Die rechtlosen Rattenfänger vom Redonda Ritz - Paul Werner - E-Book

Die rechtlosen Rattenfänger vom Redonda Ritz E-Book

Paul Werner

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Beschreibung

KD Fischler, ehemals BKA, jetzt FKK (frei käuflicher Kop) in der Karibik, seiner neuen Heimstatt, ermittelt mit seinem Team von Gesetzlosen den Fall eines brutalen Vierfach-Mordes. Die Jagd nach den Tätern führt sie auf seiner Yacht Yellow Dancer II kreuz und quer über die Kleinen Antillen und endet da, wo sie begann: auf der winzigen unbewohnten, schaurigen Felseninsel Redonda. Feuer und Farbe der karibischen Hinterhöfe kontrastieren in dieser fesselnden und mit viel schwarzem Humor erzählten (fast) wahren Geschichte mit der obszönen Kahlheit des Tatortes ebenso wie mit der spleenigen Gediegenheit der Kanalinsel Guernsey, auf der Fischler die Drahtzieher vermutet. Die rechtlosen "Tänzer" bitten zum tödlichen Tango . . .

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Seitenzahl: 333

Veröffentlichungsjahr: 2025

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INHALTSVERZEICHNIS

1. Wie der Blitz im Ritz.

2. Zwischen den Wassern.

3. Schall und Rauch.

4. Die Totmanns-Rutsche.

5. Ruprechts krasse Knechte.

6. Alles auf die Zehn.

7. Flanagans Jerusalem.

8. Pusser´s schwarze Katz.

9. Gilbert und Sullivan.

10. Die Stichprobe.

11. Fischlers Jericho.

12. Der blaue Malteser.

13. Zu Asche, zu Staub.

14. Schwamm drüber.

15. Hole in One.

16. Schwarz auf Weiß.

17. Das Endspiel.

18. Diéguez Beach.

1. WIE DER BLITZ IM RITZ

Die dunkle Silhouette des wie eine lebensgroße Bronzeskulptur reglos im Scheitelpunkt der etwa 300 Meter hohen Inselkuppe verharrenden Mannes zeichnete sich messerscharf gegen den milchigen Schein der soeben aufgegangene Sonne ab.

Kopf und Torso der „Statue“ waren einer westlichen Gewitterfront zugewandt, die, jeder meteorologischen Logik Hohn sprechend, bedrohlich schnell gegen den über die Kuppe fegenden Nordost-Passat zu ziehen schien.

Das winzige kahle Inselchen, dessen abweisende Basaltfelsen vor Jahrtausenden von einem unterseeischen Vulkanausbruch an die Oberfläche gehoben worden waren, lag genau in der Zugbahn der schwarzen Wolkenwalze, der grelle, sich auf dem Weg nach unten mehrfach verästelnde Blitze vorauseilten.

Sowohl der spärliche Haarschopf des Mannes als auch sein etwas zu weit ausgefallenes T-Shirt und die Beine der khakifarbenen Leinenhose begannen in den Gewitterböen so heftig um seinen Körper zu flattern wie Lumpenfetzen um die gekreuzten Stangen einer weit draußen am Ackerhain Wind und Wetter trotzenden Vogelscheuche.

Schließlich sah der Mann die Nutzlosigkeit seines Widerstandes gegen die immer heftiger anrennenden Böen offenbar ein und ließ sich, seine vom Boden aufgelesene Reisetasche fest unter den Arm geklemmt, wie ein Strandsegler vom Wind nach Lee treiben.

Da er bei jedem holprigen Schritt knöcheltief in den dicken, weichen Teppich aus uralter Vulkanasche, neu herangewehtem Staub und verwitterndem Vogelkot einsank, der die vegetationsarmen Felsen bedeckte, glich sein schwerfälliger Gang dem stapfenden Schritt eines zotteligen Yetis im tiefen Neuschnee des Hochgebirges.

Und als fiele ihm sein Fortkommen nicht schon schwer genug, sah sich der Mann auch noch fortwährender Angriffe der um ihre Brut besorgten und im Sturzflug auf ihn herabstoßenden Möwen, Tölpel und Seeschwalben ausgesetzt.

Seine lederne Reisetasche mit dem linken Arm gegen den Leib drückend, ließ der Mann seinen seltsam steif wirkenden rechten Arm kraftlos herabhängen, anstatt ihn zur wirksamen Abwehr der aggressiven Vögel einzusetzen.

Unterdessen hatte sich die schwarze, blitzende und donnernde Gewitterwalze über die Sonnenscheibe geschoben und damit die Insel schlagartig in eine apokalyptische Finsternis gehüllt, die auf Mensch und Kreatur umso unheimlicher wirken musste, als sie sich zu Beginn und nicht am Ende des Tages einstellte und damit den kosmischen Gang der Dinge ad absurdum führte.

Der sich nur unmerklich beschleunigende Gang des Mannes mit der Tasche unter dem Arm war zu einem Wettlauf mit der Zeit geworden. Fand er nicht umgehend einen Unterschlupf, lief er Gefahr, zur mobilen Zielscheibe der unablässig zuckenden Blitze auf zu werden.

In einem solchen Fall würden die Fragen nach dem Wie und Warum der Präsenz dieser erbarmungswürdigen Gestalt auf der notorisch schwer zugänglichen, unbewohnten und allem Anschein nach auch unbewohnbare Felseninsel nie Antwort finden.

Die offenkundige Orientierungslosigkeit, mit der er auf deren, von Bodenwellen durchzogenen „Hochebene“ umherirrte, ließ jedenfalls die Vermutung zu, dass es sich um seinen ersten und womöglich zugleich letzten Besuch handelte.

Ihm die drohende Gefahr unmissverständlich zu vergegenwärtigen, hätte es der anhaltenden, sich krachenden überschlagenden Donnerschläge vermutlich nicht bedurft, deren in Sekundenbruchteilen aufeinander folgende Echos die porös bröckelnden Felswände erschütterten wie ehedem Posaunenstöße die Mauern von Jericho.

Immerhin ließen wenigstens die Vögel von dem Mann ab und verkrochen sich in ihre Nesthöhlen im löchrigen Gestein.

Aus den Augenwinkeln bemerkte der Mann im atemberaubend schnellen Wechsel von blendendem Blitzlicht und blinder Finsternis die Umrisse einer primitiven Baracke, die wie eine Schanzhütte von Noahs Arche durch die Sintflut über Bord gespült und hier auf dem Kamm einer Bodenwelle gestrandet war.

Sogleich lief der Mann unter Aufbieten seiner letzten Kräfte zur Hütte und erreichte deren türlos klaffenden Eingang mit dem Zerplatzen der ersten weintraubengroßen Regentropfen auf das flache dünne Dach, das wie der Rest aus grobem, verwittertem Stein bestand.

Um durch das offene Rechteck in die Hütte zu gelangen, musste sich der Mann, obwohl normalwüchsig, leicht nach vorn beugen.

Im Inneren der steinernen Behausung war es noch dunkler als draußen. Fensterlöcher gab es keine, so dass der penetrante Ammoniak-Gestank hier zögerlich einem feuchten, irdenen Muff wich, der an den klammen Mief einer allzu lange verschlossen gebliebenen Gruft erinnerte.

Im unregelmäßig, aber immer noch in schneller Folge aufflackernden Licht der um die Inselkuppe zuckenden Blitze erkannte der Mann zu seinem Erstaunen Anzeichen dafür, dass dieser ungastlich wirkende Unterschlupf wider alles Erwarten bewohnt schien.

Ein aufgeschnürter Rucksack lag wie eben erst vom Rücken seines Besitzers abgestreifte und achtlos auf einen faltbaren Camping-Schemel geworfen. Drei oder vier offenbar mit Wasser gefüllte PET-Flaschen standen schräg an die der Türöffnung gegenüberlegende Wand gelehnt und ein in der Ecke liegender Plastikbeutel enthielt offenbar Abfall, hauptsächlich leere Konservendosen, deren runde Wandungen und scharfen Deckelkanten da und dort bereits das Plastik durchstoßen hatten.

Der Mann nahm den Rucksack vom Schemel, rückte diesen zur Wand, setzte seine Reisetasche auf den nackten Boden und nahm stöhnend auf der einzigen Sitzgelegenheit der Hütte Platz.

Seufzend und erschöpft schloss er die Augen, während draußen jemand weiterhin den Weltuntergang probte.

Möglicherweise war er mitten in der Apokalypse für einen Moment weggedöst. Jedenfalls ließen ihn die unverkennbaren Geräusche von sich nähernden, im nun feuchten Dreck abwechselnd watenden und saugenden Schritten sowie des stoßweisen Röchelns einer nach Luft ringenden Kreatur wie von der Tarantel gestochen hochschnellen.

Die Erinnerung daran, wo er sich gerade befand, konnte such bei ihm noch kaum eingestellt haben. Die Erkenntnis, dass, was immer da draußen zur Hütte kam, keine noch so dicke Ente war, dürfte ihm jedoch sogleich gedämmert haben.

Wie zur Bestätigung dieses Eindrucks wurde die ganze Breite des Eingangs von einer weiteren, gleichsam sprungbereit geduckten Männergestalt ausgefüllt, die ihren ungeladenen Gast bereits entdeckt zu haben schien.

Kaum hatte das für Augenblicke aussetzende Herz des Mannes auf dem Schemel seine Arbeit wieder aufgenommen, als dieser sich vom gleißend hellen Lichtkegel einer starken Taschenlampe geblendet sah. Instinktiv riss er den linken Arm hoch und bedeckte sein Gesicht mit der Hand, während er sich im Licht wand wie ein vom Vater im Bett von dessen Tochter überraschter Hallodri.

Dann erlosch die Taschenlampe, aber die Blendwirkung hielt noch eine Weile an, bis sich die zusammengezogenen Pupillen des Eindringlings erneut an die relative Dunkelheit angepasst hatten.

Auf den zweiten Blick nahm er die stumme Gestalt da draußen im Blitzlicht-Feuer als nicht nur klatschnass, sondern auch als abgerissen und gleichsam heruntergekommen wahr. Die Kleidung des Mannes hing in tropfenden Fetzen vom Leib. Regenwasser lief in dünnen Bächen von seinen, offenbar dreckverklebten Haaren über sein Gesicht, durch dessen Staubschicht sie regelrechte Furchen zogen.

Wie lange mochte dieser seltsame Zottelige bereits gegen seinen Willen in der deprimierenden Einsamkeit der Insel vor sich hinvegetiert haben, bevor er sich nun so unerwartet einem Besucher gegenübersah wie Robinson seinem Freitag?

Hatte er wirklich den Hubschrauber nicht gehört, von dem der Eindringling mit seiner Reisetasche auf der Kuppe abgesetzt worden war? Oder hielt er sich freiwillig hier auf, so dass es ihn womöglich nicht im Mindesten drängte, diese unwirtliche Insel schnell wieder zu verlassen?

Handelte es sich gar um einen entflohenen Papillon, der hier Zuflucht gesucht hatte, weil er selbst die Hitze der Hölle dem Gefängnis vorgezogen hätte und sich darauf verlassen hatte, dass man ihn hier zuallerletzt suchen würde?

Schließlich schritt die abgerissene männliche Gestalt durch die Öffnung, richtete sich auf und baute sich so dicht vor seinem Gast auf, dass dieser weder dem Mann selbst noch dessen stark nach Rum und Ölsardinen in Tomatensauce riechenden Atem entrinnen konnte.

Nichts auf dieser vermaledeiten Insel schien brauchbar, aber alles stank zum Himmel.

„Sie wissen sehr wohl, was auf Hausfriedensbruch gemäß § 124 StGB steht?“

Der Eindringling wusste nicht, worüber er sich mehr wundern sollte - über den tiefen, heiseren und belegten Bass der Stimme oder über den unerwartet formaljuristischen Inhalt des in deutscher Sprache Geäußerten.

Offensichtlich hatte sein Gegenüber seit langem schon keine Gelegenheit mehr gehabt, sich mit jemandem auszutauschen. Wie konnte er dann wissen, dass sein ungeladener Gast des Deutschen mächtig war? Und wieso fiel ihm als Eröffnung nichts Besseres ein als diese merkwürdige, wiewohl angebrachte Rechtsbelehrung?

Das dröhnende Gelächter, mit dem der Mann seinen offenbar als Scherz gemeinten Hinweis begleitete, schien dem Schlund des Leibhaftigen entwichen.

Dann streckte der Zottel dem Gast seine rechte Hand zum Gruß entgegen. Nicht einfach so, sondern auf eine Weise, die dem Gast keine andere Möglichkeit ließ, als die Hand mit seiner eigenen Linken zu drücken.

„Georg Neumeier, nehme ich an? Willkommen im Redonda Ritz. Ich sehe, Sie lassen nichts anbrennen, sondern sind bereits dabei, es sich gemütlich zu machen. Gut so, gefällt mir, diese manifeste Anpassungsbereitschaft.“

Die sich allmählich normalisierende Stimme des „Hausherrn“ klang für den mit „Neumeier“ titulierten Gast vertraut und zugleich fremd. Die Gesichtszüge waren unter der feuchten Schmutzmaske kaum zu erkennen und auch sonst gab es nichts, was seine Identität zweifelsfrei offenbart hätte.

Bis auf die Mokassins vielleicht und der auf ungewöhnliche Weise angebotene Handshake.

Niemand in diesem Teil der Welt und erst recht kein menschliches Wesen auf dieser gottverlassenen Insel konnte Georg Neumeiers Namen kennen und wissen, dass sein rechter Arm infolge eines Unfalls im Rahmen eines polizeilichen Einsatzes auf der Strecke geblieben war, so dass ihm für die zahlreichen Verrichtungen des Alltags, darunter der Handshake, nur die Linke zur Verfügung stand.

Und Mokassins wie diese würde außerhalb eines Apachen-Reservats wohl auch kein Mensch tragen - hier auf dieser auf Guano gebetteten Insel schon mal gar nicht.

So unwahrscheinlich es im Geiste Sherlocks auch anmutete: hinter der Maske dieser pitschnasse Vogelscheuche konnte nach menschlichem Ermessen niemand Geringerer stecken als ex-Kriminaldirektor („KD“) Fischler, ehedem vom Wiesbadener BKA, jetzt vom westindischen FKK, der Union Früherer Karibischer Kolonien.

„KD? Ich….eh, ich meine….“

„Sagen Sie, was Sie wollen, Georg. Nur kommen Sie mir nicht damit, dass ich mich kaum verändert hätte,“ lachte der pudelnasse KD und schlug Neumeier in einer für ihn eher untypischen Aufwallung von Jovialität gegen die linke Schulter.

„Freut mich, Sie zu sehen. Kommen Sie, setzen wir uns.

Hier, ich habe noch einen zweiten Schemel. Ist ja nicht wie bei armen Leuten. Mann, schiebe ich einen Durst. Kraxle schon seit zwei Tagen da draußen auf der Insel umher wie ein gottverdammter Gecko und atme unablässig diesen stinkenden Staub ein, der sich wie Mehl in die Lungenbläschen setzt. Ein paar Stunden auf Redonda und Sie haben diesen Staub überall im und am Körper. Und ich meine wirklich überall, in jeder Hautfakte, Ritze und Öffnung. Meine Ohren sind vermutlich so verstopft davon, dass ich Ankunft und Abflug Ihres Hubschraubers überhört haben muss. Dann überraschte mich das Gewitter, hab´s einfach nicht kommen sehen, weil ich Unheil nicht aus dem Westen vermutete und ihm so die ganze Zeit den Rücken zukehrte. Moment mal eben.“

Neumeier trat zur Seite, so dass Fischler sich in der Hütte frei bewegen konnte, die mit der Belegung durch zwei Personen bereits ihr maximales Fassungsvermögen erreicht zu haben schien.

Fischler setzte sich, griff blind hinter sich nach einer Wasserflasche und trank sie auf einen Schluck zur Hälfte aus. Dann knipste er seine Taschenlampe an und leuchtete das Innere der Hütte aus, um seinem Gast die ganze Pracht ihrer Einrichtung vor Augen zu führen.

„Nicht gerade Ikea-Style, aber gemütlicher, als man auf den ersten Blick glauben möchte. Sind Sie hungrig? Durstig? Hier drüben steht abgekochtes und in Flaschen gefülltes Trinkwasser und im Rucksack befinden sich noch etliche Dosen mit Ölsardinen, Corned Beef und Baked Beans. Hausmannskost. Aber nach einem Gang über die Insel, so klein wie sie ist, hat man einen Wolfshunger. Und der Nutri-Score von Ölsardinen gehe durch die Decke, sagte man mir. Aber erzählen Sie mal! Wie geht´s dem werten Befinden? Wie war die Reise?“

Fischler schlug Neumeier aufmunternd auf den Schenkel und löschte die Taschenlampe.

„Durst ja, Hunger eher nein, vorläufig,“ fand auch Neumeier allmählich seine Sprache wieder.

Das Gewitter war inzwischen in Richtung Barbuda weitergezogen und die ersten Sonnenstrahlen brachen durch die sich allmählich auflösende Wolkendecke.

Erste krächzende Schreie da draußen verrieten, dass auch die Vogelwelt sich wieder aus ihren Löchern wagte.

„Trinken Sie immer noch diesen teuflischen Rum?“ fragte Neumeier, während Fischler sich eine weitere Wasserflasche griff und ihm hinhielt.

„Sie meinen…Demon´s Share? Nun, ich mag, jedenfalls bei oberflächlicher Betrachtung, die Seiten gewechselt haben. Doch ist das ein Grund, auch seine Gewohnheiten zu ändern? Ich denke nicht.“

Sprach´s und zog seinen Flachmann, den Neumeier noch von ihrer gemeinsamen Zeit in Hamburg kannte, aus der rechten Gesäßtasche.

„Hat seit seinem Einsatz bei den Ermittlungen um den Mord an dem tätowierten Troll ein paar Schrammen mehr aufzuweisen, aber der Inhalt ist von gewohnt hoher Qualität.“

Neumeier nahm den Flachmann entgegen, schraubte den Verschluss auf und nahm einen ordentlichen Schluck. Dann gab er ihn Fischler hustend und tränenden Auges zurück.

„Wo um alles in der Welt sind wir hier?“

„Aber das wissen Sie doch, auf der Insel Redonda. Ihr voller Name, den ihr niemand Geringerer als Christoph Columbus verlieh, ist Santa Maria La Redonda, was so viel bedeutet wie die rundliche Gottesmutter.“

„Ziemlich pompöser Name für diesen öden Felsen.“

Fischler lachte.

„So pompös wie unzutreffend. Obwohl, einen femininen Touch hat sie schon, lockt sie den ahnungslosen Odysseus doch von weitem mit ihren Rundungen und offenbart ihre Ecken und Kanten erst, wenn es für Odysseus zu spät ist. Hätte Columbus sich die Mühe gemacht, hier an Land zu gehen, was sich zugegebenermaßen damals schon nicht unbedingt aufdrängte, wäre ihm zweifellos aufgefallen, dass Redonda keineswegs so rund ist wie Nevis oder die ein Stückchen weiter nördlich gelegene Saba. Eigentlich weist sie eine eher längliche Gestalt auf, fast so wie…ein Schuh. Dessen ungeachtet, hat sich der Name Redonda, der als Toponym auch anderswo in den Antillen vorkommt, hier gehalten. Verständlicherweise, denn Santa Maria wäre ja auch hochgradig missverständlich gewesen. Mehr Rum?“

Neumeier lehnte dankend ab und nahm stattdessen einen Schluck Wasser.

„Rund oder eckig – in diesen…Schuh mag doch kein Mensch schlüpfen.“

„Sagen Sie das nicht. Redonda hat verborgene Schätze und Menschen, die verzweifelt genug sind, begnügen sich bisweilen mit viel weniger. Versuche, sich hier dauerhaft niederzulassen, hat es daher durchaus gegeben. Siedler von Montserrat, denen dort der ewig schweflig fauchende Soufrière und die immerwährend leicht bebende Erde wohl mit der Zeit auf den Senkel ging oder die als Parias von der dortigen Community ausgestoßen worden waren, kamen hierher und brachten eine kleine Herde Wildziegen mit, deren Resilienz diejenige der bald resigniert aufgebenden Siedler bei weitem übertraf.“

„Vielleicht esse ich doch eine Kleinigkeit,“ unterbrach ihn Neumeier.

„Sollten wir uns nicht raus in die Sonne setzen, um schneller wieder zu trocknen?“

„Gute Idee,“ pflichtete Fischler ihm bei und kramte im Rucksack.

„Ölsardinen oder Corned Beef?“

„Weder noch, nur eine Portion Baked Beans, so vorhanden. Mein Magen spielt zurzeit verrückt.“

Sie stellten ihre Schemel nach draußen und ließen ihre Kleidung von Wind und Sonne trocknen.

„Dann haben die Siedler diese Hütte gebaut?“ fragte der bedächtig kauende Neumeier.

„Nein, das waren nicht die Siedler. Als sehr viel später, so um die Mitte des 19. Jahrhunderts, der Run auf Guano einsetzte, der wegen seines Stickstoff- und Phosphorgehaltes als Dünger hochgeschätzt wurde, suchte man weltweit nach Vorkommen in Mengen, die einen systematischen Abbau rentabel erscheinen ließen. Man fand solche vor allem auf vernachlässigten Inseln wie dieser, deren karstige oder Basalt-Oberfläche Unmengen von nistenden und brütenden Seevögeln Zuflucht bot, Vegetation jedweder Art jedoch mangels Scholle und Humus ablehnend gegenüberstand. Denn nur dort, unter solch drastischen Bedingungen, konnte der verwitternde, mit Harnstoff versetzte Vogelkot durch den direkten Kontakt mit dem Gestein die gewünschten chemischen Reaktionen durchlaufen, die zur Stickstoff- und Phosphor-Anreicherung führten. Auf entlegenen Inseln wie Ichaboe vor der namibischen Küste oder auf dem peruanischen Chincha-Archipel häufte sich Guano in unvorstellbaren Schichten von bis zu zehn, zwölf Metern Dicke, so dass der jährliche Abbau locker Mengen von mehreren hundert Tausend Tonnen erreichte.

Eine der Hochburgen des Guano-Handels war übrigens ihr geliebtes Hamburg, wo man schon immer Scheiße zu Geld zu machen wusste.

Die berühmten Flying P-Liner des Reeders Laeisz waren bekanntlich wie geschaffen für den billigen Transport nicht besonders eilbedürftigen Schüttguts wie Getreide oder eben Guano. Kein Wunder, dass Hamburger Firmen wie die Herren Ohlendorff & Co schnell zu den weltweit größten Guano-Importeuren heranwuchsen. Gegen solche Größenordnungen konnte Redonda im Wortsinn nicht anstinken. Dafür lag sie jedenfalls für die Amerikaner der Ostküste näher und regelrecht verstecken musste sich eine jährliche Förderung von rund 7000 Tonnen auch nicht gerade.“

„Heute schwer vorstellbar…“

„Gequirlte Vogelscheiße, die, wenn man so will, eine weitere deutsche Erfindung war. Denn die Düngertauglichkeit des Guanos wurde praktisch von Alexander von Humboldt den landwirtschaftlichen Praktiken südamerikanischer Völker abgeschaut, die den Huono, wie sie ihn nannten, auf ihren Feldern einsetzten. Am Goldrausch, den er damit ausgelöst hatte, wäre von Humboldt steinreich geworden, wenn er diese Welt nicht zu früh verlassen hätte.

Die Erfindung des Kunstdüngers ein halbes Jahrhundert später bereitete der Karriere des Guanos allerdings ein jähes Ende.“

„Aber sieben Tausend Tonnen Vogelmist müssen ja auch erst mal zusammenkommen?“

„Das ist noch das geringste Problem. Die Häufchen, die allein Gänse etwa alle zwanzig Minuten hinter sich lassen, würden so manchen Hund vor Neid erblassen lassen. Kormoran-Kolonien kann man beim Veröden ganzer Schäreninseln durch ihren ätzenden Kot in Schweden regelrecht zusehen. Und wem Möwen mal auf die Klamotten geschissen haben, der vergisst das auch nicht so schnell wieder. Nicht die schiere Menge Vogelkot ist das Thema, sondern die längeren Zeiträume benötigende ungestörte Verwitterungsprozess auf der richtigen Unterlage, um den geht es.“

„Verstehe, und zum Abbau brauchte es natürlich Arbeitskräfte….“

Fischler nickte.

„Darauf können sie wetten. Um die Jahrhundertwende schufteten hier im Tagebau nicht weniger als zweihundert vermutlich schlecht bezahlte Arbeiter. Die bauten nicht nur das Redonda Ritz, sondern erstellten eine primitive, aber funktionstüchtige Infrastruktur mit weiteren Hütten und sogar einer Lasten-Seilbahn, die den Guano schneller in die unten im Wasser dümpelnden Leichter verlud, von denen er zu den auf Reede liegenden Schiffen transportiert wurde.

Als sich der Abbau nicht mehr lohnte, ließ man wie auf vorläufig eingemotteten Kernkraftwerke für alle Fälle noch Anlagen, Gerätschaften und eine Handvoll Leute als Stallwache zurück, bis Ende der zwanziger Jahre der schwarze Freitag einerseits und ein besonders heftiger karibischer Hurrikan andererseits dem Treiben hier endgültig den Stecker zogen. Das ist jetzt also knapp ein Jahrhundert her. Damals gab man Hurrikans noch keine Namen.“

„Zweihundert Arbeiter? Hier? In solchen Hütten? Ich fühle mich zu zweit schon beengter als in einer Gefängniszelle. Die Vorstellung, in einer solchen Bleibe zusammen mit, was, zehn anderen hausen zu müssen, jagt mir kalte Schauer den Tücken runter.“

„Und da haben wir von den Ratten noch gar nicht mal geredet.“

Neumeier saß plötzlich kerzengerade.

„Ratten? Welche Ratten?“

„Die Ratten, die von den Bergleuten und Schiffen eingeschleppt worden waren. In Ermangelung natürlicher Feinde vermehrten die Nager sich rasend, so dass irgendwann sechzig Ziegen und zweihundert Menschen rund sechs tausend Ratten gegenübergestanden.“

„Um Gottes willen!“

„Ich denke, der Allmächtige sieht sich nicht als kosmischer Kammerjäger, sondern billigt Ratten dasselbe Recht auf Leben zu wie Ihnen und mir.

Die Konsequenzen für die Insel waren allerdings verheerend. Während die Ziegen die noch vorhandene Rest-Flora auf Jahrzehnte vernichteten, weil sie alles mit Wurzel, Stumpf und Stiel zu fressen pflegen, lebten die Ratten vornehmlich von den Vogeleiern sowie von den endemischen Eidechsen und Zwerg-Geckos wie diesem neugierigen Bürschchen hier,“ sagte Fischer und streifte das winzige Tier mit einem Finger vorsichtig von seiner Hose.

„Ratten sind schlau. So suchen sie des Nachts gern die Nähe schlafende Vögel, nagen diese an und trinken das aus der kleinen Wunde tröpfelnde Blut. Die Wunde wird vom Vogel kaum wahrgenommen und verheilt, bis sie wieder melkbereit ist.“

„Und wie viele davon gibt es hier heute noch?“

„Von was? Ratten? Keine einzige, wurde mir glaubhaft versichert. Und da mir im Laufe meines mehrtägigen Aufenthaltes hier noch kein Nager begegnet ist, bin ich geneigt, dieser Zusicherung Glauben zu schenken. Amerikanische Naturschützer die Redonda gern wieder in den Zustand versetzen möchten, in dem sie sich befand, als Columbus hier vorbeischaute, rotteten die Nager mit hunderten von überall aufgestellten Fallen regelrecht aus. Wie es scheint, konnten die Ratten dem süßlichen Geruch der mit Frostschutzmitteln versetzten Köder einfach nicht widerstehen.“

„Und die Ziegen?“

Die brachten die Amis aufs Festland, um den dortigen Gen-Pool um die ausgewiesene Resilienz dieser feralen Rasse zu bereichern.“

„Eindrucksvoll. Habe ich Sie richtig verstanden? Nannten Sie diese erbärmliche Hütte tatsächlich das Redonda Ritz?“

Fischler lachte.

„Ein Scherz, Neumeier. Die geringe Größe einer Insel allein schützt nicht vor der Torheit inflationärer Namensgebung. Nehmen Sie zum Beispiel Fair Isle, eine winzige Insel oben im Atlantik zwischen den Shetlands und den nördlichen Orkneys, können Sie an einem guten Tag dreimal umlaufen. Trotzdem verzeichnet eine ältere Karte dort gut und gerne mehrere Dutzend Toponyme, als handele es sich um, sagen wir, Irland. Fast jeder Fels, jede noch so kleine Einbuchtung der Küste oder bescheidene Bodenerhebung trägt einen eigenen Namen. Aber dazu bedarf es natürlich einer, wenn auch nicht sehr zahlreichen ständigen Bevölkerung, die nach und nach solche Namen erfindet und verleiht.

Redonda hatte bestenfalls Laufkundschaft, die, wenn überhaupt, nur spöttische Toponyme zu verleihen bereit war. Sie reflektieren ironische Weise die ausgesprochene Ungastlichkeit der Insel.

Das Ritz, sprich diese einzige überlebende Hütte, steht zum Beispiel auf dem Mogul Point. So nannten ihn Arbeiter offenbar nach einem alten irischen Erz-Bergwerk. Und eine der schroffen Steilwände auf der Leeseite der Insel heißt Diéguez Beach, obwohl ich niemand raten würde, dort ein Sonnenbad zu nehmen. Aber lassen wir das. Ich fragte nach Ihrer Reise.“

„Meine Reise? Gefühlt endlos. Nachdem wir uns in Hamburg voneinander verabschiedet hatten, rechnete ich, ehrlich gesagt, nicht mehr damit, je wieder von Ihnen zu hören - aus den Augen…und so weiter. Insofern war ich schon ziemlich baff, als Sie mich baten, in die Karibik zu kommen. Woher wussten Sie, dass ich einen Antrag auf Invalidität gestellt und das LKA Hamburg verlassen hatte?“

Fischler winkte ab.

„Ich bitte Sie, das war doch abzusehen, nur eine Frage der Zeit. Was macht übrigens Ihr früherer Chef, der gute alte….Wie hie0 er noch gleich?“

„Wagenschmied.“

„Richtig. Der gute alte Wagenschmied?“

„Wartet, soweit ich weiß, immer noch auf seine Ernennung zum Kriminaldirektor. Nun ja. Um auf Ihre Bitte zurückzukommen. Ich sagte mir: Georg, warum zögerst du? Was hast du zu verlieren? Die langen einsamen Abende vor dem Fernseher, den gelegentlichen Kaffeeklatsch mit früheren Kolleginnen unter den Rathaus-Arkaden oder das Gedränge im siffigen Hauptbahnhof? Ich machte mich also auf die Socken und hielt mich dabei genau an Ihre Vorgaben: TGV nach Lille, Eurostar nach London, Victoria Station und Flieger von Gatwick nach St. John´s, Antigua. Dort übernachtet und heute Morgen in aller Herrgottsfrühe mit dem Heli hierher. Ich hatte mich zwar auf Google Earth ein wenig über die Insel informiert, aber dass mein Sprungbrett in die Karibik ein, mit Verlaub, von oben bis unten zugeschissener Steinhaufen sein würde, damit hatte ich dann doch nicht gerechnet. Kann ich noch einen Schluck Rum….“

Fischler reichte ihm den Flachmann.

„Gemach, Georg. Hitze und Alkohol vertragen sich nicht so gut, wissen Sie. Es bedarf schon einer gewissen Eingewöhnung.“

„Apropos, wie geht´s Laura? Wo ist sie gerade?“

„Solange ich nichts von ihr höre, gehe ich davon aus, dass sie okay ist. Wo sie gerade abhängt, weiß nur der Allmächtige. Und der hält dicht.“

„Nun, als der Hubschrauber ohne mich wieder aufstieg, abdrehte, in der Ferne verschwand und nichts von Ihnen zu sehen war, kam ich mir vor wie der Astronaut auf dem Mars, der den letzten Erd-Shuttle dieses Jahrzehnts verpasst hat und nun einer kleinen Ewigkeit allein in einem absolut lebensfeindlichen Milieu entgegensieht. Und dann kam auch noch dieses Gewitter wie aus dem Nichts. Ich dachte schon, die schwarzen Wolken hüllen mich ein und tragen mich weit hinaus auf die See.“

„Das könnte Ihnen so passen. Und jetzt?“

„Jetzt? Wenn ich Sie mir so ansehe, bis zur Unkenntlichkeit in Staub und Schmutz gebacken und wie diese ganze Insel nach Ammoniak riechend, stelle ich mir die Frage, ob ich unter den Arkaden oder selbst auf dem Bahnhofsklo nicht doch besser wegkäme als hier mit Ihnen abzuhängen. Was machen Sie eigentlich auf Redonda und weshalb haben Sie mich hierher gelotst?“

„Eins nach dem anderen, Georg. Von Lotsen kann doch wohl keine Rede sein. Ich hab´ Ihnen keine siebzig Jungfrauen für den Fall in Aussicht gestellt, dass Sie mein Angebot zur Mitarbeit annehmen. Wobei ich mal ganz davon absehe, dass Sie nach meinem persönlichen Eindruck schon von einer weit geringeren Anzahl solcher Damen hoffnungslos überfordert wären. Ich entschuldige mich für die Beschwerlichkeit der Anreise, aber ich musste sicher sein, dass Ihnen niemand folgen würde.“

„Das hätte wohl auch dann niemand getan, wenn ich das Ziel meiner Reise auf YouTube an die große Glocke gehängt hätte…. Nein, im Ernst, es ist mir kein Mensch gefolft.“

„Sagte das Kaninchen, kurz bevor es vom Pfeil des Jägers getroffen wurde.“

„Türkisches Sprichwort?“

„Konfuzius.“

Sie schwiegen eine Weile und blickten ins Leere, sprich ins Einzige, von dem es hier neben Guano mehr als genug zu geben schien.

„Die Tage hier fühlen sich kürzer an als uns die klugen Astronomen und Meteorologen glauben machen,“ murmelte Fischler.

„Ist dem so? Ich hätte wetten mögen, dass einem jeder Tag hier wie eine Woche vorkommt….“

„Früher war gefühlt einfach mehr Dämmerung, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

„Ich hatte eigentlich gehofft, wir würden vor Sonnenuntergang wieder zurück in der Zivilisation….“

„Das können Sie sich abschminken. Abgeholt werden wir erst morgen früh und nicht vom Heli. Tut mir leid, aber eine Nacht werden Sie es mit mir zusammen auf Redonda aushalten müssen.“

„Es gibt wohl Schlimmeres. Aber nicht viel. Als Sie mir eine Mitarbeit in Ihrer Agentur anboten, sah ich mich bereits an einem so gut wie menschenleeren Strand mit feinem, weißem Sand im Schatten von Palmen liegend Daiquiris aus hohlen Kokosnüssen schlürfen.“

Fischler lachte.

„Stattdessen sitzen Sie in einem Rattenloch und schlürfen den letzten Tropfen Demon´s Share aus einem Flachmann. Das nenne ich mal knapp am Ziel vorbeigeflogen. Hier, nehmen Sie noch einen für die Oma..“

Fischler reichte Neumeier den Flachmann mit dem gallischen Zaubertrank.

„Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich fühle mich hinreichend schockgetrocknet und würde mich gern wieder in den kühlen Schatten der Hütte zurückziehen.“

Neumeier hatte den Kopf in den Nacken geworfen und hielt den Flachmann fast vertikal an die Lippen, damit nur ja kein Tröpfchen übrigbliebe.

„Einverstanden. Lieber noch feucht im Schritt als weich in der Birne.“

Sie trugen die Klappschemel wieder in die Hütte mit den Mienen zweier deutscher Rentner, die, erstmals in London, gerade einem Cricket-Match zugesehen hatten, aber kopfschüttelnd an den esoterischen Regeln des Spiels gescheitert waren.

„Wie sollen wir hier schlafen? Auf dem nachten Boden?“

Fischler nickte.

„Auf die harte. Dort neben dem Abfallbeutel liegen zwei zusammengerollte Schlafsäcke. Die dazu passenden Daunenkissen habe ich leider einzupacken vergessen.“

Fischler gähnte lauthals.

„Sorry, ich bin anscheinend menschlicher Gesellschaft bereits entwöhnt. Dass das so schnell geht, scheint mir kein gutes Omen für unsere Rasse im Allgemeinen. Noch etwas Wasser, vielleicht…? Hier, diese Flasche trägt Ihren Namen- Ich selbst bin nicht so scharf auf Wasser, wie Sie sich vielleicht erinnern werden. Anonymer Aquatiker, sozusagen.“

Wieder schwiegen sie eine Weile. Schließlich blickte Neumeier auf seine Armbanduhr.

„Verflixt, ich vergaß, die Uhr umzustellen…“

„Beim letzten Ton des Zeitzeichens war es fünfzehn Uhr dreiunddreißig Ortszeit.“

„Dann haben wir doch noch ein paar Stunden bis zum Sonnenuntergang. Wir können entweder durchs Städtchen flanieren und irgendwo auf der Terrasse des Café du Chocolat an unseren ungesüßten Cappuccinos nippen. Oder, ganz verrückter Gedanke - Sie verraten mir, was zum Teufel Sie hier treiben und weshalb ich hier bin.“

Fischler überlegte nicht lange.

„Sagen wir so: ich bin auf der Jagd nach Ratten, zweibeinigen, wohlgemerkt. Das ist die Kurzfassung, die Sie vermutlich nicht völlig zufriedenstellen wird. Die ausführliche Version nimmt naturgemäß etwas mehr Zeit in Anspruch, weshalb ich sie eigentlich erst für morgen eingeplant hatte. Außerdem handelt es sich um eine grimmige Moritat, die sich auf nüchternen Magen wahrscheinlich noch eine Spur gruseliger anhört.“

„Machen Sie sich da mal keine Sorgen, KD. Gar so nüchtern fühlt sich mein Magen zurzeit nicht an. Und was die uns zur Verfügung stehende Zeit betrifft, haben wir genug davon, um abwechselnd sowohl Ilias als auch Odyssee zu rezitieren, wenn wir es dann könnten. Verglichen damit dürfte ihre bleiche Moritat doch wohl eher kurz ausfallen, oder?“

Fischler lächelte.

„Ah, Homer, das sagen Sie was, Georg. Obwohl, von der ganzen Situation her wäre vermutlich eher Marlowe einschlägig. Joseph Conrad kennen Sie, oder? Herz der Finsternis. Marlowe ist sein Erzähler vom Dienst, der seinen Zuhörern die Wartezeiten zwischen den Tiden auf der Themse mit seinen Geschichten auszufüllen pflegt.

Ein Rahmen, der Homer gefallen hätte. Doch da er im Gegensatz zu seinem Protagonisten weder real noch gedanklich je übers Mittelmeer hinausgekommen sein dürfte, kannte er keine Tiden. Ich bin kein Marlowe und schon gar kein Homer. Bei mir müssen Sie sich eher auf die eine oder andere epische Längen gefasst machen. Sagen Sie nachher nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.“

2. ZWISCHEN DEN WASSERN

„Es war einmal ein wohlhabendes englisches Brüderpaar namens Henry und George Richardson, eineiige Zwillinge und auch im vorgerückten Mannesalter von Mitte fünfzig nur für ihre Nächsten jederzeit an winzigen körperlichen Merkmalen und individuellen Marotten eindeutig voneinander zu unterscheiden.

Die beiden hatten, so schien es, genau zum rechten Zeitpunkt von ihren, bei einem Autounfall in Marseille ums Leben gekommenen Eltern nicht nur die seit Urzeiten in Familienhand befindlichen Liegenschaften - allen voran das Tudor Manor - auf der Kanalinsel Guernsey geerbt, sondern waren obendrein in den Besitz eines „mobilen“ Vermögens in Form von Wertpapierdepots und Bankguthaben gelangt. Diese vorerst nicht versiegenden finanziellen Quellen ermöglichten es den beiden passionierten Seglern, ihre jeweilige Berufstätigkeit - der eine war Anwalt, der andere Steuerberater – an den Belegnagel zu hängen, um fortan zusammen mit ihren Frauen Judith und Barbara auf ihrem, ebenfalls aus der Erbmasse stammenden vintage Gaffelschoner Southern Seas die Ozeane zu durchpflügen.“

„Beneidenswert,“ kommentierte Neumeier versonnen.

„Was zeichnet einen…Gabel…?“

„Gaffelschoner. Der Name kommt von den gabelartigen Stengen, die das rechteckige Großsegel halten. Schoner sind Zweimaster, deren Fockmast entweder niedriger ist als der Großmast oder die gleiche Höhe wie dieser aufweist. Unter dem Strich ein anspruchsvoller Yachttyp, der in Nordeuropa häufiger anzutreffen ist als im Süden. Müsste Ihnen als Hamburger eigentlich bekannt vorkommen.“

„Bin ja auch nur Wahl-Hamburger und selbst unter den waschechten Hummels gibt es vermutlich solche, die einen Gaffelschoner nicht vom Gabelstapler unterscheiden können.“

„Das mag so sein, kann ich nicht beurteilen. Beneidenswert, sagten Sie? Nun ja, wie man´s nimmt. Hienieden streben alle Dinge nach Ausgleich, sagt Konfuzius. Am 13. Februar dieses Jahres hielt sich die Sothern Seas aus Gründen, über die wir bis zum Ende unserer Tage wohl nur spekulieren können, gegen Mittag hier in diesen Gewässern um Redonda auf. Wie wär´s jetzt mit einem Schluck Wasser? Man dehydriert hier sehr schnell, ohne es zu merken.“

Neumeier schüttelte den Kopf.

„Danke, aber wenn Sie da in Ihrem Rucksack noch ein paar Ölsardinen hätten, wäre ich ein freudiger Abnehmer.“

„Klar. Hier, nehmen Sie sich selbst eine Dose, so sie eine finden. Wo war ich, als Sie meinen Erzählschwung rüde zum Halten brachten?“

„Beim rätselhaften Aufenthalt der Richardsons auf Redonda.“

„Richtig. Ich meine, falsch. Wir wissen nur um die genaue Position der Yacht zum genannten Zeitpunkt. Ob die Richardsons hier an Land gegangen sind, entzieht sich unserer Kenntnis und ist angesichts der wenig einladenden Insel-Topographie eher unwahrscheinlich. Aufschluss über die Position der Southern Seas lieferte das letzte Gesprächs Henry Richardsons mit seinem Sohn John, genannt John-boy, über das Satellitentelefon. Diese Art fernmündlichen Austausches war den Richardsons zur lieben Gewohnheit geworden und fand augenscheinlich fast täglich statt. Diente nicht nur der verbalen Fellpflege, sondern auch der Sicherheit, konnte John-boy sich doch auf diese Weise regelmäßig davon überzeugen, dass auf der Back alles wohl war und alle Lichter brannten, wie es in einer dieser klassischen Singsang-Meldungen an Bord von Rahseglern hieß.

Die regelmäßige Kontrolle hatte ihren guten Grund, denn schließlich setzten sich die Richardsons im Rahmen ihrer Langfahrten häufiger den Launen der Witterung ebenso aus wie den Attacken moderner Piraten oder den Übergriffen korrupter Küstenwächter.

Hätten die Richardsons irgendwann Hilfe benötigt, wäre Johnboy als ihr privilegierter Ansprechpartner in der Lage gewesen, alles Erforderliche vom Basislager aus agierend in die Wege zu leiten.“

„Haben Sie vielleicht eine Wolldecke oder so etwas? Ihre Geschichte jagt mir schon jetzt frostige Schauer den Rücken hinab und außerdem scheint es zusehends kühler zu werden.“

„Müdigkeit und Nässe bewirken das. Kein Wunder. Alles, was ich Ihnen anbieten kann, ist der Schlafsack. Hier, nehmen Sie. Rollen Sie ihn aus und öffnen Sie den Reißverschluss ganz, dann können Sie ihn sich wie einen wattierten Wintermantel um die Schultern legen. Ja, genau so.“

Fischler wartete, bis Neumeier sich eingekuschelt hatte.

„Natürlich kam es ab und an vor, dass die telefonische Kommunikation nicht zustande kam oder mitten im Gespräch abbrach. Das gehörte zur Routine und wurde meist achselzuckend zur Kenntnis genommen.

Als John-boy seine Eltern jedoch an den zwei unmittelbar auf das letzte Gespräch vom 13. Februar folgenden Tagen nicht erreichte, ohne dass es dafür einen ihm einleuchtenden technischen oder sonstigen plausiblen Grund gegeben hätte, flackerten bei ihm in London, wo er bis heute eine kleine Wohnung im Stadtteil Croydon unterhält, alle Alarm-Lämpchen auf. Er zögerte nicht länger, sondern setzte umgehend so etwas wie eine internationale maritime Vermisstenmeldung ab, mit der er aber nach eigener Aussage zunächst auf taube Ohren stieß: Zuständigkeitsgerangel, fehlender Notruf der Yacht als auslösendes Moment, fernmeldetechnische sowie sprachliche Probleme waren nur einige der von den Behörden genannten Hinderungsgründe, die einer unverzüglich in Angriff genommenen Suchaktion im Wege standen. Man mag das im Nachhinein als generalisierte Inkompetenz abtun, aber wenn sich die SAR-Dienste der weitläufigen Küsten dieses Teils des Nordatlantiks immer unverzüglich auf die Suche nach angeblich verschollenen Yachten machen würden, deren Besatzungen bei irgendeinem Atoll ihren Rausch ausschliefen oder deren Besitzer gar nicht gefunden werden wollen, hätten sie noch viel mehr zu tun als ohnehin der Fall ist.

Und nicht zuletzt stand auch die Frage der Kostendeckung im Raum. Erst, als John-boy sich schriftlich damit einverstanden erklärte, den Löwenanteil der bei einer umfangreichen Suchaktion rasch in die -zigtausende gehenden Kosten zu übernehmen, kam Bewegung in die Sache. Georg? Sind Sie noch wach?“

Neumeier schreckte hoch und nickte mehrmals heftig.

„Klar, ich hänge an Ihren Lippen wie dieser unbelehrbare Gecko mit seinen Saugnäpfen an ihrer Hose.“

„Der hat wohl einen Narren an mir gefressen. Sei´s drum, solange er mich nicht in die Hoden beißt…Nun, der einzige, zu diesem Zeitpunkt verfügbare Hubschrauber der Küstenwache Antiguas, auf deren Schreibtisch die Vermisstenmeldung schließlich landete, gehört der hiesigen Luftwaffe. Die leiht ihn von Mal zu Mal der Küstenwache aus. Ungern, denn oft kriegt sie ihn nur mit irgendeinem Defekt wieder zurück.“

„Ist das der Heli, mit dem ich hierherkam?“

Fischler schüttelte den Kopf.

„Nein, der war privat gechartert und viel kleiner als der Chinook der Luftwaffe, dessen Piloten man erst mal aus einer Bar von St. John´s holen musste. Dann konnte es endlich losgehen und das systematische Absuchen des in Frage kommenden und in Planquadrate unterteilten Seegebiets beginnen.

Die Crew, zu der glücklicherweise auch ein ehemaliger US Seal gehörte, brauchte nicht viele Schleifen zu fliegen, bis sie ein gutes Stück südwestlich von hier auf die mit erschreckend niedrigem Freibord augenscheinlich führerlos quer zur Dünung treibende und schwerfällig von einem Bug auf den anderen rollende Sothern Seas stieß. Das achterliche Gaffelsegel war noch gesetzt und zum Teil bereits an den Lieken eingerissen. Der hin und her schlagende Baum zerrte an der Schot und an den Blöcken und die beiden backstehenden Vorsegel, Fock und Klüver, hingen in Fetzen.“

„Freibord will sagen…?“

„Der Abstand zwischen Wasseroberfläche und Schiffsdeck. Je geringer der Freibord, desto schwächer der Rest-Auftrieb und desto größer die Sinkgefahr.

Hier hatte dieser Freibord vermutlich bereits am Vortag einen kritischen Wert erreicht und war von der Besatzung auch nicht durch die Betätigung der Lenzpumpe wiederhergestellt worden.

Die Heli-Crew versuchte, über Funk und mit dem Megaphon Kontakt zur Besatzung der Yacht herzustellen, doch niemand reagierte. Die Männer fragten sich, ob überhaupt noch jemand an Bord war oder ob sie es mit einem Fliegenden Holländer zu tun hatten.

Der Pilot sah mit der Abgabe der Meldung seine Aufgabe als erfüllt an. Sollte sich die SAR-Leitzentrale der Antillen um den Rest kümmern. Doch bevor er abdrehen und nach Hause fliegen konnte, bat ihn Jack „the Flipper“ Burton, der bereits erwähnte Seal, den Heli neben der Yacht so tief wie möglich zu drücken.

Auf das Zeichen des Piloten sprang er im Neopren-Anzug in die See.“

„Mutiger Move. Doch wozu?“

„Jack hatte erkannt, dass sich die nur noch mit etwa zwanzig, fünfundzwanzig Prozent Restauftrieb im Seegang dümpelnde Southern Seas in einem äußerst prekären Schwebezustand befand, der jeden Augenblick von Wind und Wetter zu ihrem Nachteil sowie dem der Ermittlungsbehörden beendet werden konnte.

Unter diesen Umständen auf das Eintreffen des Küstenwachbootes zu setzen, erschien ihm mit anderen Worten nicht angezeigt.“

Fischler hielt inne und leerte die vor ihm am Boden stehende Wasserflasche.

„Die Wettervorhersage am Morgen hatte für den Nachmittag von möglichen Starkwind-Böen gesprochen. Käme es in den folgenden Stunden tatsächlich dazu, würde die Yacht auf die Backe gelegt und gegen die See gedrückt werden. Grünes Wasser würde über die Reling schwappen, das Deck überspülen und sich in den darunter liegenden und ohnehin bereits reichlich gefüllten Hohlräumen des Rumpfes sammeln. Das würde die angeschlagene Southern Seas unmöglich überleben.“

Wieder hielt Fischler inne.

„Sorry, aber ich brauche mehr Wasser. Ich habe schon lange nicht mehr so viel gesprochen und meine Kehle fühlt sich an wie die Innenseite eines Kängurubeutels.“

Er griff nach einer weiteren Flasche, öffnete sie und trank einen ordentlichen Schluck. Dann rülpste er und fuhr fort.

„Jack gelang es, über das tief liegende Heck an Deck zu steigen. Der Laie macht sich meist keine Vorstellung davon, wie unendlich schwierig es für eine in der See treibende Person sein kann, ohne fremde Hilfe oder eine heruntergeklappte Badeleiter an Bord einer mit Spiegelheck versehenen Yacht wie dieser zu gelangen. Man ist auf See schon auf verlassene Yachten gestoßen, deren mit Blutspuren gezierten Rümpfe Zeugnis davon ablegten, dass ihre, vermutlich zum Baden ins Wasser gesprungenen Besatzungen verzweifelt versucht hatten, wieder an Bord zu gelangen, aber irgendwann entkräftet aufgaben und ertranken.

Nun, ich schweife ab. Das war nicht Jacks Problem. Einmal an Deck, holte er als erstes die Schot dicht und drehte die Southern Seas mit der Nase in den Wind, damit das Geschaukel aufhörte.

Er verstand sofort, dass sich hier kein Unfall ereignet hatte, sondern ein grausiges Kapitalverbrechen verübt worden war. Glück im Unglück für die Ermittler: die Täter - man geht von drei oder vier Männern aus - hatten sich keine besondere Mühe gegeben, ihre Spuren an Bord zu beseitigen, sondern sich stattdessen damit begnügt, das Seeventil der Yacht zu öffnen und die Southern Seas damit normalerweise auf den Grund zu schicken. Bei Wassertiefen von hundert und mehr Metern rund um die Insel hätte man behördlicherseits vermutlich auf eine spätere Bergung der Yacht verzichtet, womit alle stummen Zeugen unwiederbringlich verloren gewesen wären.

Grob fahrlässiges Handeln der Täter, nicht so lange zu warten, bis sie die Southern Seas vor ihren Augen in der Tiefe verschwinden sahen. Vermutlich wollten sie sich nicht länger bei der, ihnen offenbar zu langsam sinkenden Yacht aufhalten als unbedingt erforderlich, um nicht von einem zufällig des Weges kommenden Boot beobachtet zu werden.“

„Und wieso hielt sich die Yacht dann allen Naturgesetzen zum Trotz noch so lange über Wasser?“

„Eine Frage, um deren plausible Beantwortung auch ein Archimedes gerungen hätte. Die Lösung des Rätsels konnte nach menschlichem Ermessen nur darin bestehen, dass sich das anfangs funktionierende Seeventil irgendwann verstopft hatte, so dass die Yacht ab einem bestimmten, relativ frühen Zeitpunkt nur noch sehr wenig Seewasser zog.

Nach Jacks Einschätzung waren, wie gesagt, noch etwa fünfundzwanzig Prozent des Auftriebs der Yacht vorhanden. Wie lange der daraus resultierende prekäre Limbo zwischen den Wassern noch anhalten würde, hing vor allem vom Wetter als Zünglein an der Waage ab. Anhaltender Starkregen, ein böiger Wind und die Messe wäre gelesen.“

Erneut unterbrach sich Fischler und blickte auf die Uhr.