Die Regierung des Himmels - Thomas Hippler - E-Book

Die Regierung des Himmels E-Book

Thomas Hippler

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Beschreibung

1911 wird über Libyen zum ersten Mal in der Weltgeschichte eine Bombe aus einem Flugzeug abgeworfen. Genau hundert Jahre später fallen im Zuge des NATO -Einsatzes wieder Bomben auf das Land. Zurück bleibt ein zerfallener Staat, der im Chaos versinkt. Zwischen diesen beiden Angriffen liegt ein Jahrhundert der Zerstörung und des Schreckens aus der Luft: Guernica, Coventry, Dresden und Hiroshima sind traumatische Brandmale unserer Zivilisation, die von dem revolutionären Charakter des Bombenkriegs zeugen. Thomas Hippler schildert in seiner fulminanten und Maßstäbe setzenden Globalgeschichte des Kriegs aus der Luft die Entwicklung dieser apokalyptischen Kampfform, die erstmalig die gesamte Bevölkerung ins Visier nimmt und den Krieg als Kollektivstrafe im bittersten Sinne des Wortes demokratisierte. Erprobt in den Kolonialkriegen, findet diese Strategie im Zweiten Weltkrieg auch in den westlichen Zentren ihre tödliche Anwendung, um dann in Vietnam und mithilfe von Marschflugkörpern und Drohnen im Irak und in Pakistan wieder in die Peripherie zu wandern. Der Bombenkrieg soll es möglich machen, überall und jederzeit einzugreifen und die Welt so als Ganze zu regieren. Mit fatalen Folgen: Als Resultat der angestrebten Weltordnung regiert das globale Chaos. Die Regierung des Himmels, die darauf verzichtet, den Boden zu befrieden, markiert den Beginn der Kriege ohne ein Ende, die wir heute überall beobachten können.

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Thomas Hippler

Die Regierung des HimmelsGlobalgeschichte des Luftkriegs

Aus dem Französischenvon Daniel Fastner

Für Étienne Balibar

Inhalt

Prolog

Land, Meer und Luft

Zum ewigen Frieden

Die Ritter der Lüfte

Die koloniale Matrix

Zivilisation, Kosmopolitismus und Demokratie

Das Volk und der Pöbel

Philosophie der Bombe

Erschaffung und Zerstörung eines Volkes

Unter dem Atomschild, der »revolutionäre Krieg«

Weltregierung und ewiger Krieg

Danksagung

Anmerkungen

Prolog

Tripolis, den 1. November 1911. »Ich habe mich zu dem Versuch entschlossen, heute vom Flugzeug aus Bomben abzuwerfen. Noch nie hat jemand so etwas probiert, und falls es mir gelingt, werde ich mich glücklich schätzen, der Erste zu sein«, schreibt Leutnant Giulio Gavotti in einem Brief an seinen Vater. Seinen Pilotenschein erhält der aus Genua stammende Ingenieur just in dem Moment, als die italienische Regierung beschließt, sich an die Eroberung eines Kolonialreichs in Libyen zu machen. Alles, was er vorzuweisen hat, ist ein unerlaubter Flug über den Vatikan, der ihm ein paar Tage Arrest einbrachte, und ein zweiter Platz bei einem Wettflug zwischen Bologna und Venedig. Doch Ende September 1911 verschärft sich die Situation in Libyen zusehends: Nachdem die Hohe Pforte der Preisgabe von Tripolis eine Absage erteilt hat, erklärt Italien dem Osmanischen Reich den Krieg. Kaum eine Woche später fällt die Stadt in italienische Hände. Als Mitglied einer kleinen »Fliegerflottille« wird Gavotti wenige Tage vor seinem 29. Geburtstag auf den afrikanischen Kontinent entsandt.

Im Morgengrauen des 1. November startet er sein Fluggerät in Richtung Mittelmeer. Einen Einsatzbefehl hat er nicht, dafür aber eine Idee. Er beschreibt eine lange Kurve über dem Meer, bevor er Kurs auf Ain Zara nimmt, eine kleine Oase etwa 15 Kilometer südöstlich von Tripolis, wo er bei einem vorangegangenen Aufklärungsflug einen Trupp arabischer Kämpfer ausgemacht hatte.

Mit der einen Hand nehme ich das Steuer, mit der anderen löse ich den Riemen, mit dem der Deckel der Kiste befestigt ist. Ich ziehe eine Bombe heraus und lege sie auf meine Knie. Ich nehme das Steuer in die andere Hand und greife mit der freien Hand einen Zünder aus der kleinen Kiste. Ich halte ihn mit meinem Mund. Ich verschließe die Kiste wieder, stecke den Zünder in die Bombe und blicke nach unten. Ich bin bereit. Ich bin etwa einen Kilometer vor der Oase.

Überrumpelt von der italienischen Angriffslust, gerät die osmanische Armee weit ins Hintertreffen, sodass der osmanische Befehlshaber der Region Tripolis Fethi Bey schließlich zum Rückzug bläst. Die einheimischen Einheiten ruft er dazu auf, den Kampf mit einer Guerillataktik fortzuführen. Die Aufgabe Gavottis in Libyen bestand eigentlich darin, strategische Aufklärungsmissionen zu fliegen und den Führungsstab über Manöver der feindlichen Armee auf dem Laufenden zu halten. Doch die Guerillakämpfer rücken anders vor als eine reguläre Armee: Sie konzentrieren nicht in gleicher Weise ihre Kräfte und bewegen sich inmitten der Zivilbevölkerung wie »ein Fisch im Wasser«. Unter solchen Bedingungen verliert die strategische Aufklärung ihren Nutzen. Die italienischen Flieger müssen ein neues Vorgehen entwickeln. Daher auch Gavottis Initiative. Sie sollte noch eine lange Nachgeschichte haben.

Tripolis, 1. November 2011. Am Vortag haben die NATO-Flugzeuge das Bombardement eingestellt. Die am 19. März begonnenen Luftschläge in Libyen enden am 31. Oktober, genau ein Jahrhundert abzüglich eines Tages nach dem allerersten Bombenabwurf von einem Flugzeug. Sonderbarer historisch-geografischer Zufall: Die Bomben der NATO-Flugzeuge fallen auf denselben Boden, den Gavotti einhundert Jahre zuvor bombardiert hat. Die Geschichte wiederholt sich und scheint uns einzuladen, ein Jahrhundert der Luftschläge neu zu überdenken. Die Geschichtsschreibung über den Luftkrieg, die sich ganz auf die Frage nach der Legitimität und Nützlichkeit der strategischen Bombardements im Zweiten Weltkrieg konzentriert hat, tut sich schwer damit, der kolonialen Vorgeschichte irgendeine Bedeutung zuzuschreiben, die über die einer »Generalprobe« vor dem »echten Krieg« zwischen den Großmächten hinausginge.1 Nun ist die Geschichte des Luftkriegs aber voll von solchen geografischen »Zufällen«: Unter den Regionen, die diesen Bombardements in der Zwischenkriegszeit besonders ausgesetzt waren, befinden sich insbesondere der Irak, Syrien und die sogenannte Nordwestgrenze Indiens: Afghanistan und Pakistan.

Was geschah also am 1. November 1911?

Ich sehe zwei Feldlager neben einem weißen Gebäude, in dem ersten ungefähr einhundert Menschen, im anderen fünfzig. Kurz bevor ich sie erreiche, nehme ich die Bombe mit der rechten Hand; mit den Zähnen ziehe ich den Sicherheitsstift heraus und lasse die Bombe vom Flugzeug hinabfallen. Für einige Sekunden kann ich ihr mit dem Blick folgen, bevor sie verschwindet. Kurz danach sehe ich eine dunkle Wolke aus dem kleineren Lager aufsteigen. Ich habe auf das große gezielt, aber ich hatte Glück. Es war ein Volltreffer.

Als Gavotti den Zünder so mit seinen Zähnen aktiviert, experimentiert er nicht nur mit einer neuen Einsatzmethode für Bomben. Er revolutioniert den Krieg. Erst heute beginnen wir die ganze Tragweite jener Umwälzung zu erfassen, die dort in Libyens Lüften ihren Ausgang nahm. Ursprünglich zu einer Aufklärungsmission gestartet, gelingt Gavotti auf diese Weise ein Schlag gegen ein Heerlager. Dieser erste Bombenabwurf der Geschichte ähnelt in gewissen Hinsichten dem Beschuss durch Artillerie, allerdings mit einem Unterschied: Die versammelten Kräfte, die Gavotti ins Visier nimmt, sind gar nicht offiziell an den Kämpfen beteiligt. Außerdem bietet Aïn Zara nicht nur potenziellen Aufständischen eine Anlaufstelle: Die Oase bildet auch ein soziales und ökonomisches System. Das Neue zeigt sich hier schon in ganzem Umfang: Mit seinem Bombenabwurf auf Aïn Zara führt Giulio Gavotti nicht nur einen Schlag gegen sein Angriffsziel aus, vielmehr konstituiert er im eigentlichen Sinn eine ganz neue Art von Angriffsziel. Ein hybrides Ziel, in dem sich zivile und militärische Elemente und unter letzteren wiederum reguläre und irreguläre Elemente vermischen. Gavotti hat dadurch eine neue Art und Weise in die Welt gebracht, wie Krieg gedacht und geführt werden kann: und zwar die hybriden und ›asymmetrischen‹ Kriege, die uns bis heute heimsuchen.

Das strategische Denken hat besonders das auf spektakulärste Weise Neue an diesem Ereignis hervorgehoben: Mit dem Flugzeug wird es möglich, nicht mehr nur bewaffneten Einheiten, sondern einem ganzen sozioökonomischen System einen Schlag zu versetzen. Daher überrascht es nicht, dass die Luftwaffe als Lösung für den Stellungskrieg von 1914–1918 in Anschlag gebracht wurde. Die unerhörte Entwicklung der Feuerkraft zu Beginn des Jahrhunderts schien jede Offensive endgültig undenkbar gemacht zu haben. In Anbetracht der Unmöglichkeit, die Front zu durchbrechen, eröffnet die Luftwaffe einen Weg, sie zu umgehen und statt der aktiven Streitkräfte gleich die Quellen ihrer Macht anzugreifen: die industrielle Produktion, die Transportmittel, den politischen und moralischen Zusammenhalt des Volkes. Angesichts des taktischen Stillstandes an der Front bietet die Fliegerflotte eine Möglichkeit, diese einfach zu umgehen und somit wieder in die strategische Offensive zu kommen.

Das Luftbombardement wird dadurch zu einem wesentlichen Element des »totalen Kriegs«, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa tobt. Von Guernica über Coventry, Rotterdam und Brest bis Dresden ist die europäische Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg durch die Erfahrung bombardierter Städte geprägt. In Bezug auf die Verwüstungen dieses Kriegs, die noch fest im »kommunikativen Gedächtnis«2 Europas verankert sind, hat die Geschichtsschreibung zuletzt wichtige Arbeit geleistet, insbesondere was die strategischen Bombenangriffe auf Deutschland und Japan betrifft. Dieses Kapitel der Geschichte des Luftkriegs war lange Zeit vernachlässigt worden, da es die Historiker mit einem ethischen Dilemma zu konfrontieren schien: Ist es erlaubt, die bewussten Angriffe auf deutsche Zivilisten im Zweiten Weltkrieg in den Mittelpunkt der Analyse zu stellen? Die Geschichte des Luftkriegs fand sich in einer normativen Sackgasse gefangen.

Um wieder herauszugelangen, muss man an das Postulat Bourdieus erinnern, demzufolge in den Sozialwissenschaften die entscheidende theoretische Operation in der Zuschneidung des Objekts3 besteht. Das bedeutet, dass durch die normative Frage eine theoretische Entscheidung mit eingeschmuggelt wird, die alles andere als harmlos ist: nämlich die Entscheidung, das strategische Bombardement ausschließlich im Kontext des Zweiten Weltkriegs in Europa zu betrachten. Denn mit den Luftschlägen fing es gar nicht in Europa an, sondern in der libyschen Wüste, dann ging es in den Nahen Osten, nach Wasiristan, Afrika, auf die Philippinen und nach Nicaragua. Bevor die Bombenangriffe das Zentrum erreichten, wurden sie in der Peripherie des Weltsystems erprobt und perfektioniert; bevor die europäischen Städte in Schutt und Asche gelegt wurden, hatte man die Matrix des totalen Kriegs bereits in den Kolonien entwickelt.

Obwohl die systematische Zerstörung der sozioökonomischen Ressourcen erst im Verlauf der Zwanzigerjahre in die Militärdoktrin aufgenommen wird, ist sie im Angriff auf Aïn Zara virtuell bereits enthalten. Der Luftkrieg untermauert also Hannah Arendts These, dass der Kolonialismus das Modell für die Totalitarismen liefert, und insbesondere für die Totalisierung des Kriegs. Anders gesagt gehören die Luftschläge nicht allein zur Kriegserinnerung der europäischen Völker, sondern bilden auch ein wesentliches Kapitel dessen, was heute »Globalgeschichte« genannt wird. Dieser Ansatz ist aus einer nur der Erscheinung nach einfachen Idee geboren, nämlich dass die Welt eine ist und dass alles, was auf der einen Hälfte des Globus geschieht, unweigerlich auch Auswirkungen auf das »Weltsystem« im Ganzen haben wird. Eine »globale« Perspektive einnehmen heißt auch, die Werturteile, die jeder theoretischen Analyse4 zugrunde liegen, in einem anderen Kontext zu betrachten.

Die Bombardements aus der Luft begannen also bei Weitem nicht erst im Zweiten Weltkrieg, vielmehr gehörten sie zum Rüstzeug, das alle Großmächte gegen die von ihnen Kolonisierten einsetzten. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde daher die britische Luftwaffe als Alternative zu den Strafexpeditionen in den Kolonien in Stellung gebracht. Die Royal Air Force versprach zu geringeren Kosten denselben Nutzen wie die Landstreitkräfte: Niederschlagung der antikolonialen Aufstände, die das Empire erschüttern. Damit ist das Konzept des police bombing geboren. Indem die Luftschläge zur Wiederherstellung der Ordnung eingesetzt werden, sind sie keine Kriegshandlung mehr, sondern eine »polizeiliche« Praxis, sogar eine der »imperialen Polizei«: Sie kommen nicht innerhalb der Grenzen eines Staats, sondern auf globaler Ebene zum Einsatz: um damit die Welt zu regieren. Die damit durchgesetzte Ordnung ist nicht die einer spezifischen politischen Hoheitsgewalt, sondern die eines gesamten Weltsystems. Dieses Buch möchte der Genese dieses globalen Regimes von Beginn des 20. Jahrhunderts an bis heute nachgehen, indem es sich als Leitfaden an dessen bevorzugtes Instrument hält: Luftbombardements in »polizeilicher« Absicht.

Das Police bombing kommt zum ersten Mal im Irak zum Einsatz. In einer Anfangsphase entscheidet man sich für die Menschenjagd als Mittel der Wahl: Die antikolonialen Kämpfer werden vom Flugzeug aus unter Maschinengewehrfeuer genommen. Doch da es den Aufständischen immer wieder gelingt, sich zu verstecken, lassen die Flieger ihre Frustration am Vieh aus. Eine brillante Idee: Statt den Rebellen nachzujagen, ist es sowohl einfacher als auch wesentlich effizienter, ihnen ihre Überlebensressourcen zu entziehen; wenn es schon nicht gelingt, sie zu töten, wird man sie auf andere Weise sterben lassen: durch Hunger, Durst oder Krankheiten. Diese strategischen Überlegungen unterscheiden sich also gar nicht von denen in Europa, wo man dem Feind lieber die Grundlagen seiner Macht nimmt, anstatt ihn direkt anzugreifen. In beiden Fällen ist der Ansatz ein indirekter. Nachdem im Ersten Weltkrieg die Seeblockade eine wichtige Rolle beim Zusammenbruch der Mittelmächte gespielt hat, entwickelt die Royal Air Force ein analoges Konzept für den Luftraum, die »Luftblockade«. Die Operationen beginnen mit schweren Bombardements, die einige Tage dauern. Danach verringern sich die Angriffe, reichen aber weiterhin aus, um die aufständischen Klane von ihren Dörfern, Feldern, Weiden und Wasserstellen fernzuhalten. Das Ziel der Bombenangriffe besteht darin, das soziale und ökonomische Leben der rebellierenden Bevölkerung zu zerschlagen, um das Milieu »auszutrocknen«, in dem die Aufständischen ihren Kampf führen.

Die Geschichte des Kriegs im 20. Jahrhundert ist durch eine radikale Veränderung der Beziehung zwischen den Widersachern gekennzeichnet. Das Police bombing liefert dafür den deutlichsten Hinweis. In der klassischen Kriegsauffassung bezwecken die militärischen Handlungen die Eroberung des Territoriums – und enden damit auch. Der Sieger besetzt das Territorium des Besiegten, eignet es sich an und befriedet es. Als Hoheitsgewalt tritt er mit der Zivilbevölkerung in ein Verhältnis von Schutz und Gehorsam. Der Bombenkrieg aus der Luft zertrennt diese Verbindung. Die Besetzung des Bodens stellt kein Ziel mehr dar, da ja das Bombardement genau an ihre Stelle treten soll. Damit geht einher, dass mit der Eroberung nun nicht mehr auch die Kriegshandlungen enden. Flugzeuge sind das Lieblingswerkzeug der »endlosen« Kriege, die wir heute kennen – dieser Kriege, die man nicht beim Namen nennt und die sich als einfache Polizeioperationen auf Weltebene darstellen.

Die ersten Luftangriffe richten sich auf die kolonisierten Völker. Zum Einsatz kommen teils Bomben, teils Maschinengewehre, teils Giftgas. Nicht Aufständische sind das Ziel, sondern ganze Bevölkerungen und mithin eine ganze Sozial- und Wirtschaftsstruktur. Darin weisen diese Praktiken Züge auf, die an die dominante Vorgehensweise im »Kleinkrieg« erinnern, der im Gegensatz zum »echten« Krieg, in dem sich zwei Nationalstaaten gegenüberstehen, nicht darauf ausgerichtet ist, eine Armee zu besiegen, sondern eine Bevölkerung zu terrorisieren. So gesehen setzen die kolonialen Fliegertrupps nur bereits bestehende Praktiken fort, indem sie im Sinne einer Kollektivstrafe die Zivilbevölkerung angreifen oder sogar auslöschen. Doch mit dem Aufkommen der Fliegerei werden die Prinzipien des »Kleinkriegs« auch im »großen Krieg« anwendbar. Es geht nun nicht mehr um Schläge gegen feindliche Armeen, sondern gegen ganze Völker, so wie es in den Kolonien schon gang und gäbe war.

Wie lässt sich diese Ausweitung der Kolonialpraktiken auf die gesamte Weltbevölkerung verstehen? Ein Vergleich der Luftstrategien in der kolonialen Peripherie und in Europa fördert eine Antwort zutage, die gleichermaßen offensichtlich wie beunruhigend ist: In beiden Fällen wird der Krieg zu einer Angelegenheit des ganzes Volkes und betrifft nicht mehr allein den Staat. Der Krieg ›demokratisiert‹ sich: Wenn alle Bürger sich auf die eine oder andere Weise an der Kriegsanstrengung beteiligen, wird es unsinnig, nur diejenigen ins Visier zu nehmen, die die Waffen bedienen, und diejenigen zu verschonen, die deren Einsatz durch ihre tägliche Arbeit erst ermöglichen. Der Heldentod, früher aristokratisches Privileg des Kriegers, erlebt seine ›Demokratisierung‹ und alle können von nun an potenziell daran teilhaben.

Und mehr noch, da das Volk nunmehr durch Wahlen oder Streiks in die Lage versetzt ist, auf die Kriegshandlungen seiner Regierung Einfluss zu nehmen, wird es gleich doppelt widersinnig, es zu verschonen: Den Zivilisten kommt in der Kriegsunternehmung ebenso viel Bedeutung zu wie den Soldaten, und als Staatsbürger bilden sie gemeinsam den Souverän, gegen den der Krieg sich richtet. In einer Demokratie hat die Bevölkerung sowohl Anteil an der Kriegsanstrengung als auch Verantwortung für die Handlungen der Regierung. Die von einem Flugzeug abgeworfene Bombe ist in gewissem Sinne die demokratische Waffe schlechthin: Sie kann alle und jeden treffen, omnes et singulatim, das Volk genauso wie den Bürger. Mit dem feinen Unterschied, dass einige mehr Teil des »Volks« sind als andere, sodass der Klassenunterschied eine entscheidende Bedeutung in der Luftstrategie erhält. Wenn jeder Beliebige zu einem möglichen Ziel wird, dann trifft es aus technischen wie politischen Gründen zuerst die Arbeiter.

Die Arbeitervorstädte, die dichter bebaut und weniger gegen Brände gesichert sind als die bürgerlichen Wohngebiete, eignen sich besonders für die im Zweiten Weltkrieg angewandten Brandtaktiken. Jenseits dieser technischen Erwägungen ist die Luftstrategie von der Idee geleitet, dass die Arbeiterklasse, das für die Kriegsanstrengung entscheidende Segment der Gesellschaft, zugleich auch der politisch am wenigsten integrierte Teil der Bevölkerung ist. Hinter der Strategie der verbrannten Städte verbirgt sich somit eine »revolutionäre« Perspektive, die letztlich darauf zielt, eine Arbeiterrevolte gegen die Regierung auszulösen. Wenn der Krieg eine Angelegenheit des »Volks« geworden ist, dann offenbart die Entscheidung, die Arbeiter ins Fadenkreuz zu nehmen, die konstitutive Ambivalenz des »Volks«. Wer ist wirklich damit bezeichnet? »Volk« bezeichnet auf der einen Seite einen homogenen und politisch organisierten Körper, d. h. das Subjekt des Politischen, und auf der anderen Seite das »niedere Volk«, diejenigen Teile der Bevölkerung, die lediglich Objekt politischer Maßnahmen sind. Der Begriff bezeichnet den kollektiven Souverän und sein Gegenteil, den »Pöbel«. Das Volk ist das Prinzip politischer Einheit und zugleich eine Kraft zur Destabilisierung der Gesellschaft.

Wenn der Luftkrieg auf diese paradoxe Entität demokratisches »Volk« zielt – zugleich kollektiver Souverän und »Pöbel« –, dann stehen zwei komplementäre Strategien offen: eine offensive und eine defensive. In der Offensive bombardiert man die feindliche Bevölkerung, um ihre Einheit zu sprengen und die Kräfte der Anarchie und Revolte freizusetzen. In Europa wird das Volk im Wesentlichen in seinem Bezug zum Staat gedacht, also seiner politischen Organisationsform. Das Volk bombardieren bedeutet den Staat angreifen oder, genauer, dafür zu sorgen, dass sich das Volk gegen den Staat erhebt. Die Luftoffensive will, indem sie sich auf die Nichtübereinstimmung von Volk und Staat richtet, die Einheit des politischen Gemeinwesens zerstören und es in die Verfassung eines »Pöbels« herabsetzen. Es drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass der Krieg zwischen Nationen genau genommen nie existiert hat, weil er seit seiner Erfindung in den Kriegen der Französischen Revolution immer schon die Bemäntelung eines Klassenkriegs gewesen ist. Die Unsicherheit bezüglich der Natur des zu bombardierenden »Volkes« korrespondiert genau mit diesem unterschwelligen Krieg, der im Innern einer Nation schwelt.

Die Strategen sind sich dieser Dualität nur zu bewusst. Daher haben sie ihrer Offensivdoktrin systematisch eine Defensivstrategie zur Seite gestellt. Während es sich in der Offensive darum handelt, die Einheit von Volk und Staat aufzulösen, zielt die Politik der Luftverteidigung darauf, den ›Pöbel‹ in einen einheitlichen politischen Organismus zu verwandeln, also aktiv die moralische und politische Einheit eines Volks herzustellen. In Europa wird eine ganze Reihe von Maßnahmen eingeleitet, um den Zusammenhalt nationalisierter Völker zu verstärken. Luftschutzbunker werden zum Ort, an dem sich die Einheit von Volk und Staat handgreiflich herstellt, doch das gesellschaftliche System des Bunkers ist angewiesen auf einen politischen und sozialen Apparat zur Disziplinierung, Erziehung und Integration der Bevölkerung in die nationalisierte Politstruktur.

Unter diesen Maßnahmen steht welfare an erster Stelle, jene Übernahme von Verantwortung für das Leben und Wohlergehen des Volks seitens eines fürsorglichen und demokratischen Staats. Die Symmetrie zwischen Leben und Tod, Sozialstaat und Luftbombardement, Biopolitik und ›Thanatopolitik‹ hat ihren vollendeten Ausdruck im Rosinenbomber gefunden, der auf dem alten Berliner Flughafen Tempelhof ausgestellt ist, um an die Luftbrücke von 1948–49 zu erinnern: Das durch die angloamerikanischen Bombenangriffe in ein Ruinenfeld verwandelte Westberlin wird ein Jahr lang über die Luftbrücke versorgt. Die alliierten Piloten, bis 1945 noch des »Luftterrors« geziehen, werden drei Jahre später als Retter gefeiert und ihre Flugzeuge zu »Rosinenbombern« umgetauft. Durch Brandbomben töten oder durch den Transport von Nahrungsmitteln und Heizmaterial am Leben halten und ein Volk in den Zustand eines Pöbels auflösen oder es zu einem Staatsvolk zusammenschweißen sind zwei Seiten einer Medaille.

Im Fall der Kolonien lässt sich diese instabile Dualität von Volk und Staat nicht finden. Dort sind die Bombardements gleichzeitig klarer und »moderner« als die Verwüstung europäischer Städte. Klarer, weil in den Kolonien schlicht kein Staatsapparat existiert, den man ins Visier nehmen könnte. Vor allem aber »moderner« in dem Sinne, dass der Kampf gegen die aufständischen Gruppen und ihr soziales, wirtschaftliches und ökologisches Umfeld unmittelbar in den globalen Zusammenhang eingebettet ist, statt über den Nationalstaat vermittelt zu sein. Wie wir sehen werden, gibt Victor Hugo bereits 1859 der Hoffnung Ausdruck, die Bemeisterung der Lüfte bringe der Welt den Frieden; der britische Schriftsteller H. G. Wells, Sozialist fabianischer Prägung und Friedensaktivist, spricht sich für einen »Weltstaat« aus, der im Falle von Unordnung überall rund um den Globus militärisch eingreifen kann.5 Überraschender ist vielleicht der Fall des italienischen Generals Giulio Douhet, der nicht nur Bomben- und Giftgasangriffe auf die Zivilbevölkerung empfiehlt, sondern zur gleichen Zeit eine Kernidee des Pazifismus verteidigt, nämlich die eines »internationalen Tribunals«, das den Krieg unterbindet, indem es seine Entscheidungen mittels Luftflotte durchsetzt.6

»Der Pilot als Polizist und die Bombe als Knüppel« – genau an diesem Punkt treffen sich die koloniale Praxis des police bombing und der humanistische Kosmopolitismus.7 Auch wenn der Kolonialismus heute weitgehend diskreditiert ist, steht die Idee militärischer Lufteinsätze zu kosmopolitischen Zwecken weiterhin so hoch im Kurs, dass sie sich immer noch im Artikel 45 der Charta der Vereinten Nationen findet: »Um die Vereinten Nationen zur Durchführung dringender militärischer Maßnahmen zu befähigen, halten Mitglieder der Organisation Kontingente ihrer Luftstreitkräfte zum sofortigen Einsatz bei gemeinsamen internationalen Zwangsmaßnahmen bereit.« Doch kann die demokratische Praxis des Luftbombardements zugleich humanistisch, kosmopolitisch, ja sogar pazifistisch sein?

Der Kosmopolitismus, der auf institutioneller Ebene von den Vereinten Nationen verkörpert wird, bringt uns zurück zu unserem Ausgangspunkt Libyen. Im Unterschied zu 1911 war es 2011 keine »zivilisatorische Mission«, die die Luftschläge motivierte, sondern es waren qua Resolution des Sicherheitsrats genau definierte und anerkannte humanitäre Gründe. Sie fallen unter die Kategorie, die Mary Kaldor, Theoretikerin der »neuen Kriege«, »kosmopolitische Rechtsdurchsetzung« genannt hat, die darauf zielt, den Spaltkräften, der Erosion der Staatsgewalt, der »Politik der Identität« und den »asymmetrischen Kriegen« Einhalt zu gebieten.8 Und genau diese Elemente verbinden das libysche Experiment von 1911 mit dem von 2011: Alle Faktoren, die die Theoretiker der »neuen Kriege« mit der Globalisierung verknüpfen, waren in Wahrheit bereits im kolonialen police bombing am Werk.

Die Geschichte der Luftschläge kreuzt folglich die großen Themen der Geschichte des 20. Jahrhunderts: die Nationalisierung der Gesellschaften und des Kriegs, die Demokratie und die Totalitarismen, den Kolonialismus und die Entkolonialisierung, den Drittweltismus und die Globalisierung, den Sozialstaat und seinen Niedergang angesichts des Neoliberalismus. Aus diesem Blickwinkel bietet die Geschichte der Luftschläge einen Ausgangspunkt für eine Globalgeschichte des 20. Jahrhunderts: Sie ist nach der Methodologie von Erich Auerbach »ein möglichst umgrenztes und konkret beschreibbares Teilphänomen«, das dennoch ermöglicht, wie mit einem Querschnitt einige der hervorstechenden Züge des Jahrhunderts miteinander zu verbinden. Kurz gesagt, die Bombardements eignen sich für eine Globalgeschichte als »Ansatzpunkt«, wie ihn Auerbach für die philologische Herangehensweise an »Weltliteratur« gefordert hat.9 Sein Ehrgeiz richtete sich gerade nicht auf enzyklopädische Vollständigkeit, und ebenso wenig möchte die hier dargestellte Geschichte erschöpfend wirken. Sie präsentiert stattdessen eine Reihe von Beispielen, die besonders ergiebig erscheinen, um die Veränderungen des Weltsystems im Lauf des vergangenen Jahrhunderts greifbar werden zu lassen.

Unsere Kriege nehmen zunehmend hybride Form an, sie vermengen die Bereiche des Zivilen und Militärischen, reguläre und irreguläre Kriegsteilnehmer. Auch auf technologischer und »moralischer« Ebene bekommen sie zunehmend asymmetrischen Charakter. Die naturgemäß unilateralen Luftschläge ordnen sich jenseits der klassischen Schlacht ein, in der sich zwei gleiche Gegner gegenüberstanden. Und auch wenn man ihm die edelsten Attribute anheftet (die Luftflotte als Waffe der Zivilisation, des ewigen Friedens, des Kosmopolitismus, der Flieger ein Ritter der Lüfte), so ist doch nichts weniger ritterlich als der Luftkrieg, der die Schlacht durch unilaterale Schläge ersetzt und den Gegner in einen zu eliminierenden Schädling verwandelt. Und man begreift auch, warum der Stratege Edward Luttwak Luftschläge zum bevorzugten Werkzeug seines »postheroischen« Kriegs erklären konnte: Sie fordern keine Opfer (jedenfalls unter den Vollstreckern der Gerechtigkeit), beseitigten das Problem der Mobilisierung und schafften es dadurch, jede demokratische Debatte über Sinn und Unsinn militärischer Operationen zu umgehen.10 Um es kurz zu machen: Luftschläge sind keine Kriege mehr, sondern Polizeioperationen. Die Bombe ist nicht das Schwert des Ritters der Lüfte, sie ist der todbringende Knüppel des Weltpolizisten.

Die Einsätze der Polizei- und Militäreinheiten unterscheiden sich immer weniger voneinander, und auch der Unterschied zwischen Bürger und zu bekämpfendem Feind verwischt zusehends.11 Die gezielte Tötung des Islamisten Anwar al-Awlaki ist ein gutes Beispiel. Ohne Ermächtigung durch einen Richter wäre es illegal gewesen, auch nur sein Telefon abzuhören, aber der amerikanische Staatsbürger konnte ohne weiteren Prozess und ohne jede richterliche Kontrolle am 30. September 2011 in Jemen von einer Drohne abgeschossen werden. Es bedurfte nur eines Befehls des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Die Entwicklung des Luftkriegs lässt also offen zutage treten, dass die »Fortschritte« des internationalen Rechts mit denen der rohen Gewalt durch den Staat zusammenfallen.

Land, Meer und Luft

Am 25. Juli 1909 frönt Herbert George Wells in seinem Garten der körperlichen Ertüchtigung, als das Telefon mit zudringlicher Beharrlichkeit einen Anruf meldet. Verärgert unterbricht er seine Gymnastikübungen und nimmt den Hörer ab. Die Übertragung, von Knackgeräuschen und Aussetzern unterbrochen, ist schwer zu verstehen: »Blériot hat den Ärmelkanal überquert … einen Artikel … darüber, was das bedeutet!«1 Von seinem schönen Haus in Sandgate in der Grafschaft Kent aus erfreut sich Wells eines herrlichen Blicks auf den Ärmelkanal: Es fehlt nicht viel, und er könnte das 15 Kilometer weiter östlich gelegene Dover sehen, wo Blériot soeben gelandet ist.2 Da er kürzlich mit seinem Science-Fiction-Roman Der Luftkrieg einen großen Erfolg gefeiert hat, denken die Herausgeber der Daily Mail natürlich an ihn, als es um einen Kommentar zu diesem historischen Ereignis geht: Louis Blériots Überquerung des Ärmelkanals mit einem Flugzeug!

Wells beginnt also, sich Gedanken zu machen. Ganz Gentleman, feiert er zunächst die sportliche Glanzleistung: »Mister Blériot hat eine hervorragende Leistung gezeigt. Mister Latham, sein Rivale, hatte offen gesagt keine Chance. Darin besteht zuallererst die Bedeutung für uns.« Wells begreift, dass er ebenso wie nahezu alle Luftfahrtexperten die Stabilität der Flugzeuge unterschätzt hat. Je weiter er seinen Gedanken folgt, desto stärker wird er von Unruhe ergriffen. Die Folgen dieser Überquerung erscheinen ihm plötzlich immens, erschreckend, ja fürchterlich:

Dieses Ereignis – dass dieses von einem Ausländer erfundene, von einem Ausländer konstruierte, von einem Ausländer gesteuerte Ding unsern Kanal nimmt, wie ein Vogel über ein Bächlein gleitet – gibt der Sache eine drastische Wendung. Unser Menschsein [manhood] fällt zurück […]. Der Ausländer […] gibt eine bessere Sorte Mensch ab als wir.

Die Ausländer sind kultiviert, neugierig, erfindungsreich, unternehmungslustig. Die Briten sind wohlerzogen, es fehlt ihnen aber an Initiative. Sie geben sich mit dem Golfspielen zufrieden, während die Franzosen, die Amerikaner, die Deutschen und sogar die Brasilianer sich in die Lüfte erheben. Neben der Kränkung, die sein patriotischer Narzissmus erlitten hat, quält den Schriftsteller noch eine andere Sorge. Für eine Überquerung des Ärmelkanals bedurfte es Willens, Mutes und technischen Wissens in einem. Blériot ist zweifelsohne ein Held, aber doch ein Held neuen Typs: Er verkörpert eine aufsteigende Elite, eine neue tonangebende Klasse, die auf dem Sprung steht, die Macht zu übernehmen. Die »natürliche Demokratie« nach englischer Art kann den technologischen Heroen der Flugmaschinen nicht das Wasser reichen.3 Diese düsteren Gedanken, die Wells bestürmen, steigern sich fast bis zur Paranoia. Einem Franzosen ist ein solcher Flug gelungen – lässt sich daraus schließen, dass die Ausländer einen höheren Menschenschlag bilden als die Briten? Übertreibt Wells, wenn er in diesem Flug das Ende eines besonderen politischen Systems und der Demokratie als Ganzer erkennt? Aus seiner Sicht verliert das politische, soziale und kulturelle System Großbritanniens gegenüber einem geostrategischen Widersacher an Boden; auf das Land, das sich aufgrund seiner Insellage doch für unverwundbar hält, senkt sich plötzlich eine unerhörte militärische Bedrohung. Bald könnten Flugzeuge, von Calais aus gestartet, Sprengkörper über London abwerfen. Großbritannien muss seine gesellschaftliche Organisationsform, seine Bildungseinrichtungen umgestalten, um sich auch selbst in die Lage zu versetzen, zu diesem technologischen Heroentum fähige Menschen zu schaffen.

Mit zeitlichem Abstand kann man aus Wells’ Wahn die Ahnung herauslesen, dass der historische Zyklus der britischen Hegemonie im Weltmaßstab an sein Ende kommt – eine Veränderung, die ein halbes Jahrhundert in Anspruch nehmen wird. Nach dem Urteil eines so informierten Beobachters wie Eric Hobsbawm gelang es Großbritannien erst nach der Suezkrise 1956, den Schock von 1909 zu bewältigen und anzuerkennen, dass es nach Verlust seiner Kolonien nur noch eine Macht zweiten Ranges war.4

1909 jedenfalls bleibt das Vereinte Königreich vorläufig der hegemoniale Mittelpunkt der Welt. Und in dieser Eigenschaft muss es sich die militärischen Mittel verschaffen, die großen Schiffsrouten zu kontrollieren und zu sichern. Als Zentrum des Welthandels muss der Hegemon in der Lage sein, seine Handelsflotte auf der ganzen Welt zu schützen; er muss darüber verfügen, was der amerikanische Marinestrategie Alfred Thayer Mahan die »Seeherrschaft« nannte. Dafür gelten zwei Voraussetzungen: Zunächst muss er eine Kriegsflotte aufbieten, die es nicht nur mit jedem beliebigen anderen Marineverband aufnehmen kann, sondern auch der häufig schwierigen Aufgabe gewachsen ist, die eigene Handelsflotte wirksam gegen Piraten und Freibeuter zu verteidigen. Zweitens muss er über Stützpunkte an den wichtigsten Seerouten und idealerweise auf der ganzen Welt verfügen, um die Versorgung und Überholung der Schiffe gewährleisten zu können. Der Vorteil der Insellage versteht sich von selbst. Ihre Suprematie auf den Meeren erlaubt der Führungsmacht, ihre Hegemonie im Weltsystem zu festigen und das Mutterland zu schützen. Daher kann sich eine Hegemonialmacht mit Insellage, die sich einer Vormachtstellung auf See erfreut, zu viel geringeren Kosten verteidigen als eine kontinentale Hegemonialmacht, die nicht nur eine starke Kriegsmarine für die Expansion in Übersee unterhalten muss, sondern auch starke Landstreitkräfte zur Verteidigung ihres Kernlands. Das britische Heer gleicht daher einem Expeditionskorps, das normalerweise in den Kolonien eingesetzt wird, bei größeren Krisen aber auch auf dem europäischen Kontinent, wie in den Napoleonischen Kriegen oder im Ersten Weltkrieg. Solange Großbritannien die Meere beherrscht, ist das Territorium des Mutterlands vor jedem Angriff sicher. Die großen Schlachten der europäischen Kriege entspannen sich auf den Ebenen Flanderns auf der anderen Seite des Ärmelkanals.

Vor diesem Hintergrund wird der Schrecken, der Wells ergreift, besser verständlich: Vom 25. Juli 1909 an ist Großbritannien keine Insel mehr, es ist verwundbar geworden.5 Nun muss ein Hegemonialzentrum aber vor jedem Angriff sicher sein. Wenn ›alle Wege nach Rom führen‹, d. h. der gesamte Welthandel durch die City fließt, scheint die ganze Weltordnung von diesem Mittelpunkt auszustrahlen. Der Hegemon funktioniert wie eine dem Weltsystem gewissermaßen enthobene Instanz. Wenn er für einen sicheren Hafen, für ein Versprechen von Glück und Freiheit steht, dann bildet er zugleich auch, prosaischer ausgedrückt, ein politisches und soziales System, das Kees van der Pijl nach dem Verfasser der Zwei Abhandlungen über die Regierung als »Locke’sches6« bezeichnet. Nach der Glorious Revolution löst Großbritannien die Niederlande als hegemoniales Zentrum des Weltsystems ab.7 Mit einem früh entwickelten Bürgertum, eingespannt in die rule of law der konstitutionellen Monarchie, wird eine eigentümliche Verbindung des Staats mit der Zivilgesellschaft geboren.8 Der britische Liberalismus beruht auf einem starken Staat, der aber zugleich seine eigene Einflusssphäre beschränkt, um der Gesellschaft und der kapitalistischen Wirtschaft einen Spielraum zur Selbstregulation zu lassen.9 So entwickelt sich eine wahrhaft bürgerliche Gesellschaft, »deren Staat sich zurückzieht, nachdem er sich aktiv und konstruktiv zur Geltung gebracht und die Institutionen auf die Beine gestellt hat, die für den liberalen Rückzug aus der Sphäre der Reichtumsproduktion nötig sind«.10

Um dieses hegemoniale Zentrum herum erstreckt sich die »Semiperipherie«, eine Zone von »Rivalenstaaten« (contender states), die im Allgemeinen »Hobbes’sche« Züge aufweisen, sprich der Staat übt dort seine Herrschaft direkt aus und greift viel häufiger und unmittelbarer in die Gesellschaft ein als im Locke’schen Modell. Daher unterhält die herrschende Klasse eine engere Beziehung zum Staat, sie fungiert als eine echte »Staatsklasse« mit allen damit einhergehenden Gefahren des Autoritarismus. Außerhalb des Locke’schen hegemonialen Zentrums und der Hobbes’schen Semiperipherie finden wir die koloniale oder postkoloniale Peripherie.

Die räumliche Aufteilung der Gewalt auf globaler Ebene ordnet sich nach diesem Dreierschema: Während die Gewalt in den Außenbereichen des Systems unumschränkt herrschen kann, nimmt sie in der Hobbes’schen Semiperipherie verstaatlichte Form an. Das Locke’sche Zentrum hingegen gibt sich als Ruhepol aus, als Gastland für die Geflüchteten, das Gelobte Land der Freiheit. Doch diese Erscheinung kann es nur dadurch aufrechterhalten, dass es die Gewalt auslagert, sprich dass diese sich in den Kriegen zwischen den rivalisierenden Staaten oder in der Peripherie des Weltsystems entfesselt. In jedem Fall ist das Zentrum grundsätzlich unverwundbar – und muss es sein. Das Bild der Sonderstellung, das es von sich zeichnet, beruht genau auf dieser Unverwundbarkeit. Umgekehrt rührt an dieser Sonderstellung alles, was es gefährdet, und selbst, was es auch nur zu gefährden droht. Die schlichte Möglichkeit eines Angriffs kann somit ein ganzes Repräsentationssystem der Weltordnung ins Wanken bringen. Wenn in den Worten Gilles Deleuzes »das Delirium geographisch-politisch« ist, dann stellt sich die Geopolitik auch als Frage der Wahrnehmungen und Affekte dar. Die Teilung der Welt in Zentrum, Semiperipherie und Peripherie ist nicht bloß eine Erfindung von Weltsystemtheoretikern, sondern sie hat Wurzeln auch in unseren psychischen Strukturen, unseren Empfindungen, unseren Hirngespinsten. Das Zentrum treffen heißt daher eine Welt erschüttern, im geopolitischen ebenso wie im psychischen Sinn.11 Wenn Wells sich nur wahnhaft auszumalen beginnt, dass London zur Zielscheibe werden könnte, was bedeutet es dann erst für einen echten Angriff auf das hegemoniale Zentrum, wie ihn die Vereinigten Staaten am 11. September 2001 erfahren haben?

Wells’ Horrorvision wird noch besser verständlich, wenn wir uns die Implikationen dieser globalen Konstellation anhand der Außenpolitik, Verteidigungspolitik und Kriegsführung im Allgemeinen vor Augen führen. Die britische Außenpolitik findet entsprechend der Dreiteilung der Welt auf zwei Ebenen statt: Eine aggressive koloniale Expansionspolitik außerhalb Europas wird ab dem 18. Jahrhundert ergänzt durch eine Politik des Ausgleichs, der kollektiven Sicherheit und des indirekten Eingreifens auf dem europäischen Kontinent. Anders als die Kontinentalmächte strebt das Vereinigte Königreich keine Territorialeroberungen in Europa an, wenn man von den Marinestützpunkten absieht, die ihm die Kontrolle über die Seerouten ermöglichen. Die Briten stützen sich gewöhnlich auf einen oder mehrere »Rivalenstaaten«, um die anderen in Schach zu halten, und die militärisch schwächsten europäischen Staaten können sich der britischen Unterstützung bei der Finanzierung ihrer Kriegsunternehmungen stets sicher sein. Der Erfolg einer solchen Strategie ist augenfällig: Von den sieben gegen Frankreich geführten Kriegen zwischen 1689 und 1815 verliert Großbritannien nur einen einzigen, den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg – und damit auch den einzigen, in dem es nicht gelingt, auf dem Kontinent ein Bündnis gegen Frankreich zu schmieden.12 In gleicher Weise wurden der Erste und Zweite Weltkrieg, die die deutschen Ambitionen auf globale Hegemonie in die Schranken wiesen, vor allem dank Einreihung des russischen contenders gewonnen.

Die Kriegsführung im Allgemeinen hängt darüber hinaus von der geopolitischen Aufspaltung der Gewalt im Weltsystem ab. Seit dem 17. Jahrhundert spielt sich der Krieg in Europa zwischen Staaten ab.13 Zuerst haben die Staaten mit dem »Naturzustand« aufgeräumt, indem sie auf ihrem Territorium eine Gewalt zur Unterdrückung des Bürgerkriegs einrichteten. Die bewaffneten Konflikte im Inneren kommen zunehmend zum Erliegen. Dieser Verstaatlichung entspricht eine Beschränkung des Kriegs: Nachdem dieser eine Beziehung zwischen Staaten beschreibt, hört er auf, ein Verhältnis zwischen Individuen zu bezeichnen. Diese erhalten in der Folge das Recht auf Schutz vor Kriegsgewalt. Rousseau nimmt nur eine allgemeine Ansicht auf, wenn er schreibt, dass die Staaten selbst im Krieg Personen und die Güter der Bürger achten müssten: »Wenn der Krieg mit der Vernichtung des feindlichen Staates endet, ist man berechtigt, die Verteidiger zu töten, solange sie Waffen tragen; aber sobald sie sie niederlegen und sich ergeben, hören sie auf, Feinde oder Werkzeuge des Feindes zu sein, sie werden einfach wieder Menschen, und man hat kein Recht mehr über ihr Leben.«14

Während Europa sich als faktische Einheit wahrnahm, zunächst in Form einer Res publica christiana, später in Form einer gemeinsamen »Zivilisation« oder »Gesellschaft«, dann lagen die Dinge außerhalb Europas ganz anders. In den Kolonialkriegen kam nie der Gedanke auf, der Zivilbevölkerung ein besonderes Schutzrecht zuzugestehen. Die Militärtheoretiker haben das in aller Deutlichkeit erklärt. Zum Beispiel fasst Oberst Callwell, britischer Kolonialoffizier, gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Prinzipien des kolonialen »Kleinkriegs« folgendermaßen zusammen:

Der grundlegende Unterschied zwischen den kleinen Kriegen und den regulären Feldzügen […] liegt darin, dass in den kleinen Kriegen der Sieg über die feindlichen Truppen – wenn sie existieren – nicht unbedingt das Hauptziel darstellt; häufig ist die moralische Wirkung wichtiger als der materielle Erfolg, und manchmal beschränken sich die Einsätze auf Verwüstungen, die nach den Gesetzen des regulären Kriegs zu missbilligen wären.

Da sich in den Kolonialkriegen nicht zwei legitime staatliche Gewaltmonopolisten in Form ihrer Armeen gegenüberstehen, wird die Unterscheidung zwischen »Verteidigern des Staats« und »einfachen Menschen« hinfällig. Ein regulärer Krieg »kann mit der Kapitulation des feindlichen Souveräns oder Anführers, der das Volk vertritt, zu Ende gehen; wenn es sich aber um eine Rebellion handelt, die es zu unterdrücken gilt, dann müssen alle widerspenstigen Subjekte bestraft und unterworfen werden«.15 In Europa wird ein Feind als »gerecht« (justus hostis) angesehen, insofern souveräne Staaten und ihre regulären Streitkräfte aufeinandertreffen.16 Das Attribut der Gerechtigkeit unterscheidet einen Feind von einem Rebellen oder Kriminellen. Außerhalb Europas jedoch kommt dieses Charakteristikum überhaupt nicht zur Anwendung, sodass weder Kämpfer noch Zivilisten ein besonderes Schutzrecht genießen.

Daher findet ein Großteil der Bombardements in Regionen jenseits Europas statt. Im Jahr 1854 bombardieren die Amerikaner die Stadt Greytown (heute: San Juan de Nicaragua) und lösen damit Empörung seitens der Briten aus, die die Tat als »unerhört unter den zivilisierten Nationen« verurteilen. Das hindert ihre eigenen Streitkräfte aber nicht daran, gleich im folgenden Jahr Kanton zu bombardieren. Die Chinesen haben nämlich die Besatzung eines britischen Schiffs festgesetzt. Nach Intervention des Konsuls stimmen die chinesischen Behörden einer Freilassung der Gefangenen zu, weigern sich aber, eine öffentliche Entschuldigung sowie Garantien dafür abzugeben, dass sich ein solcher Vorfall nicht wiederholen wird. Die Briten entscheiden sich daher, das Feuer zu eröffnen. In London verteidigt der liberale Abgeordnete Ralph Bernal Osborne die Aktion mit folgenden Worten: »Es kommt nicht infrage, bei den Chinesen die pedantischen Regeln des internationalen Rechts anzuwenden!«17

Doch im 19. Jahrhundert tauchen die ersten Risse in dieser binären Anordnung auf, die eine europäische Sphäre mit begrenzten zwischenstaatlichen Kriegen von einer Peripherie scheidet, dem Schauplatz entgrenzter Kriege. Logischerweise zeigen sich diese Sprünge zuerst an der Grenze zwischen europäischem Zentrum und kolonisierter Peripherie, in den Vereinigten Staaten von Amerika beim Zweiten Unabhängigkeitskrieg und in Russland im Krimkrieg. Nordamerika, das traditionell außerhalb des internationalen Rechtsraums Europas liegt, wurde erst allmählich in die Sphäre der zivilisierten Christenheit eingegliedert.18 Russland wiederum liegt immer schon an den Grenzen Europas: Wenn es auch nicht gleichermaßen »zivilisiert« ist wie die anderen europäischen Nationen, so ist es doch durch geografische Nähe und die christliche Religion gekennzeichnet.19 Im Krieg zwischen Großbritannien und den Vereinigten Staaten 1812 bis 1815 bombardieren die britischen Seestreitkäfte Baltimore, Washington und andere amerikanische Städte.20 Diese Bombenangriffe haben dem Strategen Alfred Thayer Mahan zufolge das Ziel, das amerikanische Volk21 den Krieg am eigenen Leib spüren zu lassen, auf dass es seine Regierung zum Friedensschluss ver-anlasst.22 Das Volk wird zu einem Kriegsfaktor, allerdings unter Maßgabe einer alten Betrachtungsweise, die es lediglich als passives Element begreift, das zu mehr als sporadischen Gewaltausbrüchen nicht fähig ist.23 Wie wir sehen werden, bestimmt dieses Denken einen guten Teil der Luftkriegsstrategie im 20. Jahrhundert.

Ein anderer Ansatz des Volkskriegs zeichnet sich ebenfalls im Verlauf dieses Zweiten Amerikanischen Unabhängigkeitskriegs ab. Der zukünftige US-Präsident Theodore Roosevelt beobachtete 1882, dass die Briten, die gewöhnlich von der persönlichen Misshandlung der Zivilisten Abstand nahmen, besonders Orte ins Visier nahmen, wo organisierte Milizen den alten Kolonialherren Widerstand entgegenbrachten.24 Die Verbindung zwischen Milizenbildung und Bombardierung der Städte ist gewiss kein Zufall: Die Bewaffnung des Volkes zur Landesverteidigung lässt es im Krieg fast zwangsläufig zu einem Ziel werden. In dieser moderneren Sicht des Volkskriegs erscheint das Volk nicht mehr als passives Element, sondern als Quelle der Souveränität und zur Selbstorganisation fähig. Dort, wo es im Wesentlichen Objekt der Politik war, wird es zum eigentlichen Subjekt des Politischen. Genauso wenig ist es dem Zufall zuzuschreiben, wenn diese Ereignisse in eine Periode fallen, in der die Revolutionskriege in Europa eine neue Konzeption von Staatsbürgerschaft und mithin der Beziehung zwischen Staat und Bürgern auf die Tagesordnung gesetzt haben.

Diese Ereignisse entfachen eine Debatte über die Legitimität solcher Kriegshandlungen und über das Kriegsrecht im Allgemeinen. Da Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem europäischen Kontinent Frieden herrscht, bietet der amerikanische Sezessionskrieg Gelegenheit zur ersten modernen Kodifizierung des Kriegsrechts. Die berühmte, 1863 von Francis Lieber im Auftrag Washingtons verfasste »General Order No. 100«, der »Lieber Code«, spart in dieser Hinsicht nicht an lehrreichen Vieldeutigkeiten. In Einklang mit den »nationalen Kriegen« seit 1792 erklärt Lieber (Artikel 21), dass »der Bürger […] eines feindlichen Landes […] ein Feind ist, da er der feindlichen Nation oder dem feindlichen Staat angehört; in dieser Eigenschaft ist er der Unbill des Kriegs unterworfen«. Eine Person wird dadurch zum Feind, dass sie Bürger eines feindlichen Staats ist. Die klassische Unterscheidung zwischen Soldat und Zivilist gilt nicht mehr, da der Zivilist ein Bürger ist (in Rousseaus Worten ein Teil des Souveräns, gegen den man Krieg führt) und der Bürger ein Soldat.25