ihren verräterischen Gefühlen entschlossen Widerstand. Als Lucian sie jedoch mit nach Schottland nimmt, wird ihr klar, dass er viel mehr ist als der skrupellose Geschäftsmann, den die Welt in ihm sieht - und sie muss sich entscheiden, ob sie ihrem Ehemann ihr Herz anvertrauen kann.
"Einer der besten historischen Liebesromane, die ich je gelesen habe. Scharfsinnig, zutiefst romantisch und zum Nachdenken anregend." FULLY BOOKED
Band 3 der REBELLINNEN VON OXFORD
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Seitenzahl: 651
Veröffentlichungsjahr: 2021
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
Epilog
Nachwort der Autorin
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Evie Dunmore bei LYX
Impressum
Evie Dunmore
Die Rebellinnen von Oxford
FURCHTLOS
Roman
Ins Deutsche übertragen von Corinna Wieja
Hattie Greenfield hat ihr behütetes Leben satt. Selbst ihr Kunststudium und ihre Arbeit für die Frauenbewegung scheinen sie nicht weiterzubringen. Doch mit dem berüchtigten Lucian Blackstone vor dem Altar zu stehen war auch nicht Teil ihres Plans. Ein kleiner Fehltritt und ihr Leben soll vorbei sein? Ihre Träume zunichte gemacht mit einem einzigen Kuss? Als sie auch noch herausfindet, dass Lucian sie offenbar manipuliert hat und sich durch die Ehe mit ihr lediglich Zugang zur Upper Class verschaffen will, ist sie fassungslos. Nun hat sie einen düsteren Schotten am Hals und womöglich jegliche Chance verspielt, sich in der Kunstwelt einen Namen zu machen. Doch als Lucian sie mit nach Schottland nimmt, um eine Kohlemine zu inspizieren, wird ihr klar, dass er viel mehr ist als der skrupellose Banker, für den er gehalten wird, und dass er auf seine Weise für mehr Gerechtigkeit in der Welt kämpft. Fernab der staubigen Moralvorstellungen Londons eröffnen sich für Hattie neue Horizonte, und sie muss sich entscheiden, ob sie ihrem Ehemann ihr Herz anvertrauen kann.
Für Mama und Oma
London, August 1880
Hattie Greenfield stand unschlüssig auf dem regennassen Bürgersteig vor dem Stadthaus in Chelsea, das sie zu infiltrieren plante, und musste unwillkürlich an den Tag denken, an dem sie ihrem Leibwächter zum letzten Mal ausgebüxt war. Damals hatte dies zu einer Auseinandersetzung mit einer Kröte von einem Polizisten geführt, und eine liebe Freundin war im Millbank-Gefängnis gelandet. Vermutlich begannen all ihre gefährlichsten Abenteuer damit, dem sauertöpfischen Mr Graves zu entwischen. Allerdings auch die besten.
Sie beäugte die Haustür, die über der Eingangstreppe thronte. Der schmiedeeiserne Löwenkopf, der den Türklopfer hielt, hatte absurd lange, spitze Zähne. Eine fast schon überdeutliche Warnung, dass sie gleich die Höhle des Löwen betreten würde, die ein selektiv abergläubischer Mensch wie sie kaum ignorieren konnte. Dieses Mal wollte sie jedoch nicht an einer grundsätzlich riskanten Demonstration für Frauenrechte auf dem Parliament Square in London teilnehmen; ihr Abenteuer bestand vielmehr aus dem Besuch einer privaten Kunstgalerie. Es war also völlig harmlos.
Mit einer Hand raffte sie ihre Röcke und stieg die Treppe hinauf.
Ihre Freundinnen hatten sie allerdings darauf hingewiesen, dass die Kunstausstellung im Haus von Mr Blackstone stattfand, einem Mann, dem die feine Gesellschaft den Spitznamen Beelzebub gegeben hatte und der zufällig ein geschäftlicher Rivale ihres Vaters war. Und nein, man sollte sie besser nicht dabei ertappen, wie sie ohne Anstandsdame seine präraffaelitischen Kunstwerke bewunderte. Sie konnte jedoch erstens fast sicher davon ausgehen, dass Mr Beelzebub nicht anwesend sein würde. Tatsächlich hatten ihn bisher nur wenige persönlich gesehen. Zweitens hatte sie sich für die Führung unter dem Namen »Miss Jones« eintragen lassen, eine Studentin der Klassiker in Cambridge, und nicht als Harriet Greenfield, Bankenerbin und Kunststudentin in Oxford. Und drittens nahmen an der Führung durch die Gemälde- und Antiquitäten-Ausstellung weitere junge Kunstliebhaberinnen und vermutlich auch deren Anstandsdamen teil, und die Einladung in ihrem Retikül besagte, dass sie diese warten ließ. Die Führung hatte um Punkt zwei Uhr begonnen, und ihre kleine Taschenuhr brannte ihr bereits fast schon ein Loch ins Kleid.
Da die dumpfen Schläge mit dem Türklopfer ungehört in der Eingangshalle zu verhallen schienen, betätigte sie die Klingel.
Stille.
Ungeduldig tippte sie mit einer regenfeuchten Schuhspitze auf den Boden. Offenbar hatte die Führung ohne sie begonnen. Da war sie nun extra aus der Kutsche gestiegen, die schon kurz nach Verlassen des Bahnhofs Victoria Station wegen des Regens stecken geblieben war, und die restliche Viertelmeile zu Fuß gelaufen – und das alles vergeblich? Beharrlich schlug sie den Klopfer gegen die Eichentür.
Oder hatte sie sich vielleicht wieder einmal vertan? Sie holte die Einladung aus ihrem Retikül und verglich konzentriert die Adresse mit der Hausnummer. Ja, sie befand sich vor Nummer zwölf im Carlyle Square. Der Platz war nur klein, sie bezweifelte, dass es hier eine Nummer 21 gab. Sie klopfte erneut und gleich noch mal.
Unvermittelt schwang die massive Tür auf.
Der Mann, der vor ihr stand, war gewiss kein Butler. Sein schütteres graues Haar war zerzaust, und er trug eine mit Farbflecken übersäte Schürze. Ein stechender Geruch stieg ihr in die Nase. Wachspolitur für Antiquitäten? Verstohlen versuchte sie herauszufinden, ob ihr sein langes, faltiges Gesicht aus Kunstkreisen vertraut war. Seine Musterung fiel keineswegs so unauffällig aus: Zuerst schwenkte sein Blick zur Seite, wo ihre Anstandsdame hätte stehen sollen, dann glitt er vom durchnässten Saum ihres Umhangs nach oben zu ihren inzwischen wohl zweifellos zerzausten roten Locken.
»Und Sie sind?«, fragte er gedehnt.
Sie räusperte sich. »Ich bin wegen der Führung hier.«
»Der Führung?« Erkenntnis blitzte in den Augen des Mannes auf. »Ah, die Führung.«
»Ja.«
Abfällig verzog er den Mund. »Verstehe.«
Sie wippte von einem Fuß auf den anderen. »Es tut mir leid, dass ich mich verspätet habe, aber ich wurde aufgehalten. Ich komme von außerhalb Londons, wissen Sie, und meine Begleiterin … fühlte sich unwohl, und dann war der Verkehr auf der Lyall Street wegen des heftigen Regens wirklich fürchterlich, die Straßen sind …«
»Nun kommen Sie schon herein.« Er machte einen Schritt zur Seite und winkte sie näher.
Er war verärgert, männliche Künstler hatten dieses Vorrecht, ihren Unmut kundzutun, wenn man sie bei ihrer Arbeit störte.
Kein Dienstmädchen war in Sicht, um ihr den Mantel abzunehmen. Die Eingangshalle war gähnend leer. Ein mulmiges Gefühl machte sich in Hattie breit. Der Wachspoliturmann war ihr jedoch schon ein ganzes Stück voraus, seine eiligen Schritte hallten auf dem schwarz-weiß gefliesten Boden wider.
»Sir.« Sie eilte ihm auf nassen, quietschenden Schuhen hinterher.
In dem dunklen Flur, den sie betraten, befand sich eine Reihe faszinierend schöner Statuen und Vasen, aber Hattie musste sich leider darauf konzentrieren, nicht auf feuchten Absätzen auszurutschen. Der Mann war inzwischen stehen geblieben und öffnete eine Tür. Er bedeutete ihr einzutreten, aber sie verharrte auf der Schwelle. Das Zimmer war zwar hell erleuchtet, aber es gab keine Spur von den anderen Teilnehmern der Tour. In dem Raum befand sich keine Menschenseele.
Ungeduldig machte der Maler eine scheuchende Bewegung zu einem Sofa. »Nur zu, setzen Sie sich.«
Selbst von der Türschwelle aus war es offensichtlich, dass das Sofa aus der Zeit von Louis XIV stammte; wenn sie sich mit ihrem nassen Umhang auf die buttergelbe Seide setzte, würde sie es beschädigen.
»Würden Sie bitte jemanden schicken, der mir meinen Mantel abnimmt, Mr …?«
Der Mann neigte den Kopf in einer spöttischen Verbeugung. »Man wird sich gleich um Sie kümmern.«
»Sir, könnten Sie wohl …«
Er schlug ihr die Tür vor der Nase zu.
Verwirrt starrte Hattie auf das weiße Holz.
»Na gut.« Sie atmete tief aus.
In der Stille schien ihr Herz unnatürlich laut zu schlagen. Schweißperlen liefen ihr warm über den Rücken. Gefahr, warnte ihre innere Stimme. Lord der Unterwelt. So hatte ihre Freundin Lucie den Herrn des Hauses hier bezeichnet. Und Lucie wusste, wovon sie sprach, denn ihr Verlobter, Lord Ballentine, hatte sich kürzlich Geld von Mr Blackstone geliehen, um ein Verlagshaus zu kaufen.
Sie setzte ein Lächeln auf. »Das ist ein Abenteuer«, redete sie sich gut zu. »Ein fabelhaftes, spannendes Abenteuer.«
Das Zimmer, in dem sie stand, erinnerte tatsächlich an eine Piratenhöhle, in der sich die Schätze stapelten. Auf jedem Regal, jedem Tisch drängten sich Kunstwerke aneinander: glänzende Porzellanfiguren – Meißen, nach einem zweiten Blick zu urteilen. Filigrane, mit Gold verzierte Elfenbein-Statuetten; reich geschnitzte Kästchen in allen Schattierungen von Jadegrün. Einige ausgewählte Kostbarkeiten wurden von kleinen Tischlampen beleuchtet, deren hauchdünne Keramikschirme das Gaslicht hindurchschimmern ließen wie Seide. Die gegenüberliegende Wand zierte eine Tapete mit floralen Motiven – eigentlich eine Verschwendung, da die Wand vom Boden bis zur Decke mit Gemälden behängt war, deren vergoldete Rahmen sich fast berührten.
»Oh du liebe Güte.« Sie lachte leise. Ein Gemälde von Cranach dem Älteren hing direkt neben einer Picknickszene, die von Monet stammen könnte. Diese Sammlung war, objektiv betrachtet, noch weitaus faszinierender als die Präraffaeliten.
Schockierenderweise übte das knisternde Feuer im Kamin jedoch gerade einen viel größeren Reiz auf Hattie aus. Vorsichtig schlängelte sie sich an den vollgestellten Konsoltischen vorbei. Dennoch verfing sich ihr Umhang an einem davon, worauf eine Porzellanballerina in Spitzenschuhen gefährlich ins Schwanken geriet. Lieber Himmel. Was hatte sich Mr Blackstone oder sein Kurator bloß dabei gedacht, solche kostbaren Antiquitäten wie Gäste auf einer zwanglosen Dinnerparty zu versammeln, noch dazu in einem Raum, der für die Öffentlichkeit zugänglich war?
Das Feuer im Kamin strahlte nur eine schwache Wärme aus. Ihr Bild in dem breiten Spiegel über dem Kamin war gleichermaßen enttäuschend: Die bauschige Feder an ihrem Hut war durch den Regen inzwischen so dünn wie ein Rattenschwanz, ihre gewöhnlich seidigen Locken waren struppig, und ihre Himmelfahrtsnase glänzte rosa. Wenn schon ihr Gesicht so aussah, wie mitgenommen waren nach dem kurzen Spaziergang wohl erst ihre Schuhe? Sie streckte einen Fuß unter dem Saum hervor. Zierliche Absätze, weiße Seide, mit winzigen Perlen bestickt. Eine völlig ungeeignete Wahl für einen solchen Ausflug, aber es war eins ihrer liebsten Paar Schuhe. Das nun leider völlig ruiniert war. Ihr Magen zog sich zusammen.
An allem war allein Professor Ruskin schuld. Hätte er ihre Interpretation von der Entführung der Persephone in der vergangenen Woche nicht als »entzückend« betitelt, wäre sie an diesem Morgen nicht in den Zug gestiegen. Es war ein »entzückend« zu viel gewesen, seit sie sich im vergangenen Jahr in Oxford für ein Kunststudium eingeschrieben hatte. Ruskin hatte es im Vorübergehen gesagt, mit freundlichem Nicken, und war dann neben ihr vor Lord Skeffingtons Leinwand stehen geblieben, um sein Werk in aller Ausführlichkeit zu beurteilen. Sie hatte die Ohren gespitzt, um jeden Ratschlag aufzuschnappen, als der Professor erklärte, wie man einem Gemälde mehr gotische Tiefe verlieh. Irgendwie hatte sich dann im Laufe der Unterrichtsstunde der Gedanke in ihren Kopf geschlichen, dass sie sich die Ophelia von Millais anschauen musste. Der Haken: Das Gemälde befand sich in Mr Blackstones privater Sammlung. Aber vielleicht war die Versuchung, einen Fuß in Mr Blackstones Haus zu setzen, dem einzigen Mann in Großbritannien, der es wagte, die Lunch-Einladungen ihres Vaters zu ignorieren, ebenso verlockend gewesen wie die Ophelia …
Ihre Aufmerksamkeit wurde unwillkürlich von den beiden bauchigen grün lackierten Vasen angezogen, die die Uhr auf dem Kaminsims flankierten. In ihrer tönernen Schlichtheit schienen die Vasen wenig bemerkenswert, weshalb man sie so leicht übersah wie arme Verwandte in einem luxuriösen Ballsaal. Und dennoch … Sie betrachtete das Relief der Vasen, und ein Schauer überlief sie. Tatsächlich bestaunte sie gerade ein außergewöhnliches Kunstwerk.
Nein, sie sollte es nicht berühren. Besser nicht.
Sie zog den Handschuh von ihrer linken Hand und stopfte ihn in die Manteltasche, dann strich sie sacht mit dem Zeigefinger über das Muster am Vasenrand. Mit ein bisschen Glück fand sie eine Marke, die ihren Verdacht bestätigte, wenn sie es wagte, danach zu suchen.
Die Entscheidung war schnell gefällt.
Mit beiden Händen umfasste sie die Vase, so behutsam, als hielte sie ein rohes Ei, und drehte sie um. Es gab eine Marke. Die feinen Härchen auf ihren Armen stellten sich auf. Diese unscheinbare Vase stammte mit fast absoluter Sicherheit aus der Han-Dynastie und war beinahe zweitausend Jahre alt – falls sie echt war. Ihre Hände wurden feucht.
»Mir wäre es lieber, wenn Sie das nicht anfassen würden«, vernahm sie eine schroffe Stimme hinter sich.
Sie schrie auf und presste die Vase an die Brust.
Das Bild im Spiegel ließ sie erstarren.
Der Pirat war in seine Höhle zurückgekehrt.
Sie war so vertieft gewesen, dass sie ihn weder gehört noch gesehen hatte. Wahrscheinlich beobachtete er sie schon eine Weile, denn er stand mit einer Schulter an den Türrahmen des Nebenraums gelehnt, die Arme über der breiten Brust verschränkt. Mit einem hohlen Gefühl im Magen drehte sie sich zu ihm um.
Natürlich war er kein Pirat, aber ein anständiger Mann war er auch nicht. Er trug kein Jackett, keine Krawatte, und seine hochgerollten Hemdsärmel gaben den Blick auf muskulöse Unterarme frei. Seine wilden kohlschwarzen Haare waren zu lang, über das markante Kinn und die Wangen zog sich ein Bartschatten. Das Flegelhafteste an ihm waren jedoch seine Augen – darin lag ein solch intensiver Blick, dass ihr trotz ihrer nassen Strümpfe warm wurde.
»Ich wollte nur …« Ihre Stimme brach.
Er schloss die Tür, und sie umfasste die Vase ein wenig fester. Offensichtlich hatte man ihn geschickt, um sie für die Führung abzuholen, aber ihre innere Stimme drängte sie zur Flucht. Geschmeidig näherte er sich ihr, zu geschmeidig; jedenfalls stieß er gegen keines der erlesenen Artefakte, als er auf sie zukam. Sie verharrte reglos wie ein verschrecktes Kaninchen, bis er direkt vor ihr stand.
Sein Anblick zog einen tatsächlich in den Bann. In seinem bleichen Gesicht lenkten die tintenschwarzen Brauen den Blick sofort auf seine Augen, die hart und grau wie Schiefer unter den dunklen Fächern seiner Wimpern wirkten. Seine Züge waren rau und maskulin, aber wohlgeformt, ihre Symmetrie nur vage von seiner wohl einmal gebrochenen Nase beeinträchtigt. Er besaß die alterslose Ausstrahlung eines Mannes, der sich bereits zu viel und zu früh mit dem Leben herumgeschlagen hatte.
Ihren Blick festhaltend legte er zwei Finger seiner rechten Hand um den Hals der Vase. Die sie immer noch umklammerte wie eine auf frischer Tat ertappte Diebin.
»Die geben Sie besser mir«, sagte er.
Ihre Wangen röteten sich vor Scham, und Hitze stieg in ihr auf, als sie die kostbare Keramik losließ. Sie hatte Brüder und studierte gemeinsam mit Männern, und in deren Gegenwart verschlug es ihr nie die Sprache. Eigentlich war sie auch sonst selten um Worte verlegen. Aber als der Mann die Vase auf das Kaminsims zurückstellte und sie seinen Duft einatmete, eine angenehm frische Mischung aus Kiefernseife und Wäschestärke, die im Widerspruch zu seinem Piraten-Aussehen stand, wusste sie nicht, wohin sie schauen sollte. Sie war sich viel zu bewusst, dass dieser Mann ein Mann war.
Er war nur durchschnittlich groß, aber sein feines Baumwollhemd schmiegte sich eng um seine breiten Schultern und deutete Muskeln und Wölbungen an, die Gentlemen gewöhnlich nicht besaßen.
Sie ließ den Blick zu seinem Gesicht wandern; im selben Moment senkte er den Kopf, und ihre Blicke trafen sich erneut in einhelliger Musterung. Eine kleine Narbe spaltete links seine Oberlippe.
Ihr Mund wurde trocken. Es lag sicher nur am Licht, aber es kam ihr so vor, als hätten sich seine Augen verdunkelt.
»Ich wollte sie gar nicht anfassen«, sagte sie steif.
Ein leicht ironischer Ausdruck spiegelte sich kurz in seiner Miene, doch selbst dies milderte die harten Züge um seinen Mund nicht. »Und mit wem habe ich das Vergnügen, Mrs …?«
»Miss. Mein Name ist Miss Jones.« Ihre Stimme klang unnatürlich schrill.
Seine Augen leuchteten auf, als hätte er die Lüge erkannt. »Und was führt Sie hierher, Miss Jones?«
Er war Schotte. Er rollte das R, das dadurch fast wie ein leises Knurren klang. Das erklärte auch seinen keltisch hellen Teint und die schwarzen Haare. Interessanterweise strahlte sein Körper mehr Wärme aus als das Feuer im Kamin. Das wusste sie, weil er viel zu nah vor ihr stand. Seine rechte Hand lag immer noch auf dem Kaminsims nahe ihrer Schulter, sein Arm schnitt ihr den Fluchtweg nach links ab.
Nervös leckte sie sich über die Lippen. Was sie hierher führte? »Die … Führung?«
Er spannte die Schultern unmerklich an. »Sind Sie sich dessen auch sicher?«
»Natürlich. Und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sofort …«
Er hob eine Hand an ihr Gesicht und strich leicht mit dem Daumen über ihre Wange.
Der Mann hatte sie berührt. Ein Mann hatte sie berührt.
Plötzlich schien die Welt still zu stehen. Sie sollte schreien. Ihm eine Ohrfeige geben. Aber ihr Körper wollte nicht gehorchen und verharrte reglos. Die Luft zwischen ihnen schien förmlich zu knistern, und eine dunkle Vorahnung überflog sie, dass sie am Rande der Klippe zu etwas Bedeutsamen stand.
Das Grau seiner Augen schimmerte so weich und gefährlich wie Rauch. »Aye«, murmelte er. »Dann sollen Sie die Führung bekommen, Miss Jones.«
Er legte die Finger um ihren Nacken und küsste sie.
Seine Lippen sind weich. Der unbekannte Druck eines weichen, warmen Mundes auf dem ihren war alles, was Hattie wahrnahm. Die Reibung rauer Stoppeln an ihrem Kinn. Die seidig-feuchte Berührung einer … Zunge an ihren Lippen, die Einlass begehrte …
Ruckartig zuckte sie zurück, und ihre Hand schnellte empor. Das Klatschen ihrer bloßen Handfläche, als sie die Wange des Mannes traf, hallte laut wie ein Schuss wider. Sie schrie auf – wenn auch verspätet –, weil sie gerade einen Mann so kräftig geohrfeigt hatte, dass sein Kopf sich zur Seite gedreht hatte.
Er schüttelte sich leicht, ein fassungsloser Ausdruck stand in seiner Miene, dann durchbohrte er sie mit seinem Blick. »Madam ist offensichtlich nicht für diese Art von Führung hier«, stellte er fest.
Mit hämmerndem Herzen stolperte sie ein paar Schritte rückwärts, um aus seiner Reichweite zu gelangen. »Fassen Sie mich nicht an.«
Ihr Rock traf auf ein Hindernis, irgendetwas schabte über Holz, dann war ein Klirren zu hören, als etwas zerbarst. Sie rutschte mit dem linken Schuh aus, verdrehte sich dabei den Fuß, und ein heftiger Schmerz schoss durch ihr Bein. Wieder schrie sie auf.
Der Mann fluchte und setzte ihr nach.
»Halten Sie sich bloß von mir fern!«
Ungerührt kam er weiter auf sie zu, breitschultrig und zielstrebig. Ein hastiger Blick über ihre Schulter verriet ihr, dass sie sich auf halbem Weg zur Tür befand.
Hilfe! Gab es irgendjemanden in diesem riesigen Haus, der ihr zu Hilfe kommen konnte?
Noch ein krachendes Geräusch.
»Miss …«
Blind griff sie nach einem Gegenstand auf einem Tisch und hielt ihn wie einen Degen von sich gestreckt.
»Bleiben Sie, wo Sie sind, sonst verpasse ich Ihnen eine.«
Das schien zu ihm durchzudringen. Er blieb stehen. Den Blick auf ihre improvisierte Waffe gerichtet, hob er langsam die Hände, beschwichtigend, als wolle er ein scheuendes Pferd beruhigen – als ob sie diejenige im Zimmer wäre, die nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte!
»Schon gut«, sagte er. »Aber stellen Sie das ab.«
Sie stellte fest, dass sie die Ballerina in der Hand hielt, die sie vorhin beinahe vom Tisch geschubst hatte.
»Das Stück ist einzigartig«, fügte der Mann hinzu.
»Das weiß ich«, erwiderte sie schroff. »Meißen, die limitierte Edition von 1714.«
Überraschung blitzte in seinen Augen auf und war gleich wieder verschwunden.
»Dann stimmen Sie wohl zu, dass die Figur nicht infolge einer unnötig theatralischen Szene zerstört werden sollte.«
»Unnötig theatralisch?« Ihre Stimme kippte vor Empörung. »Sie, Sir, haben sich mir aufgezwungen!«
»Ein bedauernswertes Missverständnis«, erklärte er, doch er klang nicht besonders reuig.
Sie drohte ihm mit der Tänzerin. »Mr Blackstone wird von Ihrem verruchten Benehmen erfahren.«
Er verzog den Mund. »Zweifellos. Nehmen Sie doch bitte Platz, Miss Jones.« Er deutete auf ihren Rocksaum. »Wie es scheint, haben Sie sich verletzt.«
Er hatte kein Recht, an irgendeinen Teil ihres Körpers zu denken oder darauf zu deuten, aber natürlich musste er seinem unverschämten Verhalten noch die Krone aufsetzen, indem er ihren verstauchten Fuß erwähnte. Er betrachtete sie zudem mit sichtlich wachsendem Unmut, wie ein Raubtier, das sich fragt, warum es sich von seiner Beute herumkommandieren ließ.
Der Schmerz in ihrem linken Fuß pochte wild, als sie sich auf die Tür zubewegte, seitwärts wie eine Krabbe, weil sie den Wüstling nicht aus den Augen lassen wollte. Sie barst buchstäblich in den Flur hinaus. Dem Himmel sei Dank, der mürrische Maler, der sie hereingelassen hatte, und ein schlanker junger Gentleman mit blonden Schnurrbart standen mit wachsamen Mienen ein paar Schritte entfernt von der Tür.
»Gentlemen, ich benötige Ihre Hilfe.« Sie hinkte auf die beiden zu. »In dem Raum befindet sich ein Mann …« Sie deutete mit einem Daumen über ihre Schulter. »Und leider benimmt er sich nicht gerade wie ein Gentleman.«
Die Männer tauschten einen alarmierten Blick. Erst da ging ihr auf, dass die beiden sie vermutlich schreien gehört hatten. Warum sonst sollten sie in der Nähe der Tür herumlungern? Dennoch war keiner von beiden ins Zimmer gekommen, um nachzusehen, ob sie Hilfe benötigte.
Übelkeit stieg in ihr auf, und ihr wurde schwindelig.
Natürlich. Sie sah fürchterlich aus. Sie hatte keine Anstandsdame. Und ihr wallender alter Umhang stammte aus der Truhe in ihrem früheren Kinderzimmer, in der die Kostüme aufbewahrt wurden. Ihre Tarnung funktionierte gerade zu gut.
Im Moment war sie nicht Hattie Greenfield, sie war noch nicht einmal eine respektable junge Dame in Begleitung. Dass sie den Namen ihres Vaters nicht erwähnen konnte, machte sich nun mit aller Wucht bemerkbar, als hätte man ihr einen unsichtbaren Schutzschild genommen, als würde sie nackt vor einer Menschenmenge stehen.
Im Augenblick war sie … ein Niemand.
Sie wandte sich an den blonden Mann, der zwar eingeschüchtert wirkte, aber wohl eher einer Jungfrau in Nöten zur Seite stehen würde als der Maler. »Bitte, Sir, ich brauche wohl einen stützenden Arm …«
Die Aufmerksamkeit der beiden Männer wandte sich von ihr ab und richtete sich zur Tür, was ihr verriet, dass der Barbar im Flur stand. Sie konnte seine dunkle Aura buchstäblich in ihrem Nacken spüren.
»Und wenn Sie mir wohl freundlicherweise eine Droschke besorgen würden«, fuhr sie fort.
»Nicht so hastig«, tönte die finstere Stimme.
»Sie sollten Mr Blackstone außerdem darüber in Kenntnis setzen, dass er einen Grobian beschäftigt, der weibliche Gäste unter seinem Dach belästigt.«
Der blonde Mann riss erschrocken die Augen auf. »Äh.« Er räusperte sich. »Miss …«
Oh. Als ihr die Erkenntnis dämmerte, schloss sie die Augen. »Er steht direkt hinter mir, nicht wahr?«, sagte sie. »Mr Blackstone.«
»In der Tat«, antwortete der junge Mann in entschuldigendem Ton.
Manchmal war sie tatsächlich eine dumme Gans. Schon als der Schotte durch das Empfangszimmer stolziert war, als würde es ihm gehören, hätte ihr seine Identität klar werden müssen. Spätestens jedoch, als er sich ganz selbstverständlich unverschämte Freiheiten herausgenommen hatte. All die üblen Gerüchte, die ihr über ihn zu Ohren gekommen waren, entsprachen offenbar der Wahrheit.
Ein Ruck an der Ballerina erinnerte sie daran, dass sie die Figur immer noch festhielt.
Sie nutzte ihr ohnehin nichts mehr.
Mr Blackstone stand nun in all seiner Rüpelhaftigkeit vor ihr und musterte sie aufmerksam. In der rechten Hand hielt er die Tänzerin; die zierliche Figur verschwand fast ganz in seiner großen Faust.
Beelzebub.
Sein schlechter Ruf als einer der reichsten, skrupellosesten und zwielichtigsten Geschäftsmänner in England eilte ihm voraus. Falls man den Gerüchten glauben konnte, hatte er mehrere Lords des Königreichs in den finanziellen Ruin getrieben. Er sah auch so aus, als sei ihm das zuzutrauen; von den finster blickenden Augen, die scheinbar keine Freude kannten, über seine gebrochene Nase bis zu seiner bulligen, muskulösen Statur, die auf sie so wirkte, als ob er in seiner Freizeit gern dem Amboss-Weitwurf frönte. Nur wenige waren ihm bisher persönlich begegnet, denn er war so flüchtig wie ein Phantom. Und sie hatte ihn geküsst.
Hitze kroch ihr den Nacken hinauf. Wenn ihr Vater davon erfuhr, würde er sie schnurstracks ins Kloster stecken.
Mr Blackstones Augen leuchteten wissend auf, und seine gerunzelte Stirn glättete sich. Er machte einen Schritt zurück und neigte den Kopf. »Blackstone, zu Ihren Diensten. Mein Sekretär Mr Richard Matthews.« Ohne den Blick von ihr zu nehmen, deutete er mit der Ballerina auf den blonden Mann. Den mürrischen Maler stellte er nicht vor.
»Miss Jones«, erwiderte sie hölzern.
»Das sagten Sie bereits.«
Sein schottischer Akzent war verschwunden, aber der Sarkasmus in seiner Stimme war dafür umso deutlicher hörbar. Sie kannte ihn erst seit wenigen Minuten, und doch wusste sie bereits, dass er einer der unkultiviertesten Menschen war, die je ihren Weg gekreuzt hatten. Und er wusste, dass sie log. Sie musste schleunigst dieses Haus verlassen, bevor er ihre wahre Identität enthüllte, denn dann würde dieser unglückselige Ausflug ganz gewiss ihrem Vater zu Ohren kommen.
»Nun«, sagte er. »Welche Führung wollten Sie hier in meinem Haus besuchen, Miss Jones?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich möchte mich jetzt verabschieden.«
Seine Augen verengten sich.
»Ich möchte Ihnen nicht länger zur Last fallen«, sagte sie. Hätte sie sich nicht den Knöchel verstaucht und wären ihre Röcke nicht so eng und die Schuhe nicht durchgeweicht, würde sie einfach die Flucht ergreifen.
Mr Matthews gab einen bedauernden Laut von sich. »Ich fürchte, die Führung, die Sie meinen, wurde abgesagt.«
Blackstone drehte den Kopf zu seinem Sekretär, als erstaune ihn diese Bemerkung. Mr Matthews wand sich sichtlich, aber Hattie wurde leichter ums Herz. »Es war also tatsächlich eine Führung geplant?«, fragte sie. »Allmählich hab ich schon geglaubt, ich hätte mir das alles nur eingebildet.«
Mr Matthews wich dem Blick seines Arbeitgebers aus. »Ja. Ich habe die Absagen gestern verschickt. Der ständige Regen hat ein Leck im Dach der Galerie verursacht, und einige dort ausgestellte Kunstwerke wurden dadurch beschädigt.«
»Hoffentlich nicht die Ophelia?«
Alle drei Männer sahen sie verständnislos an.
»Ich bin hierhergekommen, um mir die Präraffaeliten anzusehen«, erklärte sie Mr Matthews. »Vor allem die Ophelia.«
»Nein, die Ophelia ist unversehrt«, versicherte er.
Beschädigte Kunstwerke erklärten die Anwesenheit des Malers, der mit gelangweilter Miene hinter Mr Blackstone stand. Vermutlich war er der Restaurator. Einen Grund für Mr Blackstones Belästigung lieferte das alles aber nicht. Die ließ sich nur damit erklären, dass alle sie wohl für ein bestelltes Freudenmädchen hielten … Sie erbleichte.
Mr Matthews zupfte am Knoten seiner Krawatte. »Meine aufrichtige Entschuldigung, Miss Jones. Womöglich gab es eine Verzögerung bei der Post.«
»Bitte machen Sie sich keine Gedanken.« Sie zwang sich zu einem Lächeln, um ihn zu beschwichtigen. Die königliche Post arbeitete tadellos, soweit sie wusste. Allerdings wäre der Brief auch an ihre Vertraute in Cambridge geschickt worden, und offenbar hatte Miss Jones sie nicht mehr rechtzeitig über die Änderung informieren können. Allerdings war Hattie an diesem Morgen auch nicht mehr zu ihrem Postfach gegangen, weil sie viel zu beschäftigt damit gewesen war, im Geiste die Schritte durchzugehen, um Mr Graves zu entwischen.
»Matthews«, sagte Mr Blackstone unvermittelt. »Geben Sie Nicolas Bescheid. Er soll Miss Jones nach Hause fahren.«
Sie machte einen Schritt zurück. »Danke, aber das ist nicht nötig.«
Er blickte sie finster an. »Doch, das ist es.«
Mr Matthews eilte bereits auf seinen schlaksigen Beinen den Flur hinunter.
»Wie freundlich, dass Sie darauf bestehen«, sagte Hattie zu Mr Blackstone. »Aber es reicht, wenn Sie mir helfen, eine Droschke zu finden.«
»Meine Kutsche ist schneller, bequemer und steht bereit.«
Sie schüttelte den Kopf, wieder schlug ihr Herz unangenehm schnell. »Ich möchte Ihnen keine Umstände bereiten, Sir.«
»Gut, dann werde ich offen sein, Miss Jones«, sagte er gedehnt. »Womöglich ist es Ihren empfindlichen Ohren entgangen, aber ich habe einen gewissen Ruf.« Er deutete mit dem Kopf auf ihr derangiertes Aussehen. »Und wenn Sie Ihren guten Ruf behalten wollen, dann sollte besser niemand sehen, wie Sie unbegleitet aus meiner Haustür hinken.«
Sie hätte nicht gedacht, dass ihre Wangen noch heißer brennen konnten, aber sie glühten förmlich. Eine Lektion in Anstand und Sitte von einem Mann mit solch schlechten Manieren war, obwohl verdient, der Gipfel der Demütigung im Leben einer jungen Frau. Sie reckte die Nase. »Also gut.«
Mr Blackstone entblößte in einem Lächeln erstaunlich weiße Zähne. Sein linker Eckzahn war angestoßen, als setze sich darin die Narbe in seiner Oberlippe fort. Er hielt ihren Blick fest und rollte in einem verspäteten Anfall von Schicklichkeit die Ärmel runter. Die zerknitterte Baumwolle und die knopflosen Manschetten, die offen um seine Handgelenke fielen, erweckten jedoch den gegenteiligen Eindruck, da ein Mann vermutlich genau so aussehen würde, wenn er sich nach einem heimlichen Techtelmechtel in aller Eile anzog.
Hattie wandte den Blick ab, ihre Kehle war wie zugeschnürt. Ihre Lippen prickelten noch von seinem Kuss, und ihre linke Hand brannte von der Ohrfeige, die sie ihm gegeben hatte. Ihr Knöchel schmerzte teuflisch. Wäre es das schnellste verfügbare Transportmittel gewesen, hätte sie auch auf einem Esel das Haus verlassen.
Eine Vorahnung kroch Lucian Blackstone den Rücken hinunter, als er beobachtete, wie die Kutsche mit dem rothaarigen Wirbelwind sich in den Londoner Verkehr einfädelte. Seltsam, denn er glaubte schon lange nicht mehr ans Schicksal und zog es vor, sein Glück mit eigenen strategischen Mitteln zu schmieden.
»Das war eine von Greenfields Töchtern, richtig?«, fragte er.
Die Erkenntnis war ihm gekommen, als er ihr Gesicht im Flur betrachtet hatte, nachdem sie endlich aufgehört hatte, wild kreischend herumzufuchteln und Antiquitäten zu zerdeppern. Das würde auch das Ziehen in seinem Bauch erklären, das er bei ihrem Anblick sofort verspürt hatte – der sechste Sinn, der sich bei jedem erfahrenen Dieb regte, wenn er etwas Wertvolles erblickte.
»Ich glaube schon, Sir.« Matthews klang nervöser als sonst. »Die roten Haare, die kleine, mollige Gestalt …«
»Ich habe Augen im Kopf, Matthews. Sie …« Er wandte sich an Renwick, der immer noch mit ihm und Matthews an der Hintertür herumlungerte, statt sich seiner Arbeit zu widmen. »Warum in drei Teufels Namen haben Sie mir gesagt, sie sei zum Vögeln hier?«
Renwick kratzte sich am Hinterkopf. »Weil sie ohne Anstandsdame herkam?«
»Eine notwendige Maßnahme, aber keine ausreichende Begründung, Sie Trottel.«
»Soweit ich weiß, erhalten Sie durchaus gelegentlich Besuch von Damen, die ein amouröses Stelldichein mit Ihnen beabsichtigen.«
»Hören Sie gut zu, Renwick«, blaffte Lucian. »Selbst wenn die Hure von Babylon höchstpersönlich hier auftauchen sollte, Sie lassen sie nicht in mein Haus. Haben wir uns verstanden?«
Er rutschte nur selten in den schottischen Dialekt seiner Jugend. An diesem Tag passierte ihm das jedoch immer wieder. Matthews neben ihm zappelte ungeduldig.
»Sie hat einen Höllenlärm veranstaltet«, erwiderte Renwick stur. »Hat wie wild an die Vordertür gehämmert, als sei der Teufel höchstpersönlich hinter ihr her.« Er schüttelte sich leicht – er verabscheute Lärm.
Lucian verengte die Augen.
Das fing Renwicks Aufmerksamkeit ein. »In Ordnung«, murmelte er. »Keine Besucher.«
»Gut«, sagte Lucian und ließ die Sache damit auf sich beruhen. Renwick würde zwar unabsichtlich Spione in Lucians Haus lassen, sein Talent als Maler machte ihn jedoch immer noch zum besten Mann in London, wenn es darum ging, ein fünfhundert Jahre altes Gemälde diskret zu restaurieren.
Nachdem die Tür hinter dem schmollenden Künstler zugefallen war, wandte er sich wieder an Matthews. »Nun zu Ihnen. Wann genau habe ich Galerieführungen für die Öffentlichkeit erlaubt?«
Sein Sekretär wirkte, als wolle er am liebsten die Flucht ergreifen. »Vor ungefähr zwei Monaten, Sir«, erklärte er. »Als eine der Methoden, die Sie gebilligt haben, um … äh … Ihren Ruf aufzupolieren.«
»Vor zwei Monaten?« Eine Erinnerung blitzte in Lucians Gedächtnis auf, und ja, er erinnerte sich an eine Liste, die Matthews ihm vorgelegt hatte. Vage. Weil er gerade erst aus seiner jährlichen Woche des Vollrausches wieder zu sich gekommen war, seiner Woche der Schande, in der er seine düstere Stimmung pflegte und sich die Lichter ausblies.
»Matthews.«
Die Augen des Mannes weiteten sich beunruhigt. »Ja?«
»Mir fällt es schwer zu verstehen, inwiefern es mir hilft, mich im House of Commons beliebt zu machen, wenn feine Schnösel in meinem Haus herumwandern und meine Sammlung betrachten.«
Matthews strich mit den Fingern über seinen Schnurrbart. »Sich durch Philanthropie beliebt zu machen ist ein langwieriger Weg«, sagte er zwischen zwei Strichen über den Bart. »Diese Strategie ist langfristig angelegt und beinhaltet eine Fülle von Maßnahmen, wie zum Beispiel der Öffentlichkeit Ihre Sammlung zugänglich zu machen, ein Mentor der Schönen Künste zu sein …«
»Ich weiß, was Philanthropie bedeutet. Nehmen Sie alles von Ihrer Liste, was Menschen Zugang zu meinen Anwesen erlaubt. Und jetzt besorgen Sie uns eine Droschke, die uns nach Belgravia bringt. Und strengen Sie Ihr Hirn an. Ich will alles wissen, was über das Greenfield-Mädchen bekannt ist.«
Lucians Stadthaus lag lediglich zwei Meilen entfernt, allerdings kamen sie nur langsam voran. Die Straßen waren nass und übersät mit Abfall, den verstopfte Regenrinnen und übergelaufene Kanäle hervorgebracht hatten. Karren und Kutschen stauten sich gefährlich in Trauben, statt sich in ordentlichen Schlangen vorwärts zu bewegen. Die Droschkenfenster waren beschlagen, und der Geruch nach feuchtem Stoff hing in der Luft.
Leider war sein sauberer, von geschickter Hand geführter Zweispänner derzeit unterwegs, um verirrte Erbinnen zu Hause abzuliefern.
Matthews saß ihm gegenüber, die Brauen konzentriert zusammengezogen. »Wenn sie die mittlere Tochter ist, ist sie ungefähr zwanzig Jahre alt, auf jeden Fall noch nicht volljährig.«
»Ist sie verlobt? Die Älteste ist verheiratet, soweit ich weiß.«
Matthews schüttelte den Kopf. »Meines Wissens nach ist sie niemandem offiziell versprochen. Vermutlich ist sie die Tochter, der Greenfield erlaubt hat, in Oxford bei Professor Ruskin zu studieren.«
Eine moderne Frau also. Eine Frau mit einer Meinung, ein Blaustrumpf. Ihr unbegleiteter Ausflug und die verrückte Erklärung, dass sie gekommen war, um an einer Kunstführung teilzunehmen – nicht, um ihn auszuspionieren –, entsprachen demnach wohl der Wahrheit. Warum sie jedoch diesen merkwürdigen alten Umhang getragen hatte, blieb ihm ein Rätsel.
Er stellte fest, dass er sich mit dem Zeigefinger über die Unterlippe fuhr, vor und zurück, als wollte er Spuren ertasten, die ihr weicher Mund womöglich hinterlassen hatte. Ein sehr weicher Mund. Sie hatte süß geschmeckt, nach Regen und gezuckertem Tee. Ihr Duft haftete immer noch an ihm; bei jeder Bewegung glaubte er, den Geruch von Rosen wahrzunehmen. Er hätte sogleich ahnen müssen, dass Renwick sich in ihren Absichten getäuscht hatte – in ihren großen braunen Augen hatte er keinerlei Erfahrung erkennen können. Vielleicht hatte er es auch geahnt und sie sich trotzdem gegriffen – nach all den Jahren übten Kostbarkeiten noch immer eine magnetische Anziehungskraft auf ihn aus.
»Greenfield ist ein Narr, dass er ihr eine so lange Leine lässt«, sagte er mehr zu sich als zu Matthews, aber sein Sekretär nickte wie immer pflichtschuldigst.
Lucian vermutete, dass Julien Greenfield, den Patriarchen von Großbritanniens größter Bank in Familienbesitz, momentan andere Sorgen plagten, als seine Brut im Auge zu behalten. Der Mann hatte Probleme mit seinem privaten Investmentportfolio, insbesondere in Spanien, wo der wieder ermächtigte spanische Monarch in Madrid eine Bankenreformpolitik eingeleitet hatte. Vor ein paar Jahren war er zudem von der Bank der Gebrüder Pereire stark unter Druck gesetzt und fast aus der spanischen Eisenbahnbranche herausgedrängt worden. Deshalb hatte ihm der Finanzier auch in den vergangenen zwei Monaten zwei Einladungen zu einem privaten Lunch geschickt, vermutete Lucian, obwohl sie sich bisher noch nie begegnet waren. Lucian hatte seine Geschäfte in Spanien, bis auf einige wenige Investitionen in Eisenbahnunternehmen, schon längst reduziert. Er besaß jedoch immer noch einen Anteil von dreißig Prozent an dem Eisenbahnkonglomerat Plasencia-Astorga. Das musste Greenfield wohl herausgefunden haben.
Nun, das könnte eine geeignete Maßnahme sein, um seine Mission voranzubringen: sein letztes größeres Aktienportfolio in Spanien zu verkaufen.
»Sagen Sie, Matthews, diese Gutmensch-Liste, die Sie aufgestellt haben«, sagte er. »Was stand da sonst noch drauf?«
Sein Sekretär versteifte sich unwillkürlich, wie ein Schüler, der unerwartet zur Tafel gerufen wurde. Manchmal vergaß Lucian, dass Matthews mit seinen dreißig Jahren sogar ein Jahr älter war als er. Selbst an einem guten Tag fühlte sich Lucian Jahrzehnte älter als sein Sekretär.
»Ich habe Ihnen empfohlen, dass Sie sich öffentlich mit Ihrem Namen zu Ihren wohltätigen Aktivitäten bekennen«, antwortete Matthews. »Das Krankenhaus in York zum Beispiel würde es ohne Ihre finanzielle Unterstützung längst nicht mehr geben. Wir sollten noch in dieser Saison bekannt machen, dass Sie der Spender sind.«
Lucian brummte. »Dem wohltätigen Zweck ist mehr gedient, wenn er nicht durch meinen Namen geschwärzt wird.«
»Aus ebenjenem Grund habe ich mit äußerster Sorgfalt geeignete Projekte ausgewählt. Das Krankenhaus wird nur von den Armen aufgesucht, wieso sollte also jemand von Einfluss Kritik äußern?«
Niemand würde sich darüber mokieren, weil niemand von Einfluss sich für die Armen der Gesellschaft interessierte.
»In Ordnung«, sagte er. »Geben Sie meinen Namen bekannt.«
Matthews wirkte erfreut; offenbar war seine Liste ziemlich geschrumpft, nachdem er Galeriebesuche und dergleichen streichen musste. Vermutlich würde er sich, sobald sie Lucians Haus in Belgravia erreicht hatten, gleich auf sein Zimmer zurückziehen und wie gewöhnlich immer wieder dasselbe Lied auf seiner Querflöte spielen, um seine Nerven zu beruhigen.
Dabei war Matthews’ Ansatz keineswegs dumm – zumindest war er nicht völlig lächerlich –, allerdings hielt Lucian ihn für wenig Erfolg versprechend, weshalb es die Mühe nicht wert war. Er hatte seine Gewohnheiten in den vergangenen Monaten bereits geändert: Er hatte einige Schuldscheine in weniger verruchte Hände als seine verkauft und einen Kredit sogar ganz erlassen, was er zuvor noch nie getan hatte. Bisher hatte dies jedoch keine sichtbaren Ergebnisse gezeigt, wie beispielsweise eine Einladung ins Büro des Schatzkanzlers.
»Eine Sache, Sir, könnten Sie tun, die eine sofortige und vorteilhafte Wirkung für Ihren Ruf hätte«, sagte Matthews.
»Ich bin ganz Ohr.«
Sein Sekretär mied seinen Blick und fixierte eine Stelle hinter seiner Schulter. »Sie könnten damit aufhören, Lord Rutland zu schikanieren.«
Eine eiserne Fessel umschlang Lucians Brust, als er den verhassten Namen hörte. »Niemals«, sagte er leise.
Matthews erbleichte, und Lucian wandte den Blick wieder zu dem schmutzigen Fenster. Waschlappen wie Matthews und ihr nervöses Gehabe strapazierten seine Geduld. Er vermutete jedoch, dass Matthews ihn ebenfalls nicht ausstehen konnte. Der Mann war der vierte Sohn eines Barons; er stand auf der Hierarchieleiter der Aristokratie ziemlich weit unten, und die Schatzkammer seiner Familie war leer, dennoch hielt er sich für etwas Besseres. Hartnäckig klammerte er sich an die Gewohnheiten eines feinen Pinkels und trug Weste, Anzug und Hose in unterschiedlichen Farben. Sein Familienwappen prangte gut sichtbar eingestickt auf seinen Krawatten. Er machte leise Bemerkungen in Latein, und seine bleichen, schmalen Hände hatten nie härtere Arbeit leisten müssen, als diese verdammte Querflöte zu halten oder die Karten bei einem Spiel, das er meist verlor. Ja, es war Matthews gewiss verhasst, Anordnungen von einem Mann wie Lucian entgegennehmen zu müssen. Obwohl dieser Mann ihn aus einer stinkenden Zelle im Schuldner-Gefängnis befreit hatte.
Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis sie vor Lucians Haus in Belgravia ankamen. Sein Arbeitszimmer empfing ihn dank der zugemauerten Fenster mit einer kühlen Ruhe. Die Gaslampen an den Wänden erwachten nur langsam zum Leben und tauchten den höhlenartigen Raum in ein stumpfes gelbes Licht, das die Farben aus den Perserteppichen auf dem Boden und den emporwachsenden Stapeln von Wissenschafts- und Handelsmagazinen saugte. Gaslicht war kein gutes Licht, es war schummrig und rußig. Lucian musste sich nah vor die große Karte an der östlichen Wand des Büros stellen, um die unterschiedlichen Farben der Fäden zu erkennen, mit welchen er die Geldströme innerhalb Europas und zur amerikanischen Ostküste visualisiert hatte. Außerdem ruinierte er sich die Augen beim Entziffern seiner Notizen zur britischen Finanzpolitik, die er an der Wand hinter seinem Schreibtisch befestigt hatte. Sobald Edisons neuartige Glühbirnen und elektrischen Leitungen sich als sicher für den Gebrauch in Innenräumen erwiesen, würde er die Gasleitungen in seinen Häusern abschaffen.
Im Moment beschäftigte ihn jedoch Greenfields Tochter.
Er lehnte sich an die Kante des Schreibtischs. Auf der Geschäftskarte vor ihm zeigten Dutzende von Fäden Kredite, Aktienkapital und Einkommensströme an, die von einer Stecknadel mit dem Namen Greenfield darauf zu verschiedenen Ländern, Institutionen und Industrien wiesen. Das Bild bestätigte, dass Greenfields Unternehmungen in Spanien auf tönernen Füßen standen. Ohne eine Mehrheitsbeteiligung an einer der Eisenbahngesellschaften würde er in diesem Markt wohl auf die Hinterbank verwiesen werden. Männer wie Greenfield spielten jedoch nicht gern die zweite Geige.
Abgesehen von dem leisen Rauschen der Luft, die durch den Lüftungsschacht wehte, herrschte im Raum eine tiefe Stille, während Lucian nachdachte. Natürlich könnte er Greenfield seine Eisenbahnanteile verkaufen. Aber sobald das Geschäft abgeschlossen war, würde der Finanzier das Interesse an ihm verlieren. Geschäftsbeziehungen waren nur so lange verlässlich, wie man voneinander gute Deals erwarten konnte. Aus diesem Grund hatte Lucian auch Greenfields Lunch-Einladungen bisher ignoriert, denn sie boten ihm potenziell die Chance auf einen Platz am Tisch, und solange er nicht sicher war, wie er diese Chance am effektivsten nutzte, tat er vorerst nichts. Er wollte diesen Platz am Tisch. Unbedingt. Es hatte lange genug gedauert, bis er begriffen hatte, dass er sich mit seinem Reichtum allein nicht die Veränderungen erkaufen konnte, die er bewirken wollte. Geld, so hatte er gelernt, war eine völlig andere Bestie als Macht. Die Macht hielt die feine Gesellschaft innerhalb der hermetisch verriegelten Festung gemeinsamer Erfahrungen in Eton, Oxford und Cambridge, strategischen Eheschließungen und der Erbschaftsgesetze fest in ihren Händen. Politik wurde in privaten Hinterzimmern gemacht, bei exklusiven Dinnergesellschaften oder auf Reisen und Ausflügen. Trotz ihrer baufälligen Schlösser und ertraglosen Anwesen nahm für diese inzestuösen Kreise Vermögen immer noch einen geringeren Stellenwert ein als ein guter Name und Beziehungen. Julien Greenfield hatte jedoch inzwischen einen Fuß in der Tür. Ein Jahrhundert nachdem sich seine Familie in Großbritannien niedergelassen hatte, übersah man seine Zugehörigkeit zur Handelsklasse, und er rieb Schultern mit allen einflussreichsten Männern der Gesellschaft.
Lucian setzte sich an seinen Schreibtisch und griff zu seinem Füllfederhalter. Es gab noch einen anderen Weg in diese heiligen Kreise der feinen Gesellschaft. Die einzelnen Schritte seines Plans waren noch nicht gänzlich klar, aber seine Muskeln vibrierten bereits mit der zielstrebigen Anspannung, die er immer verspürte, wenn er eine lohnende Investition witterte.
Er würde sein Geld auf Miss Jones setzen.
Ruskin hatte recht: Die Persephone sah entzückend aus.
Die Erkenntnis traf Hattie kaum zwei Minuten, nachdem die Unterrichtsstunde begonnen hatte.
Sie wich einen Schritt zurück; ihr Blick flog hastig über ihr Gemälde. Das leise Kratzen von Kreide und Pinseln auf Leinwand und die Schritte Ruskins, der im Saal umherwanderte, verblassten im Hintergrund.
Warum war ihr das zuvor nicht aufgefallen?
Da war sie nun, Persephone, und wurde von einem muskulösen Arm um ihre Taille aus ihrem Blumenfeld in die Unterwelt verschleppt, und obwohl ihr das Entsetzen ins Gesicht geschrieben stand, sah sie … sozusagen höflich entsetzt aus. Die Dynamik der Bewegung ihres Körpers, als sie sich von Hades, dem Gott der Unterwelt, wegdrehte, wirkte auf den zweiten Blick merkwürdig gezügelt. So würde man sich wohl kaum bei einer Entführung zur Wehr setzen.
Hattie wischte sich die schwitzigen Hände an der Schürze ab. Was für ein Desaster. Sie hatte sich wohl unbewusst darauf konzentriert, dass Persephone während ihrer Tortur ihre Eleganz bewahrte. Dadurch erweckte ihre Heldin nun den Eindruck, als mache sie sich Sorgen um ihre Frisur, während sie gegen ihren Entführer kämpfte. Wo war die Leidenschaft, die Wut, die Wahrheit? Nein, sie war keine Artemisia Gentileschi. Vermutlich war ihr Gemälde die langweiligste Interpretation der Entführung seit Walter Crane.
Sie stieß einen Klagelaut aus, und die Aufmerksamkeit aller männlichen Studenten im Raum wandte sich mit einem hörbaren Swusch ihr zu. Rasch versteckte sie sich hinter ihrer Leinwand.
Rechts von ihr hielt Lord Skeffington im Skizzieren inne und betrachtete sie neugierig. »Gibt es ein Problem, Miss Greenfield?«, fragte er leise.
Womit sollte sie bloß anfangen? Ihre Wangen glühten, wahrscheinlich sah sie aus wie Rote Bete. Sie setzte ein Lächeln auf. »Nein. Ganz und gar nicht.«
Ziellos tupfte sie mit dem trockenen Pinsel über den gemalten Himmel und tat so, als sei sie in ihre Arbeit vertieft.
Bald schon schwenkte die Aufmerksamkeit wieder von ihr weg. Ihre Bestürzung aber blieb. Ihr Werk war trotz fünf Wochen intensiver Arbeit seelenlos. Leblos.
Der Kuss war schuld. Dieser Kuss.
Drei Tage danach war die Erinnerung an Mr Blackstones Lippen auf ihrem Mund immer noch nicht verblasst. Im Gegenteil: In ihren Tagträumen und nachts im Bett hatte sie die flüchtige Berührung schamlos immer wieder durchlebt, und inzwischen war der Kuss so angereichert von ihrer Fantasie, dass das Erlebnis nicht mehr schockierend war, sondern sich zu einer leidenschaftlichen, lebhaften und sinnlichen Affäre gewandelt hatte, die sie eigentlich auch gar nicht mehr vergessen wollte. Einige weiße Flecken auf der Landkarte ihres Alltags hatten nun Farbe bekommen. Beim Verschlingen ihrer zahllosen Liebesromane hatte sie nun den warmen Druck von Blackstones Mund im Sinn, wo zuvor ihre Erfahrung, wie sich ein Kuss anfühlte, darauf beschränkt gewesen war, die eigenen Lippen auf ihrem Handrücken zu spüren. Sie konnte nun auch endlich nachvollziehen, was ihre Freundinnen Annabelle und Lucie seit ihrer Verlobung mit ihren Männern hinter verschlossenen Türen genossen. Sie wusste allerdings auch, dass es Entsetzen, Fassungslosigkeit, Hitze und Verwirrung auslöste, wenn man von einem Lord der Unterwelt gepackt wurde. Sie hatte Blackstone geohrfeigt, ohne darüber nachzudenken. Keine dieser instinktiven Emotionen waren in ihrem Gemälde der Persephone erkennbar. Ihr Bild war naiv, unkundig. Nun wusste sie Bescheid. Blackstones Kuss hatte ihr die Erkenntnis gebracht.
Sie wandte sich an Lord Skeffington. »Mylord?« Ihre Stimme klang heiser.
»Miss Greenfield.« Er senkte den Pinsel und schaute sie fragend an.
»Glauben Sie, dass man ohne einschlägige Erfahrungen gute Kunstwerke erschaffen kann?«
Überrascht runzelte er die Stirn. »Hm. Haben Sie Schwierigkeiten mit Ihrem Gemälde?«
»Nein, ich denke nur generell über diese Frage nach.«
»Ah, eine philosophische Überlegung also.«
»Gewissermaßen. Ich frage mich: Müssen Künstlerinnen … oder Künstler persönliche Kenntnisse über das Thema ihrer Kunstwerke haben, damit es … Kunst ist?«
Lord Skeffington gluckste amüsiert. »Solch große Gedanken noch vor dem Mittagessen – oh je.«
Sein Lächeln verdrängte kurz ihre Sorge. Er war so charmant. Seine seidig glänzenden blonden Haare umrahmten sein Gesicht und wirkten in dem hell erleuchteten Saal wie ein Heiligenschein. Sein Mund war rosig und zart geschwungen – wäre er eine Frau, würde man einen solchen Mund als Rosenknospe beschreiben. Er entsprach fast genau dem Bild, das sie sich von Mr Bingley, ihrem Lieblingscharakter aus Jane Austens Werken, gemacht hatte, und sie hatte den Platz neben ihm nicht ganz zufällig gewählt.
»Lassen Sie mich überlegen.« Er tippte mit dem Zeigefinger ans Kinn und gab vor nachzudenken. »Nun, ich weiß, dass kein einziger Maler klassischer Kunst jemals leibhaftig einen griechischen Gott gesehen hat. Daher denke ich, nein, persönliche Erfahrung ist nicht unbedingt notwendig, um ein hübsches Kunstwerk zu erschaffen.«
Sie zögerte. Glaubte er wirklich, dass der Zweck von Kunst darin bestand, hübsch zu sein? Er wirkte jedoch so zufrieden mit seiner Antwort …
Sie spürte schon wieder, wie die Aufmerksamkeit der anderen Studenten sich auf sie richtete, wie Ameisen, die auf eine frische Beute zueilten. Ein Ärgernis. Es hatte Monate gedauert, bis die jungen Männer damit aufgehört hatten, sie während des Unterrichts anzustarren und über sie zu tuscheln. Ruskins normaler Zeichenkurs war für die Öffentlichkeit zugänglich, und sowohl Männer wie Frauen waren dort willkommen. Aber eine Frau, die an der Universität eingeschrieben war? Unerhört. Und wenn sie dann noch in seinen Vorlesungen über Kunstgeschichte auftauchte? Skandalös. Demnächst wollte sie womöglich noch das Wahlrecht. Was tatsächlich stimmte. Sie war ein bunter Hund, trotz der Anstandsdame, die ihr nicht von der Seite wich. Im Moment machte Tantchen allerdings ein Nickerchen in dem speziell für sie bereitgestellten Korbstuhl vor dem Fenster, weshalb sie keine vernichtenden Blicke in die Runde verteilen konnte.
Hattie lenkte ihren Blick zurück auf ihre Persephone, die so langweilig und gelangweilt aussah, und ihr Magen wurde schwer wie ein Stein.
»Die Sache ist die«, flüsterte sie Lord Skeffington zu, wobei sie die sich spitzenden Ohren der anderen ignorierte. »Vor einer Weile habe ich einen Essay von John Dewey gelesen. Er behauptet, dass Kunst nur dann Kunst sein kann, wenn es gelingt, eine gemeinsame Erfahrung zu teilen. Wenn sozusagen eine Kommunikation stattfindet zwischen dem Kunstgegenstand und dem Publikum. Gelingt das nicht, ist es nur ein Gegenstand.«
Seine Lordschaft blinzelte verwirrt. Vermutlich hatte sie zu schnell gesprochen.
»Es findet quasi eine Art Wiedererkennen statt«, versuchte sie es erneut, »zwischen dem Künstler, dessen Werk eine universelle Erfahrung verkörpert, und den persönlichen Erfahrungen der Betrachter. Ein Moment des Gedankenaustauschs fremder Seelen.«
»Dewey, Dewey«, murmelte Lord Skeffington mit höflicher Miene. »Der Name kommt mir bekannt vor. Ist er Amerikaner?«
»Ja.«
»Ah.« Seine Mundwinkel hoben sich. »Die haben oft seltsame Ideen.«
Seltsam? Für sie hatte sich diese These sehr logisch angehört. Mit ihrer beschränkten Erfahrung konnte sie vielleicht etwas Hübsches erschaffen, aber wie konnte sie etwas kreieren, das bewegend und authentisch zugleich war?
Wenn die Seele in den Körper einer Frau der Oberschicht geboren wurde, war die Leine recht kurz. Die neugierigen Männer in diesem Saal konnten, wenn sie wollten, aus den Erfahrungen einer rauen, ungeschliffenen Welt schöpfen, gewonnen an verruchten oder weit entfernten Orten, die sie nie würde besuchen können. Gefeierte Malerinnen der Gegenwart gab es wohl – Evelyn de Morgan und Marie Stillman kamen ihr in den Sinn, aber sie stammten aus Künstlerfamilien oder man hatte ihnen erlaubt, in Paris zu studieren. Außerdem wurde von Frauen erwartet, dass sie idyllische Motive auf Leinwand bannten. Und obwohl Hattie ihre Kleider hübsch und rüschig mochte und ihre Romane gefühlvoll romantisch, hatte sie für ihre Kunst anderes im Sinn. Sie wollte … Ja nun, hauptsächlich wusste sie eigentlich nur, dass sie etwas anderes wollte.
Lord Skeffington trat vor ihr Gemälde. »Nun, das ist doch eine ausgezeichnete Arbeit. Eine schöne Lasurtechnik. Wollten Sie das Bild nicht auf einem familiären Anlass ausstellen?«
Sie stöhnte innerlich auf. »Ja. Nächste Woche. Bei einer Matinee.«
Ein Dutzend einflussreiche Männer würden zu diesem Anlass mitsamt ihren Ehefrauen im Haus ihrer Eltern in der St. James’s Street zu Gast sein. Lieber würde sie gar nichts ausstellen als dieses Gemälde. So viel war sicher.
»Das eignet sich doch hervorragend für eine Matinee«, sagte Lord Skeffington. »Aber wieder einmal haben Sie ein ziemlich düsteres Thema gewählt.«
Sie lächelte verunsichert. »Düster?« Wieder einmal?
»Sie scheinen eine Vorliebe für … wie soll ich das ausdrücken … brachiale Szenarien zu haben, Miss Greenfield.«
»Ich … würde das nicht unbedingt behaupten?«
»Ich erinnere mich an Ihren Apoll, der einer unwilligen Kallisto nachjagte.«
»Oh. Das.«
»Und zu Beginn des letzten Trimesters haben Sie die Schändung der Kassandra als Thema gewählt.«
»Weil es eine der beliebtesten Darstellungen in der griechischen Kunst ist.«
»Ich habe lediglich ein vorherrschendes Thema in Ihren Werken bemerkt«, sagte Lord Skeffington sanft.
Vermutlich hatte er recht damit. Im letzten Trimester hatte sie Helena von Troja gemalt, ihr bestes Werk bisher. Aber in ihrer Interpretation stand Helena allein vor den rauchenden Ruinen einer geplünderten Stadt, mit Paris und Menelaus gebrochen zu ihren Füßen.
»Nun«, sagte sie. »Gibt es denn überhaupt ein Thema in den Klassikern, das nicht in irgendeiner Weise … brutal ist?«
»Die tanzenden Nymphen«, schlug Lord Skeffington vor. »Demeter und ihr Füllhorn, das sie über den Feldern ausschüttet? Penelope beim Weben? Alles sehr harmonische, geeignete Themen.«
Geeignet für eine Frau hing unausgesprochen in der Luft. Unmut stieg in ihr auf.
»Ich glaube, Hades war verzweifelt, als er Persephone entführte«, sagte sie bemüht freundlich, weil sie das reale Ebenbild von Mr Bingley nicht durch einen Temperamentsausbruch verschrecken wollte. »Immer von Dunkelheit und Tod umgeben zu sein hat ihn in eine morbide Stimmung versetzt. Er brauchte Gesellschaft, jemanden, der … lebendig war.«
»Ts«, machte Lord Skeffington. »Sie suchen Entschuldigungen für den Schurken, Miss Greenfield? Wie schockierend. Aber ich vermute, das zarte weibliche Herz kann gar nicht anders, als selbst beim gemeinsten Mann das Gute zu sehen, und das schließt wohl auch …« Er hob theatralisch die Hände, »… den König des Totenreichs mit ein.« Er gluckste wieder, und daher lächelte sie auch, obwohl ihre Wangen von der Anstrengung schon ein wenig schmerzten.
Tantchen war hellwach und zeigte sich auf dem kurzen Weg von der Kunstakademie zum Seiteneingang des Randolph Hotels, wo sie während des Trimesters logierten, in rechthaberischer Stimmung.
»Der junge Lord Skeffington ist außerordentlich aufdringlich«, sagte sie so laut, dass Hattie unwillkürlich zusammenzuckte. »Ich habe beobachtet, wie er dich mit seinem Geschwätz von deiner Arbeit abgelenkt hat.«
Tantchen verlangsamte auch Hatties Schritte, indem sie ihren dünnen Arm bei ihr einhakte und ihr mit ihrem schweren, französischen Parfüm ihre Sinne vernebelte. So bildeten sie auf dem schmalen Bürgersteig auch ein eindrucksvolles Hindernis für andere Passanten.
»Er wollte nur Konversation über die Malerei machen, Tantchen.«
Tantchen legte sich eine Hand an ihr rechtes Ohr. »Wie bitte?«
»Er wollte nur Konversation machen«, sagte Hattie laut. Mr Graves, ihr unliebsamer Leibwächter, der mit ausdrucksloser Miene und grauem Mantel hinter ihnen herschlich, hörte jedes Wort, ob er es nun wollte oder nicht.
»Ah«, sagte Tantchen und zwang einen Gentleman, der sich an ihr vorbeidrängen wollte, mit einem Wink ihres Spazierstocks auf die Straße. »Anfangs wollen sie immer bloß Konversation machen. Jedenfalls zu meiner Zeit. Als Nächstes wirst du dann zu einem Spaziergang eingeladen.«
»Mama wäre sicher erfreut, wenn Lord Skeffington dergleichen tun würde.«
»Was?«
»Ich sagte, Mama wäre darüber sicher erfreut!«
»Ah. Wäre sie das? Er ist ein wenig schmächtig, nicht wahr?«
Schmächtig? Lord Skeffington verfügte über die angenehme, gefahrlose Statur eines jungen Gentlemans, der die Schönen Künste mochte. Außerdem spielte sein Aussehen wohl kaum eine Rolle. Seit ihr Vater Flossie mit einem tollpatschigen holländischen Textilmagnaten verheiratet hatte, hielt ihre Mutter für ihre beiden anderen Töchter Ausschau nach einem adeligen Verehrer. Und da Mina Augen auf einen niederen Ritter geworfen hatte, von dem sie hoffte, dass er ihr bis zum Ende des Sommers einen Antrag machen würde, blieb die Aufgabe, sich eine hochadelige Partie zu angeln, an Hattie hängen. An einem normalen Tag hätte sie sich eine Ehe mit einem Mann des Hochadels gern vorgestellt. Und Lord Skeffington gefiel ihr äußerlich: goldblond, vornehm und nicht viel älter als sie selbst. Ihnen würden viele Jahre bleiben, in denen er ihr für ihre Gemälde als Ritter in schimmernder Rüstung Modell sitzen konnte.
»Vorsicht!« Tantchen zog so stark an ihrem Arm, dass sie stehen blieb.
Sie waren an der Kreuzung zum Randolph angekommen, aber die nächste sich nähernde Kutsche war noch weit entfernt. Tantchens Augen waren genauso schlecht wie ihr Gehör. Eigentlich war sie für die Aufgabe der Anstandsdame denkbar schlecht geeignet.
»Du steckst immer mit dem Kopf in den Wolken«, murmelte ihre Tante. »Eines Tages wird dich das noch in Schwierigkeiten bringen.«
Hattie tätschelte die zerbrechliche Hand auf ihrem Arm. »Du passt doch auf mich auf, da wird mir schon nichts zustoßen.«
»Hmpf. Und warum humpelst du dann?«
Weil ihr verknackster Knöchel immer noch schmerzte, eine anhaltende Mahnung an ihren törichten Ausflug nach London.
»Ich bin zu schnell die Treppe hinuntergerannt.« Dass sie die Lüge förmlich brüllen musste, machte sie nur noch schlimmer.
»Das sollte dir eine Lehre sein, nicht zu rennen«, stellte Tantchen fest. »Ich nehme an, wir sollten Seine Lordschaft zum Dinner einladen. Morgen!«
»Eine Einladung für morgen wäre recht kurzfristig, Tante. Außerdem werden wir zum Familiendinner erwartet.«
»Nun gut. Dann werden wir deine Mutter morgen Abend bitten, dass sie Lord Skeffington möglichst bald zu einem formelleren Anlass einlädt.«
Tantchen wartete, bis sie die Straße überquert und die kühle Lobby des Randolph betreten hatten, bevor sie fragte: »Du weißt, dass sein Vorname Clotworthy lautet?«
Das war Hattie bekannt. Und nun wusste es auch das Hotelpersonal am Empfang, Mr Graves und vermutlich auch ein paar Gäste, die auf den Sofas vor dem Kamin saßen und verdutzt zu ihnen blickten.
»Ja«, sagte Tantchen eifrig, während sie auf den Fahrstuhl zusteuerte. »Clotworthy. Wie sein verstorbener Vater. Wenn ich mich richtig erinnere, hieß auch sein Großvater Clotworthy.«
»Ist das so …«, sagte Hattie, sich innerlich die Haare raufend.
»Ich dachte, das solltest du wissen, bevor wir ihm eine Einladung schicken. Eine Frau sollte gründlich darüber nachdenken, ob sie in den Annalen einer langen Reihe von Clotworthy Skeffingtons verewigt werden will. Die Familie würde gewiss darauf bestehen, dass du deinen Sohn ebenfalls Clotworthy nennst, und das ist für ein kleines Kind ein ziemlich wuchtiger Name. Ich schlage vor, dass du ihn Clotty nennst.«
Hatties Wangen brannten. Verstohlen sah sie sich um. Auf solche Weise wurden Gerüchte in die Welt gesetzt. Solche Gerüchte konnten eine junge Frau in schreckliche Schwierigkeiten bringen, und entgegen aller Eindrücke war sie tatsächlich nicht auf Schwierigkeiten aus. Im Gegenteil: Da ihr letzter Ausflug damit geendet hatte, dass ihr Mund mit dem eines Schufts verschmolzen war, hatte sie beschlossen, sich zukünftig tadellos zu benehmen.
Mr Graves wird das sicher auch zu schätzen wissen, dachte sie, als ihr Leibwächter sich an ihr vorbei in die Suite drängte, um seine übliche Runde zu drehen und zu überprüfen, ob sich Entführer während ihrer Abwesenheit hineingeschlichen hatten. Im Moment zog es Graves vor, seine Anstellung nicht zu gefährden, indem er ihrem Vater berichtete, dass sie ihm vor drei Tagen entwischt war, aber er würde wohl nicht ewig schweigen.
Sie stellte ihre schwere Tasche auf eins der Sofas im Salon vor dem Kamin und streckte sich seufzend. Tantchen verschwand im angrenzenden Zimmer, daher zog sie sich für eine Ruhepause ans Fenster zurück. Unter ihr lag die geschäftige Magdalen Street, und aus der luftigen Höhe des zweiten Stocks konnte sie sich ganz dem Vergnügen hingeben, das Leben völlig Fremder zu beobachten, ohne beim Starren erwischt zu werden.
Diesmal flog ihr Blick jedoch ziellos über den Bürgersteig. Sie fühlte sich wegen des Persephone-Fiaskos immer noch niedergeschlagen. Beim Malen hatte sie sich ihr Ziel auf »bemerkenswert« statt »ganz passabel« gesetzt. Ein Traum, der ebenso sehr aus Ehrgeiz wie auch aus Notwendigkeit geboren war. Die Malerei erforderte keine der Fähigkeiten, die man sonst für bemerkenswerte Leistungen benötigte, wie Schreiben oder Rechnen. Sie konnte nicht eine Zeile fehlerfrei schreiben, und selbst beim Abschreiben einer Zahlenreihe vertauschte sie einzelne Ziffern. Dieser Tag hatte sie unangenehm stark an ihre Einschränkungen erinnert. Es liegt nicht an den Augen. Man könnte es eher als eine Wortblindheit beschreiben, hatte vor Jahren der letzte einer langen Reihe konsultierter Ärzte gesagt, zu denen sie geschleift worden war, weil ihre Leistungen trotz rigorosen Übens sich nicht besserten. Es hatte ihren Vater tief getroffen. Wenn es nicht die Augen sind, dann liegt es an … ihrem Gehirn? Stimmt etwas mit ihrem Gehirn nicht? Eine dumme Greenfield, hoffnungslos überfordert mit Rechnen und Bankgeschäften, und das, obwohl sie sein Fleisch und Blut war – welche Schande! Seine Enttäuschung hatte sie schmerzlicher getroffen als das Lineal ihres Lehrers, mit dem er ihr immer wieder auf die Hand schlug, um sie zu strafen, dass sie mit der linken Hand schrieb und weil sie immer wieder Fehler machte, gleich, welche Hand sie benutzte. Ihr Leben hatte aus wunden Fingern und seelischen Verletzungen bestanden, bis sie ihr Talent in einer bunten Farbpalette gefunden hatte. Dennoch hatte sie die Worte ihres Vaters vorhin in der Akademie laut und deutlich in ihrem Gedächtnis gehört.
»Harriet«, rief ihre Tante aus dem Nebenzimmer. »Ich möchte Bridge spielen.«
Bridge. Oh nein! Nicht schon wieder. »Gleich, Tante«, sagte sie, ohne sich zu rühren.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite strahlte das von der Sonne geküsste Sandsteingebäude des Balliol Colleges eine stoische goldene Ruhe aus. Wenn Mauern weise wirken konnten, dann waren die Gemäuer von Oxford wohl preiswürdig.
Hattie atmete tief durch. Sie war so weit gekommen. Ihr Studium in Oxford war die Krönung jahrelanger harter Arbeit, und das hatte für jemanden wie sie, die gewöhnlich alles bekam, noch bevor sie wusste, dass sie es überhaupt brauchte, besonderes Gewicht. Ihr Pinselstrich war unbeholfen und unstet gewesen, von einer angstvollen rechten Hand geführt. Tausende Stunden hatte sie mit zusammengebissenen Zähnen geübt, bis sie den Pinsel mit der rechten Hand ebenso sicher führen konnte wie mit der linken. Sie hatte sich durch all die umfangreichen Bücher gekämpft, die Ruskin geschrieben hatte, einschließlich The Laws of Fésole. Wortblindheit oder nicht, momentan lernte sie vom Besten. Gut, Oxford war nicht Paris, dort hätte sie wie jede modebewusste junge Frau mit Kunstsinn lieber studiert, aber ihr Vater hatte sie nicht weiter fortziehen lassen, und sie würde das alles jetzt nicht aufgeben, weil ein Kuss sie aus der Bahn geworfen hatte.
»Harriet!«
Sie seufzte. Vielleicht war es auch an der Zeit, sich von der Leine ihrer Familie zu lösen. Einen möglichen Ehemann zum Dinner einzuladen war dazu der erste Schritt.
Die Erinnerung an einen kühlen grauen Blick schoss ihr in den Sinn, und ein rätselhafter Schauer lief ihr über den Rücken.
Das wöchentliche Familiendinner am Freitag in St. James’s lief ziemlich schnell aus dem Ruder. Flossie war mit ihrem kleinen Sohn aus Amsterdam zu Besuch, weil sie sich mit ihrem Ehemann gestritten hatte, und Zachary war aus Frankfurt zurück. Noch bevor der Hauptgang serviert wurde, gab es hitzige Debatten.
Flossie saß Hattie gegenüber, zwischen Benjamin und Tantchen, ihre rundlichen Wangen waren vor Ärger gerötet. »Ich hätte eine solch gleichgültige Haltung bei einer Hungersnot nicht erwartet, jedenfalls nicht von dir, Mama.« Flossie spießte schwungvoll mit der Gabel einen dampfenden Pilz auf ihrem Teller auf.
Die Missbilligung ihrer Mutter Adele wehte wie ein eiskalter Sturmwind über den Tisch. »Dich so heftig mit deinem Gatten zu streiten, ist übertrieben und geschmacklos.«
Flossie schüttelte unwillig die roten Locken. »Nicht, wenn er die Getreidepreisspekulationen auch noch verteidigt.«
»Du hast einen recht belehrenden Tonfall, und das finde ich ziemlich ermüdend.«
»Wohl kaum so ermüdend wie hungrige Kinder! Haben wir denn aus der letzten indischen Hungersnot nichts gelernt?«
»Oder der irischen«, murmelte Hattie.