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Seinem Gegner in die Seele zu blicken kann ungeahnte Folgen haben ...
Lucie Tedbury, die junge Anführerin der Frauenrechtsbewegung in Oxford, ist empört. Die Nemesis ihrer Jugend, der berüchtigte Tristan Ballentine, sabotiert ihren Plan, Tausende Leserinnen von Frauenzeitschriften für ihre Sache zu gewinnen. Doch dann macht der junge Adlige ihr ein skandalöses Angebot: Eine Nacht mit ihm, und er wird das Feld räumen. Lucie hätte nicht gedacht, dass sie ihn noch mehr verabscheuen könnte! Bald muss sie sich jedoch eingestehen, dass Tristan ihr Blut nicht nur durch sein unverschämtes Auftreten in Wallung bringt, sondern dass sich hinter ihren Gefühlen für ihn womöglich mehr verbirgt, als sie wahrhaben möchte ...
"Eine fast schmerzhaft schöne Liebesgeschichte, die den Geist der Veränderung und Gleichberechtigung widerspiegelt, der die Kämpfer:innen der Frauenbewegung antrieb." NATASHA IS A BOOK JUNKIE
Band 2 der Rebellinnen von Oxford
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Seitenzahl: 624
Veröffentlichungsjahr: 2021
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
Epilog
Nachwort der Autorin
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Evie Dunmore bei LYX
Impressum
Evie Dunmore
Die Rebellinnen von Oxford
Unerschrocken
Roman
Ins Deutsche übertragen von Corinna Wieja
Lady Lucie ist empört. Gerade hat sie genug Geld organisiert, um sich in eines der größten Londoner Verlagshäuser einzukaufen, da grätscht ihr ausgerechnet Tristan Ballentine – berüchtigter Lebemann und Nemesis ihrer Jugendjahre – dazwischen und sabotiert ihren sorgfältig vorbereiteten Schachzug. Lucies Plan, die Reichweite der Frauenzeitschriften zum Wohl der Frauenbewegung zu nutzen, scheint zum Scheitern verurteilt. Doch dann macht Tristan ihr ein überraschendes – und skandalöses – Angebot: Eine Nacht mit ihm, und er wird das Feld räumen. Lucie hätte nicht gedacht, dass sie ihn noch mehr verabscheuen könnte. Bald muss sie sich jedoch eingestehen, dass Tristan ihr Blut nicht nur durch sein unverschämtes Auftreten in Wallung bringt. Der vielschichtige, faszinierende Mann, den sie hinter der arroganten Fassade erkennt, zieht sie gegen ihren Willen in seinen Bann. Sich fest zu binden ist für Lucie jedoch völlig undenkbar, denn der Kampf für die Frauenrechte ist ihr Leben, alles, was sie ausmacht. Aber eine leidenschaftliche Liaison? Warum nicht? Doch das Spiel mit dem Feuer droht außer Kontrolle zu geraten, und Lucie wird mit der Frage konfrontiert, ob sie der Liebe einen Platz geben kann, ohne ihre Ideale zu verraten.
Für Brad und Judy,
Eure Herzensgüte inspiriert mich, stets mein Bestes zu geben.
Buckinghamshire, Sommer 1865
Eine wohlerzogene junge Dame sollte nicht auf dem Teppich hinter dem Sofa liegen und gegen sich selbst Schach spielen. Sie stopfte sich auch nicht schon vor dem Frühstück den Mund mit Zitronenbonbons voll. Lucie wusste das. Aber die Sommerferien waren ausgesprochen langweilig. So langweilig wie noch nie zuvor. Tommy war als Schnösel von Eton nach Hause zurückgekehrt und sich plötzlich viel zu fein, um mit Mädchen zu spielen. Und ihre kürzlich eingetroffene Cousine Cecily gehörte zu der Sorte Kinder, die bei jeder Kleinigkeit in Tränen ausbrachen. Mit knapp dreizehn Jahren hielt sich Lucie allerdings für viel zu jung, um in schicklicher Manier vor Langeweile zu sterben. Ihre Mutter hingegen würde dieses Schicksal wohl als noblen Tod erachten, der ihrer Ansicht nach in den meisten Fällen jeglichem ungebührlichen Verhalten vorzuziehen war.
In der Bibliothek herrschte eine einlullende Stille, und der Geruch nach Leder und Staub stieg Lucie in die Nase. Die Strahlen der Morgensonne bündelten sich auf dem Schachbrett und tauchten die weiße Königin in einen hellen Schein. Sie war in Gefahr, denn ein verwegener Springer hatte ihr eine Falle gestellt, und Ihre Majestät konnte sich nun entweder selbst opfern, um den König zu schützen, oder zulassen, dass er zu Fall gebracht wurde. Unschlüssig verharrten Lucies Finger über der polierten Elfenbeinkrone.
Das Geräusch schneller Schritte drang aus dem Flur an ihre Ohren.
Etwa Mutters klackernde Absätze? Allerdings rannte ihre Mutter niemals.
Gleich darauf flog die Tür auf.
»Wie konntest du nur? Wie konntest du mir das antun?«
Lucie erstarrte. Die Stimme ihrer Mutter bebte vor Wut.
Die Tür flog knallend ins Schloss, die Dielen erzitterten förmlich von der Wucht.
»Vor aller Augen, der ganze Ballsaal …«
»Oh, bitte, musst du so ein Drama daraus machen?«
Lucies Magen zog sich zusammen. Das war die Stimme ihres Vaters, kühl und gelangweilt.
»Alle wussten davon, nur ich habe in seliger Unwissenheit zu Hause das Bett gehütet!«
»Grundgütiger! Warum sich Rochesters Frau als deine Freundin bezeichnet, ist mir unbegreiflich. Sie trägt dir irgendein Gerücht zu, und nun schau dich an, du gebärdest dich wie eine Furie. Ich hätte sie gleich gestern Abend wieder wegschicken sollen. Typisch, dass sie sich selbst einlädt und unangekündigt und obendrein zu solch später Stunde hier auftaucht, so launenhaft, wie sie ist …«
»Sie bleibt«, erwiderte Mama bissig. »Sie muss bleiben, damit mir wenigstens ein aufrichtiger Mensch in dieser Schlangengrube zur Seite steht.«
Lucies Vater lachte. »Lady Rochester und aufrichtig? Hast du dir ihren Sohn mal angesehen? Was für ein seltsamer karottenköpfiger Bursche. Ich wette eintausend Pfund, dass er nicht Rochesters Sprössling ist …«
»Was ist mit dir, Wycliffe? Wie viele Bälger hast du mit deinen Mätressen schon in die Welt gesetzt?«
»Eine solche Bemerkung ist unter deinem Niveau, Frau.«
Bleiernes Schweigen füllte den Raum.
Lucies Herz trommelte so heftig und laut gegen ihren Brustkorb, dass sie befürchtete, ihre Eltern könnten es hören.
Ein Schluchzen durchbrach die Stille und traf sie wie ein Schlag in die Magengrube. Ihre Mutter weinte.
»Ich flehe dich an, Thomas. Was habe ich nur falsch gemacht, dass du mich derart bloßstellst und mir nicht einmal Diskretion gewährst?«
»Diskretion! Madam, dein Gekeife ist meilenweit zu hören.«
»Ich habe dir Tommy geschenkt«, schluchzte ihre Mutter. »Dabei wäre ich fast gestorben, und dennoch schäkerst du mit dieser … dieser Person – in aller Öffentlichkeit.«
»Herr, schenke mir Geduld. Was habe ich getan, dass du mir ein solch theatralisches Frauenzimmer aufbürdest?«
»Ich liebe dich, Thomas. Warum nur kannst du meine Liebe nicht erwidern?«
Ein missbilligendes Stöhnen. »Ich liebe dich durchaus, obwohl du es mir mit deinen hysterischen Anfällen nicht leicht machst.«
»Warum muss es so sein?«, jammerte ihre Mutter. »Warum nur bin ich dir nicht genug?«
»Weil ich ein Mann bin, meine Liebe. Und jetzt möchte ich bitte meine Ruhe haben. In meiner Bibliothek. Allein.«
Ein Zögern, dann ein Seufzen, das wie Resignation klang.
Das erneute Zuschlagen der massiven Tür drang wie aus weiter Ferne zu Lucie. Ihr Puls rauschte ihr in den Ohren. Die sauren Bonbons verklebten ihr die Kehle, und sie musste durch den Mund atmen. Leise. Bloß nicht husten, das würde er hören.
Sie hielt den Atem an.
Das Klicken eines Feuerzeugs. Ihr Vater hatte sich eine Zigarette angezündet. Die Dielen knarrten, Leder ächzte. Er hatte sich in seinen Sessel gesetzt.
Lucies Lungen brannten, und ihre Fingerknöchel traten weiß hervor. Das Muster des Teppichs schwamm vor ihren Augen.
Dennoch verharrte sie reglos; selbst König und Königin auf dem Schachbrett nahm sie nicht mehr wahr.
Sie musste durchhalten.
Schwärze füllte ihr Sichtfeld, kroch allmählich von außen heran, und es kam ihr so vor, als würde sie nie wieder atmen können.
Papier raschelte. Der Graf las die Morgenzeitung.
Zur selben Zeit, ungefähr eine Meile von der Bibliothek entfernt in den kühlen grünen Wäldern von Wycliffe Park, beschloss Tristan Ballentine, der zweite Sohn des Grafen Rochester, sämtliche zukünftigen Sommer in Wycliffe Hall zu verbringen. Womöglich musste er sich dazu mit Tommy, dem größten Schnösel in Eton, anfreunden, aber allein die Morgenspaziergänge wären die Sache wert. Im Gegensatz zum Stammsitz seiner Familie, wo jeder Busch sorgfältig gestutzt war, überließ man in Wycliffe Park das Anwesen der Natur. Die Blätter der knorrigen Bäume raschelten, Sträucher wucherten, und in der Luft lag der süße Duft von Waldblumen. Soeben hatte er einen höchst angemessenen Platz gefunden, um Wordsworth zu lesen: eine kreisrunde Lichtung am Ende eines Hohlweges. Ein großer Stein ragte aufrecht in der Mitte auf.
Tau nässte seine Hosenbeine, als er den Monolithen umkreiste. Er sah verdächtig nach einem Feenstein aus, verwittert und konisch, schon seit Hunderten von Jahren hier. Natürlich war Tristan mit zwölf Jahren schon zu alt, um an Feen und andere Märchenwesen zu glauben. Das hatte sein Vater ihm klipp und klar eingetrichtert. Auch Poesie war in Ashdown Castle verboten. Romantik widersprach dem Familienmotto der Ballentines – Vigor et Valor. Tatkraft und Ritterlichkeit. Aber wer würde ihn hier schon sehen? Wer würde Zeuge dessen werden, dass er Gedichte las? Die Balladen von Wordsworth und Coleridge lagen schon bereit.
Er schlüpfte aus dem Mantel und breitete ihn auf dem Gras aus, dann legte er sich bäuchlings darauf nieder. Der feine Stoff seiner Hose rieb dabei unangenehm wie ein Kettenhemd über die geschundene Haut seiner Kehrseite, und er stieß ein Stöhnen aus. Sein Vater untermauerte seine Lektionen gern mit dem Stock. Gestern war der Graf mal wieder übereifrig gewesen. Aus diesem Grund hatte seine Mutter Tristan geschnappt und er sich seine Bücher, und sie beide hatten ihre Koffer gepackt, um kurzentschlossen den Sommer bei Mutters Freundin, Lady Wycliffe, zu verbringen.
Tristan versuchte, eine bequemere Position zu finden, drehte sich von links nach rechts und gab schließlich auf. Ohne viel Federlesens schob er die Hosenträger von den Schultern und knöpfte die lästige Hose auf. Im nächsten Moment erbebte der Boden unter ihm.
Einen Herzschlag lang erstarrte er.
Rasch griff er sich seinen Mantel und versteckte sich hinter dem Stein. Im selben Moment galoppierte ein schwarzes Pferd den Hohlweg hinunter. Ein schönes Tier, das Fell glänzend von Schweiß. Die Art von Hengst, die Könige und Helden ritten. Es kam so abrupt auf der Lichtung zum Stehen, dass Erdbrocken unter den Hufen hochflogen.
Verblüfft schnappte Tristan nach Luft.
Der Reiter war kein König. Kein Held. Nicht einmal ein Mann.
Es war ein Mädchen.
Sie trug Stiefel und eine Hose wie ein Junge, und sie ritt auch nicht im Damensattel. Aber es war zweifellos ein Mädchen. Eisblondes Haar ergoss sich wie ein Wasserfall über ihren Rücken und umgab sie wie ein seidener Schleier.
Starr vor Ehrfurcht verharrte er. War sie real? Ihr Gesicht war makellos. Elfenhaft und herzförmig, mit fein geschwungenen Augenbrauen und einem spitzen Kinn, das ihr eine rebellische Ausstrahlung verlieh. Eine Fee.
Ihre Wangen waren jedoch wutrot und ihre Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst. Sie sah aus, als wolle sie auf dem mächtigen schwarzen Pferd in den Krieg ziehen …
Das Mädchen ließ sich aus dem Sattel gleiten, und er duckte sich rasch hinter den Felsen. Er sollte sich zeigen. Sein Mund war strohtrocken. Was sollte er sagen? Was sagte man zu jemandem, der so erschreckend bezaubernd war?
Mit dumpfem Geräusch kamen ihre Stiefel auf dem Boden auf. Sie murmelte dem Hengst etwas zu, dann herrschte Stille.
Er verrenkte sich den Hals. Das Mädchen war fort. Vorsichtig stahl er sich hinter dem Stein hervor. Dort im Gras lag sie, die schlanken Arme weit ausgebreitet.
Womöglich war er noch ein Stück näher gekrochen … und noch ein Stück. Er richtete sich auf und betrachtete sie.
Ihre Augen waren geschlossen, die Wimpern berührten, dunklen Fächern gleich, ihre bleichen Wangen. Die glänzende Haarmähne umgab sie wie ein Strahlenkranz.
Sein Herz raste. Eine heftige Sehnsucht stieg in ihm auf, ein innerer Drang, eine dunkle Ahnung … Das war eine sehr seltene, kostbare Gelegenheit, und er war bedauerlicherweise nicht darauf vorbereitet, sie zu ergreifen. Er hatte nicht geahnt, dass Mädchen wie sie existierten, außerhalb der Bücher über Feen und Prinzessinnen in den nordischen Sagen, die er heimlich gelesen hatte …
Ein gereiztes Schnauben durchschnitt die Stille. Der Hengst näherte sich, mit angelegten Ohren und gefletschten Zähnen.
»Zum Teufel«, fluchte Tristan.
Das Mädchen öffnete die Augen. Sie starrten sich an, sie auf dem Rücken liegend und er über ihr aufragend.
Blitzschnell sprang sie auf. »Du! Du hast hier nichts verloren. Das ist privat!«
Sie hatte so zierlich und klein gewirkt, aber sie waren fast gleich groß und auf Augenhöhe.
Er grinste dämlich. »Nein, ich …«
Sturmgraue Augen fixierten ihn. »Ich weiß, wer du bist. Du bist Lady Rochesters Sohn.«
Gerade noch rechtzeitig erinnerte er sich daran, sich zu verbeugen. Und das noch dazu sehr formvollendet. »Tristan Ballentine. Zu Ihren Diensten.«
»Du hast mir hinterher spioniert!«
»Nein. Ja. Nun ja, ein wenig«, gab er zu, denn es stimmte wohl.
Ausgerechnet in diesem Moment fiel ihm ein, dass sein Hosenlatz noch zur Hälfte offenstand. Instinktiv griff er nach den Knöpfen; der Blick des Mädchens folgte seinen Bewegungen.
Sie schnappte nach Luft.
Im nächsten Moment flog ihre Hand nach oben, kurz darauf schmerzte seine linke Wange. Erschrocken stolperte er zurück, die Hand ans Gesicht gelegt. Fast erwartete er, Blut zu sehen, als er die Finger wegnahm.
Sein Blick wanderte von seiner Hand zu ihrem Gesicht. »Nun, das war völlig unangebracht.«
Ein Flackern von Unschlüssigkeit, womöglich auch ein Anflug von Reue, kühlte kurz die Wut in ihren Augen. Dann hob sie ihre Hand mit neuerlicher Entschlossenheit. »Das war noch gar nichts«, sagte sie schroff. »Lass mich allein, du … kleiner Rotschopf.«
Seine Wangen brannten, jedoch nicht von der Ohrfeige. Er wusste, dass er seit seinem Geburtstag kaum einen Zentimeter gewachsen war, und ja, er machte sich Sorgen, dass ihm die berühmte Ballentine-Größe nicht vergönnt sein könnte. »Kleiner Wicht«, so hatte Marcus ihn genannt. Er ballte die Hände zur Faust. Wenn sie ein Junge wäre, dann hätte er ihr längst eine gescheuert. Aber ein Gentleman erhob niemals die Hand gegen ein Mädchen, selbst wenn sie ihn zum Heulen brachte. Marcus, ja der hätte gewusst, wie man eine solch grimmige Fee behandelte; er hätte sich ihr souverän gestellt. Tristan hingegen blieb nur ein schneller Rückzug, mit höllisch schmerzender Wange von der Ohrfeige. Die lyrischen Balladen blieben vergessen im feuchten Gras liegen.
London, 1880
Wäre sie als Mann geboren, wäre nichts von all dem passiert. Man würde sie nicht in einem muffigen Vorraum warten lassen, wo sie die langsam vorbeitickenden Minuten auf einer alten Standuhr zählte. Der Sekretär hätte ihr keine argwöhnischen Blicke hinter seinem sorgfältig aufgeräumten Schreibtisch zugeworfen. Ja, sie wäre nicht einmal hier, denn Mr Barnes, der Herausgeber und Mehrheitsteilhaber von London Print hätte den Vertrag schon letzte Woche unterzeichnet. Stattdessen hatten sich nun »Hindernisse aufgetan«, die eine Nachprüfung erforderten. Kein Wunder. Es gab Dinge, die eine Frau tun konnte, nur weil sie eine Frau war – wie über irgendeine belanglose Kleinigkeit in Ohnmacht zu fallen –, und es gab Dinge, die eine Frau nicht tun konnte, eben weil sie eine Frau war. Und wie es schien, kauften Frauen nicht einfach fünfzig Prozent an einem Verlag.
Lucie lehnte den Kopf gegen die dunklen Holzpaneele an der Wand und erinnerte sich erst, dass sie einen Hut trug, als dieser geräuschvoll zerknitterte.
Sie stand so kurz vor ihrem Ziel. Sie hatten sich bereits die Hand darauf gegeben. Barnes wollte den Handel schnell abschließen, um nach Indien überzusiedeln. Wie gewöhnlich bei ihrer Arbeit war auch dies eine Sache des Abwartens. Bedauerlich, dass Geduld nicht gerade zu ihren Tugenden zählte.
Während ihr die Augen zufielen, kreisten ihre Gedanken träge um London Print. Von außen wirkte das Verlagsgebäude attraktiv und modern mit seiner grauen, vier Etagen hohen Granitfassade. Das Haus befand sich in einer der zunehmend teuersten Straßen Londons, wie es sich für ein Unternehmen gehörte, dessen zwei bestverkaufte Zeitschriften regelmäßig mehr als achtzigtausend Frauen der Ober- und Mittelschicht im Monat erreichten. Das Innere war jedoch so langweilig wie die Wahl der Artikel des Herausgebers: Die Schreibtische waren zu klein, die Räume zu dämmrig, und der obligatorische Nebeneingang für die einzige weibliche Angestellte, Mr Barnes’ Tochter, die als seine Sekretärin fungierte, war eine verstaubte, mit Spinnweben verhangene Dienstbotentreppe. Wenn sie dieses Gebäude behalten würde, dann würde sie den Nebeneingang zuallererst renovieren.
Das leise Geräusch einer Glocke ließ sie die Augen öffnen.
Der Sekretär stand hinter seinem Schreibtisch. »Lady Lucinda, wenn Sie mir bitte folgen würden.«
Mr Barnes eilte gewohnt hastig auf sie zu, als sie sein Büro betrat. Er hängte ihr Tweed-Jackett und ihren Hut auf einen übervollen Garderobenständer, dann bot er ihr eine Tasse Tee an, während sie vor seinem Schreibtisch Platz nahm. Sie lehnte das Angebot ab, weil sie den Zug nach Oxford noch erwischen musste.
Weitere verstohlene Blicke, dieses Mal von Miss Barnes, die an ihrem Schreibtisch in der linken Ecke saß. Unnötig, wirklich, da sie der jungen Frau schon zuvor begegnet war. Sie nickte ihr zu, und Miss Barnes senkte rasch den Blick auf ihre Schreibmaschine. Oh, herrje! Man könnte meinen, sie sei eine entlaufene Kriminelle, keine Frau, die sich für Frauenrechte einsetzte. Obwohl das für die meisten Menschen auf dasselbe herauskam.
Mr Barnes beobachtete sie verhalten. »Es liegt am Vorstandsgremium«, sagte er. »Der Vorstand möchte gern wissen, warum sie Magazine wie das Home Counties Weekly und das Discerning Ladies’ Magazine übernehmen wollen.«
»Ich will sie nicht übernehmen, ich möchte lediglich Anteilseignerin werden«, berichtigte Lucie. »Und meine Gründe sind immer noch dieselben: Die Magazine haben eine breite Leserschaft, und es gibt noch Wachstumspotenzial. Und die Veröffentlichung von Pocketful of Poems hat bewiesen, dass London Print auch erfolgreich den Buchmarkt erobern kann. Jeder, der in den Publikationsmarkt investieren will, ist interessiert, Mr Barnes.«
Das Wichtigste war jedoch, dass es nur noch zwei weitere Anteilseigner gab. Beide hielten jeweils fünfundzwanzig Prozent, und beide lebten im Ausland. Das hieß, so gut wie niemand würde ihr bei Entscheidungen Steine in den Weg legen.
»Das stimmt natürlich«, sagte Mr Barnes. »Aber der Vorstand hat erst bei unserem letzten Treffen erfahren, dass Sie hinter dem Investorenkonsortium stehen.«
»Ich verstehe nicht, warum dies unseren Handel beeinflussen sollte.«
Mr Barnes zog an seiner Krawatte. Seine Glatze zeigte verräterische Schweißperlen. Sie hatte diese Wirkung auf Menschen, sie machte andere nervös. Weil du so zielstrebig bist, hatte Hattie ihr erklärt. Vielleicht solltest du öfter lächeln, um dein Gegenüber nicht zu sehr zu ängstigen.
Probeweise entblößte sie ihre Zähne.
Mr Barnes wirkte jedoch nur noch alarmierter.
Geflissentlich setzte er seine kleine Brille mit den runden Gläsern ab und legte sie ordentlich zur Seite, bevor er sie wieder ansah. »Mylady, darf ich offen sein?«
»Ich bitte darum«, antwortete Lucie erleichtert.
»Sie sind sehr aktiv in der Politik«, wagte sich Mr Barnes vor.
»Ich bin eine Ortsgruppenleiterin in der britischen Frauenbewegung.«
»Ja. Und aus diesen Gründen sind Sie, wie Sie bestimmt wissen, äh … eine sehr kontroverse Person. Tatsächlich hat ein Artikel in der Times Sie kürzlich so bezeichnet.«
»Ich glaube, in dem Artikel nannte man mich eine ›ruchlose Nervensäge‹ und ›streitsüchtige Furie‹.«
»Richtig«, erwiderte Mr Barnes peinlich berührt. »Deshalb fragt sich der Vorstand natürlich, warum jemand, dessen Ziel es ist, die momentane gesellschaftliche Ordnung zu überwerfen, ein Interesse daran hat, Mitinhaberin solch erbaulicher Frauenmagazine zu werden, ganz zu schweigen von einer Buchreihe romantischer Lyrik.«
»Mir scheint fast, dass der Vorstand fürchtet, ich hätte versteckte Motive, Mr Barnes«, sagte sie freundlich. »Dass es mir nicht darum geht, eine gute Geschäftsgelegenheit wahrzunehmen, sondern vielmehr eine Revolution unter ehrbaren Frauen anzuzetteln, in dem ich das Home Counties Weekly als Sprachrohr nutze.«
»Haha.« Mr Barnes lachte. Genau das waren wohl seine Ängste. »Nun, nein«, sagte er dann. »Damit würden Sie wohl scharenweise Leserinnen verlieren.«
Sie lächelte grimmig. »Exakt. Überlassen wir die revolutionären Bemühungen doch lieber dem Female Citizen, nicht wahr?«
Mr Barnes zuckte bei der Erwähnung der radikalen Frauenstreitschrift sichtlich zusammen. Er erholte sich jedoch schnell. »Bei allem Respekt, das Veröffentlichen einer Zeitschrift erfordert eine gewisse Leidenschaft für das betreffende Thema und ein umfassendes Wissen über die Leserschaft. Sowohl das Discerning Ladies’ Magazine wie auch das Home Counties Weekly behandeln Themen, die kultivierte Damen interessieren.«
»Was kein Problem darstellen sollte«, sagte Lucie, »da ich selbst eine Dame bin.« Im Gegensatz zu Ihnen, Mr Barnes.
Der Mann wirkte verwirrt. »Aber diese Magazine thematisieren gesunde weibliche Qualitäten und Interessen, wie Mode … Haushalt, ein glückliches Familienleben.« Er drehte sich zu seiner Tochter um, die schon vor einer Weile das Tippen auf der Schreibmaschine eingestellt hatte. »Nicht wahr, Beatrix?«
»Ja, Vater«, sagte Miss Barnes prompt. Ganz eindeutig hing sie an jedem Wort.
Lucie wandte sich ihr zu. »Miss Barnes, lesen Sie das Home Counties Weekly und das Discerning Ladies’ Magazine?«
»Natürlich, Mylady, jede Ausgabe.«
»Und sind Sie verheiratet?«
Miss Barnes’ pausbäckige Wangen erröteten. »Nein, Mylady.«
»Sehr klug.« Lucie wandte sich wieder Mr Barnes zu. »Da Miss Barnes eine eifrige Leserin beider Magazine ist, scheint es naheliegend, dass auch unverheiratete Frauen Interesse an gesunden weiblichen Themen hegen.«
Das schien Mr Barnes tatsächlich völlig zu verblüffen. »Aber, Mylady … Der Unterschied liegt darin, dass meine Tochter sich natürlich für diese Themen interessiert, weil ihr in Aussicht steht, all diese Dinge in naher Zukunft zu haben.«
Ah.
Während sie, Lucie, keinerlei solche Aussichten hatte. Auf ein Zuhause. Ein glückliches Familienleben. Kurz gerieten ihre Gedanken auf Abwege. Wie seltsam, denn das sollte ihr nicht passieren. Barnes hatte völlig recht. Sie verfügte über keine Eigenschaften, die einen Mann verlockten, wie beispielsweise eine sich weich rundende Figur und sanfte Augen wie Miss Barnes, die all den heimeligen Komfort versprachen, auf die ein Ehemann hoffen würde. Nein, sie war eine politische Aktivistin, und sie näherte sich mit raschen Schritten dem Alter von dreißig Jahren. Sie war nicht nur ein Ladenhüter, sie war das Regal. Kein einziger Gentleman in England wäre daran interessiert, was sie zu bieten hatte. Zugegeben, das war auch nicht viel. In ihrem Empfangszimmer stand eine Druckerpresse, ihr Leben kreiste um die Frauenrechtsbewegung und um eine anspruchsvolle Katze. Es gab keinen Platz für einen aufmerksamkeitshungrigen Mann. Außerdem war ihr wichtigstes Anliegen die Reform des Eigentumsgesetzes für verheiratete Frauen. Das war auch der Grund, warum sie hier saß und mit Mr Barnes verhandelte. Solange dieses Gesetz nicht gerechter gestaltet wurde, würde sie ihren kleinen Treuhandfonds bei einer Ehe an ihren zukünftigen Mann verlieren, ebenso wie ihren Namen und ihre Eigenständigkeit. Sie würde buchstäblich zum Besitz werden. Und damit würde auch das Wahlrecht für sie auf ewig in weite Ferne rücken. Eine wirklich verlockende Aussicht. Nein, was sie wollte, war ein Mitspracherecht bei London Print. Doch wie es schien, wollte man ihr das verwehren.
Sie verabscheute, was sie nun sagen musste. Allerdings hatte sie nicht persönlich ein gutes Dutzend begüterte Frauen davon überzeugt, in dieses Unternehmen zu investieren, nur um ihnen sagen zu müssen, dass sie kurz vor der Ziellinie versagt hatte. War sich Barnes überhaupt bewusst, wie verteufelt schwierig es war, auch nur zehn Frauen zu finden, die über ihr Geld frei verfügen konnten?
Mit frostiger Stimme sagte sie: »Die Herzogin von Montgomery ist eine Investorin des Konsortiums, wie Sie sicher wissen.«
Mr Barnes zuckte leicht zusammen. »Fürwahr.«
Sie starrte ihn finster an. »Ich werde sie bald aufsuchen, um ihr über unsere Fortschritte zu berichten. Ich fürchte, sie wird … bekümmert sein, dass ihre Investition als nicht gut genug erachtet wird.«
Und eine bekümmerte Herzogin bedeutete einen verärgerten Herzog. Einen sehr mächtigen, verärgerten Herzog, dessen Einfluss sogar bis Indien reichte.
Mr Barnes zog ein großes weißes Taschentuch aus seinem Jackett und betupfte sich damit die Stirn. »Ich werde dem Vorstand Ihre, äh, Argumente vortragen«, sagte er. »Ich nehme an, das wird alle Fragen ausreichend beantworten.«
»Bitte tun Sie das.«
»Ich schlage vor, wir treffen uns nächste Woche wieder.«
»Ich werde Ihnen am Dienstag meine Aufwartung machen, Mr Barnes.«
Oxfords Türme und Dächer verschwammen vor dem verblassenden Himmel, als Lucie den Bahnhof verließ. Gewöhnlich beruhigte sie der Anblick der alten Stadt, die sie als ihr Zuhause auserkoren hatte. Die goldgelben Sandsteinbauten der Universität strahlten im Licht der untergehenden Sonne. Die akademischen Mauern und Colleges hatten sich seit dem letzten Kreuzzug kaum verändert und wanden sich so unerschütterlich durch die Stadtmitte wie die reiche Anzahl hirnrissiger Traditionen, die fest im gesellschaftlichen Netz von Oxford verwebt waren. Diese Standhaftigkeit hatte auch etwas Tröstliches und war der Grund, warum sie vor zehn Jahren hierhergezogen war. Natürlich gab es auch noch andere Gründe, welche die Stadt zu ihrer ersten Wahl gemacht hatten. Die Lebenshaltungskosten waren beträchtlich erschwinglicher als in London, und obwohl man glückseligerweise hier von den skeptischen, neugierigen Blicken der feinen Gesellschaft weitestgehend verschont blieb, lag Westminster trotzdem nahe genug, um es bequem mit der Bahn zu erreichen. Manchmal empfand sie Bedauern, dass es erst seit dem vergangenen Jahr auch Frauencolleges gab und sie inzwischen zu alt und sicher auch zu berüchtigt war, um sich dort einzuschreiben. Aber in der Blüte ihrer Jugend war es ihr immerhin gelungen, gestandene Universitätsdozenten für einige Privatstunden in Algebra und Latein zu bezahlen. Vor allem aber hatte sie sich für Oxford entschieden, weil es unberührt von der Zeit geblieben war. Ein kleiner Spaziergang durch die Stadt hatte die Dinge in die richtige Perspektive gerückt, ganz ähnlich wie beim Anblick der Weite des Meeres: Im Angesicht der Tatsache, dass die Collegemauern siebenhundert Jahre menschliches Wissen bargen, was machte es da schon, dass sie als junge Frau von ihren Eltern verstoßen worden war? Weniger als eine Meile von ihrem Haus in Norham Gardens entfernt hatten Größen wie Newton, Locke und Bentham gearbeitet. In wehmütigen Augenblicken stellte sie sich vor, wie diese brillanten Genies sie wie großväterliche Geister umringten und ihr Ermutigungen zuflüsterten, weil auch sie sich einst Missionen verschrieben hatten, die von anderen als wahnwitzig abgetan worden waren.
An diesem Abend jedoch hob die Stadt ihre Stimmung nicht. Das mulmige Gefühl, das ihr unter die Haut gekrochen war, verlor sich auch nicht, als sie die Schwelle ihres Hauses erreichte. Ihre Beine waren rastlos, verlangten nach völliger Erschöpfung. Zu dieser späten Stunde konnte sie ihren Freundinnen jedoch keinen Besuch mehr abstatten, obwohl Catriona in der Wohnung ihres Vaters im St. Johns College sicher noch über irgendeiner antiken Schrift brütete. Sie schloss die Haustür auf. Über den rückgratlosen Mr Barnes zu lamentieren würde ihr die Rastlosigkeit auch nicht nehmen. Ein langer Ausritt könnte ihre nervösen Glieder sicher beruhigen. Aber sie hatte ihr Pferd, seit sie Wycliffe Hall vor zehn Jahren verlassen hatte, nicht mehr gesehen, und sicherlich war es inzwischen auch tot. Auf dem Weg durch den dunklen Flur fragte sie sich, ob sie ihren Titel ablegen sollte. Schon seit einer Weile war sie nurmehr dem Namen nach eine Lady.
Sie nickte dem Porträt von Tante Honoria im Empfangszimmer zu und blieb in der Tür zum Salon stehen. Bei dem Anblick musste sie lächeln. Nein, das erinnerte bestimmt nicht an die Räume einer Adeligen. Der große Tisch in der Mitte des Zimmers war von zusammengewürfelten Stühlen umrahmt und verschwand fast ganz unter leeren Teetassen, strategischen Landkarten und halb fertigen Flugblättern. Die Nähmaschine links an der Wand wurde zur Anfertigung von Bannern und Schärpen genutzt. In der linken Ecke stand eine verdorrte Topfpflanze von der Größe eines Mannes. Nicht eine einzige Einladungskarte einer respektablen Familie fand sich auf dem Kaminsims, stattdessen wurde die Wand daneben von vergilbenden Zeitungsausschnitten und einem gestickten Bild mit ihrem Lieblingszitat von Mary Wollstonecraft bedeckt: Ich wünsche für die Frauen keine Macht über die Männer, aber die Macht über sich selbst.
Am Despektierlichsten war jedoch, dass in diesem Zimmer gelegentlich auch Prostituierte aus dem Bordell in Oxford Unterschlupf fanden, die von ihr gehört und bei ihr Hilfe gesucht hatten. Manchmal kamen auch unverheiratete Frauen zu ihr und stellten verlegen Fragen zu Verhütungsmethoden. Sie hatte eine Schachtel mit Verhütungsmitteln in dem Kirschholzschrank versteckt. Nicht einmal ihre Freundinnen wussten davon oder von diesen Besuchen, denn obwohl die Rettung gefallener Frauen unter Gladstones Regierung im Moment sehr en vogue war, rettete Lucie eigentlich niemanden. Sie half ihren Besucherinnen auf die Weise, die sie wünschten, und das war skandalös. Jawohl, jede durch und durch feine Dame würde sich schnellstens von ihr verabschieden.
Samtige Pfoten trommelten über die Dielen, und ein schwarzes Fellbündel schoss auf sie zu. Boudicca kletterte an Lucies Rock hoch und setzte sich auf ihre linke Schulter.
Lucie vergrub das Gesicht in dem weichen Fell. »Hallo, Kätzchen.«
Boudicca stieß mit der Nase gegen ihre Stirn.
»Hattest du einen schönen Tag?«
Noch ein Stupser. Lucie kraulte die Katze von den Ohren bis zum Schwanz. Nachdem sie sich ihre Streicheleinheiten abgeholt hatte, sprang Boudicca zufrieden auf den Boden und stolzierte zu ihrer Ecke am Kamin. Ihr Schwanz mit der weißen Spitze ragte in die Höhe und erinnerte an ein umgedrehtes Ausrufezeichen.
Aufseufzend setzte Lucie ihre Tasche ab. Sie musste noch arbeiten, und etwas essen, denn ihr Magen machte sie laut knurrend darauf aufmerksam, dass sie weder Tee noch ein Mittagessen zu sich genommen hatte.
Mrs Heath, ihre Haushälterin, war an ihre unregelmäßigen Essenszeiten gewöhnt und hatte ihr einen kalten Eintopf auf den Herd gestellt. Die Tageszeitung lag neben dem Teller auf dem Tisch.
Sie las, während sie aß, und schüttelte dabei über die politischen Schlagzeilen den Kopf. In den Heiratsanzeigen suchte ein Bauer mit zweihundert Pfund Einkommen im Jahr eine Ehefrau, die sich um seine Schweine und fünf Kinder kümmerte. In genau dieser Reihenfolge. Darüber schüttelte sie besonders heftig den Kopf. Als sie schließlich an ihren Schreibtisch im Salon zurückkehrte, mit vollem Magen und gut informiert, war die Nacht hereingebrochen, und sie zog die Vorhänge vor dem Erkerfenster zu.
An diesem Abend wartete der größte Stapel Korrespondenz in der Schreibtischecke mit den Frauenbildungsthemen auf sie. Gerade hatte sie den Füllfederhalter aufs Papier gesetzt, als Gelächter von draußen zu ihr drang. Sie runzelte die Stirn. Dieses schrille Kichern gehörte Mabel Lady Henley. Sie war Witwe, Suffragistin wie sie, und hatte die andere Hälfte des Hauses gemietet. Dieses Arrangement kam beiden gelegen, da es sich nicht schickte, wenn unverheiratete junge Frauen allein lebten. Wie es sich anhörte, befand sich Lady Henley direkt vor ihrem Fenster, und es gab nur einen Grund, warum die Witwe wie ein kleines Mädchen kichern würde. Bald darauf folgte, wie erwartet, das verführerische Brummen einer tiefen Baritonstimme.
Lucie wandte sich wieder ihrem Brief zu, die Spitze der Feder kratzte über das Papier. Weiteres Gelächter. Aber was Lady Henley tat, ging sie nichts an. Wenn sie es wagte, konnte eine reiche Witwe sich durchaus Freiheiten mit Männern herausnehmen, die eine unverheiratete Frau sich nicht erlauben durfte, und was Lucie so durch die gemeinsame Wand wahrnahm, wagte Lady Henley sich durchaus des Öfteren. Was riskant war. Und dumm. Denn dieses Verhalten konnte auch negativ auf Lucie zurückfallen. Andererseits hielten sich die meisten Männer ihre Mätressen in schicken Wohnungen und gönnten sich ihr Vergnügen, wann immer ihnen der Sinn danach stand. Und alle Welt stellte sich blind und tat so, als wüsste sie nichts davon.
Ein fröhliches Quietschen drang durch die Vorhänge.
Lucie legte den Füller zur Seite. Ob Witwe oder nicht, jede Frau konnte Mittelpunkt eines Skandals werden. Und auch wenn Lady Henley nicht in Oxford studierte, so pflegte sie doch Umgang mit den Studentinnen durch die Ortsgruppe der Suffragistinnen. Daher würde alles, was ihren Ruf befleckte, auch dem aller Studentinnen schaden, die jedoch über aller Urteil erhaben bleiben mussten.
Lucie stand auf und zog die Vorhänge zurück. Zwei Köpfe drehten sich ihr erschrocken zu. Finster starrte sie die beiden an.
Oh, beim Hades. Nein!
Das Licht aus ihrem Zimmer enthüllte, wenig überraschend, eine rotwangige Lady Henley. Aber der Mann … Es gab nur einen Mann in England mit solch hohen ausgeprägten Wangenknochen.
Ohne nachzudenken, öffnete sie das Fenster.
»Du!«, stieß sie hervor.
Tristan Viscount Ballentine. Halunke, Verführer, Plage ihrer Jugend. Seine Krawatte war gelockert und sein Haar zerzaust, als ob liebevolle Finger es zerwühlt hätten. Er sah mit jeder Faser wie der Casanova aus, der er war. Ihr Herz schlug schneller. Was hatte er auf ihrer Schwelle zu suchen?
Seine Emotionen, falls er überhaupt welche verspürte, spiegelten sich nicht in seiner Miene. Er betrachtete sie mit der gewohnt gelangweilten Gleichgültigkeit, bevor er schief lächelte und leicht den Kopf neigte. »Lady Lucinda. Welch angenehme Überraschung.«
»Was tun Sie hier?«, fragte sie schneidend.
»Ich habe mich fröhlich unterhalten, bis ein Sauertopf das Fenster geöffnet und mich gestört hat.«
Seit einem Jahr hatte sie ihn nicht gesehen. Vor sechs Monaten war er aus dem Krieg in Afghanistan zurückgekehrt. Die Zeitungen hatten ausführlich darüber berichtet, dass man ihm für seinen außerordentlichen Mut auf dem Schlachtfeld das Victoriakreuz verliehen hatte. Interessanter war jedoch, dass er für einen Sitz im Oberhaus ernannt worden war.
Dennoch blieb er ein Schürzenjäger. Sie wusste, dass er Annabelle auf Montgomerys Silvesterball belästigt hatte. Und nun stellte er seine Verführungskünste direkt vor ihrem Fenster zur Schau.
»Dem entnehme ich, dass Sie miteinander bekannt sind?« Lady Henley unterbrach Lucies Blickduell mit Lord Ballentine.
Verwirrt wandte sich Lucie ihr zu. Sie hatte ihre Nachbarin völlig vergessen. »Lord Ballentine ist ein alter Freund meines Bruders«, erklärte sie.
»Oh, wie reizend.«
Lady Henley schmachtete den Mann völlig unverfroren an. Natürlich war Ballentine das sicher gewohnt. Von der Debütantin bis zur Matrone machten sich die Frauen einen Sport daraus, zumindest ein wenig für Lord Ballentine zu schwärmen. Die eine Hälfte bewunderte ihn wegen seiner seltenen maskulinen Schönheit, seines seidigen rotbraunen Haars, des perfekt geformten markanten Kinns und des unanständig sinnlichen Mundes. Die andere fühlte sich von der Verwegenheit angezogen, die unter seinen ebenmäßigen Zügen lauerte: dem anrüchigen Lächeln auf den weichen Lippen und dem wissenden Funkeln in den Augen, das raunte: Verrate mir deineWünsche, dein dunkelstes Begehren, nichts davon könnte mich schockieren. Schwarze Magie umgab einen schönen Mann, der leicht zu faszinieren und unmöglich zu erschüttern war. Lady Henley schien wie berauscht von seinem dunklen, enigmatischen Charisma und schwirrte soeben auf Tristans Fangnetz zu wie eine Fliege in die Fänge einer fleischfressenden Pflanze.
Lucie schaute sie vielsagend an. »Verzeihen Sie mir, wenn ich so direkt bin, aber es wäre nicht ratsam, die Bekanntschaft zu vertiefen.«
»Bekanntschaft«, sagte Lady Henley bedächtig.
»Mit Seiner Lordschaft.« Lucie wies mit einer ausholenden Geste auf den lässig abwartenden Adligen.
Lady Henleys Miene wurde frostig. »Wie freundlich, dass Sie es für nötig befinden, mir Ratschläge zu erteilen.«
»Ich fürchte, Sie riskieren es, auf sich aufmerksam zu machen.«
»Niemand kann uns sehen. Da ist ein Gebüsch.« Lady Henley deutete zu einem Rhododendron, der die beiden verbarg, wobei sie sich bereits erneut dem Viscount vertraulich entgegenlehnte.
Lucie verspürte ein unangenehmes Prickeln. »Dennoch geziemt sich ein solches Verhalten für eine Suffragistin nicht.«
Lady Henley, dieses sture Wesen, rümpfte die Nase. »Ach tatsächlich? Sagen Sie, haben Sie uns nicht geraten, dass wir Frauen danach streben sollten, unsere Ziele und Begehren zu verwirklichen? Ja, ich bin mir sicher, genau das haben Sie gesagt.«
»Hat sie das?«, meinte Ballentine in gedehntem, neugierigem Tonfall.
Mit einiger Mühe zwang sich Lucie zu Gelassenheit. »Der Kontext war leicht, aber dennoch bedeutsam anders. Hatten wir denn in diesem Jahr nicht schon genug Skandale, die den Fortbestand des Frauenkollegs gefährden könnten?«
Lady Henley zog einen Schmollmund. »Nun gut. Es ist ja auch bereits ziemlich spät.« Sie betrachtete Ballentine unter flatternden Lidern.
»Jedenfalls habe ich Sie gewarnt«, sagte Lucie und schloss das Fenster. Zumindest versuchte sie es. Aber es bewegte sich nicht. Sie zog fester. Verflixt, immer noch tat sich nichts. Lady Henley neigte den Kopf. Lord Ballentine beobachtete ihre Bemühungen mit wachsendem Interesse.
Hitze stieg ihr ins Gesicht. Warum bewegte sich dieses verflixte Fenster nicht? Sie knirschte mit den Zähnen. Beim Hades, es klemmte und wollte sich nicht rühren.
»Darf ich?« Lord Ballentine trat näher.
»Ich brauche keine …«
Er spreizte die langen Finger und legte sie auf den Holzrahmen. Langsam und stetig glitt das Fenster herunter, bis es schließlich auf dem Sims ruhte.
Ihr Antlitz spiegelte sich in der Scheibe, verzerrt, mit gerunzelter Stirn, einige Haarsträhnen waren ihrem Chignon entkommen.
Auf der anderen Seite der Scheibe schillerte Ballentines Selbstgefälligkeit wie ein Leuchtfeuer in der Nacht.
Mit einem kräftigen Ruck zog sie den Vorhang vor.
»Achten Sie nicht auf sie«, drang Lady Henleys Stimme gedämpft an ihr Ohr. »Sie ist eine alte Jungfer.«
Lucie wirbelte herum; ihr Herz trommelte so heftig, als wäre sie eine Meile gerannt. Was für eine übertriebene, dumme körperliche Reaktion. Es gab keinen Grund, emotional zu werden. Sie musste jedoch das Haus verlassen, wenn sie nicht durch die Wand Zeuge davon werden wollte, wie Ballentine seine Verführungskünste bei Lady Henley anwandte. Das wollte sie nun wirklich nicht.
Boudicca hatte ein feines Gespür für ihre Stimmungen und kam nun aus ihrer Ecke zu ihr herüber. Im Gaslicht schimmerten ihre Augen gelblich. Sie strich um Lucies Röcke, und sie bückte sich, um die Katze zu streicheln. Als sie das weiche Fell unter ihren Fingern spürte, beruhigte sich ihr Herzschlag wieder.
Sie musste nicht befürchten, dass sich Lady Henley aus Liebeskummer wegen Ballentine in den Isis stürzte, wie es andere Damen schon angedroht hatten. Die Witwe war schließlich kein unerfahrener Backfisch. Und Ballentines Ruf als Frauenheld eilte ihm voraus. Tatsächlich war er der Letzte, der sich die Mühe machte, seine Absichten zu verbergen. Aus Berechnung, vermutete sie, denn das ermutigte Scharen von Frauen zu dem Versuch, mit heilender weiblicher Liebe einen besseren Mann aus ihm zu machen. Dabei schaufelten sich viele dieser Frauen durch ihren Ehrgeiz ihr eigenes Grab.
Sie schnappte sich Tintenfass, Löschwiege, Füllfederhalter und ihre Notizen. Auf dem Weg zur Tür legte sie sich ein Schultertuch um, da es in der Bibliothek von Lady Margaret Hall immer sehr zugig war.
Sie stürmte förmlich aus dem Haus und die Stufen hinunter. Auf dem Bürgersteig verharrte sie, um tief durchzuatmen. Die kühle Nachtluft war wie Balsam für ihre heißen Wangen.
»Ein Spaziergang, Mylady?«, erklang die seidige Stimme hinter ihr.
Langsam drehte sie sich um, die Hände zu Fäusten geballt.
Ballentine lehnte am Fenstersims, eine angezündete Zigarette zwischen den Fingern. Neben ihm an der Wand stand sein Spazierstock, dessen übergroßer Bernsteinknauf im Lampenlicht wie ein böses Auge glühte.
»Nun, das ging schnell.« Lady Henley war nirgendwo zu sehen.
»Ja, irgendetwas hat ganz plötzlich die Stimmung verdorben«, sagte er und atmete Rauch durch die Nase aus.
»Wie schade.«
»Überhaupt nicht. Es war recht unterhaltsam.«
Er stieß sich vom Fenstersims ab und kam zu ihr herüber. Seine große Gestalt warf einen langen Schatten. Ein Flattern breitete sich in ihrer Magengrube aus, wie hunderte weicher, wild schlagender Schmetterlingsflügel. Verflixt. Während seiner Abwesenheit vergaß sie stets, welch stattliche Erscheinung er war. Wann immer sich ihre Wege kreuzten, wurde sie sich dessen erneut stark bewusst.
Das erste Mal hatte sie dieses Flattern vor Jahren verspürt, als sie Parlamentsmitglieder in einem Flur in Westminster für ihre Mission zu gewinnen versuchte. Tristan stand damals kurz vor seinem ersten Einsatz, vermutlich auf Befehl seines Vaters, denn er besaß keinerlei militärische Disziplin. Aber als er dann so unerwartet vor ihr stand, hatte eine Hitzewelle sie durchflutet, und sie war wie angewurzelt stehen geblieben. Bis zu dem Tag hatte sie ihn stets durch die alte Brille betrachtet, die stets einen nervtötenden Karottenkopf zeigte. An dem Morgen hatte sie plötzlich gesehen, was alle anderen sahen: ein wie gemeißelt erscheinendes hübsches Gesicht. Breite Schultern. Schlanke Hüften. Die berühmte Ballentine-Statur in eng geschnittener Uniform. Wie aus heiterem Himmel hatte sie den ungewohnten Drang verspürt, sich die Haare zu richten. Demütigend. Es lag ihr nicht fern, das ästhetische Äußere eines stattlichen Mannes zu bewundern. Aber ihn? Sechs Sommer lang hatte Tristan sie als Junge in ihrem eigenen Zuhause mit aufreibenden Blicken und Streichen geplagt. Dabei hasste sie Streiche. Schlimmer noch, er hatte sich bei ihrem Bruder eingeschmeichelt, ihren Cousins und ihrer Mutter, bis sie sich am Dinnertisch noch ausgeschlossener fühlte als sonst. Nach den empörenden Schlagzeilen zu urteilen, die er machte, sobald er den Fuß zwischen seinen Einsätzen auf britischen Boden setzte, hatte er sich bisher nicht gebessert.
Er blieb nun vor ihr stehen, zu nah, und sie reckte das Kinn. Eine Ironie des Schicksals wollte es, dass sie seit ihrer ersten Begegnung im Garten von Wycliffe Hall kaum zwei Zentimeter gewachsen war.
»Du solltest nicht auf unserer Türschwelle herumlungern«, sagte sie.
»Und du solltest nicht allein in der Nacht herumspazieren.« An seinem rechten Ohr glitzerte kalt wie ein Stern ein Diamantohrring.
Sie schürzte die Lippen. »Mach dir meinetwegen bloß keine Umstände.«
Sie lief weiter.
»Das wäre mir ehrlich gesagt auch lieber.« Er schloss sich ihr an und brauchte nur einen Schritt, wenn sie zwei machte. »Wie dem auch sei, bin ich verpflichtet, dich zu begleiten, fürchte ich.«
»Wirklich, es besteht kein Grund für kavalierhafte Avancen.«
»Ein Kavalier würde darauf bestehen, deine Tasche zu tragen. Du läufst ganz schief.«
Er bestand bemerkenswerterweise nicht darauf, ihr die Tasche abzunehmen.
Und sie lief in die falsche Richtung. Verflixt. Auf keinen Fall konnte sie jetzt noch umdrehen. Das würde so aussehen, als sei sie kopflos vor ihm davongerannt.
»Der Ruf einer Dame ist stärker gefährdet, wenn sie von dir begleitet wird, als wenn sie bei Dunkelheit allein unterwegs ist«, meinte sie.
»Deine Zuversicht in meine Ruchlosigkeit überwältigt mich.«
»Lady Henley hast du damit ganz sicher betört.«
»Wen?«
Sie schniefte verächtlich. »Schon gut.« Und da es sie ärgerte, dass er den Ruf ihres Haushalts nur für ein billiges Vergnügen aufs Spiel setzen würde, fügte sie hinzu: »Ich nehme an, wenn die Jagd das Ziel ist, dann sind Namen nur unnützes Beiwerk.«
»Das kann ich nicht beurteilen.« Er klang nachdenklich. »Ich jage nie.«
»Welch beunruhigendes Ausmaß von Selbsttäuschung.«
Er schnaubte spöttisch. »Hast du die Werke von Darwin nicht gelesen? Das Männchen balzt, das Weibchen wählt, so ist es seit ehedem. Vor einem zu entschlossen jagenden Männchen sollte man sich in Acht nehmen – es hofft, dass sein makelhaftes Gefieder nicht auffällt.«
»Während deines natürlich überlegen groß und schillernd ist.«
»Ich versichere dir, dass es nicht schillert«, sagte er in sanftem Ton.
Ärger kroch ihr heiß den Nacken hinauf. »Den Damen scheint das nichts auszumachen.«
»Meine Liebe«, murmelte er, »entdecke ich da einen Hauch von Eifersucht?«
Sie schloss die Finger fester um den Träger ihrer Tasche. Konnte sie es so aussehen lassen, als sei sie absichtlich in die falsche Richtung gegangen? Wenn sie nicht umdrehte, würde sie bald im Zentrum von Oxford sein.
»Ich denke, genau das ist es«, meinte Tristan. »Das erklärt zumindest, warum du ständig bemüht bist, meine Affären zu sabotieren.«
»Ich weiß, dass du dein Geplänkel höchst unterhaltsam findest, aber du verschwendest mit mir heute Abend nur deine Zeit.«
»Ich erinnere mich an dieses eine Mal mit Lady Warwick.«
Unwillkürlich blitzte eine Erinnerung vor ihrem inneren Auge auf, zwei Gestalten in einem dunklen Garten. Damals konnte er kaum älter als siebzehn gewesen sein. »Das war grässlich«, sagte sie. »Sie war gerade erst aus den Flitterwochen zurückgekehrt.«
»Und hat sich bereits tödlich gelangweilt.«
»Ja, in der Tat, sie muss ziemlich verzweifelt gewesen sein. Das heißt jedoch noch lange nicht, dass sie es verdient hat, auf einem Gartentisch geschändet zu werden.«
»Geschändet? Du liebe Güte!«
Er klang leicht beleidigt. Gut. Sie befanden sich inmitten der Parks Road, und sie wünschte sich sehnlichst, dass er verschwand.
»Wer hätte das gedacht?«, meinte sie. »Der berüchtigte Lebemann erinnert sich an seine Affären.«
»Oh, das tue ich nicht«, murmelte er. »Lediglich an jene, die davongekommen sind.«
Und das waren vermutlich wenige.
Sie blieb stehen und drehte sich zu ihm um. »Wolltest du etwas Spezielles von mir?«
Seine Augen glitzerten unter der Straßenlaterne so gelb wie die von Boudicca.
»So speziell wäre es wohl nicht, nein«, erwiderte er mit gesenkter Stimme. Es klang fast wie ein Schnurren.
Sie schaute ihn unverwandt an, herablassend, während ihr Herz schneller schlug. Das tat er manchmal, solche Sachen in einem Ton zu sagen, der vermuten ließ, dass er sich vorstellte, sie wäre allein mit ihm, unbekleidet. Sie vermutete, dass er so mit allen Frauen sprach: mit der Absicht, sie zu verführen. Bei ihr machte er es, um sie zu reizen.
Er schien einen weiteren geistlosen Kommentar von sich geben zu wollen. Doch seine nächsten Worte hätten sie nicht mehr überraschen können: »Ich wollte dir gerade meine Karte hinterlassen, um mich mit dir zu verabreden, da bin ich deiner Nachbarin über den Weg gelaufen.«
Verabreden. Mit ihr. Warum?
»Übermorgen in Blackwells neuem Café«, schlug er vor, als sie nicht antwortete. »Es sei denn, du bevorzugst einen anderen Treffpunkt.«
»Worum geht es, Ballentine?«
»Es geht das Gerücht, dass du eine Expertin für das britische Verlagswesen bist, und ich könnte deinen Rat gebrauchen.«
Diese Bemerkung ließ all ihre Alarmglocken schrillen. »Wer hat dir das erzählt?«
Er lächelte. »Triff dich mit mir, und ich verrate es dir.«
Er war schrecklich anstrengend, und es war schwierig, seine Miene in der Dunkelheit zu deuten.
»Selbst wenn ich geneigt wäre, mich mit dir zu treffen – was ich nicht bin –, es gibt sicher Dutzende Gentlemen, die dich beraten könnten.«
»Ich habe jedoch ein Interesse an Leserinnen aus der Mittel- und Oberschicht. Es erscheint mir daher logisch, eine Frau zu fragen, die diese Leserschaft kennt.«
Sie fixierte ihn mit ihrem Blick. Der Mann vor ihr sah aus wie Tristan, mit seinem grellen karmesinroten Samtmantel und dem protzigen Spazierstock. Die Worte, die aus seinem Mund kamen, sahen ihm jedoch gar nicht ähnlich, denn sie hatte nie erlebt, dass er sich für etwas Spezielles interessierte, und sie hätte auch niemals angenommen, dass er zu Logik fähig wäre. Andererseits war er an Leserinnen interessiert, was wiederum seinem Charakter entsprach und äußerst beunruhigend war.
»Ach bitte, Lucie.« Seine Stimme hatte einen tieferen, schmeichelnden Klang angenommen. Die Art von Ton, die einer Frau unter die Haut ging und sie dazu verleitete, Dummheiten zu begehen.
»Triff dich mit mir«, sagte er. »Um der alten Zeiten willen.«
Tristan beobachtete den inneren Aufruhr, der sich dunkel wie Sturmwolken in Lucies Augen spiegelte. Ihr Elfengesicht zeigte ihren Unmut ganz unverhohlen; sie wurde von zwei mächtigen Emotionen hin- und hergerissen: Neugier und ihre Abneigung gegen ihn.
In diesen Sommern süßer Qual in Wycliffe Hall hatte er alles daran gesetzt, um der unbezwingbaren Lady Lucinda Tedbury eine Reaktion, gleich welche, zu entlocken. Seine Vergehen waren gering gewesen, alberne Jungenstreiche. Einmal hatte er ihre blonden Zöpfe in Tinte getaucht, das einzige Mal, dass er ihre Haare berührt hatte. Ein anderes Mal hatte er ihre Erstausgabe von Mary Wollstonecrafts Essays gegen schmutzige Magazine ausgetauscht.
Und er hatte sich absichtlich von ihr dabei erwischen lassen, wie er Lady Warwick auf einem Gartentisch küsste.
Alles nur, um sie zu einer Reaktion zu provozieren.
Inzwischen war er jedoch kein schlaksiger Junge mehr, der sich nach einem Hauch ihrer Aufmerksamkeit sehnte, und doch schien er immer noch in ihrem Bann zu stehen. Nostalgische Gefühle, zweifellos. Sie strahlte Verärgerung aus, schien erfüllt von altem Groll, der auf diesen Sommern gründete. Aber sie stand vor ihm. Ganz und gar lebendig. Der vertraute Duft ihrer Zitronenverbene-Seife überlagerte den Rauch seiner Zigarette, und Hitze stieg in ihm auf.
»Die alten Zeiten sprechen nicht gerade für dich«, stellte Lucie kühl fest.
»Dann werde ich wohl an deinen Großmut appellieren müssen«, erwiderte er.
Der Mond stand hoch am Nachthimmel, und im schwachen Licht schimmerte ihr Haar silbern wie eine polierte Münze. Er erinnerte sich noch gut daran, wie kühl und glatt es sich zwischen seinen Fingern angefühlt hatte, in diesen gestohlenen Sekunden vor vielen Jahren … Vermählt auf ihrem Antlitz sieh’, Des Dunkels Reiz, des Lichtes Pracht …
Er verharrte plötzlich atemlos in der lauen Sommerbrise. Die Zeilen waren ihm wie aus dem Nichts durch den Sinn gegangen. Gut, es handelte sich nur um einen Vers aus einem bekannten Byron-Gedicht, aber er hatte seit Jahren keine Lyrik mehr gehört. Interessant.
Er riss sich aus seinen Gedanken.
Noch aus einem anderen Grund war dieser Abend aufschlussreich. Er hegte den Verdacht, dass sich Lucie nicht nur aus rein geschäftlichen Interessen in die Verlagswelt wagte. Sie führte etwas im Schilde. Das sagte ihm sein Instinkt, und der trog ihn nur selten. Falls sich sein Verdacht bewahrheitete, würde er gezwungen sein, sie aufzuhalten.
»Ich werde um halb elf bei Blackwells auf dich warten«, sagte er. »Übermorgen. Wie ich höre, ist der Kaffee passabel, und ich würde mich freuen, wenn du mir bei einer Tasse Gesellschaft leistest.« Er schnipste den Zigarettenstummel in die Dunkelheit. »Und Schätzchen. Falls du zur Bibliothek in Lady Margaret Hall möchtest, läufst du in die falsche Richtung.«
Am nächsten Tag, Ashdown Castle
Dunkel, kühl und still – das Arbeitszimmer seines Vaters erinnerte Tristan an eine Gruft. Dieser Eindruck wurde zum Teil von den schweren Ebenholzmöbeln und den fingerdicken Vorhängen hervorgerufen, aber hauptsächlich vom Gruftwächter selbst: Wo auch immer der Graf Rochester seinen Fuß hinsetzte, verfiel die Welt in Finsternis.
Als Tristan eintrat, saß der Graf gleichsam wie verschanzt an seinem Schreibtisch, hinter sich als Kulisse seinen wohl wertvollsten Besitz: ein riesiger Wandteppich, auf dem der Familienstammbaum der Ballentines dargestellt war. Er reichte bis ins Jahr 1066 zurück, und der Teppich war ein Geschenk König Henrys VIII an das Haus Rochester. Tradition. Der Familienname. Königliche Gunst. Alles, was Rochester am meisten schätzte, manifestierte sich in diesem muffigen Stück bestickter Seide. Müsste sich sein Vater entscheiden, im Falle eines Brandes ein hilfloses Kind oder den Wandteppich zu retten, würde er ohne Zögern zu dem Teppich greifen. Und jedes Mal, wenn Rochester sich auf seinen Stuhl hinter den Schreibtisch setzte, schien es, als wüchsen ihm die Äste des Stammbaums wie ein Geweih aus dem Kopf. Tristan war acht Jahre alt, als ihm dies zum ersten Mal von seiner Seite des Schreibtisches aufgefallen war, und er war natürlich in Lachen ausgebrochen. Gleich darauf hatte seine Lippe geblutet, und Rochester saß wieder auf seinem Platz. Die Rückseite seiner Hand schlug so schnell zu wie eine Schlange.
»Deine Mutter kränkelt«, sagte der Graf. Das war eine Beschwerde, keine Sorge.
»Das tut mir leid«, erwiderte Tristan ausdruckslos.
»Wenn das wahr wäre, hättest du sie besucht. Seit deiner Rückkehr hast du jedoch keinen Fuß in dieses Haus gesetzt.«
Er nickte. Natürlich war es Rochesters Idee gewesen, ihn für die königliche Armee zu verpflichten und ihn an so entlegene Orte zu schicken wie den Hindukusch. Und sein Vater hätte ihn dort mit Freuden vergessen, hätte sich Marcus, der Unfehlbare, nicht das Genick gebrochen.
»Ich werde Mutter gleich im Anschluss an das hier aufsuchen.« Was auch immer »das hier« sein sollte. Sein Vater hatte ihm den Zweck dieses Gesprächs noch nicht offenbart.
Rochester legte die langen, bleichen Finger zum Dach zusammen, wie immer, wenn er auf den Punkt einer Sache kommen wollte, und fixierte ihn mit kaltem Blick.
»Du musst heiraten.«
Heiraten.
Das Wort kreiselte in seinem Kopf, als sei es ein komplizierter Begriff in Pashtun oder Dari, den er nicht gleich verstand.
»Heiraten«, wiederholte er. Seine Stimme klang seltsam fremd in seinen Ohren.
»Ja, Tristan. Du wirst dir eine Ehefrau nehmen.«
»Sofort?«
»Sei nicht albern. Du hast drei Monate Zeit. Drei Monate, um deine Verlobung mit einer standesgemäßen Dame zu verkünden.«
Die ersten Tentakel einer kalten Wut streckten sich aus. Eine Ehefrau. Wohl kaum. Natürlich, seit er der Erbe war, lauerte der Ehestand am Horizont seiner Zukunft, aber er war stets nur ein verschwommenes Bild in weiter Ferne gewesen. So sehr er Frauen mochte – ihre weichen Rundungen, ihren Duft, ihren Esprit –, stand eine Ehefrau doch auf einem ganz anderen Blatt. Eine Ehe würde Forderungen und Verpflichtungen mit sich bringen. Es würde … Kinder geben, die ihm ähnelten. Und … Erwartungen. Ein Schauder rieselte ihm über den Rücken.
»Warum gerade jetzt?« Sein Ton wäre jedem anderen Mann eine Warnung gewesen.
Rochester verengte die Augen. »Wie ich sehe, hat selbst das Militär deinen elenden Mangel an Aufmerksamkeit nicht kurieren können. Ich werde es dir erklären: Du bist siebenundzwanzig Jahre alt. Du bist der Titelerbe. Und da Marcus seiner Witwe keine Kinder hinterlassen hat, bist du der letzte Nachfahre in der Ballentine-Linie. Deine wichtigste Pflicht ist es daher, einen Erben zu zeugen. Wenn du versagst, wird die vierhundertjährige Ära, in der unser Familienzweig den Titel des Grafen von Rochester führt, enden, und die Winterbournes werden unser Haus übernehmen. Du drückst dich schon beinahe ein Jahr lang vor deiner Verantwortung.«
»Nun, ich wurde bedauerlicherweise in Indien aufgehalten, wo ich mich von fast tödlichen Schussverletzungen erholen musste.«
Rochester schüttelte den Kopf. »Du bist vor sechs Monaten zurückgekehrt. Und hast du etwa möglichen Bräuten den Hof gemacht, wie es sich gehört hätte? Nein! Du verursachst Schlagzeilen, in denen behauptet wird, dass du anderen Männern der feinen Gesellschaft Hörner aufsetzt, und löst Gerüchte über … mögliche Straftaten aus.«
»Ach ja?« Tristan war ehrlich fasziniert.
Rochester presste die Lippen zu einem schmalen Strich. Für einen Augenblick sah er aus wie sein jüngeres Ich, das mit Bedacht ein geeignetes Instrument auswählte, um eine weitere Strafe zu verabreichen. Eine Strafe für Tristans Zappeligkeit. Dafür, dass er Gedichte und schöne Dinge mochte, oder wegen seiner »weibischen« Vernarrtheit in seine Haustiere. Es musste Rochester ungemein verärgern, dass ihm dieser Tage nur noch ein einziges Kontrollinstrument blieb: die finanzielle Leine. Diesem fehlte jedoch das Element der unmittelbaren Genugtuung. Und wenn alles nach Plan lief, würde Rochester auch bald dieses Druckmittel verlieren. Es durfte jetzt nichts schiefgehen, denn – zum Teufel – er würde auf keinen Fall heiraten.
»Ich lese die Klatschblätter gewöhnlich nicht«, erklärte er. »Daher bin ich glückselig unwissend, was Gerüchte um meine Person angeht.«
Der Graf beugte sich langsam vor. »Man hat dich in einem … Etablissement gesehen.«
»Das mag wohl sein.«
»Mit dem jüngsten Sohn des Marquess von Doncaster.«
Überrascht lachte Tristan auf. »Es geht um Lord Arthur?«
Der familiäre Ton, mit dem er den Namen des Jungen aussprach, brachte Rochester zum Erbleichen. Interessant.
Mach dir keine Sorgen um Arthur Seymour, Vater. Ich habe ihn dabei zusehen lassen, wie ich mich vergnügt habe, aber ich habe mich nicht mit ihm vergnügt. Die Worte lagen ihm bereits auf der Zunge.
»Die Presse macht doch immer aus einer Mücke einen Elefanten«, sagte er stattdessen. »Ich bezweifle, dass sie es gewagt haben, ins Detail zu gehen.«
Ein Muskel zuckte unter dem linken Auge seines Vaters. »Jedenfalls war es detailreich genug, um Doncaster überlegen zu lassen, ob er eine Verleumdungsklage anstrengen soll.«
»Eine ausgesprochen dumme Idee. Dann würde wirklich jeder Mensch im Königreich von den Neigungen des süßen Arthur erfahren.«
»Und womöglich von deinen«, giftete Rochester. »Schon allein das Gerede über solche Dinge schadet deinem Ruf. Eine Verbindung mit einer Dame von makellosem Ansehen kann deine Reputation wiederherstellen, aber natürlich sind die Väter solcher Damen gegenwärtig nicht geneigt, die Hände ihrer Töchter jemandem wie dir anzuvertrauen, es sei denn, dass ich ein Vermögen in Aussicht stelle.«
Tristans Miene versteinerte. »Behalte dein Geld. Ich brauche keine Gattin.«
Es gab genau nur eine Frau, mit der er sich je mehr als eine flüchtige Beziehung vorstellen könnte, aber diese Dame war nicht auf dem Heiratsmarkt.
Rochester interessierte das alles nicht. »Unter den gegebenen Umständen müssen wir schnell handeln«, sagte er.
Tristan zuckte mit den Schultern. »Von mir aus kann Cousin Winterbourne das alles hier gerne haben.« Er machte eine achtlose Geste, vage genug, um das gesamte Haus Rochester zu umfangen. Die Art von sorgloser Vagheit, die seinen Vater erzürnte.
Rochesters Miene verfinsterte sich prompt. »Das ist kein Spiel, Tristan.«
»Sir, ich gebe zu bedenken, dass es angesichts meines dämonischen Rufs womöglich Schwierigkeiten geben könnte, eine standesgemäße Ehefrau in drei Monaten zu finden. Andererseits hast du vermutlich …« – und dieser Gedanke kam ihm erst jetzt – »… schon längst die Wahl für mich getroffen.«
»Natürlich. Aber der mögliche Skandal hat ihren Vormund davon abgehalten, den Ehevertrag zu unterzeichnen. Es würde die betreffende Dame und ihre Familie demütigen, wenn du ihr jetzt unter diesen Umständen einen Antrag machst.«
»Gut. Und wer ist die Glückliche?«
Rochester schüttelte den Kopf. »Das Wissen würde dich nur in Versuchung bringen, irgendeine Dummheit zu begehen, bevor die Angelegenheit in trockenen Tüchern ist. Nein. Im Augenblick besteht deine Aufgabe lediglich darin, dich bei den angesehenen Matronen der Gesellschaft einzuschmeicheln und dich zu kleiden und zu benehmen, wie es einem Mann deines Ranges gebührt. Du kannst gleich damit anfangen und dieses … Ding ablegen.« Er deutete mit dem Finger auf Tristans rechtes Ohr.
Darin trug Tristan einen Diamantstecker. Und das gefiel ihm so. Er schenkte seinem Vater einen kalten Blick und stand auf. »Ich habe die Belagerung von Sherpur überlebt und bin mit einem halb toten Mann auf meinem Rücken nach Kandahar gelaufen«, sagte er. »Meine Tage waren mit mehr Tod, Blut und Schmutz angefüllt, als mir lieb ist, daher verzeih mir bitte, wenn mir die Sorge um sittsame Bräute und der Klatsch und Tratsch der Gesellschaft als trivial erscheinen.«
Fast hatte er die Tür schon erreicht, als der Graf sagte: »Wenn du willst, dass deine Mutter in Ashdown bleiben kann, rate ich dir, diesen Trivialitäten Bedeutung einzuräumen.«
Er erstarrte. Mehrere Dinge passierten gleichzeitig: Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt, sein Puls beschleunigte sich, in seinen Ohren rauschte es. Ein Teil seines Verstands raste, ein anderer Teil davon verharrte reglos.
Bemüht bedächtig drehte er sich um. Sein Körper war immer noch auf Kampf geschult, was auf feindlichem Terrain nützlich war, aber nicht, wenn das Terrain aus dem Arbeitszimmer eines Adeligen bestand. Auf britischen Landsitzen waren die Worte »Töten oder getötet werden« lediglich eine Redewendung, nicht wahr?
»Was hat das alles mit Mutter zu tun?« Sein stets umgänglicher Tonfall klang jetzt auf bedrohliche Weise noch freundlicher.
Rochesters Gesicht bestand aus Schatten und harten Linien. »Wie ich schon sagte, kränkelt sie. Womöglich ist sie woanders besser aufgehoben.«
Tristan umfasste seinen Gehstock so fest, dass die Knöchel seiner Hand weiß hervortraten. »Drück dich klar und deutlich aus.«
»Es gibt Orte, die für Menschen mit ihren Stimmungsschwankungen besser geeignet sind …«
»Reden wir von Bedlam?«
Der Graf neigte den Kopf, sein Lächeln war so dünn, als hätte man es mit einem Messer gezogen. »Bedlam? Die Irrenanstalt? Nein. Es gibt idyllisch gelegene Privatspitäler, in denen man sich um Menschen mit ihren Beschwerden gut kümmert.«
Privatspitäler. Ein anderes Wort für Irrenanstalt, in die noch immer völlig gesunde Ehefrauen und Töchter abgeschoben wurden, sollten sie zu unbequem werden.
Er ging zurück zum Schreibtisch, und Wachsamkeit flackerte in Rochesters Augen auf. Der Mistkerl wusste, dass er zu weit gegangen war. Er hatte es jedoch gewagt, daher musste er sich seiner Sache sehr sicher sein.
»Sie trauert«, sagte Tristan. Sein Blick bohrte sich in den seines Vaters. »Ihr Sohn ist gestorben.«
Wieder ein Aufflackern von Emotion. »Meiner auch«, erwiderte der Graf schroff.
An einem anderen Tag und in einem anderen Leben hätte Tristan vielleicht Mitleid für ihn empfunden. »Sie gehört nicht in eine psychiatrische Anstalt. Das würde sie umbringen, und das weißt du auch.«
»Ich kann nur ein gewisses Maß an Abnormität in meinem Haushalt dulden, Tristan. Du darfst entscheiden, welche das sein soll: deine oder die deiner Mutter.«
Das war glatte Erpressung und eine, der er sich beugen musste, doch jede Faser in seinem Körper spannte sich unwillkürlich an, um den drohenden Verlust seiner Freiheit an Ort und Stelle aus dem Weg zu räumen. Er atmete tief durch, gleich zwei Mal, damit die unheilige weiße Glut, die in ihm aufstieg, etwas abkühlte.
Rochester nickte und sagte fast freundlich: »Tu deine Pflicht. Heirate, zeuge einen Erben und noch ein paar weitere. Du hast drei Monate, um deinen Ruf einigermaßen wieder herzustellen. Beweise, dass du kein nutzloser Taugenichts bist.«
Ein nutzloser Taugenichts. Noch einmal atmete Tristan tief ein. Nutzlos – das war Rochesters Lieblingsbeleidigung. Jeder, der den Plänen des Grafen nicht in irgendeiner Weise dienlich war, fiel in diese Kategorie. Trotzdem hatte ihn diese Bezeichnung in seiner Kindheit am meisten geschmerzt.
Nun denn. Der Besuch seiner Mutter im Westflügel von Ashdown musste wohl noch etwas warten.
Als er mit der Kutsche die Auffahrt hinunterdonnerte, hatte Tristan bereits eine Vermutung, warum Rochester dieses Mal die Gräfin als Druckmittel einsetzte, anstatt wie sonst sein Bankkonto. Zunächst einmal musste er wohl irgendwie erfahren haben, dass Tristan kurz davorstand, finanziell unabhängig zu werden. Außerdem war das Heiratsgeschäft eine ernste Angelegenheit, und Rochester nahm ganz richtig an, dass eine weitere Kürzung von Tristans Unterhalt keinen Erfolg zeigen würde. Eine Frau heiraten, die Rochester ausgewählt hatte, damit sie und ihre gemeinsamen Kinder ihn sein Leben lang an Rochester erinnern würden? Bestimmt nicht! Daher musste sein Vater auf Erpressung zurückgreifen – ein Leben für ein Leben, seins oder das seiner Mutter.
Wenn er sich darauf einließ, würde Rochester die Schlinge um Tristans Hals mit der Drohung, seiner Mutter zu schaden, immer enger ziehen, solange sie lebte. Das hieß, er brauchte einen Plan. Er beschloss, eine Nachricht an General Foster nach Delhi zu schicken. Vielleicht würde der General sich bereit erklären, eine Weile lang zwei englische Gäste in seinem Haus aufzunehmen, ohne Fragen zu stellen. Es brauchte jedoch verflucht viel Zeit, um diese Sache in die Wege zu leiten. Sein Brief würde wochenlang unterwegs sein, und bis die Antwort des Generals eintraf, würden noch einmal mehrere Wochen vergehen. Womöglich könnte er ein Telegramm nach Bombay schicken, allerdings waren die Tiefseeleitungen zwischen England und dem Subkontinent oft gestört. Kurz spielte er mit dem Gedanken, sich einfach mit seiner kranken Mutter auf den Weg ins Ungewisse zu machen; zum Teufel mit Foster, zum Teufel mit seinen Plänen. Aber solche Impulsivität hatte ihm selten etwas Gutes eingebracht.
Es war jedoch offensichtlich, dass er möglichst schnell eine Geldquelle auftun musste, viel schneller als erwartet. Lucies Gesicht erschien vor seinem inneren Auge, und erneut wallte Ärger in ihm auf. Sie durchkreuzte gerade, wenn auch unwissentlich, seine Pläne für einen Neuanfang in England. Vor knapp fünfzehn Minuten war ihr Vorhaben zu einer Bedrohung für ihn geworden.