Die Rebellinnen von Oxford - Verwegen - Evie Dunmore - E-Book
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Die Rebellinnen von Oxford - Verwegen E-Book

Evie Dunmore

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Beschreibung

Sie kämpft für ihre Rechte und für ihre Liebe!

Annabelle Archer ist überglücklich, dass sie als eine der ersten Frauen überhaupt in Oxford studieren darf. Als Gegenleistung für ihr Stipendium soll sie die Frauenbewegung unterstützen. Es gelingt ihr durch ein geschicktes Manöver, auf das Landgut des einflussreichen Sebastian Devereux eingeladen zu werden - diesen für ihre Sache zu gewinnen, wäre unbezahlbar! Von Anfang an fliegen die Funken zwischen ihr und dem kühlen Herzog, der fasziniert ist von ihrer Intelligenz und Willenskraft. Aber für Annabelle wird die Anziehung zu Sebastian zur Zerreißprobe, denn er steht für alles, wogegen sie kämpft ...

"Klug, stark und leidenschaftlich! Eine Heldin, die ihr Recht auf Glück einfordert, und ein Held zum Dahinschmelzen, der durch sie lernt, für was es sich wirklich zu kämpfen lohnt." LYSSA KAY ADAMS

Band 1 der REBELLINNEN VON OXFORD

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Seitenzahl: 502

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

Anmerkungen der Autorin

Danksagung

Die Autorin

Die Romane von Evie Dunmore bei LYX

Impressum

Evie Dunmore

Die Rebellinnen von Oxford

Verwegen

Roman

Ins Deutsche übertragenvon Corinna Wieja

Zu diesem Buch

Auch wenn die Gesellschaft es von ihr erwartet, sieht Annabelle Archer ihr Heil nicht in einer Heirat. Daher ist sie überglücklich, dass sie als eine der ersten Frauen überhaupt einen Studienplatz in Oxford ergattert hat. Als Gegenleistung für ihr Stipendium soll sie die Suffragistinnen unterstützen, die dafür kämpfen, dass Frauen in der Ehe nicht mehr alle Rechte verlieren – eine Aufgabe, die sie unerwartet auf Kollisionskurs mit dem mächtigen Herzog Sebastian Devereux bringt. Durch ein gezieltes Manöver gelingt es ihr, auf das Landgut des Herzogs eingeladen zu werden. Diesen für ihre Sache zu gewinnen, wäre unbezahlbar! Von Anfang an fliegen die Funken – und die Fetzen – zwischen Annabelle und Sebastian. Der kühle Herzog ist gegen seinen Willen fasziniert von ihrer Intelligenz und Willenskraft. Für Annabelle wird die Anziehung, die sie zu dem Adligen verspürt, ebenfalls zur Zerreißprobe – aufgrund des Standesunterschieds käme eine Heirat niemals infrage. Und als seine Geliebte würde sie nicht nur ihren guten Ruf, sondern auch ihren Studienplatz verlieren. Doch ganz gleich, wie sehr sie beide versuchen, den Kopf über das Herz zu stellen, die Leidenschaft, die sie zueinander zieht, ist stärker als jede Vernunft.

Für Opa

Man sollte sich alles zutrauen, aber nicht alles zumuten.

1. KAPITEL

Kent, August 1879

»Auf gar keinen Fall. Diese Idee ist völlig absurd, Annabelle.« In Gilberts Augen stand der panische Blick eines Hasen, der von Hunden gehetzt wird.

Annabelle senkte den Kopf. Dadurch wirkte sie bescheiden, und Bescheidenheit besänftigte ihren Cousin am schnellsten, wenn er sich aufregte. Von all den Männercharakteren, die sie inzwischen zu beeinflussen gelernt hatte, stellte die Kategorie »ignorant, aber selbstgefällig« nicht unbedingt die größte Herausforderung dar. Allerdings setzte es dem Ganzen die Krone des Hohns auf, wenn ihr Schicksal ausgerechnet in den Händen eines solchen Mannes lag. Gilbert würde ohne Weiteres die Chance ihres Lebens in seinem vollgestopften kleinen Arbeitszimmer wie eine Seifenblase zerplatzen lassen, um sich anschließend sofort wieder bewundernd den frisch aufgesteckten Schmetterlingen in dem Schaukasten auf dem Tisch zu widmen.

»Was kommt als Nächstes?«, fragte er. »Willst du zum Zirkus gehen? Oder dem Parlament beitreten?«

»Ich verstehe ja, dass es ungewöhnlich ist«, erwiderte sie, »aber …«

»Du gehst nicht nach Oxford«, geiferte er und schlug mit der Hand auf den Tisch.

Den Tisch ihres Vaters. In seinem Testament hatte ihr Vater verfügt, dass der Schreibtisch Gilbert zufallen sollte, nicht ihr. Das ehrwürdige Möbelstück tat jedoch nichts, die Autorität ihres Cousins zu betonen. Vom Zahn der Zeit angenagt und auf vier imposanten geschnitzten Löwenfüßen stehend hätte es die Persönlichkeit eines jeden Mannes, der dahinter thronte, untermauert. Gilbert indes wirkte lediglich aufgeplustert wie ein erschrockenes Huhn. Nun gut. Es war verständlich, dass er sich überrumpelt fühlte. Sie hatte sich ja selbst überrascht. Seit fünf langen Jahren war sie Gilberts Mädchen für alles; sie hätte niemals damit gerechnet, dass sie noch einmal diese drängende Sehnsucht verspüren würde. Sie hatte sich geduckt, die Füße stillgehalten und akzeptiert, dass die Pfarrgemeindegrenzen von Chorleywood auch gleichzeitig die Grenzen ihrer Träume darstellten. Bis die Nachricht, dass die Universität Oxford ein Frauenkolleg eröffnet hatte, sie mit der Wucht eines Pfeils mitten ins Herz getroffen hatte.

Anfangs hatte sie sich bemüht, die aufflammende Sehnsucht zu ignorieren, aber nach kaum einer Woche bröckelte die Selbstbeherrschung, die sie sich so mühsam anerzogen hatte, um schließlich wie ein Kartenhaus in sich zusammenzufallen.

Ganz gewiss lag dies aber nicht nur daran, dass sie stets zu viel vom Leben wollte. Wer konnte schon sagen, wie lange sie in Gilberts finanzklammem Haushalt noch Schutz vor der drohenden Mittellosigkeit fand? Oder davor, sich eine Anstellung suchen zu müssen, wo sie leichte Beute für einen lüsternen Hausherrn wäre? Tagsüber erledigte sie ihre Pflichten wie ein Automat, aber nachts kroch die Angst in ihr Bewusstsein, dass sie tagtäglich am Rande eines Abgrunds balancierte, in dessen Schlund ein Lebensabend im Arbeitshaus auf sie lauerte. In ihren schlimmsten Albträumen fiel sie endlos in die Tiefe.

Sie umklammerte den schmalen Umschlag in ihrer Schürzentasche. Die Zulassung am Frauenkolleg in Oxford. Eine gute Ausbildung könnte ihren Sturz abfangen.

»Dieses Gespräch ist beendet«, erklärte Gilbert.

Sie ballte die Hände zu Fäusten. Ruhig. Bleib ruhig. »Ich wollte gewiss nicht mit dir streiten«, sagte sie sanft. »Ich dachte, du würdest dich darüber freuen.«

Eine glatte Lüge.

Gilbert runzelte die Stirn. »Mich freuen?« Seine Miene veränderte sich zu einem Ausdruck von Sorge. »Geht es dir gut?«

»Da es für deine Familie von Vorteil wäre, habe ich angenommen, du würdest die Möglichkeit begrüßen.«

»Welcher Vorteil?«

»Bitte entschuldige, Cousin. Ich hätte deine kostbare Zeit nicht vergeuden sollen.« Sie stand auf.

»Moment, nicht so hastig.« Gilbert machte eine rasche Handbewegung. »Warte! Setz dich.«

Sie musterte ihn aufmerksam. »Ich weiß, dass du große Pläne für deine Jungen schmiedest«, erklärte sie, »und eine Gouvernante, die ein Zertifikat von Oxford mitbringt, wäre dabei gewiss von Nutzen.«

»Ich habe in der Tat Pläne für sie, vernünftige Pläne«, posaunte Gilbert. »Aber du kennst dich bereits besser mit Griechisch und Latein aus, als es notwendig ist, und ganz sicher besser, als es sich schickt. Und es ist allgemein bekannt, dass zu viel Bildung sich schädlich auf das weibliche Gehirn auswirkt. Worin soll da also ein Vorteil für uns liegen, hm?«

»Ich könnte mich als Gouvernante oder Gesellschafterin im Herrenhaus bewerben.«

Sie hatte ihren letzten Trumpf ausgespielt. Wenn die Erwähnung Baron Ashbys, Lord des auf dem Hügel thronenden Herrenhauses und Gutsherr ihrer Pfarrgemeinde, Gilbert nicht dazu bewegte, ihr seine Erlaubnis zu geben, würde ihn nichts überzeugen. Gilbert betete den Boden an, über den der Adlige schritt.

Und tatsächlich schien er ins Grübeln zu geraten. Sie konnte beinahe hören, wie sich die Rädchen in seinem Kopf mühsam und knarzend drehten wie der alte Wetzstein in der Küche. Alt deshalb, weil Gilbert nicht genug Geld besaß, um das Cottage instand zu halten. Was nur logisch war, da sein geringer Lohn für das Läuten der Kirchenglocken stets derselbe blieb, seine Familie sich jedoch beständig vergrößerte.

»Nun, damit könnte man tatsächlich ein hübsches Sümmchen verdienen«, sprach er seine Überlegung laut aus. »Seine Lordschaft zahlt gut.«

»Ja, in der Tat. Aber ich gebe dir recht. Nicht einmal die Aussicht auf ein Vermögen könnte eine solche Unschicklichkeit rechtfertigen.«

»Das stimmt. Jawohl! Aber wenn man bedenkt, dass es einem höheren Zwecke dient, wäre es ja nicht wirklich unziemlich, nicht wahr?«

»Oh«, rief sie. »Nachdem du mir alle Makel in meinem Vorhaben aufgezeigt hast, würde ich es niemals wagen, zur Universität zu gehen. Was, wenn mein Gehirn Schaden nimmt …«

»Nun übertreib nicht gleich«, sagte Gilbert. »Dein Verstand ist ja an Bücher gewöhnt und vermutlich längst abgehärtet. Allerdings kommen wir ohne deine Hilfe nicht einmal eine Woche zurecht. Ich müsste eine Magd einstellen, die deine Aufgaben übernimmt.« Er schenkte ihr einen alarmierend verschlagenen Blick. »Und das lässt meine Börse nicht zu, wie du sehr wohl weißt.«

Zu dumm, dass ihm ausgerechnet jetzt der finanzielle Haken auffallen musste. Zweifellos würde er darauf bestehen, dass sie jegliche Ausgaben bezahlte, die ihre Abwesenheit hervorrufen würde, da ihre Hilfe ihn exakt … nichts kostete. Leider würde das geringe Stipendiengeld, das sie erhalten würde, kaum für ihren eigenen Unterhalt ausreichen.

Sie beugte sich vor. »Wie viel würdest du einer Magd zahlen, Cousin?«

Gilbert riss erstaunt die Augen auf, aber er fasste sich schnell und verschränkte die Arme. »Zwei Pfund.«

Sie hob die Brauen. »Zwei Pfund?«

Er machte eine störrische Miene. »Ja. Beth ist … hm … erneut guter Hoffnung. Ich muss eine zusätzliche Hilfe anstellen.«

Das würde er garantiert niemals tun, aber es gelang ihr, sich ihren Sarkasmus nicht anhören zu lassen. »Dann werde ich dir jeden Monat zwei Pfund schicken.«

Gilbert runzelte die Stirn. »Und wie willst du das bewerkstelligen?«

»Ganz einfach.« Ich habe absolut keine Ahnung. »Sicher gibt es genügend Schüler, die eine Nachhilfelehrerin benötigen.«

»Verstehe.«

Er schien dennoch Zweifel zu hegen, so wie sie, denn nicht einmal die Dienstmädchen im Herrenhaus erhielten zwei Pfund im Monat. Wenn sie zwei Schilling zusammenkratzen könnte, wäre das schon ein Wunder.

Sie stand auf und streckte die rechte Hand aus. »Du hast mein Wort darauf.«

Gilbert betrachtete ihre Hand, als sei sie irgendein ekliges Getier. »Verrate mir eines«, sagte er nach einer Weile. »Wie soll ich mir sicher sein, dass die oxfordschen Attitüden und Allüren nicht auf dich abfärben und du wieder zu uns zurückkehrst?«

Ihr Kopf war plötzlich wie leer gefegt. Wie seltsam. Dabei diente das gesamte Vorhaben, Gilbert eine Erlaubnis abzuringen, doch allein dem Zweck, sich ihren Platz in seinem Haushalt zu sichern.

Eine Frau brauchte ein Zuhause, egal wie es auch aussehen mochte. Aber etwas in Annabelle sträubte sich, ihm ihr Versprechen zu geben, dass sie nach Chorleywood zurückkehren würde.

»Wohin sonst sollte ich gehen?«, fragte sie.

Gilbert presste die Lippen zusammen und strich sich gedankenverloren über den Bauch. Er nahm sich Zeit, bevor er wieder das Wort ergriff. »Wenn du mit deinen Zahlungen in Rückstand gerätst«, sagte er schließlich, »werde ich dich bitten müssen, nach Hause zu kommen.«

Bedächtig wälzte sie die Worte in ihrem Kopf. Sie zurück zu bitten hieß, dass er sie erst einmal gehen lassen musste. Er ließ sie gehen!

»Selbstverständlich«, versicherte sie.

Sein feuchter, schlaffer Händedruck war an ihrer schwieligen Hand kaum wahrnehmbar. Halt suchend lehnte sie sich an den Schreibtisch, den einzigen stabilen Gegenstand in dem sich plötzlich drehenden Zimmer.

»Du brauchst natürlich eine Anstandsdame«, hörte sie ihn sagen.

Sie konnte ihr Lachen nicht unterdrücken, ein kehliges Geräusch, das sie erschreckte. »Ich bin doch schon fünfundzwanzig Jahre alt.«

»Hmpf«, brummte Gilbert. »Vermutlich machst du dich mit so einer übermäßigen Bildung ohnehin zum Ladenhüter, den kein Mann zur Ehefrau nehmen möchte.«

»Dann trifft es sich doch gut, dass ich nicht den geringsten Wunsch verspüre, zu heiraten.«

»Ja, ja«, sagte Gilbert. Sie wusste, dass er ihren freiwillig gewählten Jungfernstand nicht guthieß. Das ist unnatürlich. Allerdings war jegliche geäußerte Sorge hinsichtlich ihrer Tugend sowieso bestenfalls ein Zugeständnis an die Etikette, und das wusste er wohl auch. Zumindest aber hegte er dahin gehend sicherlich Vermutungen, wie jeder in Chorleywood.

Wie aufs Stichwort verfinsterte sich seine Miene. »Es gibt noch eine Sache, die wir klären müssen, Annabelle, und die ist in der Tat von äußerster Wichtigkeit.«

Die Worte schwebten zwischen ihnen und lauerten wie Bussarde darauf, zuzuschlagen.

Sollten sie doch an ihr nagen. Inzwischen war die Mauer um ihr Herz mindestens so dick wie die Schwielen an ihren Händen.

»Wie jeder weiß, ist Oxford ein Ort des Lasters«, fing Gilbert an. »Eine Schlangengrube voller Trunkenbolde und Schürzenjäger. Solltest du in eine unschickliche Angelegenheit verwickelt werden und es auch nur den Hauch eines Zweifels über deine Moral und dein Benehmen geben, werde ich dich, so sehr mich das auch schmerzen würde, meines Hauses verweisen müssen. Ein Mann in meiner Position, der im Dienst der Kirche von England steht, kann sich keinen Skandal leisten.«

Er bezog sich zweifellos auf die Art von Skandal, in die ein Mann verwickelt war. Deswegen musste er sich ganz gewiss keine Sorgen machen. Allerdings gab es noch die Sache mit dem Stipendium. Gilbert nahm wohl an, dass die Universität ihr eines gewährt hatte. Der wahre Wohltäter war jedoch die National Society for Women’s Suffrage. Diese Vereinigung kämpfte für das Wahlrecht von Frauen und hatte es zur Bedingung gemacht, dass Annabelle sie bei diesem Vorhaben unterstützte. Zu ihrer Verteidigung ließ sich sagen, dass sie erst durch die Stipendienanzeigen einer gewissen Lady Lucinda Tedbury auf die Gesellschaft aufmerksam geworden war und nicht etwa, weil sie politische Interessen hegte. Aber sie war sich sicher, dass auf Gilberts Liste der moralischen Verstöße der Kampf für das Frauenwahlrecht ziemlich weit oben stehen würde, direkt hinter amourösen Skandalen.

»Zum Glück wird eine alte Jungfer vom Land ziemlich sicher vor jeglichen Skandalen verschont bleiben«, sagte sie munter. »Sogar in Oxford.«

Gilbert verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. Sie spannte sich an, als er den Blick über sie schweifen ließ. War sie zu weit gegangen? Sie hatte die Blüte ihrer Jugend zwar längst hinter sich gelassen, und die Kartoffelernte bei Wind, Sonne und Regen hatte ein paar feine Linien um ihre Augen gezeichnet. Dennoch blickte ihr morgens im Spiegel immer noch dasselbe Gesicht entgegen wie mit Anfang zwanzig. Dieselben ausgeprägten Wangenknochen, die kleine Nase und – ein Erbe ihrer französischen Ahnen – Lippen, die fast immer wie ein Schmollmund wirkten. Ein Mund, der einen Mann um den Verstand bringen könne, hatte man ihr einmal gesagt.

Sie verzog sarkastisch die Lippen. Sie sah im Spiegel immer nur ihre grünen Augen. Das Leuchten darin war längst erloschen, gedämpft von einer Lebenserfahrenheit, die keiner Debütantin zu eigen war, einer Erfahrenheit, die sie weitaus besser vor Skandalen schützen würde, als verblassende Schönheit es je könnte. Auf keinen Fall wollte sie noch einmal wegen eines Mannes in Schwierigkeiten geraten.

2. KAPITEL

Westminster, Oktober 1879

»Also«, sagte Lady Lucinda, »für unsere neuen Mitglieder: Es gibt drei Regeln zu beachten, wenn Sie einem Gentleman einen Handzettel reichen. Erstens: Wählen Sie einen, der einflussreich aussieht. Zweitens: Nähern Sie sich zielstrebig, aber mit einem Lächeln. Drittens: Denken Sie daran, dass die Männer spüren werden, wenn Sie Angst haben, aber gewöhnlich haben sie mehr Angst vor uns.«

»Wie bei Hunden«, murmelte Annabelle.

Lady Lucindas scharfsichtiger Blick schwenkte zu ihr. »Ja, genau.«

Offenbar hatte sie gute Ohren, das musste Annabelle sich merken.

Fröstelnd zog sie ihr Schultertuch enger um sich. Die raue Wolle bot nur wenig Schutz vor dem kühlen Londoner Nebel, der den Parliament Square einhüllte, und gar keinen vor den schneidenden Blicken der Passanten. Die Parlamentstätigkeit ruhte derzeit, aber es spazierten immer noch viele Gentlemen durch Westminster, die Gesetze auf den Weg brachten, die über ihr aller Leben bestimmten. Beim Gedanken, sich einem solchen Mann zu nähern, rutschte ihr das Herz in die Knie. Keine anständige Frau würde es wagen, auf offener Straße einen Fremden anzusprechen, und schon gar nicht würde sie dabei ein Pamphlet schwenken, welches verkündete, der sogenannte Married Women’s Property Act, der das Eigentum verheirateter Frauen regelte, mache jede Ehefrau zur Sklavin.

Natürlich traf dies in gewisser Weise zu, denn noch immer verlor eine Frau ihren persönlichen Besitz am Hochzeitstag an ihren Ehemann. Angesichts der missbilligenden Blicke, mit denen Passanten ihre kleine Gruppe streiften, versuchte Annabelle jedoch, ihre Flugblätter möglichst unauffällig in der Hand zu halten.

Ihre Bemühungen wurden allerdings schnell zunichtegemacht, als Lady Lucinda, die Schriftführerin der Nationalen Gesellschaft für Frauenwahlrecht und Leiterin der Ortsgruppe Oxford, ihre Motivationsrede hielt. Mit ihren schlicht frisierten glatten hellblonden Haaren und dem herzförmigen Gesicht wirkte die zierliche Dame täuschend anmutig wie eine Porzellanpuppe, aber ihre Stimme schallte wie ein Nebelhorn über den Platz, als sie ihre Anhängerinnen instruierte.

Wie hatte sie wohl die anderen Damen von der Teilnahme an dieser Aktion überzeugt? Sie drängten sich wie Schafe in einem Sturm aneinander und wünschten sich eindeutig, überall zu sein, nur nicht hier. Annabelle hätte ihr Schultertuch darauf verwettet, dass keine von ihnen auf ein Stipendium angewiesen war, das sie zum Verteilen der Flugblätter verpflichtete. Die Rothaarige neben ihr wirkte mit ihren großen braunen Augen und der von der Kälte geröteten Himmelfahrtsnase eher unscheinbar, doch dank der Oxforder Gerüchteküche wusste Annabelle, wer sie war: Miss Harriet Greenfield, Tochter des einflussreichsten Bankenbarons von ganz England. Vermutlich hatte der mächtige Julien Greenfield keine Ahnung, dass seine Tochter sich für Frauenrechte einsetzte. Gilbert würde jedenfalls das Herz stehen bleiben, wenn er davon erführe, was Annabelle tat.

Miss Greenfield hielt ihre Flugblätter mit spitzen Fingern, als befürchtete sie, von ihnen gebissen zu werden. »Auswählen, zielstrebig nähern, lächeln«, murmelte sie. »Das klingt einfach.«

Wohl kaum. Durch die hochgeschlagenen Mantelkrägen und die tief ins Gesicht gezogenen Hüte glich jeder vorbeieilende Mann einer uneinnehmbaren Festung.

Die junge Frau schaute hoch, und ihr Blick verfing sich mit Annabelles. Am besten, sie lächelte höflich und schaute wieder weg.

»Sie sind Miss Archer, nicht wahr? Die Studentin mit dem Stipendium?« Miss Greenfield musterte Annabelle über den Rand ihrer lilafarbenen Stola.

Natürlich. Tratsch verbreitete sich schnell in allen gesellschaftlichen Kreisen, auch den nobleren.

»Das stimmt, Miss«, antwortete Annabelle und fragte sich, womit sie nun zu rechnen hatte, Mitleid oder Hohn?

In Miss Greenfields Augen leuchtete jedoch Neugier. »Sie müssen sehr klug sein, wenn Sie ein Stipendium erhalten haben.«

»Oh, danke«, erwiderte Annabelle zögernd. »Aber ich bin wohl eher übermäßig belesen.«

Miss Greenfield kicherte, sehr mädchenhaft. »Ich bin Harriet Greenfield«, stellte sie sich vor und streckte eine behandschuhte Hand aus. »Ist dies Ihr erstes Suffragistinnen-Treffen?«

Lady Lucinda hielt eine flammende Rede über Gerechtigkeit und John Stuart Mill und schien ihr Gespräch nicht zu bemerken. Dennoch senkte Annabelle ihre Stimme zu einem Flüstern. »Ja, das ist meine erste Versammlung.«

»Oh, wie schön, meine auch«, erwiderte Miss Greenfield. »Ich hoffe so sehr, dass es dieses Mal passt. Es ist doch schwieriger als gedacht, einen noblen Zweck zu finden, für den man sich einsetzen kann, nicht wahr?«

Annabelle runzelte die Stirn. »Einen … noblen Zweck?«

»Ja, finden Sie nicht auch, dass jeder einen noblen Zweck verfolgen sollte? Ich wollte dem Damenkomitee für die Strafgefangenenreform beitreten, aber meine Mutter hat Einwände erhoben. Da habe ich es bei der Royal Horticultural Society versucht, aber das war eine Fehlentscheidung.«

»Das tut mir leid.«

»Es ist ein Lernprozess.« Miss Greenfield wirkte unbekümmert. »Ich habe das Gefühl, dass das Engagement für Frauenrechte ein passender nobler Zweck sein könnte, wenn mir auch allein die Vorstellung, mich einem Gentleman zu nähern und …«

»Gibt es ein Problem, Miss Greenfield?«

Die Stimme durchschnitt ihr Gespräch wie ein Schuss, und sie zuckten beide zusammen. Verflixt. Lady Lucinda starrte sie an, eine kleine Faust in die Hüfte gestemmt.

Miss Greenfield zog den Kopf ein. »Nein, gar nicht. Nein.«

»Nein? Ich hatte den Eindruck, dass Sie über etwas diskutieren.«

Miss Greenfield gab einen unverbindlichen Laut von sich. Lady Lucinda war bekannt dafür, dass sie keine Gefangenen machte. Es ging das Gerücht um, dass sie im Alleingang einen diplomatischen Eklat ausgelöst hatte, in den der spanische Botschafter und eine silberne Gabel verwickelt gewesen waren.

»Wir sind nur ein wenig beunruhigt, weil wir noch neu sind«, erklärte Annabelle. Lady Lucindas scharfer Blick richtete sich prompt auf sie.

Großartig. Ihre Anführerin war keine Frau, die ihren Gemütszustand hinter einem zuckersüßen Lächeln verbarg. Im Gegensatz zu Hunderten anderen Frauen, die so taten, als seien sie häusliche kleine Sonnenscheine, war sie ein heranrollendes Gewitter.

Überraschenderweise begnügte sich die Lady mit einem kurzen Kopfnicken. »Sorgen Sie sich nicht. Natürlich dürfen Sie auch gern zusammenarbeiten.«

Miss Greenfields Miene hellte sich sofort auf. Annabelle zwang sich zu einem Lächeln. Es wäre ein Wunder, wenn sie beide zusammen auch nur einen einzigen mächtigen Mann überzeugen könnten.

Mit einer Zuversicht, die sie nicht verspürte, führte sie das Mädchen zu dem geschäftigen Droschkenstand. Der Geruch nach Pferden hing in der Luft.

»Auswählen, zielstrebig nähern, lächeln«, trällerte Miss Greenfield. »Halten Sie es für möglich, dass wir die Aufgabe diskret und unauffällig bewältigen können, Miss Archer? Mein Vater … Nun, ich bin mir nicht sicher, ob er sich der Tatsache bewusst ist, dass die Arbeit für den guten Zweck in aller Öffentlichkeit stattfindet.«

Annabelle warf einen vielsagenden Blick auf den Platz. Sie befanden sich mitten in London, im Schatten von Big Ben, umgeben von Menschen, die vermutlich alle in irgendeiner Weise geschäftlich mit Miss Greenfields Vater zu tun hatten. »Diskret und unauffällig« hätte bedeutet, dass sie in Oxford geblieben wären. Das wäre auch sehr viel angenehmer gewesen. Ein Mann, der auf die Kutschen zuging, verlangsamte seine Schritte, schaute sie an und machte dann einen weiten Bogen um sie, wobei er das Gesicht verzog, als sei er in etwas Ekliges getreten. Einer anderen Suffragistin in der Nähe schien es nicht besser zu ergehen als ihnen. Die Männer schenkten ihr verächtliche Blicke und machten geziert eine scheuchende Geste, als wollten sie eine Fliege vertreiben. Dieses spöttische Winken weckte in Annabelle eine lange unterdrückte Emotion, die jetzt wie bittere Galle in ihrer Kehle aufstieg. Wut.

»Mein Vater ist selbstverständlich nicht gegen Frauenrechte im Allgemeinen … Oh!« Miss Greenfield schnappte nach Luft, und ihr Blick war starr auf etwas hinter Annabelles Schulter gerichtet.

Annabelle drehte sich um.

In der Nähe des Eingangs zum Parlament tauchten drei Männer aus dem Nebel auf. Mit schnellen Schritten näherten sie sich zielstrebig wie eine Dampflok dem Droschkenstand.

Ein unbehaglicher Schauer rieselte ihr über den Rücken.

Der Mann ganz links wirkte ob seiner riesigen Gestalt wie ein Grobian, und das trotz seiner eleganten Kleidung. Der Mann in der Mitte, dessen Gesicht von breiten Koteletten eingerahmt wurde, war offensichtlich ein Gentleman. Der dritte Mann … Nun, er gehörte gewiss zu jenen, nach denen sie Ausschau halten sollten: einflussreich und mächtig. Sein Gesicht war halb verdeckt, weil er sich den Hut tief in die Stirn gezogen hatte, und der maßgeschneiderte Mantel betonte seine breiten Schultern, die eher wie die eines Athleten wirkten als die eines adeligen Schnösels. Aber er bewegte sich mit jenem gelassenen, gebieterischen Selbstvertrauen, das verriet, wie sicher er sich seiner Stellung war.

Als hätte er ihren musternden Blick bemerkt, schaute er auf.

Sie erstarrte.

Seine Augen waren atemberaubend, eisklar und durchdringend, beseelt von einer kühlen, messerscharfen Intelligenz; eine Intelligenz, die den Dingen genau auf den Grund ging, sie analysierte und bei Bedarf in der Luft zerriss.

Sie fühlte sich auf einmal so durchsichtig wie eine Fensterscheibe und wandte rasch den Blick ab. Ihr Herz raste. Seit Jahren hegte sie einen tiefen Groll gegen Männer wie ihn. Männer, denen das Selbstvertrauen angeboren schien und die glaubten, sie seien das Maß aller Dinge. Alles an diesem hier strahlte diese selbstsichere Arroganz aus, von seiner aufrechten Haltung bis hin zu der geraden, aristokratischen Nase. Zweifellos konnte er Menschen mit nur einem gut gezielten Blick zum fluchtartigen Rückzug bewegen.

Plötzlich schien es ihr immens wichtig, diesem Mann die Stirn zu bieten.

Der Verband wollte einflussreiche Gentlemen, die ihnen Gehör schenkten? Nun, sie hatte gerade Schritt eins hinter sich gebracht: einen einflussreichen Mann erkannt und ausgewählt. Jetzt kam Schritt zwei: sich zielstrebig nähern.

Sie krampfte die Finger um die Blätter in ihrer Hand und steuerte geradewegs auf ihn zu.

Seine hellen Augen verengten sich.

Lächeln.

Unerwartet traf sie ein Stoß gegen die Schulter, und sie taumelte zur Seite. »Machen Sie Platz, Madam!«

Der Grobian. Sie hatte seine Anwesenheit völlig vergessen, und nun brachte er sie zum Stolpern. Einen schrecklichen Moment lang drehte sich die Welt um sie. Dann schloss sich eine Hand um ihren Oberarm und gab ihr Halt.

Sie hob den Kopf, und ihr Blick prallte auf eine kühle Miene.

Verflixt. Der Aristokrat höchstpersönlich.

Er stand in krassem Gegensatz zu der Sorte Mann, nach der sie ihre Netze auswerfen sollten. Sie erkannte keinen Funken Milde oder Weichheit in ihm, keine einzige Delle in seiner eindrucksvollen Rüstung. Er war glatt rasiert, das nordisch blonde Haar an den Seiten kurz geschnitten. Seine Gesichtszüge waren klar, pragmatisch und effizient: die prägnante Nase, die geraden Augenbrauen, das markante Kinn. Er hatte die undurchdringliche Ausstrahlung eines Gletschers.

Ihr wurde ein wenig schlecht. Sie stand Auge in Auge einer äußerst seltenen Kreatur gegenüber: einem Mann, der sich nicht manipulieren ließ.

Sie sollte weglaufen.

Ihr Füße verharrten jedoch wie angewurzelt; sie konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Diese Augen. In ihren kühlen Tiefen schimmerte eine Intensität, die sie fest in seinem Bann gefangen hielt, bis die seltsame, beunruhigende Anziehung zwischen ihnen Funken sprühte.

Der Mann öffnete den Mund, und sein Blick senkte sich auf ihre Lippen. Ein Leuchten loderte in seinen Augen auf und war gleich darauf wieder verschwunden, schnell wie ein Blitz am gewittrigen Himmel.

Tja. Ganz egal, welchen gesellschaftlichen Rang sie innehatten, allen gefiel ihr Mund.

Sie zwang sich, ihm die Flugblätter direkt unter die Nase zu halten. »Unterstützen Sie die Reform des Eigentumsgesetzes für verheiratete Frauen, Sir?«

Sein Blick wurde erstaunlicherweise noch eisiger als zuvor. »Sie spielen ein riskantes Spiel, Miss.« Seine Stimme klang ebenso kühl und gebieterisch, wie seine Ausstrahlung vermuten ließ.

Statt abzukühlen, erhitzte sich ihr Blut dadurch jedoch nur noch mehr.

»Bei allem Respekt, das Risiko, von einem Gentleman bei helllichtem Tageslicht herumgeschubst zu werden, ist gewöhnlich recht niedrig«, erwiderte sie. »Würden Sie mich jetzt bitte loslassen?«

Sein Blick flog zu seiner rechten Hand. Die immer noch ihren Arm festhielt.

Seine Miene versteinerte.

Im nächsten Moment gab er sie frei.

Der Lärm und das hektische Treiben auf dem Parliament Square drangen wieder an ihre Ohren, doch unnatürlich laut. Seine starken Finger hatten auf ihrem Arm eine glühende Hitze hinterlassen, als hätte sie sich verbrannt.

Er war bereits weitergegangen, den Blick nach vorn gerichtet, und seine Begleiter folgten ihm eilig.

Ihr Mund war plötzlich wie ausgetrocknet. Ihre Lippen kribbelten, als hätte er sie mit einer Fingerspitze berührt.

Eine kleine behandschuhte Hand berührte sie am Ärmel, und sie zuckte zusammen. Miss Greenfields braune Augen waren riesengroß. Sorge stand darin und … Ehrfurcht. »Geht es Ihnen gut, Miss Archer?«

»Ja.« Nein. Ihre Wangen brannten, als wäre sie mit dem Gesicht voran auf das feuchte Kopfsteinpflaster gefallen. Mit einer zittrigen Hand glättete sie ihre Röcke. »Nun denn«, sagte sie mit aufgesetzter Heiterkeit. »Wie es scheint, waren die Gentlemen nicht interessiert.«

Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie der Eislord und sein Gefolge in eine große Kutsche stiegen. Miss Greenfield betrachtete Annabelle auffällig verstohlen, vermutlich, um in aller Höflichkeit herauszufinden, ob sie vielleicht ein wenig wahnsinnig sei. Das war sie nicht, aber sie konnte nicht leugnen, dass sie impulsiv war. So impulsiv war sie jedoch lange nicht mehr gewesen.

»Wissen Sie, wer das war?«, fragte Miss Greenfield.

Annabelle schüttelte den Kopf.

»Das«, erklärte die junge Frau, »war der Herzog von Montgomery.«

Ein Herzog. Natürlich musste der erste Mann, den sie ansprach, ausgerechnet ein Herzog sein, der im Rang gleich hinter einem königlichen Prinzen stand …

Hinter ihnen klackerten Absätze, die Schritte näherten sich rasch. Lady Lucinda steuerte unaufhaltsam wie eine kleine Fregatte auf sie zu. »War es das, wonach es aussah?«, wollte sie wissen. »Haben Sie gerade versucht, den Herzog von Montgomery für unsere Sache zu gewinnen?«

Annabelle straffte die Schultern. »Mir war nicht bewusst, dass wir ihn von unseren Bemühungen ausschließen sollen.«

»Dem ist auch nicht so. Es hat sich nur bisher niemand an ihn herangewagt.« Lady Lucinda legte den Kopf schräg und musterte Annabelle von Kopf bis Fuß. »Ich weiß nicht, ob sie eine der mutigsten oder eine der törichtesten Frauen sind, die ich je rekrutiert habe.«

»Ich wusste nicht, wer er ist«, sagte Annabelle. »Er sah nur recht einflussreich aus.«

»Nun, das haben Sie gut erkannt«, bestätigte Lady Lucinda. »Er gehört zu den mächtigsten Männern des Landes.«

»Sollten wir dann nicht zumindest versuchen, ihn zu überzeugen?«

»Haben Sie ihn sich denn nicht angesehen? Dieser Mann hat sich nach kaum einem Jahr von seiner Frau scheiden lassen, ihre Mitgift behalten und dafür gesorgt, dass sie das Land verlassen musste. Wir können ganz sicher von der Annahme ausgehen, dass jegliche Anstrengungen, ihn als Unterstützer für Frauenrechte zu gewinnen, vergebens sein würden. Wir sollten daher nicht unsere kostbare Zeit und begrenzten Ressourcen auf ihn verschwenden.«

»Er ist geschieden?« Sie kam zwar vom Land, aber selbst sie wusste, dass eine Scheidung in Adelskreisen höchst ungewöhnlich war. Dennoch widerstrebte es ihr, sich einfach geschlagen zu geben. »Würde die Meinung des Herzogs andere einflussreiche Männer zum Umdenken bewegen können?«

Lady Lucinda schnaubte undamenhaft. »Er könnte die ganze bevorstehende Wahl beeinflussen, wenn er es wünschte.«

»Das heißt aber doch im Umkehrschluss: Wenn er gegen uns ist, dann ist es völlig egal, wie viele andere wir auf unsere Seite bringen, oder nicht?«

»Möglich.« Lady Lucinda runzelte die Stirn. »Aber das tut nichts zur Sache. Unsere Armee ist nicht dafür gemacht, solch eine Festung einzunehmen.«

»Und wie wäre es mit einer Belagerung?«, schlug Annabelle vor. »Oder einer List wie dem Trojanischen Pferd?«

Zwei Augenpaare richteten sich auf sie.

Oh, verflixt. Sie hatte ihre Gedanken laut ausgesprochen. Der Zusammenstoß mit diesem Mann hatte sie wohl doch weitaus mehr erschüttert als gedacht.

»Nun, die Idee gefällt mir«, meinte Lady Lucinda gedehnt. »Wir sollten Montgomery bei unserem Treffen nächste Woche auf die Tagesordnung setzen.«

Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie die Hand ausstreckte. »Sagen Sie doch Lucie zu mir. Das gilt auch für Sie, Miss Greenfield. Und bitte entschuldigen Sie mich jetzt, ich glaube, dort drüben ist Lord Chiltern.«

Sie sahen ihr nach, bis der Nebel sie verschluckte. Ihr roter Schal flatterte wie ein Wimpel hinter ihr her. Als sich Miss Greenfield wieder Annabelle zuwandte, war ihre Miene ernst. »Du hast mich davor gerettet, dass Lucie mir vor allen anderen den Kopf abreißt. Bitte sag Hattie zu mir.«

Es fühlte sich falsch an, erst eine Lady, und nun eine reiche Erbin, so vertraut anzureden. Annabelle holte tief Luft. Andererseits hatte sie ein neues Leben begonnen, als Studentin, die Herzöge ansprach und unvorstellbar reichen jungen Frauen mit lilafarbenen Stolen die Hand schüttelte. Am besten, sie tat einfach so, als sei das alles völlig normal.

»Es ist mir eine Freude«, sagte sie. »Und bitte entschuldige, dass ich mich vorhin nicht sehr diskret und unauffällig verhalten habe.«

Hatties Lachen schallte fröhlich über den Platz und zog damit beinahe ebenso viele missbilligende Blicke auf sich wie ihre Flugblätter.

An diesem Nachmittag gelang es ihnen nicht, auch nur einen Mann von Einfluss von ihrer Sache zu überzeugen. Bei ihren halbherzigen Versuchen flog Annabelles Blick immer wieder in die Richtung, in der die Kutsche mit dem Herzog verschwunden war.

3. KAPITEL

Wenn Ihre Majestät eine Audienz befahl, musste selbst ein Herzog gehorchen. Selbst wenn der betreffende Herzog bekanntermaßen damit beschäftigt war, eines der ältesten Herzogtümer des Königreichs zu führen, und es vorzog, sich von dem hektischen Treiben in London fernzuhalten. Die Königin wies man jedoch nicht ab, und Sebastian Devereux, neunzehnter Herzog von Montgomery, wusste, dass er keine Ausnahme von dieser Regel bildete. Ein Mann tat gut daran, seine Grenzen zu kennen. So konnte er sie beachten oder auch ignorieren, je nachdem, wie es die Situation erforderte.

Mit ausholenden Schritten ging er durch die Flure des Buckingham-Palastes und scheuchte den königlichen Diener vor sich her. Minister Lambton und dessen Leibwächter folgten ihm mit einigem Abstand.

Was wollte sie von ihm? Nach dem letzten so kurzfristig angesetzten Termin bei der Königin hatte er den Palast mit der Aufgabe verlassen, einen Handelskrieg mit dem Osmanischen Reich zu beenden. Damit war seine Alltagsroutine zum Teufel gejagt worden, und er hatte den riesigen Berg an liegen gebliebenem Papierkram immer noch nicht ganz bewältigt. Er hoffte, dass die kommende Aufgabe noch eine Nummer größer wäre – am besten so monumental, dass sie ihm das Recht geben würde, einen Gefallen als Gegenleistung einzufordern.

Er reichte einem der im Flur aufgereiht stehenden Lakaien Hut und Mantel.

»Sie«, sagte er zu Lambtons Leibwächter.

»Ja, Euer Gnaden?«

»Es gab keinen Anlass, die Frau herumzustoßen.«

Die buschigen Brauen des Mannes zogen sich zusammen. »Die vom Parliament Square?«

»Ja, genau. Oder haben Sie heute noch andere Leute herumgeschubst?«

»Äh, nein, Euer Gnaden.«

Sebastian nickte. »Falls mir jemals zu Ohren kommt, dass Sie noch einmal Hand an eine Frau gelegt haben, wird dies Ihre Entlassung bedeuten.«

Der Leibwächter stand nicht in seinen Diensten. Dennoch kannte Sebastian Mittel und Wege, um dafür zu sorgen, dass jemand seine Stellung verlor, wenn er es für notwendig hielt. Rote Flecken bildeten sich auf dem Hals des Mannes, und er verbeugte sich. »Wie Se wünsch’n, Euer Gnaden.«

Sein Dialekt klang nach East End, dem Arbeiterviertel der Stadt, aber dass er so leicht durchschimmerte? Es herrschten wirklich üble Zeiten, wenn selbst die Krone Schwierigkeiten hatte, geeignetes Personal zu finden.

Die großen Flügeltüren schwangen auf und gaben den Blick auf den Diener und das in Gold gehaltene Interieur preis.

»Euer Gnaden. Sir Lambton.« Der Diener verbeugte sich und trat zur Seite. »Ihre Majestät empfängt Sie nun.«

Unter leisem Rascheln ihrer gestärkten schwarzen Röcke erhob sich die gedrungene Gestalt der Königin aus dem Sessel.

»Montgomery.« Sie steuerte auf ihn zu und streckte ihre rechte, von Ringen geschmückte Hand aus. »Wir freuen Uns, Sie zu sehen.«

Ihre gehobenen Mundwinkel bestätigten dies. Offenbar war sie in guter Stimmung. Im Moment jedenfalls.

»Sir Lambton.« Sie wandte sich dem Minister zu. »Wir nehmen an, Ihre Reise war ereignislos?«

Lambton schüttelte den Kopf. »Leider nicht ganz, Euer Majestät. Wir wurden auf dem Parliament Square von einer Frauenrechtlerin belästigt.«

Die Mundwinkel der Königin sackten prompt nach unten. »Was sagt man dazu?!«

»Sie ging geradewegs auf den Herzog zu und sprach ihn an.«

»Welche Unverfrorenheit!«

»Ich bin ihr unbeschadet entkommen, Euer Majestät«, sagte Sebastian sarkastisch.

»Dieses Mal«, erwiderte die Königin. »Dieses Mal. Oh, man sollte sie auspeitschen lassen. Solche lasterhaften, unnatürlichen Forderungen! Und wer hat darunter zu leiden, wenn sie ihren Willen bekommen? Natürlich diese Frauen selbst. Kein Gentleman bei rechtem Verstand wird solche Mannweiber beschützen wollen, sollte es notwendig werden. Sagen Sie, Montgomery«, verlangte sie zu wissen, »sah sie recht mannhaft aus?«

Mannhaft? Die Frau hatte die hübschesten einladenden Lippen diesseits des Ärmelkanals gehabt. Ein Mann könnte sich leicht in den Vergnügungen verlieren, die ein Mund wie ihrer bot. Bemerkenswerter war jedoch, dass sie ihm unverhohlen in die Augen geblickt hatte. Ihre Augen waren grün und leicht schräg gestellt wie die einer Katze. Ihr Lächeln hatte sich darin jedoch nicht gespiegelt.

Er schüttelte den Kopf. »Sie sah meiner Meinung nach sehr weiblich aus, Ma’am.«

»Mhm.« Die Königin wirkte unbeeindruckt. »Sie wissen ja, was geschieht, wenn gewöhnliche Leute Flausen im Kopf haben? Chaos. Das absolute Chaos ist die Folge. Man muss sich nur anschauen, was aus Frankreich geworden ist.« Sie wirbelte auf dem Absatz herum. »Darüber können wir uns aber auch zu einem späteren Zeitpunkt noch Gedanken machen«, sagte sie. »Heute stehen dringendere Angelegenheiten an.«

Sebastian verspannte sich unwillkürlich. »Dringend« klang vielversprechend. Die Königin hatte etwas in ihrem Besitz, was ihm gehörte, oder besser gesagt, ihr Cousin, und Sebastian würde es nur zurückerlangen, wenn er etwas zu bieten hatte, das sie noch mehr begehrte. In seinen sechzehn Jahren als Herzog von Montgomery hatte sich jedoch nichts dergleichen gefunden. Das konnte er sogar gut nachvollziehen. Es war einfacher, einen Herzog zu kontrollieren, selbst einen pflichtbewussten, loyalen Herzog, wenn man sein achthundert Jahre altes Anwesen als Geisel hielt.

Die Königin nahm mit solcher Würde in ihrem Sessel Platz, als sei es ihr Thron.

»Sie sind ein Mann von seltenen Qualitäten, Montgomery«, hob sie an. »Sie schätzen eine Lage ein, treffen einen Entschluss und handeln danach, noch dazu sehr pragmatisch und effizient, und außerdem sind Sie bemerkenswert … bescheiden und genügsam.« Sie spielte mit dem von Diamanten besetzten Kreuz, das ihren Hals zierte. »Und ich schätze Bescheidenheit sehr.«

Er nickte und setzte eine bescheidene Miene auf, obwohl er alles andere als bescheiden war. Er hielt Maß in allen Dingen, weil das den meisten Erfolg erzielte, aber sie war nicht die Erste, die sich diesbezüglich in ihm täuschte.

Und dann sagte sie: »Ich will, dass Sie Erster strategischer Berater für die Wahlkampagne der Tory-Partei werden.«

Seine Erziehung sorgte dafür, dass man seiner Miene nichts anmerkte, aber für einen Moment erstarrte er innerlich. »Bei der bevorstehenden Wahl?«

Die Königin runzelte die Stirn. »Ja. Im Moment verläuft es nicht nach Wunsch. Die Liberalen liegen überraschend weit vorn.«

Was allerdings gar nicht so überraschend war, wenn man das Land durch die nüchterne Linse der Realität betrachtete und nicht durch die rosarot gefärbte Brille von Disraelis Partei-Ideologie. Aber die Königin hegte eine absurde Schwäche für den Premierminister, obwohl er ein Emporkömmling war, und nun bat sie ausgerechnet ihn, Sebastian, dafür zu sorgen, dass der Mann seine Macht behielt?

Die deutsche Kuckucksuhr auf dem Kaminsims füllte mit ihrem Ticken das strategische Schweigen, das er nutzte, um die Fakten durchzugehen. Die Wahl fand im März statt, in ungefähr fünf Monaten. Kaum genügend Zeit, um eine Wende herbeizuführen, vor allem nicht, wenn man zehn Anwesen im Königreich und zwei in Frankreich zu verwalten hatte, Politikarbeit leisten sollte und auf einen widerspenstigen Bruder aufpassen und ihn vor Dummheiten bewahren musste. Die Frage lautete, wie sehr wollte die Königin, dass er diese Wahl nach ihren Wünschen beeinflusste? Die Antwort hieß: sehr. Trotz seiner erst fünfunddreißig Jahre gehörte er zu ihren engsten Beratern, weil er gut war in dem, was er tat.

Er sah ihr in die Augen. »Ihr Vertrauen ehrt mich, Ma’am, aber ich bin kein Politiker.«

Sie versteifte sich. »Lassen Sie uns allein, Lambton«, befahl sie.

Ihre Miene verfinsterte sich noch mehr, als sich die Tür hinter Lambton schloss. »Sie sind sehr wohl Politiker, auch wenn Sie kein Ministeramt bekleiden. Niemand wird bestreiten, dass Sie zu den federführenden Köpfen gehören«, sagte sie. »Ihre sämtlichen politischen Bestrebungen sind ungebrochen von Erfolg gekrönt.«

»Ich bin jedoch im Moment zu beschäftigt, um mich der Angelegenheit in dem Maße zu widmen, das ihr gebührt, Ma’am.«

»Wie bedauerlich«, erwiderte sie frostig, und als er nicht antwortete: »Sagen Sie, besteht die Möglichkeit, dass Sie unter gewissen Umständen Ihre Prioritäten noch einmal überdenken würden?«

Das war nicht nur eine Frage. Es war vielmehr der Versuch, herauszufinden, ob er sich traute, Forderungen an die Königin von England zu stellen.

Er hielt ihrem Blick stand. »Ich verwende sehr viel Zeit darauf, Hartford davon zu überzeugen, mir Montgomery Castle zu verkaufen«, erklärte er. »Wenn jemand ihn dazu bewegen könnte, mir mein einstiges Anwesen zurückzugeben, hätte ich vermutlich genügend Zeit, um der Tory-Partei als Berater zur Verfügung zu stehen.«

Sie verengte die Augen. »Er soll Ihnen Montgomery Castle zurückverkaufen? Dabei hatten Wir den Eindruck gewonnen, dass es niemals ordnungsgemäß verkauft worden ist.« Unter der Festung ihres Rocks wippte ihr Fuß hörbar auf und ab. »Rufen Sie Uns bitte ins Gedächtnis, Montgomery, wie Ihr Familiensitz überhaupt in Hartfords Hände gelangt ist?«

Vermutlich hatte er das verdient. »Mein Vater hat das Anwesen bei einem Kartenspiel an den Marquess verloren, Ma’am.«

Die Königin zog spöttisch die Brauen hoch. »Ah. Ja, richtig. Nun, man würde meinen, dass es einem recht geschieht, wenn man ein Schloss verliert, das so wenig wertgeschätzt wird, dass es bei einem Kartenspiel als Einsatz herhalten muss, finden Sie nicht auch?«

»Unbedingt«, antwortete er. »Allerdings bin ich nicht mein Vater.«

Das Tapp-tapp-tapp ihres Fußes verstummte. Die darauffolgende Stille war von einer seltsamen Spannung geladen. Seit Jahren schon beobachtete sie ihn dabei, wie er das Erbe seiner Familie wieder zurück in den Schoß der Familie zu bringen versuchte. Sie hinderte ihn nicht daran, aber sie half ihm auch nicht dabei. Nur ein Mal hatte sie sich wohl für ihn eingesetzt, vermutete er. Damals, als er sich von seiner Frau scheiden ließ, denn er hatte die daraus folgenden Konsequenzen überraschend unbeschadet überstanden.

»Nein, das sind Sie in der Tat nicht«, bestätigte sie. »Deshalb wollen Wir auch, dass Sie die Kampagne übernehmen.«

»Euer Majestät …«

Gebieterisch hob sie die Hand. »Nun gut. Hartford wird Ihnen nach der Wahl ein Angebot unterbreiten.«

Seine Muskeln spannten sich an, als hätte man ihm einen Schlag versetzt, und es fiel ihm schwer zu atmen.

»Hängt das Angebot vom Ausgang der Wahl ab?«, brachte er hervor. Über solche Dinge musste man Klarheit haben.

Sie schnaubte verächtlich. »Natürlich. Selbstverständlich entscheidet letztendlich eine höhere Macht über den Sieg, aber dieser wäre dann auch gleichzeitig ein Beweis dafür, dass Montgomery Castle wieder in Ihre Hände fallen sollte, nicht wahr?«

Er stand auf; seine Gedanken eilten bereits voraus, und noch auf dem Weg zur Tür eruierte und ordnete er die Aufgaben für die kommenden Monate …

»Montgomery.«

Langsam drehte er sich zur Königin um.

Sie hatte sich in ihrem Sessel zurückgelehnt, ein hinterlistiges Funkeln leuchtete in ihren blauen Augen. »Wenn diese Kampagne ein Erfolg werden soll«, sagte sie, »muss Ihr Verhalten mustergültig sein.«

Er unterdrückte ein Stirnrunzeln. Sein Benehmen war immer vorbildlich, in jeder Hinsicht. Er war so geschickt darin, sich einzufügen und keine Wellen zu schlagen, dass nicht einmal eine Scheidung seinem Ruf hatte schaden können.

»Es geht das Gerücht um, dass Sie allmählich zum exzentrischen Kauz werden«, meinte die Königin. »Aber solche überspannte Kauzigkeit ist so unattraktiv bei einem Mann von nicht einmal vierzig Jahren, finden Sie nicht auch?«

»Selbstverständlich …«

»Dennoch sieht man Sie selten bei Bällen. Sie geben keine Dinnergesellschaften und gelten als äußerst reserviert und menschenscheu, obwohl jeder weiß, dass Politik bei festlichen Anlässen gemacht wird. Nicht einmal einen Silvesterball haben Sie im letzten Jahr ausgerichtet. Oder im Jahr davor.«

Und im Jahr davor fand der Ball auch nur deshalb statt, weil es da noch eine Herzogin gegeben hatte, die sich um solche Angelegenheiten kümmerte.

Er biss die Zähne zusammen. Es war eindeutig, wohin dieses Gespräch führen würde.

»Als ich noch ein junges Mädchen war, waren die Silvesterbälle der Montgomerys im ganzen Land berühmt«, fuhr die Königin fort. »Ihr Großvater hat immer ein grandioses Feuerwerk veranstaltet. Natürlich fand der Ball früher in Montgomery Castle statt, aber Claremont eignet sich sicher auch dafür.«

»Sie wünschen, dass ich einen Silvesterball ausrichte.« Seine Stimme klang staubtrocken.

Sie klatschte fröhlich in die Hände. »Oh, welch vorzügliche Idee. Sie sind natürlich etwas spät mit den Einladungen, aber sicher werden die Gäste ihre Pläne dafür gern ändern. Niemand wird den Eindruck erwecken wollen, dass er nicht zu dem Ereignis des Jahres eingeladen worden ist. Also, tun Sie Ihre Pflicht, Montgomery. Geben Sie einen Ball und feiern Sie fröhlich.«

Feiern Sie fröhlich. Die Worte sprangen spöttisch in Sebastians Kopf hin und her, während der ratternde Zug ihn nach Wiltshire zurückbrachte. Sebastian wandte den Blick von dem sich verdunkelnden Horizont ab.

Ramsey hatte sein Notizbuch, den Füllfederhalter und die Löschwiege auf dem schmalen Tisch vor ihm zurechtgelegt und wollte sich gerade in die Dienstbotenecke des Waggons zurückziehen.

»Ramsey, erstellen Sie eine Liste von Gästen, die zu einem Silvesterball eingeladen werden müssen.«

Obwohl ausgezeichnet ausgebildet, konnte Ramsey den überraschten Ausdruck nicht unterdrücken, der ihm übers Gesicht huschte. Er gewann die Beherrschung jedoch schnell wieder. »Jawohl, Euer Gnaden.«

»Ein Feuerwerk muss auch stattfinden. Die Kosten spielen keine Rolle.«

»Sehr wohl, Euer Gnaden.«

»Und für den Ball«, fügte Sebastian düster hinzu, »brauche ich ein winterliches Thema. Und das alles bis nächste Woche.«

»Wie Sie wünschen, Euer Gnaden.« Ramsey griff in seine Jackentasche und zog ein schmales silbernes Zigarettenetui hervor. Er legte es neben die Löschwiege und zog sich zurück.

Sebastian griff zum Füllfederhalter. Mit ihrem Vergeltungsschlag hatte die Königin wie beabsichtigt seinen wunden Punkt getroffen. Ein Ball war nicht gerade eine Bestrafung, aber sie wusste ganz genau, wie sehr er solche gesellschaftlichen Ereignisse verabscheute. Die lärmende Menge, das unermüdliche Geschnatter, die stickige Luft, die Störung seines Hausfriedens und seiner Arbeit. Und er hatte nicht mal eine Herzogin an seiner Seite, die ihm den Großteil der Organisation und Gastgeberpflichten abnehmen würde. Unvermittelt schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf: Hegte die Königin in Wahrheit die Absicht, ihn deutlich spüren zu lassen, dass er eine Ehefrau brauchte?

Er legte den Stift zur Seite und griff nach einer Zigarette. Daran brauchte sie ihn nicht zu erinnern. Er sollte längst eine Herzogin haben, die den Haushalt führte und ihm obendrein eine Schar Söhne geschenkt hatte. Und jede einzelne Mutter, die in seinen Kreisen verkehrte, wusste das auch. Jedes Mal, wenn er sich irgendwo auf einer Festlichkeit sehen ließ, führten sie ihm ihre Debütantinnen-Töchter vor. Siebzehnjährige Mädchen, die sich nichts sehnlicher wünschten, als die nächste Herzogin von Montgomery zu werden. Und keine wagte es, ihm ins Gesicht zu sehen. Sein Mund verzog sich zu einem sarkastischen Lächeln. Seine zukünftige Ehefrau würde noch eine Menge mehr ertragen müssen als nur seinen Anblick.

Ungebeten kamen ihm strahlend grüne Augen in den Sinn. Die Frau vom Parliament Square. Sie hatte sich nicht gescheut, ihm in die Augen zu schauen. Sie hatte ihm sogar Widerworte gegeben. Noch keine Dame aus seiner Bekanntschaft hatte Derartiges gewagt. Und Frauen von niedrigerem Stand erst recht nicht. Das war undenkbar. Sie hingegen hatte ihm die Meinung gesagt. Sie hatte sich aus der Herde gelöst, der gesichtslosen Menge, die sich an den Rändern seines Lebens herumtrieb, und sich ihm in den Weg gestellt. Ein wirklich dreistes Frauenzimmer. Vermutlich geistesverwirrt.

Er schlug sein Notizbuch auf, nahm den Federhalter zur Hand und konzentrierte sich auf die Aufgabe, die er erledigen musste. Montgomery Castle. Ein Geschenk der Krone an den ersten Herzog für seine Verdienste während der Schlacht bei Hastings im Jahr 1066, und vom achtzehnten Herzog beim Kartenspiel verloren. Sebastian war fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass das Schloss in den Besitz der Familie zurückfiel. Und wenn es das Letzte war, was er tat.

4. KAPITEL

»Sie wirken abgelenkt, Miss Archer.«

Ein messerscharfer Blick durchbohrte Annabelle über den Rand einer Metallbrille hinweg, und ein Anflug von Schuldgefühlen durchzuckte sie.

In seinem Tweedjackett mit Lederbesätzen an den Ellbogen, der hohen Stirn und den hochgezogenen Augenbrauen, wirkte Professor Jenkins durch und durch wie der geniale Akademiker, der er war. Trotz seiner erst knapp vierzig Jahre zählte der frühere Brieffreund ihres Vaters zu den Koryphäen auf dem Gebiet des Kriegswesens der griechischen Antike. Das allein war Grund genug, um ihm ihre volle Aufmerksamkeit während seines morgendlichen Tutoriums zu schenken.

»Entschuldigen Sie, Professor.«

Er beugte sich über seinen Schreibtisch zu ihr. »Es liegt an der verflixten Strickerei, nicht wahr?«

»Wie bitte?«

»Die Strickerei«, wiederholte er und warf einen verärgerten Blick zu Mrs Forsyth. »Dieses Geklacker der Nadeln … Klick-Klack-Klick … das Geräusch ist wirklich nervtötend. Wie ein tropfender Wasserhahn.«

Das Klackern hinter Annabelle verstummte abrupt, und Mrs Forsyths Entrüstung breitete sich fast greifbar im Zimmer aus. Annabelle wand sich peinlich berührt. Die Frau fühlte sich zu Recht beleidigt. Immerhin zahlte Annabelle ihr sechs Pence pro Stunde für ihre Anwesenheit, weil Gilbert, der Teufel möge ihn holen, mit einer Sache recht behalten hatte: Sie brauchte eine Anstandsdame. Noch dazu eine, die von der Direktorin ihres Colleges gebilligt wurde. Weiblichen Studenten war es nicht gestattet, das Stadtzentrum ohne Begleitung zu betreten, und natürlich durften sie erst recht nicht mit einem Professor allein sein. Mrs Forsyth, eine ältliche Witwe, die sich elegant zu kleiden wusste, machte ganz gewiss den Eindruck einer ehrbaren Aufpasserin.

Wenn sich Professor Jenkins jedoch durch ihre Handarbeit gestört fühlte, musste Annabelle sich eine andere Lösung einfallen lassen. Immerhin war er eine Autorität auf seinem Gebiet. In seinen Unterrichtsstunden verwandelten sich verblichene alte Geschichtsbücher in bedeutende Fenster zur Vergangenheit, und sein außergewöhnlicher Intellekt inspirierte sie und regte ihren Verstand an. Außerdem nahm er die Mühe und den Weg auf sich, um sie in dem Klassenraum zu unterrichten, den die Universität den Studentinnen zur Verfügung stellte – eine kleine Kammer mit nicht zusammenpassenden Möbeln über einer Bäckerei in der Little Clarendon Street.

Einer Bäckerei. Und das war die Krux an der Situation. Nicht das Geklapper der Stricknadeln lenkte sie ab, sondern der Duft von frisch gebackenem Brot, der durch die Ritzen in der Tür drang.

Unter ihnen auf der Straße rumpelten die Räder eines Karrens lärmend übers Kopfsteinpflaster.

Professor Jenkins schlug seine Ausgabe von Thukydides mit einem dumpfen Geräusch zu. »Das reicht für heute«, sagte er. »Ich hege keine Zweifel, dass Sie mir morgen einen vorzüglich scharfsinnigen Aufsatz über dieses Kapitel vorlegen werden.«

Morgen? Die Wärme, die sein Lob in ihr auslöste, verflüchtigte sich rasch. Wenn sie den Aufsatz morgen abliefern sollte, stand ihr eine weitere Nacht an ihrem Schreibtisch bevor. Die Nachtschichten mehrten sich allmählich schneller als in Chorleywood.

Sie beobachtete Jenkins verstohlen, während sie ihren Füller und das Notizbuch in ihrer Tasche verstaute. Es hatte sie überrascht, dass der Professor trotz all der Jahre trockener akademischer Korrespondenz mit ihrem Vater noch so jung wirkte. Er war schlaksig und sein Gesicht dank eines Lebens in dämmrigen Archiven nur von wenigen Falten durchzogen. Außerdem war er recht sprunghaft, eben noch tief in Gedanken versunken, und im nächsten Augenblick äußerte er eine scharfe Beobachtung. Ihn zu handhaben könnte eine ziemliche Herausforderung werden.

Das Scheppern von Metalltöpfen drang aus der Bäckerei zu ihnen herauf.

Jenkins zwickte sich den Nasenrücken. »Kommen Sie das nächste Mal bitte in mein Büro in St. John’s«, sagte er.

St. John’s. Eines der ältesten und vermögendsten Colleges in Oxford. Es hieß, dass allein die Weinsammlung so wertvoll sei wie die Kronjuwelen.

»Aber ohne Stricknadeln und Garn«, sagte Jenkins. »Verstanden?«

Mit einer verstimmten Mrs Forsyth im Schlepptau eilte Annabelle nach dem Unterricht durch die Prachtstraße St. Giles. Gern hätte sie Zeit zum Schlendern gehabt, um die bezaubernden Sandsteingebäude zu betrachten, die die Straße säumten, aber sie wollte nicht zu spät zum Suffragistinnen-Treffen kommen. Dennoch spürte sie das jahrhundertealte Wissen und den geheimnisvollen Hauch, den die verwitterten Gebäude ausstrahlten. Vor ein paar Tagen hatte sie verstohlen einen Blick hinter eine der mittelalterlichen Türen in den Mauern geworfen und einen der schönen Gärten in den Colleges für männliche Studenten entdeckt, eine kleine Insel aus exotischen Bäumen, spät blühenden Blumen und versteckten Nischen, verschlossen wie ein Juwel in einem Schatzkästchen. Vielleicht würde sie es eines Tages wagen, sich hineinzuschleichen.

In dieser Woche trafen sich die Suffragistinnen im Hotel Randolph. Hattie und ihre Großtante, die als ihre Anstandsdame fungierte, hatten für das Trimester in dem noblen Hotel eine Suite gemietet und sich als Gastgeberinnen angeboten. Der Gemeinschaftsraum in ihrem College Lady Margaret Hall hätte für ihre kleine Gruppe auch gereicht, aber die Direktorin Miss Wordsworth erlaubte keine politischen Aktivitäten auf dem Universitätsgelände. »Ich toleriere die Geldgeber Ihres Stipendiums, aber nutzen Sie das Vertrauen, das die Universität in Sie setzt, weise«, hatte sie Annabelle während ihres ersten Gesprächs geraten. Miss Wordsworth war eine interessante Frau. Sie zahlte aus eigener Tasche Tutoren, um Frauen eine höhere Bildung zu ermöglichen, aber sie sah keinen Grund, sich für das Frauenwahlrecht einzusetzen.

»Was genau versucht Ihr Verein eigentlich zu bezwecken?«, fragte Mrs Forsyth schnaufend. Ah, wenn sie solche Dinge sagte, ähnelte sie auf unheimliche Weise Annabelles Tante May. Was genau versucht mein Neffe damit zu bezwecken, wenn er dir eine solch übermäßige Bildung angedeihen lässt? Etwas in diesem Sinne hatte Tante May täglich in den langen Wintermonaten gebrummelt, die sie zusammen im Norden des Landes verbracht hatten. Hatte sie sich deshalb Mrs Forsyth aus der Liste der vom College gebilligten Anstandsdamen ausgesucht? Unauffällig musterte sie die Frau aus dem Augenwinkel. Durch die kleine Brille, die auf ihrer Nasenspitze thronte, ähnelte sie Tante May tatsächlich auch äußerlich ein wenig.

»Wir wollen die Regierung dazu bringen, dass das Eigentumsgesetz für verheiratete Frauen angepasst wird«, erklärte sie. »Damit Frauen ihren Besitz auch nach einer Heirat in ihrem Namen behalten können.«

Mrs Forsyth runzelte die Stirn. »Aber wozu soll das gut sein? Die weltlichen Güter ihres Gatten gehören doch auch ihr?«

»Nicht dem Namen nach«, erwiderte Annabelle bedächtig. »Und da nur Grundbesitzer und Haushaltsvorstände ein Stimmrecht haben, muss der Besitz einer Frau auch auf ihren Namen eingetragen sein, wenn auch sie ein Stimmrecht bei einer Wahl ausüben möchte.«

Mrs Forsyth schnalzte mit der Zunge. »Nun wird mir klar, warum ein hübsches Mädchen wie Sie immer noch ledig ist. Sie sind nicht nur ein Bücherwurm, sondern noch dazu eine politische Aktivistin mit radikalen Ansichten. Keine guten Voraussetzungen für eine Ehefrau.«

»Das ist wohl richtig«, stimmte Annabelle zu, denn es war sinnlos so zu tun, als sei es anders. Sie würde für keinen Mann in ihrem Bekanntenkreis eine gute, gehorsame Ehefrau abgeben. Vermutlich war das schon so, seit sie zum ersten Mal von Männern wie Achilles, Odysseus, Iason gelesen hatte, Helden, Seefahrern und Halbgöttern, die sich auf den sieben Weltmeeren auskannten. Männer, die sie mit auf ein Abenteuer nehmen könnten. Vielleicht hätte ihr Vater ihr statt der Ilias lieber das Märchen von Dornröschen zum Lesen geben sollen, dann wäre ihr Leben wohl ganz anders verlaufen.

Gerade noch rechtzeitig traf Annabelle bei der Versammlung im Randolph ein. Lucie kramte in einer Tasche, die neben einem kleinen Pult stand. Ein Dutzend Damen saß im Halbkreis vor dem Kamin und unterhielt sich. Der Kamin war hübsch, aus rosa Marmor. Über dem Sims hing ein großer, goldgerahmter Spiegel. Blattgold vermutete Annabelle, während sie ihren Mantel einem Dienstmädchen reichte.

Hattie war nirgendwo zu entdecken, doch jeder Stuhl war besetzt. Nur auf dem Sofa, neben einer jungen Frau in einem abgetragenen Plaid, war noch ein Platz frei. Das karierte Manteltuch erkannte Annabelle wieder. Die Frau war auch auf dem Parliament Square gewesen – Lady Catriona Campbell. Sie war keine Studentin, sondern Assistentin ihres Vaters, Alastair Campbell, einem Professor in Oxford und schottischem Grafen, dem eine Burg in den Highlands gehörte. Und nun überraschte Lady Catriona sie damit, dass sie Annabelle zu sich winkte und ein Stück zur Seite rückte, um ihr mehr Platz zu machen.

Blicke folgten ihr, als sie zu dem Sofa hinüberging. Ja, sie war sich bewusst, dass ihr Tageskleid schlicht und altmodisch war. Zwischen den seidenen, eng geschnittenen Roben der Damen musste sie wie ein Relikt aus der Vergangenheit wirken, allerdings nicht so antik wie das Schultertuch von Lady Campbell.

Behutsam setzte sie sich auf das Samtpolster.

»Ich glaube, wir sind uns noch nicht vorgestellt worden«, sagte sie zu Lady Campbell. »Ich bin Annabelle Archer.«

Die Frau sah nicht aus wie die Tochter eines Grafen. Ihr Gesicht wurde von einer großen runden Brille halb verdeckt, und ihr schwarzes Haar war zu einem einfachen Dutt geschlungen. Außerdem trug sie ihr Tuch eher wie eine Schildkröte ihren Panzer.

»Ich kenne Sie«, erwiderte Lady Campbell. »Sie sind das Mädchen mit dem Stipendium.«

Der schottische Akzent milderte ihren sachlichen Ton.

Annabelles Lächeln schien sie zu ermutigen, denn ihre rechte Hand tauchte unter dem Tuch auf. »Sag Catriona zu mir. Ich habe gesehen, dass du in der vergangenen Woche versucht hast, den Herzog von Montgomery für unsere Sache zu gewinnen. Das fand ich ziemlich mutig.«

Montgomery. Der Name brachte die Erinnerung wieder zurück – sein aristokratisches Gesicht mit der hochnäsigen Miene, der kalte Blick, sein fester Griff, mit dem er sie vor dem Sturz bewahrt hatte … Sie war nicht stolz darauf, aber die Begegnung hatte sie so sehr beschäftigt, dass sie ihn im Adelskalender Annals of the Aristocracy nachgeschlagen hatte. Wie bei jedem Herzog, der etwas auf sich hielt, ging sein Stammbaum in gerader Linie zurück zu Wilhelm dem Eroberer. Seine Vorfahren hatten den Thronanwärter im Jahr 1066 dabei unterstützt, das Gesicht und die Geschicke des Königreichs zu verändern. Im Laufe der Jahre hatte Montgomerys Familie noch mehr Landbesitz und Vermögen angehäuft. Mit neunzehn Jahren war er Herzog geworden. Ziemlich jung für einen Mann, der einen großen Teil des Landes besaß, aber beim Gedanken an seine herrische Art fiel es ihr schwer, sich vorzustellen, dass er jemals ein Kind gewesen war. Vielleicht war er wie ein blonder griechischer Halbgott bereits ausgewachsen auf die Welt gekommen …

»Meine Damen.« Lucie schlug einen dicken Papierstapel auf ihr Pult. Zufrieden, dass die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sie gerichtet war, ließ sie einen finsteren Blick über die Runde schweifen. »Unsere Mission ist jetzt noch schwieriger geworden. Der Herzog von Montgomery ist der neue Wahlkampagnenberater der Torys.«

Tja, wenn man vom Teufel sprach.

Entsetztes Gemurmel erhob sich im Raum. Annabelle wusste, dass manche Torys bereit waren, für das Frauenwahlrecht zu stimmen, aber die meisten waren dagegen. Bei den Mitgliedern der konkurrierenden Liberal Party verhielt es sich genau umgekehrt: Die meisten befürworteten das Frauenwahlrecht, nur wenige sprachen sich dagegen aus. Der mächtige Herzog unterstützte somit die falsche Partei.

Lucie kam mit dem Papierstapel hinter dem Pult hervor. »Dramatische Umstände erfordern drastische Maßnahmen«, sagte sie und verteilte die Blätter. »Ich schlage daher vor, dass wir die Regierungsmitglieder von jetzt an in ihren Büros aufsuchen, nachdem wir vorher alles Wissenswerte über sie herausgefunden haben: ihre Vorlieben, Abneigungen und vor allem ihre Schwächen. Dann können wir unsere Strategie gezielt auf jeden Mann abstimmen. Hält er sich für einen Rechtsexperten? Dann können wir mit Plato argumentieren. Nimmt er an, dass seine Kinder darunter leiden müssten, wenn seine Ehefrau das Wahlrecht erhält? Erzählt ihm, dass unabhängige Frauen bessere Mütter abgeben. Kurz gesagt, meine Damen, kennt eure Feinde.«

Annabelle nickte. Strategie und Manipulation führten gewöhnlich zum Ziel.

Das Blatt, das Lucie ihr reichte, war ordentlich in Abschnitte eingeteilt: allgemeine Merkmale, Abstimmungsverhalten, Skandale und Gerüchte …

Verflixt. An solche Informationen kam sie in ihren Kreisen kaum heran. Sie würde die Skandalpresse und öffentlich verfügbare Archive durchstöbern müssen, bloß wann? Die Studienaufgaben und die Nachhilfestunden, die sie gab, um Gilbert Geld schicken zu können, sorgten jetzt schon dafür, dass sie bis spät in die Nacht arbeiten musste.

Die Tür zum Vorzimmer öffnete sich quietschend, und Hattie schlich sich ins Zimmer. Lucie schenkte ihr einen finsteren Blick, und sie lächelte entschuldigend, ehe sie sich neben Annabelle setzte, in eine Wolke aus teurem Parfüm gehüllt.

»Guten Morgen, Catriona, Annabelle«, trällerte sie. »Ich bin zu spät. Was habe ich versäumt?«

Annabelle reichte ihr das Blatt. »Wir sollen einflussreiche Männer ausspionieren.«

»Wie aufregend. Oh, damit könnte man auch ein fabelhaftes Handbuch geeigneter heiratswürdiger Junggesellen erstellen!«

Ein verächtliches Schnauben drang aus Lucies Richtung zu ihnen herüber. »Heiratswürdige Junggesellen? Hast du denn bei unseren Treffen gar nicht aufgepasst?«

Hattie hob empört die Augenbrauen.

»Kein Mann ist eine gute, heiratswürdige Partie, solange eine Frau in dem Augenblick, in dem sie ihm ihr Jawort gibt, sein Eigentum wird«, erklärte Lucie mit Nachdruck.

»Es stimmt jedoch, dass Mütter, die ihre Töchter verheiraten wollen, über eine Menge der gewünschten Informationen verfügen«, wagte sich Lady Henley von der Couch gegenüber vor.

»Beschaffen Sie sich die Informationen auf jede erdenkliche Weise«, gestand Lucie zu. »Aber bitte nicht durch eine Ehe.«

»Wie kommst du auf den Gedanken, dass die Parlamentsmitglieder uns empfangen werden?«, wollte Catriona wissen.

»Im März wird gewählt. Politiker geben sich in den Monaten davor gern bürgernah.« Lucie wandte sich an Annabelle; ihr elfenhaftes Gesicht zeigte eine erwartungsvolle Miene. »Was hältst du von diesem Ansatz?«

»Die Idee ist hervorragend«, sagte Annabelle aufrichtig.

Lucie lächelte zufrieden. »Du hast mich inspiriert. Nachdem du Montgomery angesprochen hast, als wäre er ein normaler Sterblicher wie unsereins, bin ich einen Schritt zurückgegangen und habe unsere Strategie mit frischem Blick betrachtet.«

»Informationen über Montgomery zu bekommen wird nicht einfach werden«, meinte Hattie. »Er ist zwar geschieden, und wir alle wissen, dass er sein altes Schloss zurückhaben will. Aber in der Klatschpresse steht über ihn rein gar nichts, und ich habe alle Blätter gelesen.«

Lucie zog die Nase kraus. »Weil er ein Günstling der Königin ist, deshalb traut die Presse sich nicht an ihn heran. Nein, bei ihm müssen wir zu drastischeren Maßnahmen greifen. Catriona, gibst du seinem Bruder, Lord Peregrin, nicht Nachhilfestunden?«

Catriona schüttelte den Kopf. »Das war im letzten Trimester, in der Hieroglyphenschrift.«

»Hervorragend«, sagte Lucie. »Dann finde eine Ausrede, warum sich eure Wege noch einmal kreuzen, und dann umschmeichelst du ihn …«

Catriona machte eine bestürzte Miene. »Ich? Oh nein.«

Lucie verengte die Augen zu Schlitzen. »Und warum nicht? Ihr seid bereits bekannt.«

»Ich habe ihm bloß die Hieroglyphenschrift beigebracht«, murmelte Catriona. »Das ist ganz etwas anderes als …«

»… ihn zu umschmeicheln«, ergänzte Hattie.

»Aber …«

Catriona machte Anstalten, sich in ihrem Plaid zu verkriechen.

»Schon gut«, sagte Lucie brüsk. »Dann wird sich eben Annabelle darum kümmern.

Erstaunt blickte Annabelle auf. »Ich?«

»Wenn du so freundlich wärst.«

»Es tut mir leid, aber mir fällt kein einziger Grund ein, wie ich mit Seiner Lordschaft Bekanntschaft schließen könnte.«

Lucie wirkte verärgert. »Du brauchst doch keinen Grund. Du bist die Schönste von uns allen. Gib dich unendlich beeindruckt, egal, was er sagt, und schon vertraut dir jeder junge Mann aus freien Stücken all seine Geheimnisse an.«

»Ich bin nicht …«, fing Annabelle an, doch Hattie schnitt ihr das Wort ab.

»Oh doch, das bist du«, sagte sie heiter. »Du bist wirklich hübsch und liebreizend. Ich habe schon überlegt, dich zu fragen, ob du mir für meine Helena von Troja Modell sitzen würdest. Wärst du dazu bereit?«

Annabelle blinzelte verwirrt. »Wie bitte? Ich verstehe nicht.«

Hattie spreizte ihre Finger. »Ich studiere die schönen Künste. Ich male. Zum Glück gibt es Handschuhe, ich habe die geschundensten Hände von ganz England.«

Nein, das sind meine Hände, dachte Annabelle. Die Schwielen würden wohl nie wieder verschwinden. »Ich fühle mich geehrt«, sagte sie, »aber ich habe leider keine Zeit, um dir für ein Gemälde Modell zu sitzen.«

»Ich muss es im nächsten Trimester abgeben«, erklärte Hattie. In ihre runden Augen trat ein flehender Blick.

Lucie räusperte sich. »Lord Peregrin«, sagte sie. »Finde eine Möglichkeit, ihn kennenzulernen.«

Die Frauen tauschten unschlüssige Blicke.

»Wenn wir etwas von Lord Peregrin wollen, müssen wir ihm im Gegenzug etwas anbieten«, stellte Annabelle das Offensichtliche fest.

»Wir könnten ihn bezahlen«, schlug Hattie vor.

Annabelle schüttelte den Kopf. »Er wird wohl kaum Geld benötigen.«