9,99 €
Wer in stille Wasser taucht ...
Für die introvertierte und hochbegabte Lady Catriona ist nichts wichtiger als ihre wissenschaftliche Arbeit in Oxford und der Kampf für Frauenrechte. Dennoch sehnt sie sich insgeheim auch nach Liebe - obwohl ihr Herz mehr als einmal gebrochen wurde. Aber welcher Ehemann würde ihr schon gestatten, sie selbst zu bleiben? Doch als sie den jungen Wissenschaftler Elias aus dem Nahen Osten kennenlernt, fällt es ihr schwer, ihre Gefühle dem Verstand unterzuordnen. Zum ersten Mal in ihrem Leben erfährt sie, dass jemand sie wirklich sieht und schätzt, wie sie ist. Was sie nicht weiß: Elias ist aus anderen Gründen in Oxford, als er vorgibt, und sein Geheimnis könnte Catrionas wissenschaftliche Pläne zunichtemachen.
»Die Slow-Burn-Romance zwischen Catriona und Elias ist so einzigartig, so zärtlich und bittersüß. Mein absolutes Lieblingsbuch der Reihe.« THE GEEKY WAFFLE
Abschlussband der REBELLINNEN VON OXFORD
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 617
Veröffentlichungsjahr: 2024
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
Epilog
Anmerkungen der Autorin
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Evie Dunmore bei LYX
Impressum
Evie Dunmore
Die Rebellinnen von Oxford
UNBEUGSAM
Roman
Ins Deutsche übertragen von Corinna Wieja
Lady Catriona Campbell ist hochbegabt, introvertiert und interessiert sich wenig dafür, was die Damen des Adels beschäftigt. Sie braucht viel Zeit für sich selbst und geht nur unter Leute, um mit ihren Freundinnen die Frauenbewegung oder ihre wissenschaftliche Arbeit in Oxford voranzutreiben. Und obwohl sie sich insgeheim danach sehnt: Liebe oder Heirat stehen nicht auf dem Plan. Denn mehr als einmal wurde ihr Herz gebrochen. Doch als sie den attraktiven jungen Elias Khoury aus dem Nahen Osten kennenlernt, der ihrem Vater bei einem archäologischen Forschungsprojekt zur Hand gehen soll, fällt es ihr schwer, ihre Gefühle dem Verstand unterzuordnen. Zum ersten Mal erlebt sie, dass sich jemand zu ihrem wahren Ich hingezogen fühlt. Bald jedoch findet sie heraus, dass Elias sie getäuscht hat: Er will die historischen Artefakte, die der Obhut ihres Vaters unterstehen, um jeden Preis in seine Heimat zurückzuholen, wo sie gestohlen wurden. So steht Catriona nun vor der Wahl, das Richtige zu tun oder sich von jeglichem Ärger fernzuhalten. Aber Elias setzt nicht nur Catrionas wissenschaftliche Karriere aufs Spiel – in ihrem Herz tobt längst der Kampf zwischen der Angst, aus ihrem eigenen Schatten zu treten und sich zu öffnen, und dem heimlichen Wunsch, dieser einzigartigen Liebe eine Chance zu geben.
Für meine Tayta,
die noch vor ihrer Zeit die Dabkeh anführte
Applecross, Schottland, Juli 1882
In einer Welt, in der die lauten Menschen regierten, war Stille ein rares Gut. Catriona zahlte bereitwillig dafür, und sie kannte alle möglichen Wege, um sich Ruhe zu verschaffen. Leider konnte sie von der Stille keinen Vorrat anlegen, und das war wirklich bedauerlich, denn an diesem Abend um sieben Uhr würde ein Fremder in ihr Zuhause eindringen.
Für den Moment hatte sie Zuflucht im kühlen Wasser von Loch Shieldaig gesucht. Der See auf dem Anwesen ihrer Familie lag so still wie ein Grab. Catriona trieb auf dem Rücken, ihr bleicher Körper in starkem Kontrast zur schwarzen Tiefe unter ihr, und sie hatte die Arme ausgebreitet, als wolle sie versuchen, das weite Blau des Himmels über ihr zu umfassen. Ab und zu schwappte ihr eine Welle ins Gesicht und hinterließ den Geschmack von Brackwasser in ihrem Mund. Hätte sie gewusst, dass ihr Vater einen Gast einladen würde, hätte sie es sich zweimal überlegt, den Sommer in Applecross zu verbringen. So aber hatte sie felsenfest angenommen, dass in einer abgelegenen, einsamen Burg keine der Ablenkungen drohten, die in Oxford an jeder Ecke lauerten: gesellige Freundinnen, die Frauenrechtsbewegung, eine unerwiderte Schwärmerei. Wo, wenn nicht hier, könnte sie in Ruhe an ihrem Buch arbeiten?
Dank des Besuchers würde sie sich nun fremd im eigenen Speisezimmer fühlen. Sie würde natürlich dennoch ihre Pflicht erfüllen und die Gastgeberin spielen. Mit fünfundzwanzig Jahren kannte sie das Protokoll: ihm in die Augen schauen, lächeln und ihr Wohlbefinden hintenanstellen. Unverfängliche Fragen über seine Reisen und Forschungsvorhaben stellen und dabei diskret seinen Teller und sein Weinglas im Blick behalten, um rechtzeitig einzugreifen, falls die Dienerschaft seine Bedürfnisse nicht sofort bemerken sollte. Sie hatte ein gutes Auge für Details. Zum Glück fehlte diese Eigenschaft den meisten Menschen; so sahen nur wenige überhaupt hinter Catrionas Maske und erkannten ihre wahren Gefühle. Auch der Gast würde nicht die leiseste Ahnung haben, dass sie ihn insgeheim weit weg wünschte.
Der Wind trieb eine kühle Brise über den See, die Kälte kroch ihr unter die Haut und drängte sie zur Rückkehr. Beim Rückenschwimmen in Richtung Ostufer hing sie ihren Gedanken nach, denn ihr Körper kannte den Weg, und die sichelförmige Uferstelle, an der sie ihre Kleidung abgelegt hatte, war stets verlassen. Die kleine Bucht war durch einen hier sonst eher seltenen Nadelwald vor Blicken geschützt, und nur die Schafe und der alte Wildhüter Collins kannten den Weg. Weder die einen noch der andere stellten eine Bedrohung für die Tochter Alastair Campbells, Earl of Wester Ross, dar.
Fröstelnd stieg sie aus dem Wasser und näherte sich mit raschen Schritten dem Waldrand. Ihre Kleidung lag immer noch auf dem Felsen, an Ort und Stelle gehalten durch eine dicke Ausgabe von Vergils Aeneis. Mit klammen Fingern griff sie nach dem Buch und ihrer Brille. Dann erst nahm sie aus dem Augenwinkel etwas wahr; ganz in der Nähe, zu ihrer Rechten, stand jemand. Sie erstarrte.
Ein Mann.
Der ihr den Zugang zum Waldpfad versperrte.
Eine eisige Faust schloss sich um ihren Magen.
Sie packte das Buch, und hielt es vor ihren Schoß; dabei fiel ihre Brille klappernd zu Boden. Der Mann war nur fünf Meter entfernt. Und starrte sie an. Ihr Herz raste. Er hatte sie bereits gesehen … alles gesehen. Langsam, ganz langsam, als würde sie in Sirup feststecken, wandte sie sich zu ihm. Ohne ihre Brille sah sie nur verschwommen seine Umrisse, aber was sie sah, war dennoch aufschlussreich. Er war jung, mit markanten Zügen und von schlanker, aber muskulöser Statur, betont durch einen maßgeschneiderten Mantel, und er wirkte körperlich in bester Kampfform. Das war nicht gut. Sein Blick ruhte noch immer auf ihr. Geradezu ehrfürchtig. So, als hätte er zufällig eine Kathedrale betreten und sei nun überrascht von der schwindelerregenden Höhe und dem staubigen Geschmack der Ewigkeit. Es hätte sie stutzen lassen, wäre da nicht das Fernglas gewesen, das er um den Hals trug. Ihr Gesicht glühte.
»Was bilden Sie sich ein«, sagte sie mit eisiger Stimme.
Der Mann regte sich, als sei er gerade aus einem Zauberbann erwacht. Rasch wandte er sich ab.
»Sie … sind eine Frau«, stellte er in leicht erstauntem Ton fest.
»Scharf beobachtet, Sir«, erwiderte sie spitz.
Er gab einen Laut von sich, wie ein überraschtes Glucksen.
Ihr Puls schlug so heftig, dass sie nicht klar denken konnte. »Natürlich amüsiert Sie das«, sagte sie. »Von einem feigen Voyeur kann man nur vulgären Humor erwarten.«
Er zuckte, als kostete es ihn große Anstrengung, sich nicht zu ihr umzudrehen. »Ich bin kein … Voyeur.«
»Also haben Sie mich bei Ihrem Spaziergang nicht im See entdeckt und dann Ihr Fernglas benutzt, um sich zu vergewissern, dass ich tatsächlich unbekleidet bin, worauf Sie sich über den Pfad durch den Wald herangeschlichen haben, um mir aufzulauern?«
Ihr Ton war mit jedem Wort schneidender geworden, und zum Schluss hätte der Fremde in feinen Scheibchen auf dem Boden liegen sollen. Er stand jedoch immer noch putzmunter vor ihr, auch wenn er ein wenig verwirrt wirkte. Dann neigte er den Kopf und lachte leise.
»Das scheint mir sehr viel Aufwand zu sein, nur um eine unbekleidete Frau zu sehen«, meinte er. »Sie sind bezaubernd, Miss, aber Ihr Anblick bietet nichts, was ich nicht schon gesehen hätte.«
Ihre Wangen brannten, als hätte er sie geohrfeigt.
»Und warum,« rief sie, »stehen Sie dann immer noch da? Oh!« Ihr erschrockener Ausruf sorgte dafür, dass er zu ihr herumfuhr; im selben Moment trug eine auffrischende Windbö ein Gespinst aus zarter Spitze zu ihm hinüber. Verflixt! Ihre Unterwäsche, hauchfein wie Spinnweben, hatte fliegen gelernt.
»Oh, zum Teufel!« Sie warf sich nach vorn, um den letzten verbliebenen Strumpf zu retten, und wagte einen schnellen Seitenblick auf den Fremden. Er kam gerade aus der Hocke hoch, ihre Chemise in der Hand, als hätte er sie aus der Luft gepflückt wie eine große Katze einen Vogel. Dann beäugte er ihre Unterhose, die in einem Strauch gelandet war. Es musste die Unterhose sein, denn verschwommen erkannte sie rosa Bänder, die einen frivolen Tanz aufführten.
»Fassen Sie das ja nicht an«, keuchte sie …
Er hob abwehrend die Arme. »Wie Sie wünschen.«
Ihre Chemise flatterte in seiner Hand wie eine weiße Friedensflagge.
»Sie sollten jetzt wirklich gehen«, schlug sie durch zusammengebissene Zähne vor.
»Unbedingt«, stimmte er zu. »Sehen Sie her.«
Er drehte sich um, ging zum nächstbesten Baum und schlang die Bänder ihrer Chemise um den Stamm.
»Voilà«, sagte er und spreizte die Finger. »Sie werden mich nicht wiedersehen.«
Ohne einen Blick zurück, spazierte er mit ausholenden Schritten in den Wald.
»Bin schon fast weg«, rief er, bevor seine elegante Gestalt hinter der nächsten Biegung verschwand.
Catriona stützte sich auf den Felsen. Ihre Kehle war von dem Schreck immer noch wie zugeschnürt, und sie konnte kaum schlucken. Der Pfad lag verlassen da, der Wald still, als hätte es den Mann nie gegeben. Oh, aber er war nur zu wahr gewesen. Sein musternder Blick hatte eine heiße Spur auf ihrer Haut hinterlassen. Ihr Stolz hatte es ihr verboten, sich zusammenzukauern, um ihre Brüste zu bedecken. Er hatte sich ohnehin schon an ihr sattgesehen, und es hätte ihm vermutlich Befriedigung verschafft, wenn sie sich unter seinem Blick gewunden hätte wie ein Wurm.
Sie hob ihre Brille auf. Das Glas hatte den Sturz unbeschadet überstanden und verschaffte ihr jetzt den klaren Blick auf die Burg Applecross auf dem Plateau auf der anderen Seite des Sees. Die uralten Steintürme hoben sich scharf vor dem blauen Himmel ab. Sie war ein gutes Stück von ihrem Zuhause entfernt. Plötzlicher Tatendrang ergriff sie, und sie eilte zu dem Baum, um ihre Chemise zu holen. Was für eine ordentliche hübsche Schleife dieser Schleichfuß gebunden hatte, voilà! Konnte sie es wagen, sich auf den Weg nach Hause zu machen? Er könnte ihr immerhin irgendwo im Gebüsch auflauern. Sie schaute zu der Burg, die eine halbe Meile entfernt hinter der sich kräuselnden Wasseroberfläche aufragte. Die Entscheidung fiel schnell; der See schien ihr ein geringeres Risiko zu sein als ein Mann. Sie legte die Chemise auf den Felsen und zog ihr Plaid unter dem Kleid hervor, wickelte es sich um den Kopf und sicherte es mit einer Haarnadel. Den Vergil-Band tätschelte sie entschuldigend. »Dich hole ich später.«
Der See umschloss ihren nackten Körper wie eine Faust.
Als sie endlich das andere Ufer unterhalb der Burg erreichte, brannten ihr die Oberschenkel vor Erschöpfung. Das Felsplateau umgab das Ufer wie eine schützende Mauer, deshalb nahm sie sich Zeit, um Luft zu holen. Sie löste ihr Plaid, verhüllte sich damit und lief die verfallenen Stufen entlang der Felswand hinauf, die einer ihrer Vorfahren einst in den Stein gehauen hatte. Die von Unkraut überwucherten Gemüsebeete und das heruntergekommene Cottage nahm sie kaum wahr, als sie auf die schützenden Mauern der Burg zueilte. Sie schlüpfte durch den Seiteneingang in den spärlich beleuchteten Weinkeller, dann die von Spinnweben bedeckte Wendeltreppe hinauf, ein Stockwerk, zwei und das dritte. Auf dem letzten Treppenabsatz stieß sie mit der Schulter die selten benutzte Dienstbotentür auf, die in ihr Zimmer führte.
Ein Schrei erklang.
MacKenzie drückte eine Faust an die Brust, die weit aufgerissenen Augen auf Catriona gerichtet, als sei sie ein Burggespenst. »Mylady. Ich bin vor Schreck fast umgefallen.«
Mit vor Kälte tauben Füßen tappte Catriona an ihr vorbei zum Schaukelstuhl, auf dem eine karierte Decke lag. Sie setzte sich und kuschelte sich in den Tartan, während ihr ehemaliges Kindermädchen und jetzige Zofe sie mit einer Hand auf der ausladenden Hüfte eingehend musterte. Nach dreißig Jahren Dienst im Haushalt der Campbells war MacKenzie exzentrisches Verhalten gewohnt, aber dass die Dame des Hauses in nichts als ein Plaid gehüllt umherspazierte, war selbst für sie eine neue und nicht akzeptable Entwicklung. Tutmirleid,MacKenzie. Den See mit dem Gewicht von wasserschwerer Unterwäsche zu durchschwimmen, wäre zu waghalsig gewesen.
Bevor MacKenzie sie nach ihrer Kleidung fragen konnte, kam Catriona ihr zuvor: »Wissen Sie, ob der Earl einen neuen Wildhüter eingestellt hat?«
MacKenzies konsternierter Blick wandelte sich zu Sorge. »Ein neuer Wildhüter?«, wiederholte sie mit starkem Dialekt. »Hätte nich’ gedacht, dass Sie den alten Collins entlassen würden.«
Catriona schaukelte in dem Stuhl. »Das würde ich auch nicht.«
Und ihr Vater auch nicht, wenn sie es recht bedachte. Aber warum sonst trug dieser Mann ein Fernglas mit sich herum?
Ihr Gesicht fühlte sich wie erstarrt an. In dem sechseckigen Raum im obersten Geschoss des Südturms wurde es trotz der Wandbehänge und dickflorigen Teppiche niemals richtig warm, und der Schreck, dass sie beobachtet worden war, saß ihr immer noch kalt wie Eis in den Knochen.
»Sie müssen sich beeilen«, mahnte MacKenzie und deutete mit dem Kopf zu der Kupferwanne vor dem Kamin. Dampf wirbelte träge durch die kühle Luft. »Der Gast Seiner Lordschaft ist da.«
Catriona zog die Augenbrauen missbilligend zusammen. »Was – schon?«
Die Zeiger der Uhr neben der Tür standen auf kurz vor drei.
MacKenzie spitzte die Lippen. »Er ist zu früh gekommen. Schlechte Manieren, wenn ich das sagen darf. Unten rennen sie herum wie kopflose Hühner. Aber die Wanne habe ich für Sie schon bereit.«
»Großartig«, murmelte Catriona. Plötzliche Planänderungen machten sie schon an guten Tagen nervös. »Oooh«, sagte sie dann. »Oh nein. Oh je!«
Sie fühlte sich so schwach, als hätte ihr Herz plötzlich ausgesetzt.
»Dinna fash, keine Sorge«, hörte sie MacKenzies Stimme wie aus weiter Ferne. »Der Earl ist inzwischen wieder zurück. Er war bei den Middletons, die trennen sich nämlich, die Middletons, wussten Sie das? Aber jetzt ist seine Lordschaft ja wieder da; er kümmert sich um den jungen Gentleman bis zum Dinner. Es ist also alles in bester Ordnung.«
MacKenzie hatte leicht reden, sie wusste ja nichts von dem Fremden am See.
»Er rollt die Rs«, stöhnte sie.
»Wie bitte?«
Catriona vergrub das Gesicht in den Händen. »Das ist wirklich übel.«
»Wenn Sie jetzt gleich baden, sollten Sie noch rechtzeitig fertig sein«, erwiderte MacKenzie in dem beschwichtigenden Tonfall, den sie immer anschlug, wenn sie jemanden für nicht ganz zurechnungsfähig hielt.
Catriona war schwindelig. »Hat unser Gast nach seiner Ankunft einen Spaziergang unternommen?«
Die Statistik sprach gegen sie: Zwei Fremde am selben Tag im abgelegenen Applecross – das war höchst unwahrscheinlich. Wäre sie nicht so schockiert gewesen und darauf festgelegt, dass der Besuch erst um sieben Uhr erwartet wurde, dann wäre ihr der Gedanke schon früher gekommen, und zwar während ihrer Begegnung.
»Ich weiß nicht, ob der Gentleman spazieren gegangen ist«, antwortete MacKenzie. Sie öffnete die oberste Schublade der Kommode neben dem Kamin und nahm einen Stapel Handtücher heraus. »Nachdem Mary mir erzählt hat, dass er schon hier ist, hab ich mich um Ihr Badewasser gekümmert und die Kleidung rausgelegt.«
Als MacKenzie ihr den Rücken zudrehte, stand Catriona auf, ließ den feuchten Plaid fallen und stieg in die warme Wanne.
»Wie ist er so?«, zwang sie sich zu fragen.
MacKenzie legte die Handtücher auf den Schemel neben der Wanne und richtete sich leise ächzend auf. »Ich hab ihn noch nicht gesehen«, antwortete sie. »Mary meint, er hätte eine ganze Kiste Wein mitgebracht und sie von der Kutsche selbst ins Haus getragen.«
Sie hätte mehr Fragen stellen sollen, als ihr Vater den Gast angekündigt hatte, aber sie war so frustriert über die Nachricht gewesen, dass sie es unterlassen hatte. Sie wusste lediglich, dass er Experte für die phönizische Hochkultur in der Levante war, genauer gesagt aus dem Libanon-Gebirge, und mehrere Semester in Cambridge studiert hatte. Er war einer der zahlreichen internationalen Gelehrten, die sich für einen fachlichen Austausch mit Oxbridge-Akademikern interessierten, und anscheinend genau der Richtige, der Wester Ross bei der Katalogisierung der levantinischen Artefakte in Oxford unterstützen konnte. Voilà. Was, wenn er tatsächlich das Arabische wallah und nicht das Französische voilà zu ihr gesagt und sie das in dem peinlichen Moment einfach nur falsch verstanden hatte? Hätte sie Ersteres herausgehört, wäre der Penny bei ihr wohl früher gefallen. Wallah, Sie werden mich nie wieder sehen. Nun ja. Das blieb abzuwarten.
»Was für ein Tag«, seufzte sie.
»Ich komme in einer halben Stunde, um Ihnen mit Ihren Haaren zu helfen«, kündigte MacKenzie an. Auf dem Weg zur Tür humpelte sie leicht, was zuvor eindeutig nicht der Fall gewesen war.
Momentan abgelenkt von ihrer misslichen Situation überlegte Catriona, was sie tun sollte. Ihr Impuls riet ihr, den Arzt zu holen, aber MacKenzie mochte es nicht, dass man Aufhebens um sie machte, und würde einer Untersuchung nur dann zustimmen, wenn ihre Hausmittelchen versagten.
Catriona versank tiefer in dem nach Lavendel duftenden Wasser. Während ihr Vater seine Zeit und Aufmerksamkeit auf akademische Gäste richtete, schritt der Verfall ihres Hauses voran. Unkraut eroberte das Anwesen, und die Dienstboten, die es in Schuss halten sollten, wurden zunehmend von Krankheiten und Beschwerden geplagt. Der Verkauf eines Stücks Land an ihren Nachbarn Baron Middleton hätte die Geldbörse der Campbells entlasten können, doch das Geschäft war im Frühjahr geplatzt. Kein Wunder, dass ihre Daumennägel so abgenagt waren. Letztlich oblag es dem Earl und ihr, Applecross zu erhalten, aber die Beaufsichtigung und Anleitung von Verwaltern und Buchhaltern lag ihnen beiden nicht. Gewöhnlich redeten sie sich die Vernachlässigung dieser Aufgabe mit ihrem brillanten Intellekt schön, denn wer hatte schon Zeit für haushaltliche Pflichten und die Prüfung der Bücher, wenn es doch viel wichtiger schien, Wissen zu produzieren und die Frauenrechtssache voranzutreiben? In der letzten Zeit ließ der Intellekt sie jedoch im Stich. Auf dem Schreibtisch unter dem Fenster lauerte ein Stapel Bücher. Sie hatte ihn bereits von oben nach unten auf der Suche nach Inspiration gewissenhaft durchgearbeitet. Nachdem sie zahllose Studienberichte gemeinsam mit Wester Ross geschrieben hatte, wollte sie endlich ein Buch in eigenem Namen veröffentlichen, mit einem Thema, das sie selbst gewählt hatte. In ihrem Hirn herrschte allerdings gähnende Leere, wo eigentlich Leidenschaft sein sollte. Das Schreiben ohne diese Leidenschaft war ungefähr so anstrengend, als wollte man Wasser aus einem Stein pressen. Wochen waren ins Land gezogen, doch der Quell der Inspiration sprudelte immer noch nicht. Damit gab es keine passable Ausrede mehr, um Applecross weiter zu vernachlässigen.
Sie fischte den seifigen Waschlappen aus dem Badewasser und rieb sich damit über Arme und Nacken. Sie schrubbte ihre schamlos begutachtete Brust. Zwar war sie weder wie eine zierliche Elfe noch besonders üppig gebaut, aber im Vergleich zu ihrer Statur war ihr Busen recht groß. Schlichte Kleider verbargen dies. Nun aber kannte ein Mann dieses Geheimnis. Die silbernen Stecker des Piercings an ihrer linken Brustwarze fingen das rote Glimmen des Feuers im Kamin ein. Hatte er ihren Intimschmuck etwa auch bemerkt? Einen Moment lang verharrte ihre Hand auf der nassen, warmen Rundung ihrer Brust. Sie atmete aus und tauchte den Kopf unter.
Ihr dickes schwarzes Haar war immer noch feucht, als Catriona eine Stunde später nach unten ging. Sie hatte sich den Dutt so fest gesteckt, dass ihr der Kopf schmerzte, aber das geriet in Vergessenheit, nun, da der Moment der Wahrheit nahte. Als sie die Stimmen aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters vernahm, verkrampfte sich ihr Magen. Lächeln, guten Tag, der Herr. Mit wild trommelndem Herzen trat sie ins Zimmer. Ihr Vater stand links vor dem Bücherregal an der Wand, seine große Gestalt verdeckte fast ganz den Gast an seiner Seite. Beide Männer hatten die Köpfe über ein offenes Buch in den Händen des Earls gebeugt.
Ihr Vater drehte sich um und setzte in vertrauter Weise die Brille ab. »Ah, Catriona. Wie schön! Ich hatte nicht erwartet, dich vor dem Dinner zu sehen.«
»Vater.« Ihre Stimme klang dünn. Der Fremde an der Seite des Earls hatte dunkle, lockige Haare. Er war recht jung. Schlank, aber mit breiten Schultern.
Der Earl trat zur Seite. »Darf ich dir unseren Gast vorstellen? Mr Elias Khoury. Mr Khoury, meine Tochter, Lady Catriona.«
Die Überraschung des Fremden traf sie spürbar, wie eine Druckwelle auf ihre Haut. Ihre Augen brannten. Sie tauschten einen flüchtigen Blick, als ob ein längerer Sichtkontakt den Raum hätte in Brand stecken können wie ein Streichholz eine explosive Flüssigkeit.
Ein unangenehmes Schweigen breitete sich aus, was den Earl dazu veranlasste, erst seine Tochter, dann seinen Gast anzuschauen.
Elias Khoury legte die rechte Hand auf seine linke Brust. »Mylady.«
Seine Stimme klang rau. Ihre war gänzlich verstummt, ihre Kehle zugeschnürt. In dem Moment, als sich ihre Blicke trafen, hatte eine uralte Erkenntnis sie getroffen wie ein Blitz. Seine Augen hatten die Farbe des schottischen Himmels, der aufs Meer traf, wie ein Mosaik aus fließendem Blau und Grün, und um die dunkle Pupille herum die goldenen Strahlen einer kleinen Sonne. In ihren Tiefen glimmte deutlich sichtbar ein Funke. Der Funke. Sie war diesem Funkeln bereits begegnet, drei Mal, um genau zu sein, bei drei verschiedenen Menschen. Jedes Mal hatte es sie unglücklich gemacht. Und nun hatte der Funke sie wiedergefunden. In Gestalt des neuen Arbeitskollegen ihres Vaters. Da war es wenig hilfreich, dass er wirklich gut aussehend war – glatt rasiert, gebräunt, mit markanten Gesichtszügen, deren Symmetrie einen da Vinci zu Begeisterungsstürmen veranlasst hätte. Und es war erst recht nicht hilfreich, dass er bereits seine Hände an ihrer Unterwäsche gehabt hatte.
Die Kenntnisse, die Elias über schottische Legenden besaß, waren begrenzt, aber jedwede Zweifel, die er womöglich noch gehabt haben könnte, lösten sich nun endgültig in Luft auf: Die Selkie war kein Selkie. Das zauberhafte Wesen aus dem See war in der Tat eine Frau; zutiefst entsetzt, ihn zu sehen, und außerdem die Tochter des Professors, den er für sein Anliegen gewinnen wollte. Großartig! Aus Reflex wandte er zunächst den Blick ab, so als sei sie immer noch nicht schicklich gekleidet. So als ob er dadurch vergessen könnte, was er gesehen hatte: bezaubernde Rundungen. Haut, die so zart schimmerte wie Mondlicht. Nasses schwarzes Haar, das zerzaust bis zu ihren wohlgeformten Hüften fiel. Sein Nacken begann zu schwitzen. Catriona. Sie war real. Sie war hier. Und er konnte nicht eines der Worte ungeschehen machen, die er ausgesprochen hatte. Ihr Anblick bietet nichts, was ich nicht schon gesehen hätte. Am liebsten wäre er auf der Stelle gestorben.
»Mr Khoury wurde mir in den höchsten Tönen von Professor Pappas empfohlen«, sagte Professor Campbell, wobei er geflissentlich die seltsame Atmosphäre im Arbeitszimmer ignorierte. »Er wird die Stücke von Leightons Sammlung im Ashmolean kategorisieren.«
Lady Catriona zog hörbar die Luft ein. Ein schmales Lächeln erschien in ihrem blassen Gesicht.
»Guten Tag, Mr Khoury.« Ihre Stimme klang arglos, als hätte sie nicht bereits seine Bekanntschaft gemacht. Die richtige Aussprache seines Namens gelang ihr mühelos. »Ich hoffe, Ihre lange Anreise verlief gut und ereignislos?«
»Zu gut und ereignislos, fürchte ich«, erwiderte er aalglatt. »Dadurch bin ich viel zu früh angekommen, was Ihrem Personal sicher Unannehmlichkeiten bereitet hat. Ich bitte um Pardon, Ma’am.«
Seine Muskeln waren völlig verspannt. Wenn sie auch nur ein Wort ihrer Begegnung gegenüber ihrem Vater erwähnte, würde seine Mission enden, bevor sie begonnen hatte. Sie war schwierig zu lesen, so bleich und starr, wie sie dort stand, reglos wie eine Statue. Verschwunden war die Nymphe. Eine Brille mit runden Gläsern thronte auf ihrer fein geschwungenen Nase. Sie hatte regelmäßige, aber recht unauffällige Züge, und ihr wohnte eine Stille inne, die ihr ein merkwürdig zeitloses Aussehen verlieh. Durch das hochgeschlossene graue Kleid und den akkurat wie mit dem Messer gezogenen Scheitel war sie das Abbild einer belesenen britischen Jungfer. Immer noch verführerisch, wenn man unnahbare Mauerblümchen mochte. Er jedoch hatte bisher andere Vorlieben gehabt.
»Ich war noch bei den Middletons, als Mr Khoury ankam«, erklärte der Earl seiner Tochter. »Stell dir vor.«
»Oje,« sagte sie. Ihre Augen waren wie Glas, klar, aber ausdruckslos. »Ich hoffe, Sie haben sich selbst unterhalten können, Mr Khoury.«
»Er hat die Angelegenheit in die eigenen Hände genommen«, sagte der Professor und schloss das Buch über byzantinische Mosaike, das er Elias gezeigt hatte. »Er ist spazieren gegangen, um sich mit der Gegend vertraut zu machen. Er hat mir erzählt, er beobachtet leidenschaftlich gern Vögel.«
»Wie reizend«, sagte Lady Catriona höflich.
Elias verschränkte die Arme hinter dem Rücken und sagte, was er schon vor drei Stunden hätte sagen sollen. »Ich hatte gehofft, über dem See einen Seeadler bei der Jagd zu entdecken.«
»Ah, leider sind sie inzwischen fast ausgestorben, sogar an so weit im Norden gelegenen Orten wie Applecross«, sagte Professor Campbell stirnrunzelnd. Im Gegensatz zu seiner Tochter hatte das Gesicht des Earls eine ausdrucksstarke Mimik. Die Fältchen in den Winkeln seiner grauen Augen verrieten, dass er gern lachte und oft die Augen zusammenkniff. »Ich habe mich gar nicht erkundigt, ob Sie etwas Interessantes entdeckt haben.«
Die Lady spannte sich unvermittelt an wie ein Bogen, der bereit zum Abschuss war.
»Nein«, antwortete Elias. »Nichts, zumindest nichts Bemerkenswertes. Und alles, was ich womöglich gesehen habe, habe ich längst vergessen.«
Der Earl blinzelte. »Mhm. Nun ja. Sie hatten eine lange Reise. Vier oder fünf Tage, nicht wahr?«
»Fünf bis nach Großbritannien, Sir. Und dann noch einmal zwei Tage bis Applecross.«
»Eine ganze Woche. Das ermüdet den Geist. Würden Sie es vorziehen, im Rauchzimmer bis zum Dinner auszuruhen? Meine Sammlung wartet auf Sie, sobald Sie sich erfrischt genug dafür fühlen.« Der Earl machte eine Geste zum Regal, in dem sich vergilbende Wälzer über vergangene Ären der Levante dicht an dicht drängten.
Er hätte zu gern zur Entspannung geraucht, aber ein wahrer Gelehrter würde es wahrscheinlich vorziehen, sich die alten Schinken anzusehen, deshalb sagte er: »Ich könnte nie zu müde für ein Buch über das Römische Reich sein.«
Sofort leuchteten die Augen des Earls auf. »Da kann ich nur zustimmen.« Er überraschte Elias damit, dass er sich an seine Tochter wandte. »Möchtest du dich an dem Gespräch beteiligen? Byzantinische Wandmosaike aus dem sechsten Jahrhundert.«
Sie schüttelte sofort den Kopf, aber ihre Lippen bewegten sich, ohne einen Laut von sich zu geben, ehe sie sagte: »Ich muss an meinem Buch weiterarbeiten.«
»In Ordnung«, erwiderte der Professor. »Tu das.«
»Ich sage der Köchin, sie soll euch Erfrischungen heraufschicken.« Ihr Blick glitt argwöhnisch zu Elias. »Bevorzugen Sie Tee oder Kaffee, Mr Khoury?«
Etwas Hochprozentiges wäre ihm jetzt recht, bitte, denn die Situation war absurd. Ironischerweise hätte sie vermieden werden können, hätte er nicht versucht, pünktlich zu sein, um seine Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit unter Beweis zu stellen. Da die Briten das Vorurteil pflegten, Menschen aus dem Osten hätten kein Zeitgefühl, hatte er Professor Campbell eine Ankunftszeit genannt, die einen Puffer für Verzögerungen auf der Reise ließ. Entgegen seiner Annahme gab es jedoch keinerlei Verspätungen, weshalb er wie ein übereifriger Preuße viel zu früh sein Ziel erreichte. Die Haushälterin war wie eine aufgeschreckte Ziege auf steifen Beinen umhergehetzt. Dann die nackte Frau, die sich als seine Gastgeberin herausstellte.
»Tee, bitte«, sagte er, denn dieses Getränk hätte der Earl garantiert gewählt.
»Bitte schick uns eine ganze Kanne, meine Liebe«, sagte Wester Ross.
Die Lady neigte den Kopf. Elias stellte fest, dass er sie zu aufmerksam beobachtete, als ob seine Augen den Zugang zu seinem Verstand gekappt hätten und nun versuchen würden, ihre triste Erscheinung in sich aufzusaugen wie ein Schwamm, bevor sie verschwand. Sie blitzte ihn mit einem unerwartet scharfen Blick an, der mit chirurgischer Präzision durch seinen sehr englischen Anzug schnitt, als wollte sie damit seine Anatomie und sämtliche seiner Geheimnisse für sie offenlegen. Einen Herzschlag lang fühlte er sich wie der Nackte unter ihnen. Er schenkte ihr ein ziemlich schamloses Lächeln. Sofort senkte sie die Lider, und eine zarte Röte überzog ihre Wangen. Rasch verließ sie das Zimmer.
Professor Campbells Worte waren wie Hintergrundgeräusche, die an ihm vorbeirauschten. Wie zum Teufel sollten sie es überstehen, sich eine ganze Woche lang am Dinnertisch gegenüberzusitzen? Ohne den Verdacht des Earls zu wecken? Er konnte sich beherrschen, denn nur ein unreifer Grünschnabel oder ein Narr würde ein lukratives Geschäft für eine Frau aufs Spiel setzen, aber die Lady … Sie schien unberechenbar, außerhalb seiner Reichweite.
Etwas später, auf dem Weg zum Speisezimmer, bildete sich Elias seine Meinung zu Burg Applecross. Das Anwesen war ein Lehrbuch-Beispiel für schlecht verwaltetes »altes Geld«, eine anschauliche Darstellung von verblassendem Ruhm, der in dieser Zeit so typisch für die nobleren Familien Großbritanniens war. In seinem Gästezimmer blies der Wind selbst durch das geschlossene Fenster. Die nackten Steinmauern in den Fluren strahlten eine Kälte aus, die im Winter bis ins Mark kriechen würde. Und obwohl die Dekoration und Möbel robust und teuer gewesen waren, wirkte alles ein wenig angestaubt, zerschlissen und ramponiert, da alles vermutlich seit einem oder zwei Jahrhunderten von Generation zu Generation weitergereicht worden war. Auf einem niedrigen Tisch in der Haupthalle stand ein Schachbrett mit einem nicht abgeschlossenen Spiel, nur zwei Züge von einem Schachmatt entfernt. Im Speisezimmer hing, statt eines Kronleuchters, ein mit Kerzen versehenes Wagenrad über dem langen Tisch. Der Ort besaß immer noch Potenzial, aber die Bewohner schienen sich kaum um ihr eigenes Äußeres zu kümmern. Der Earl of Wester Ross, einer der renommiertesten Gelehrten Europas auf dem Gebiet der mediterranen Archäologie, brauchte dringend einen Barbier, und sein olivfarbenes Tweedjackett war an mehreren Stellen geflickt. Sein zerstreutes Auftreten verleitete zu der Annahme, dass es ihm nicht einmal auffallen würde, könnte man die Mottenlöcher sehen. In seiner tadellosen Dinner-Aufmachung kam sich Elias viel zu vornehm im Vergleich zu seinem Gastgeber vor, aber andererseits hatte nur der Landadel das Privileg, ungestraft Flicken auf dem Jackett zu tragen. Alle anderen würden als unkultiviert oder arm gelten.
Lady Catriona saß ihm gegenüber, in ein altes Plaid und stoisches Schweigen gehüllt. Auf ihrem Gesicht lag still das goldene Abendlicht. Es überraschte ihn kaum, dass sie sich ihnen angeschlossen hatte, statt Unwohlsein vorzutäuschen. Bereits am See war sie ihm mit dem fatalistischen Mut einer Königin kurz vor der Schlacht gegenübergetreten.
»Wie gefällt Ihnen Schottland bisher, Mr Khoury?«, fragte der Earl. Er saß links von Elias, am Kopfende des Tisches, und aß die Suppe, die es als ersten Gang gab, mit herzhaftem Appetit.
»Sehr gut«, antwortete Elias. »In meiner Heimat kann ich von den Bergen aus das Meer sehen, so wie hier in Applecross.«
»Mm.« Der Earl nickte mit vollem Mund. »Dann sollten Sie sich hier wie zu Hause fühlen.«
So weit würde Elias nun nicht gehen.
»Habe ich auf dem Weg zum Speisezimmer tatsächlich eine Jakobiterfahne gesehen?«, fragte er stattdessen. »Sie hing gerahmt über der Haupttreppe.«
»Ha!« Wester Ross wirkte erfreut. »Scharf beobachtet. Verraten Sie das bloß nicht den Engländern. Oder den anderen Campbells.«
»Ich habe nur ein begrenztes Wissen über die schottische Geschichte«, gab Elias zu. Alles, was er darüber wusste, stammte aus einem Buch, das er sich eilig auf dem Weg hierher in Marseille gekauft hatte. Hätte er das Kapitel über Legenden und Selkies übersprungen, hätte er die Tochter des Earls vermutlich nicht so angestarrt wie ein Lüstling. Er räusperte sich. »Ich dachte, die Campbells hätten damals die Regierung gegen die Jakobiter-Rebellen unterstützt.«
»Das stimmt«, bestätigte der Earl. »Zwei Campbell-Clanführer schlossen sich den Jakobitern jedoch an, und mein Zweig der Familie stammt von einem der beiden ab. Vermutlich nennen wir deswegen auch diese windige Halbinsel unser Heim, anstelle eines prächtigen Anwesens in Argyll.« Er lachte. »Die Flagge stammt aus dem ersten Aufstand und ist fast hundertsiebzig Jahre alt. Wir behalten sie; wohl aus der angeborenen Liebe eines Archäologen für alte Dinge heraus, und …« Er schaute Elias über den Rand seiner Brille hinweg an. »… als eine Mahnung an die Konflikte der Highland-Clans, die sich gegeneinander wandten, obwohl ein stärkerer Feind vor den Toren stand. Diese Flagge warnt uns, unselige Fehler nicht zu wiederholen.«
Elias fragte sich, ob der Earl und seine Tochter Katholiken waren wie die Jakobiten. Er spürte den Blick wachsamer blauer Augen auf sich ruhen, so verstohlen wie eine Katze. Seine Haut wärmte sich unwillkürlich. Er schaute zu Lady Catriona, fing ihren Blick auf, so behutsam, wie man mit den Fingerspitzen die Hitze einer Ofenplatte prüft.
Lady Catriona zog das Plaid enger um die Schultern. »Woher aus dem Libanon-Gebirge kommen Sie, Mr Khoury?«
Sie beherrschte die Kunst, jemanden anzusehen, ohne ihm in die Augen zu schauen, indem sie den Blick einen Hauch darunter oder darüber richtete.
»Aus Zgharta«, antwortete er. »Ein Bergdorf, ungefähr zwei Stunden von der Küste und Tripolis entfernt.«
Sie nickte, als ob sie mit der geografischen Lage vertraut wäre. »Hat Ihre Reise in Tripolis begonnen?«
»Nein. Ich bin von Beirut aus mit dem Schiff nach Marseille gefahren. Von dort ging es per Zug und Kutsche weiter, dann mit der Fähre nach Dover.«
»Wurde die Schiffsreise durch die Aggression in der ägyptischen See erschwert?«
Ihm fehlten nicht oft die Worte, doch jetzt wusste er nicht, was er sagen sollte.
»Die britische Marine hat in der vergangenen Woche Alexandria angegriffen«, erklärte sie, sein Schweigen missdeutend, denn er hatte sie sehr gut verstanden.
»Meine Reise verlief reibungslos«, sagte er schließlich.
Am Tisch eines Fremden über Politik zu diskutieren, war ein Tabu, und es überraschte ihn, dass sie es gebrochen hatte. Was machte eine britische Lady aus, wenn nicht ihre perfekte Beherrschung aller Regeln der Etikette? Sie wirkte einen Moment lang enttäuscht, als hätte sie gehofft, er würde mit ihr darüber diskutieren. Sie griff nach dem Löffel und wandte sich ihrer Suppe zu. Schnell trank er einen Schluck Wein, was verhinderte, dass er etwas Leichtsinniges sagte, nur um ihre Aufmerksamkeit zurückzugewinnen.
»Es ist wirklich zu freundlich, dass Sie eine ganze Kiste dieser exzellenten Köstlichkeit mitgebracht haben«, stellte der Professor fest. »Ein hervorragender Rotwein.« Er hob sein Glas und prostete Elias zu. In dem alten Kristallkelch glitzerte der Wein wie ein Rubin. »Aus welcher Winzerei stammt er?«
»Château Ksara. Aus der Bekaa-Ebene.«
Lady Catriona hatte ihr Glas noch nicht angerührt.
»Hast du schon gehört, Catriona?«, sagte der Earl. »Man hat eine Weinpresse in der Nähe von Sidon, in Tell el-Burak, gefunden. Phönizisch. Fast dreitausend Jahre alt.«
Sie schaute auf. »Aye, den Bericht habe ich gelesen.«
»Nichts entgeht ihrer Aufmerksamkeit«, meinte der Earl voller Stolz. »Sie vergisst auch nichts.«
Wester Ross fand scheinbar Gefallen an der Belesenheit seiner Tochter. Ihre Bildung zu loben würde dem Earl sicher schmeicheln. Elias nutzte die Gelegenheit, sie ungestraft zu mustern. »Sie haben vorhin erwähnt, dass Sie an einem Buch arbeiten, Ma’am.«
Sie versteifte sich sichtlich. »Ja.«
Da sie weiter ihre Suppe löffelte, ergriff ihr Vater das Wort. »Kommst du voran?«
Lady Catriona presste die Lippen aufeinander. »Ich brauche wohl noch etwas mehr Zeit.«
»Worüber schreiben Sie?«, hakte Elias nach.
»Das weiß ich noch nicht«, erwiderte sie matt. »Ich habe mich noch nicht für ein Thema entschieden.«
»Es braucht Zeit, um einen guten Gedanken heranreifen zu lassen«, verkündete der Earl. »Pflückt man die Frucht zu früh, wird sie hart und unerquicklich sein.« Er schenkte sich Wein nach. »Wir befürworten in diesem Haus wissenschaftliche, intellektuelle Studienarbeiten, und das Grübeln über und Filtern von Gedanken, Thesen und Themen sind notwendige Schritte, die zum Schreibprozess dazugehören, auch wenn sie für das ungeübte Auge wie Untätigkeit wirken könnten. Denken Sie nicht auch, Mr Khoury?«
»Natürlich«, antwortete er. Um die Aufmerksamkeit von seinen nicht vorhandenen Studienarbeiten abzulenken, meinte er: »Haben Sie bereits ein Buch geschrieben, Lady Catriona?«
»Kein einziges«, antwortete sie mit gezwungener Gelassenheit. Ihre Augen waren hinter der Spiegelung der Kerzenflammen in ihrer Brille verborgen. Womöglich aber schossen doch ihre Augen die Flammen auf ihn.
»Kein einziges?« Der Earl betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. »Du hast eine ganze Anthologie verfasst.«
»Habe ich das?«
»Ja, natürlich. Die über Frauen in Machtpositionen.«
»Die habe ich nie beendet, Papa.«
»Seltsam, das muss mir entfallen sein.«
Ihre stoische Miene wurde weicher. »Nun ja, du bist ja auch mit bedeutsameren Dingen beschäftigt.«
»Die Zeit vergeht so rasch, und manches vergesse ich.«
Dienstboten traten an den Tisch und trugen die leeren Suppenteller ab. Die Flügeltüren wurden geöffnet, und zwei weitere Dienstboten servierten den nächsten Gang. Ein kühler Luftzug wehte durchs Zimmer, bis die Tür sich wieder schloss. Eine Weile sagte niemand ein Wort; die Stille wurde nur durch das überlaute Klappern von schwerem altem Silberbesteck und Terrinendeckeln auf edlem Porzellan und dem Ploppen von Weinkorken unterbrochen. Elias lobte höflich die zu schwach gewürzte Lammkeule.
»Nehmen Sie sich gerne noch nach«, forderte der Earl ihn auf. Er betrachtete seine Tochter, die mechanisch das Fleisch von dem Knochen ihrer Keule schnitt. »Du hast diese Anthologie also nie beendet«, stellte er fest. »Jetzt weiß ich es wieder, aber ich verstehe immer noch nicht, warum.«
Lady Catriona legte ihr Besteck nieder und griff nach dem Weinglas. Ihr Plaid öffnete sich vorn und enthüllte einen eckigen Ausschnitt und die leicht geschwungenen Linien ihres Schlüsselbeins. Elias richtete den Blick auf die Wand hinter ihr und betrachtete angestrengt das Porträt eines grimmigen Schotten. Er glaubte zu hören, wie sie schluckte. Das war die reinste Folter, als läge er auf einer Streckbank, auf der ihn der verführerische Anblick ihrer Haut in die eine Richtung und seine guten Manieren in die andere zog.
»Das Buch war nutzlos«, sagte sie schließlich. Ihr Glas war fast leer.
»Aber nein«, warf ihr Vater ein. »Deine Arbeit ist immer ausgezeichnet. Warum überarbeitest du es nicht, bevor du etwas Neues anfängst.«
»Vater, lass uns den armen Mr Khoury nicht mit meinen gescheiterten akademischen Versuchen langweilen.«
»Sie könnten mich niemals langweilen«, sagte Elias. Verdammt. »Mit ihren Gesprächen.«
Die Lady schnaubte leise. »Nun gut«, sagte sie. »Vor ein paar Jahren habe ich einen Entwurf für eine Anthologie über mächtige Frauen von der Antike bis heute verfasst.«
»Mächtige Frauen«, wiederholte er. »Welche zum Beispiel?«
Sie reckte herausfordernd das Kinn. »Wie zum Beispiel Elissa von Karthago.«
»Ah«, sagte er reumütig. »Eine phönizische Prinzessin.«
»Ich wollte mit dem Buch die Frauenrechtsbewegung unterstützen«, fuhr sie fort.
»In diesem Haus sind wir pro-suffragistisch«, erklärte der Earl. »Wir befürworten das Frauenwahlrecht und die Gleichstellung mit Männern in allen Bereichen des Lebens, vor allem in der Ehe.«
Die Sorglosigkeit der Tochter, politische Themen am Dinnertisch zu diskutieren, wurde also durch den Vater ermutigt. Persönlich hätte es Elias vorgezogen, das Gespräch wieder auf unverfängliche Themen wie Wein oder das Wetter zu lenken, aber wenn man in Rom war, sollte man es wie die Römer tun …
»Unsere Gegner behaupten, Frauen seien zu emotional und handelten irrational. Deshalb sollten wir besser nicht am öffentlichen Leben teilnehmen und selbst in unserem eigenen Heim rechtlos bleiben, denn uns sei nicht zuzumuten, über uns selbst zu bestimmen, geschweige denn über das politische Schicksal einer ganzen Nation«, fuhr Lady Catriona fort. »In meiner Naivität nahm ich an, wenn es genügend Beweise gäbe, schwarz auf weiß, dass Frauen seit Jahrtausenden fähige Führerinnen und Gelehrte sind, würde man solchen Argumenten die Grundlage nehmen.«
»Das klingt logisch, nicht naiv«, bemerkte Elias.
Ein freudloses Lächeln lag auf ihren Lippen. »Das Problem ist, Mr Khoury, dass die Menschen nicht an Logik oder Fakten interessiert sind, vor allem dann nicht, wenn diese ihrer Bequemlichkeit und ihren Überzeugungen in die Quere kommen. Mir wurde schon bald klar, dass es für zu viele Ehemänner in Großbritannien äußerst unbequem wäre, bekämen sie es in ihrem Heim mit einer gleichberechtigten Person zu tun. Und dass sie deshalb meine Arbeit schlechtreden würden.«
Ihre stille Intensität zog das Auge an wie der einzige helle Punkt in einem dämmrigen Zimmer.
»Sie können nicht alle Reaktionen auf Ihre Arbeit voraussehen«, hörte er sich sagen.
»Möglich«, gab sie zu. »Aber die Vergangenheit erlaubt eine gute Vorhersage für die Zukunft. Das Problem ist nicht, dass es zu wenig Beweise für die weiblichen Fähigkeiten gäbe, sondern eher, dass man nicht bereit ist, unsere Leistungen anzuerkennen. Die Frau an sich ist bereits ein beliebtes Forschungsobjekt. Männliche Gelehrte sind geradezu besessen von uns. Haben Frauen eine Seele?, fragte man sich im antiken Griechenland, und immer noch zweifelt man, ob wir zu logischem Denken fähig sind, und ob diese Menschen, die keine Männer sind, überhaupt zu etwas gut sind, außer für Zwecke der Fortpflanzung.«
Elias verschluckte sich an seiner eigenen Spucke.
»So viel Theorie und Rätselwerk«, sagte sie schulterzuckend. »Dabei müsste man uns bloß fragen und zuhören, was wir sagen. Aber das wäre vermutlich zu radikal.«
Er räusperte sich, seine Stimme klang dennoch rau. »Sie halten wohl nicht viel von Männern.«
Sie neigte den Kopf, als ob sie darüber nachdenken müsste. »Es ist eher so«, sagte sie schließlich, »dass ich die ganze menschliche Spezies als ziemlich enttäuschend empfinde.«
Er lachte unwillkürlich. »Misanthropie für alle sozusagen«, stellte er fest. »Das ist gerecht.«
Innerlich schüttelte er den Kopf über ihr Verhalten; es bestürzte und verwirrte ihn. Ganz offensichtlich hegte sie die Absicht, ihn zu provozieren. Habe ich Sie etwa schockiert?, fragte ihr Blick. Ihre Wangen wirkten erhitzt, ihre vollen Lippen waren gerötet vom Ksara-Wein. Sein Herz trommelte viel zu heftig gegen den Brustkorb. Die Frau vom See war zurück. Sie war wie ein Bergfluss im Winter: brennende Kälte, wenn man ihn berührte, und unter der stillen Oberfläche floss ein mächtiger Strom. Ein Mann konnte schnell in Schwierigkeiten geraten, wenn er planlos derartige Gewässer zu navigieren versuchte. Wie unbequem, dass er einen angeborenen Drang verspürte, Probleme zu lösen und gestellte Herausforderungen anzunehmen. Er hielt ihren Blick fest. Verausgaben Sie sich nicht, morste er zurück, ich stelle keine Bedrohung für Sie dar. Er würde sicherlich eine Weile von ihren Kurven träumen, aber er drängte sich niemandem auf, und sie war sowieso in jeder Hinsicht keine passende Partie …
»Wunderbar«, sagte der Earl. Seine Stimme barst in die sich aufbauende Spannung wie Donnergrollen. »Ein sehr stimulierender Austausch.«
Hitze durchlief ihn, als Elias feststellte, dass er sich unwillkürlich zu Catriona gebeugt hatte und seine Hände auf dem Tisch dieselbe Richtung einschlugen.
»Wir schätzen anregende Gespräche beim Dinner«, fuhr Wester Ross fort. »Und ich habe meine Tochter selten so ungezwungen im Umgang mit einem Gast erlebt.«
Der Mann lag so grandios falsch, dass die grauen Zellen in Elias’ Gehirn kurz aussetzten. Er gab einen unverbindlichen Laut von sich und rückte zurück.
»Das ist ein Glücksfall«, sagte der Earl, während er zwischen Elias und seiner Tochter hin- und hersah. »Denn ich habe einen Vorschlag für euch beide.«
Lady Catriona erstarrte. Elias’ Kopf war wie leer gefegt.
»Middleton hat heute angeboten, sich unser Verkaufsangebot für das Stück Land noch mal anzusehen«, erklärte der Earl seiner Tochter.
»Ach ja?«, sagte Lady Catriona nach einer kurzen Pause. »Das sind gute Nachrichten.«
»Wie es scheint, hat er sich von Lady Middleton getrennt.«
»MacKenzie hat es erwähnt, ja.«
»Ich glaube, er braucht größere Mittel, um Lady Middleton in London eine eigene Unterkunft zu finanzieren.«
Eine steile Falte erschien auf Lady Catrionas Stirn. »Und was hat das mit Mr Khoury und mir zu tun?«
Ja, genau, was?
Der Earl legte die Hände flach auf den Tisch. »Ich werde mich um das Geschäft mit Middleton kümmern müssen. Daher schlage ich vor, dass du an meiner Stelle Mr Khoury nach Oxford begleitest.«
»Wie bitte?«, entfuhr es der Lady.
»Du kennst dich genauso gut aus wie ich, und die anderen Dozenten am St. John’s College haben große Achtung vor dir«, sagte ihr Vater. »Du könntest Mr Khoury vorstellen, ihm alles zeigen und ihm sogar bei der Katalogisierung der Artefakte helfen. Ich komme dann so bald wie möglich nach.«
Ihre Lippen zuckten. »Kann das nicht warten?«, stieß sie hervor.
Wester Ross setzte die Brille ab und rieb sich über die Augen. »Middleton will nach Übersee verreisen und ist in Eile. Eine neue Frau, vermute ich. Entschuldigen Sie den Tratsch«, meinte er zu Elias.
Gewöhnlich hätte Elias sich nach den Wünschen des älteren Mannes, seinem Gastgeber und Ortskundigen gerichtet, aber Lady Catriona hatte die Hände auf dem Tisch so fest geballt, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
»Ich kann gerne auch länger in Applecross bleiben«, sagte er daher und musste eine Woge der Enttäuschung unterdrücken. Um das Vertrauen und die Unterstützung des Professors zu gewinnen, musste er Zeit mit ihm verbringen.
Der Earl nickte und neigte leicht den Kopf. »Das weiß ich zu schätzen, aber ich bin bestimmt tagelang außer Haus, denn die juristische Klärung des Geschäfts erfordert eine Reise nach Glasgow, vielleicht sogar London. Und wir wollen den Nachbarn doch keinen Anlass für Klatsch und Tratsch geben, nicht wahr? Vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass Lady Middleton bald in der Londoner Gesellschaft verkehrt.«
»Natürlich nicht«, sagte Elias aus Reflex, obwohl er nicht begriff, wieso eine Reise mit seiner Tochter nach Oxford weniger skandalös sein sollte, als der Aufenthalt mit ihr allein in der Burg. »Wenn Lady Catriona es vorzieht, hier zu bleiben, dann kann ich auch allein nach Oxford fahren«, schlug er vor.
Der Earl lächelte. »Vielen Dank für das Angebot, Mr Khoury, aber ein Großteil Ihrer Arbeit werden Sie im Ashmolean erledigen. Ich denke, es wäre für Sie komfortabler und für Ihre Studien dienlicher, wenn jemand, der an der Universität bekannt ist, Ihnen dabei hilft, die bürokratischen Hürden und Eigenheiten, die es gibt, zu überwinden.«
Weder der Tonfall des Earls noch seine Haltung hatten sich verändert, aber es war offensichtlich, dass er Elias in einem Raum voller Schätze nicht unbeaufsichtigt lassen würde. Der Earl war zerstreut, aber nicht naiv. Die meiste Zeit des Gesprächs hatte er sich wie der Bauer im Spiel verhalten und dann ganz unerwartet die Dame zum Zug gebracht. Schach.
Elias erwiderte das Lächeln des Mannes. »Wie Sie wünschen.«
Beide richteten ihre Aufmerksamkeit auf Lady Catriona.
Sie schien durch sie beide hindurchzusehen.
»Nun, wie es scheint, ist es bereits entschieden«, sagte sie nach einem Moment knisternder Stille.
»Es gibt noch eine andere Option, meine Liebe«, erwiderte der Earl. »Ich könnte Mr Khoury wie geplant begleiten, und du verhandelst mit Middleton. Das schließt natürlich den ehrenwerten Charles ein.«
Sie erstarrte. »Nein«, erwiderte sie leise.
»Das dachte ich mir«, meinte der Earl. Er signalisierte einem Diener, dass er den letzten Gang servieren konnte.
Lady Catriona aß ihr Dessert in kleinen Bissen, ihr Rücken so starr wie ein Zaunpfosten, denn man hatte sie zwischen Pest und Cholera wählen lassen: Elias oder Mr Charles. Wer zum Teufel war dieser Charles?
Bevor die Teller abgeräumt waren, legte sie die Serviette zur Seite und stand auf. »Verzeihung, wenn ich mich schon zurückziehe«, sagte sie zu niemandem im Besonderen. »Ich muss nach den Lämmern sehen.«
Sie verließ so schnell den Raum, dass ihr dunkler Haarschopf bei jedem Schritt zu wippen schien. Das Geräusch der riesigen Türen, die ins Schloss fielen, hallte durch den Raum.
Wester Ross schaute Elias an, sein wettergegerbtes Gesicht war ausdruckslos. »Sie haben mein Wort, dass sie mich in Oxford ebenbürtig vertreten wird«, sagte er. »Sie ist mein bester Mann.«
Sie ist aber auch eine Frau, dachte Elias. Und sie verabscheut meine Gesellschaft.
Er musste unbedingt herausfinden, wo die Campbells ihre Schafe hielten.
Ein Brutus hätte sie nicht spektakulärer verraten können.
Auf dem Weg zu den Stallungen kochte Catriona still vor sich hin. Eben noch pries Wester Ross die Notwendigkeiten und Tugenden der ungestörten geistigen Arbeit, und im nächsten Moment warf er ihren Zeitplan über den Haufen, um sie mit einem Mann auf Reisen zu schicken, der die genaue Form ihrer Brüste kannte. Schon das Dinner war nahezu unerträglich gewesen, ihre aufwühlenden Gefühle hätten sie fast erstickt, und nun sollte sie ganze Tage mit ihm verbringen?
Ihre brennenden Wangen kühlten sich ein wenig, als sie den Stall betrat. Der vertraute Geruch nach Stroh und Wollfett und das fröhliche Mäh der Frühlingslämmer gab ihr wieder Bodenhaftung. Der alte Collins lehnte an der gekalkten Wand der letzten Box im Gang und sprach mit Will, dem Stallmeister. Die Männer hatten die Schafe in unterschiedliche Pferche aufgeteilt; manche der Tiere würden morgen auf dem Markt verkauft werden, andere geschoren und wieder in die Hügel entlassen.
Sie stand neben Collins und betrachtete die Herde. »Middleton will das alte Grenzland im Westen kaufen«, sagte sie.
Collins warf ihr unter der Krempe seiner schmierigen braunen Mütze einen Blick zu. »Aye.«
Also wusste er es bereits.
»Halten Sie das für notwendig?«, fragte sie.
Bedauern spiegelte sich in den blauen Augen des Wildhüters. Wenige Schotten verkauften bereitwillig ihr Land. Will fuhr sich mit einer Hand durch die blonden Haare, als sie ihn ansah.
Sie stieß den Atem aus. »Verstehe.«
Dass ihre akademischen Pläne durchkreuzt worden waren, hatte in dem Fall wenigstens einen guten Zweck. Es waren immer die guten Zwecke, die sie daran hinderten, ihre eigenen Vorhaben voranzutreiben.
Wie jede Woche lieferte Will ihr seinen Bericht über die Lämmer. Die Wollpreise waren schon wieder gefallen. Würde der Verkauf des Landstücks wirklich seinen Zweck erfüllen oder das Unvermeidliche nur hinauszögern? Abgesehen von den Grenzstücken unterlag das Anwesen einem Fideikommiss, der ihnen nach dem Erbrecht auferlegte, den Grundbesitz zusammenzuhalten. Sie hatten daher kaum noch etwas, das veräußert werden konnte. Gedankenverloren rieb sie sich über die Kehle. Jede vernünftige Frau in ihrer Lage hätte Stift und Papier längst zur Seite gelegt und versucht, sich einen reichen Unternehmer als Ehemann zu angeln. Jeder andere vernünftige Vater hätte sie längst dazu gedrängt.
Die Stalltür schwang knarzend auf, und sie drehten alle die Köpfe, um in den Gang zu spähen. Mr Khourys gut gebaute Gestalt erschien auf der Schwelle. Hitze schoss ihr durch den Magen. Ziellos flog ihr Blick über die Wände und Tröge, bevor er sich auf MacKenzie legte, die Mr Khoury auf dem Fuß folgte.
»Sie haben also unsere Ställe gefunden«, sagte sie. Ihr war bewusst, dass ihre Stimme wie die eines Automaten klang.
Er neigte den Kopf, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. »Mrs MacKenzie war so freundlich, mich jeden Schritt des Weges zu begleiten.«
Das würde jede Zofe mit Sinn für Anstand tun, Sir.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Sie interessieren sich für Schafe?«
»Eher für Stoffe und Textilien«, erwiderte er aalglatt. »Meine Familie ist im Seidenhandel tätig.«
»Ich dachte, Sie seien Gelehrter.«
Er betrachtete die Lämmer im Pferch. »Ich bin wohl, wie sagt man, das schwarze Schaf der Familie.«
Interessant. Eine solche Selbstironie war in seiner Kultur wohl kaum üblich. Er musste in Cambridge die englischen Sitten und Gebräuche aufmerksam studiert haben und probierte seine Erkenntnisse nun an ihr aus.
Mr Khoury richtete seine Aufmerksamkeit erneut auf sie, und sein unverfrorener Blick jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Diese Kaleidoskop-Augen hatten einfach alles an ihr gesehen.
»Darf ich sie anfassen?«, fragte er.
»Was?«
Er nickte zum Pferch. »Die Lämmer.«
»Oh. Ja, natürlich. Wenn sie es zulassen.«
Er streckte die Hand in die Box und gab ein leises Zischen von sich. Bzz. Bzz. Bzz. Im Profil wirkten seine Züge ebenso ansprechend wie von vorn. Seine kräftige Nase hätte einem Kaiser gehören können. Sein dichtes dunkles Haar war an den Seiten und am Hinterkopf kurz geschnitten, aber oben länger, und eine verirrte Locke fiel ihm in die Stirn, wenn er nach unten sah.
»Collins, William, Sie können gern schon gehen. Genießen Sie Ihren Feierabend«, sagte sie.
Die Männer murmelten ihre Zustimmung und verließen den Stall. MacKenzie verschränkte abwartend die Arme, entschlossen zu bleiben. Das war ein Problem, denn das, was Catriona Mr Elias Khoury zu sagen hatte, war nicht für die Ohren einer Zofe bestimmt. Mr Khourys seltsame Geräusche hatten tatsächlich ein Lamm angelockt. Mit schmeichelnden arabischen Worten sprach er auf das Tier ein, während seine gebräunten Finger durch das Fell strichen. Unerwartet schaute er zu Catriona; seine Augen leuchteten aquamarinblau vor echter Begeisterung. Wie die von der Sonne geküsste Meeresoberfläche. Erschrocken senkte sie den Kopf.
»Das ist gute Wolle«, meinte er lobend.
Ihre Wangen glühten. Er sprach das Wort Wolle mit einem leichten französischen Akzent aus, der auch sonst immer wieder einmal in seiner Intonation durchschimmerte. Um das zu erkennen, brauchte sie keine Linguistikkenntnisse. Er war viel zu gebildet, um sich in ihrem Stall aufzuhalten, mit seiner herrschaftlichen Nase, dem französischen Akzent und dem englischen Anzug, obwohl seine lässige Haltung zeigte, dass er sich in seiner Haut wohlfühlte, egal, wo er sich aufhielt. Das wiederum machte ihr überdeutlich bewusst, dass sie hässliche, dicksohlige Stiefel trug und nicht wusste, wie sie ihre Arme halten sollte, und dass ihre Stimme ziemlich eintönig klang und sie immer einen Stich verspürte, wenn sie seinen Blick festhalten wollte. Dieser verflixte Funke!
Sie straffte die Schultern. »Beobachten Sie wirklich gern Vögel, Mr Khoury?«
Da sie MacKenzie nicht entkommen würde, hatte sie ihn auf Arabisch angesprochen.
Mr Khoury ließ das Lamm los und musterte sie argwöhnisch. »Eh.« Also ja.
MacKenzie schnaubte missbilligend über den Sprachwechsel.
Catriona ignorierte sie. »Ihre Anwesenheit am See heute Nachmittag war also tatsächlich rein zufällig?«
Er zog die Brauen hoch, als ob ihre Unverfrorenheit, das Unaussprechliche auszusprechen, ihn schockierte. Dann hob er abwehrend die Hände. »Ich schwöre es«, antwortete er. »Ich beobachte Raubvögel.«
»Verstehe. Dennoch sollten wir unsere Situation klären.«
Mr Khoury schaute kurz zu MacKenzie, die sie nun trotzig ebenfalls ignorierte.
Er kam einen Schritt näher. »Deshalb habe ich Sie hier aufgesucht. Ich würde Ihnen diese Reise gern ersparen, wenn ich könnte.«
Sein Duft kitzelte sie in der Nase, warm und holzig wie ein später Sommertag. Er hatte sie schon beim Essen benebelt.
Sie richtete ihre Brille. »Sie haben mich in einer außerordentlich kompromittierenden Situation angetroffen«, stellte sie das Offensichtliche fest. »Wir sollten vorgeben, es sei nie passiert, aber es ist nun mal passiert, und wir beide wissen, wie ungeheuerlich das ist.«
Er hob einen Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln. »In der Tat. In meiner Heimat wären wir jetzt bereits verheiratet.«
Ein ächzender Laut entwich ihr.
Beschwichtigend hob er die Hände. »Das war ein Scherz. Verzeihen Sie.«
Sein Tonfall war verdächtig beiläufig; es lauerte also ein Körnchen Wahrheit in diesem Scherz.
»Zum Glück wird von uns nur verlangt, dass wir gemeinsam nach Oxford reisen«, erwiderte sie kühl. Sie spürte, wie ihr die Röte den Hals hinaufkroch. »Ich werde Ihnen alle wichtigen Orte und Gentlemen vorstellen, und wir werden die gebührende Distanz halten, bis sich unsere Wege trennen.«
»Natürlich«, stimmte er bereitwillig zu.
»Ich würde gern übermorgen abreisen.«
Er hatte erst eine einwöchige Anreise auf sich genommen, um nach Applecross zu gelangen, aber er zuckte nicht einmal mit der Wimper, als sie ihm diesen Plan verkündete. »Wie Sie wünschen.«
»Außerdem würde ich unterschiedliche Abteile vorziehen, damit uns die Peinlichkeit erspart bleibt, um unsere besondere Situation herumzuschleichen wie die Katze um den heißen Brei.« Herumzuschleichen sagte sie in ihrer Muttersprache.
Mr Khoury nickte, aber es sah so aus, als würde er sich in die Wangen beißen, um sich ein Grinsen zu verkneifen.
Seine Gelassenheit war nervenaufreibend. Verhielt sie sich übermäßig prüde? Allerdings konnte er sich diese Nonchalance auch leisten. Ihr Anblick bietet nichts, was ich nicht schon gesehen hätte. Gab es eine Mrs Khoury, die im Osten auf ihn wartete, oder war er bloß ein Frauenheld? Er wirkte wie ein vitaler, aktiver junger Mann, aber die feinen Fältchen um seine Augen verrieten, dass er älter als fünfundzwanzig Jahre sein musste. Wahrscheinlich war er verheiratet. Bei dem Gedanken überschlug sich ihr gereizter Magen. Wie erbärmlich. Als ob der Familienstand dieses Mannes sie interessierte. Ein bedeutungsvolles Schweigen breitete sich aus, bis ein klägliches Mäh die Anspannung durchbrach. Das Lämmchen stand immer noch da und beobachtete Mr Khoury, scheinbar wartete es auf weitere Streicheleinheiten. Auch das schien ihn zu belustigen. Er war es vermutlich gewohnt, dass man schamlos um seine Aufmerksamkeit buhlte, ein Grund mehr, ihn zu ignorieren. Seine Aufmerksamkeit galt jedoch ihr, als sie den Stall verließ, und sein Blick bohrte sich spürbar wie ein Pfeil in ihren Rücken.
Sie fühlte sich immer noch davon verfolgt, als sie sich eine Weile später in ihrem dämmrigen Zimmer die Haare für die Nacht kämmte. Ihr Gesicht brannte, als hätte sie zu viel Zeit in der Sonne verbracht. Ihr Magen verkrampfte immer noch mit einer seltsamen Aufregung. Sie kannte dieses Gefühl. Schon drei Mal hatte sie es verspürt, das erste Mal bei Charles Middleton, und zuletzt beim Schwager ihrer Freundin, Lord Peregrin. Drei Male reichten, um ein Muster zu bilden, und dieses Muster besagte, dass romantische Beziehungen für sie nicht infrage kamen. Natürlich dachte sie keinesfalls an eine romantische Bindung, wenn ihre Gedanken zu dem Anblick von Elias Khourys Händen beim Streicheln des Lamms zurückwanderten. Vielmehr regte sich etwas tief in ihr; wie ein vergessener Gefangener im dunklen Verlies, wenn unerwartet ein Sonnenstrahl durch das Fenster fällt. Es war das Gefühl einer vagen Hoffnung, die Hoffnung, dass ihre Leidenschaft noch nicht vollständig erloschen war und sie noch nicht ihren letzten Kuss geküsst hatte. Diesen Hoffnungsschimmer musste sie schnell ersticken. Falsche Hoffnung war die größte Zeitverschwendung, mit der sich Menschen gerne selbst täuschten.
Sie legte die Bürste auf die Frisierkommode. Im Spiegel wirkte ihr Gesicht unbewegt und blass. Eine kleine Falte auf ihrer Stirn war das einzige Anzeichen ihrer inneren Aufgewühltheit. Die Leute hielten sie für kühl und gefasst, aber in Wahrheit gab es bloß eine fehlerhafte Verbindung zwischen ihren Gefühlen und den Gesichtsmuskeln. Das verbarg so manchen ungeheuerlichen und verqueren Gedankengang.
Hinter ihr legte MacKenzie eine Pause dabei ein, heiße Kohlen aus dem Kamin in den Bettwärmer zu schichten.
»Es wird bestimmt schön, wenn Sie Ihre Freundinnen in Oxford wiedersehen, nicht?«, sagte sie friedfertig. Sie wusste, wie sehr Catriona es hasste, wenn ihr Zeitplan durcheinandergeriet.
»Ja, vielleicht«, sagte Catriona. Sie öffnete die Dose mit der Lavendelcreme. »Ich vermisse sie, aber meine Hoffnung, das Buch zu schreiben, schwindet damit auch endgültig dahin.«
»Warum denn das?«
»Meine Freundinnen sind in Oxford, weil unsere Kampagne ausgearbeitet und exakt koordiniert werden muss, bis das Parlament wieder zusammentritt und die Anhörung für unseren Gesetzentwurf stattfindet.« Sie verteilte die kühle Creme auf ihren Wangen. »Das bedeutet, sobald ich zurück bin, werden sie mich zu zahllosen Kampagnenarbeiten und viel Tee und Kuchen nötigen.«
Und wenn sie dann noch Elias Khoury unterstützen sollte, konnte sie sich von ihren Buch-Grübeleien endgültig verabschieden.
MacKenzie runzelte die Stirn. »Ich dachte, der Duke of Montgomery hat das Eigentumsgesetz bereits vor Monaten durch das House of Lords gebracht. Welche Aufgaben in der Frauenbewegung müssen denn jetzt noch über den Sommer erledigt werden?«
»Das House of Lords war eine große Hürde, die genommen ist, aber die Abgeordneten im House of Commons müssen ebenfalls zustimmen. Wenn wir sie nicht bis Ende des Sommers davon überzeugen, den Entwurf zu befürworten, war die Arbeit der letzten Jahre umsonst. Lucie wird ganz sicher eine Aufgabe für mich finden.«
Und da die Sache so wichtig war und Lucie, Annabelle und Hattie wie Schwestern für sie waren, würde sie ganz sicher einknicken und sich zu viel aufbürden.
MacKenzie schüttelte den Kopf. Ihrer Meinung nach gehörte das Frauenwahlrecht zu den Flausen, die sich nur gutbetuchte Frauen leisten konnten. Sie klappte den Bettwärmer zu und erhob sich mühsam.
Catriona stand auf. »Warten Sie.«
Als sie MacKenzie die heiße Pfanne abnehmen wollte, schüttelte die ältere Frau abrupt den Kopf. Mit leeren Händen musste Catriona zusehen, wie MacKenzie den Bettwärmer unter der Decke schnell hin- und herbewegte. Seit MacKenzies fünfzigsten Geburtstag bot sie ihr jedes Jahr aufs Neue an, sich zur Ruhe zu setzen, und immer erhielt sie dieselbe Antwort: ein höfliches »Danke« und ein Blick, der besagte »Wer soll sich denn dann um dich kümmern?« MacKenzie lebte im Dorf Shieldaig, aber wenn Catriona sich in der Burg aufhielt, kam sie jeden Tag her, es sei denn eine ihrer Töchter hatte ein Neugeborenes im Haus. Bis heute schien MacKenzie Schwierigkeiten zu haben, die neunjährige Catriona, die ihre Mutter verloren hatte, von der inzwischen erwachsenen Frau zu trennen.
»Ich muss mein Arabisch üben«, sagte Catriona. »Mr Khoury kommt mir da gerade recht.«
Es war als Entschuldigung und Erklärung gedacht, warum sie MacKenzie vorhin von der Unterhaltung im Stall ausgeschlossen hatte.
MacKenzie hob wortlos die Brauen.
Die Kutsche verließ die Burg in der Morgendämmerung, die gähnende MacKenzie saß Catriona gegenüber, in der Rolle der Anstandsdame. Im Inneren der Kutsche war es kalt und feucht. Beide Frauen trugen zum Schutz vor Kohlenstaub und Kälte auf der zweitägigen Reise robuste graue Tweedkleider und Mäntel. Catriona vergrub sich in ihr Plaid, während die Burg im vom Regen gestreiften Rückfenster immer kleiner wurde. Tief durchatmen.
»Mr Khoury ist wirklich seltsam«, meinte MacKenzie. Sie hatte das faltige Gesicht auf die im Nebel liegende Landschaft gerichtet. »Darauf zu beharren, neben dem Kutscher zu sitzen, bei diesem Wetter.«
Mr Khoury saß tatsächlich auf dem Kutschbock, vor den Elementen nur durch einen geborgten, gewachsten Mantel geschützt. Wie vereinbart hielt er Abstand zu Catriona. Ganz sicher ist es ihm auch am liebsten so, redete sie sich ein. Ungeachtet dessen, dass Gastfreundschaft in der arabischen Kultur heilig war und sie ihm durch die Planänderung des Earls und ihren Bedingungen ein Besuchserlebnis aus der Hölle beschert hatten.
MacKenzie musterte sie mit strengem Blick. »Mary hat erzählt, dass er Wein trinkt. Ich dachte, Türken trinken keinen Wein.«
»Sein Heimatland gehört zwar zum türkisch-osmanischen Reich, aber er ist kein Türke«, erwiderte Catriona.
»Er spricht aber Arabisch«, entgegnete MacKenzie. »Das haben Sie selbst gesagt.«
»Genau. Und Türken sprechen Türkisch. Wie dem auch sei, soweit ich weiß, gehört Mr Khoury der Religionsgemeinschaft der Maroniten an – das heißt, er ist gewissermaßen Katholik.« Catriona war selbst Katholikin, daher kannte sie sich mit seinem Glauben ein wenig aus, obwohl sie und Wester Ross schon seit Jahren eher zu den Agnostikern zählten.