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Im 8. Jahrhundert, einer großen Zeit der Weltgeschichte, wird der junge Ritter Renaud ungeplant in viele wichtige Ereignisse dieser Zeit verwickelt. Somit führt die Geschichte des Ritters Renaud, später Pilger Reinhold, und am Ende Bruder Reinoldus, den Leser auf eine detailreiche, abenteuerliche, oft lebensgefährliche Reise durch das Frankenreich, Abbasidenreich, das Heilige Land, Konstantinopel, Venedig, Rom und wieder zurück ins Karolingerreich. Nach seiner Pilgerfahrt verbringt Renaud viele Wochen im Reichshof Gerînsheim, wo er allabendlich den Menschen dort über sein Leben erzählt. Er wuchs mit seinen drei Brüdern in der Dordonne auf, zusammen mit seinem Vetter Maugis. Diese ‚Quatre Fils Aymon‘ hatten eine schöne Jugendzeit mit vielen guten Abenteuern und ihrem Wunderpferd Bayard. Im Alter von 18 Jahren wurde Renaud zum Ritter geschlagen und der Ernst des Lebens begann. Er zog mit König Karl in den Sachsenkrieg, zerstritt sich aber mit ihm danach, da er in Notwehr Karls Lieblingsneffen Bertolai erschlug. Renaud und seine Brüder flohen, kämpften gegen die Mauren und verschanzten sich auf ihrem Schloss Montauban. Nach langjähriger Belagerung machten sie Frieden mit König Karl. Zur Buße geht Renaud auf eine Pilgerfahrt ins Heilige Land. Er schloss sich einer Delegation nach Bagdad an und wurde sogar von den Schergen der Kaiserin Irene in Konstantinopel gejagt. Nach einem schweren Sturm, gefolgt vom Angriff sarazenischer Piraten, erreichte Renaud unversehrt Venedig. Danach war er in Rom dabei, als sein Onkel Karl zum Kaiser gekrönt wurde und übergab ihm einen Brief des Kalifen Harun al-Raschid. Renaud ist ein Kämpfer und mag Frauen. In seinen allabendlichen Geschichten erzählt er auch gerne von seinen zahlreichen Liebesbeziehungen, seiner großen Liebe Clarisse, und der Dekadenz und den Extravakanzen der abbasidischen Gesellschaft. Aber zeitweise, betont er, lebte er auch recht zölibat mit Mönchen zusammen. Oft redet er kritisch über Gott, König und Religion, was den Ortspfarrer Albert zu seinem Gegenspieler macht. Während seiner Zeit in Gerînsheim schließt Renaud viele Freundschaften. Er verliebt sich in die schöne, selbstbewußte Witwe Wisigardis, und sie heiraten. Renaud kämpft in einem Gottesurteil in Lauresham, um seinen Freund Bodo zu retten. Als Folge davon wird Gerînsheim von Wegelagerern angegriffen und es kommt zu einem ernsthaften Kampf, den die Gerînsheimer gewinnen. Aber Renaud muss weiterziehen und seine neue Frau zurücklassen, um seinen Onkel Karl in Aachen zu besuchen und ihn zu bitten, seine Buße in Köln zu verkürzen. Unterwegs trifft er auf die zurückkehrende Botschaft aus Bagdad und den Juden Isaak, der ein besonderes Geschenk für den Kaiser mitbringt, den weißen Elefanten Abul Abbas. Nach der Wiedervereinigung mit seinen Söhnen und seiner Mutter begibt sich Renaud für die vereinbarten fünf Monate nach Köln, um dort als Steinmetz zu arbeiten, jetzt als Ehrenmönch Bruder Reinoldus. Als zwei sächsische Steinmetze entdecken, dass er der ehemalige Ritter Renaud ist, ermorden sie ihn brutal und werfen seinen Leichnam in den Rhein. Wie durch ein Wunder wird seine Leiche von einer Frau geborgen. Angewidert von diesem Mord erklärt der Bischof Renaud zum Heiligen Reinoldus. Wochen später verkünden zwei Mönche den Einwohnern von Gerînsheim seinen Tod und seine Heiligkeit, die schlechte und die gute Nachricht. Der Sünder Renaud ist zum Heiligen geworden.
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Seitenzahl: 829
Veröffentlichungsjahr: 2025
Über den Autor
Reinhold Kittelberger, 1949 geboren und aufgewachsen in Gernsheim, Hessen, studierte Chemie und Biochemie in Berlin und, nach seiner Promotion zum Dr. der Naturwissenschaften, arbeitete er als Wissenschaftler in der medizinischen Forschung. Er lebt seit 1986 in Wellington, Neuseeland, wo er Principal Adviser im Animal Health Laboratory war. Nach seiner Pensionierung begann er Romane zu schreiben. Die Reinoldus Saga ist sein erstes größeres Werk.
Meiner Mutter Anna gewidmet, die immer meinen Namenstag mit mir gefeiert hat.
Reinhold Kittelberger
Die Reinoldus Saga
Der Sünder und der Heilige
ein historischer Roman
„Weißt du, was das Problem mit Heiligen und Helden ist? Meistens sterben sie eines gewaltsamen Todes.“ Bruder Lothair
© 2025 Dr. Reinhold Kittelberger
ISBN 978-3-384-62569-4
ISBN 978-3-384-62570-0 E-Book
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
Tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Dies ist eine Neuauflage des Romans „Reinoldus“, der 2024 als EBook bei Amazon publiziert wurde, ASIN: B0DN8LPBBH.
Cover
Widmung
Titelblatt
Urheberrechte
Prologue
ERSTER TEIL – LEGENDE
1. Kapitel – Der Pilger
2. Kapitel – Reichshof Gerînsheim
3. Kapitel – Jugend
4. Kapitel – Steinmetz Bodo
5. Kapitel – Rittertum
6. Kapitel – Bodos Geheimnis
7. Kapitel – Sachsenkrieg
8. Kapitel – Rebellische Ritter
9. Kapitel – Wisigardis
10. Kapitel – Schloss Montauban
11. Kapitel – Himmelfahrt
12. Kapitel – Das Fest
13. Kapitel – Durch den Wald
14. Kapitel – Burg Bickenbach
15. Kapitel – Eine außergewöhnliche Jagd
16. Kapitel – Herrn Jakobs Schatz
17. Kapitel – Wisigardis’ Offenbarung
ZWEITER TEIL – KALIFAT
18. Kapitel – Über das Mittelmeer
19. Kapitel – Das Abbasidenreich
20. Kapitel – Die runde Stadt
21. Kapitel – Die Heimtücke
22. Kapitel – Goldenes Baghdad, voller Saus und Braus
23. Kapitel – Kalif Harun al-Raschid
24. Kapitel – Weisheiten
25. Kapitel – Lebensfreude
26. Kapitel – Markttag in Lauresham
27. Kapitel – Gefährliche Zeiten
DRITTER TEIL – PILGERFAHRT
28. Kapitel – Durchs Heilige Land
29. Kapitel – Am Jordan
30. Kapitel – Die Heilige Stadt
31. Kapitel – Wiedersehen in Jerusalem
32. Kapitel – Leben und Tod
33. Kapitel – Zurück zur Welt der Christen
34. Kapitel – Verräterisches Konstantinopolis
35. Kapitel – Sumpfloch Venetia
36. Kapitel – Das Geständnis des Priesters
37. Kapitel – Ein überraschendes Wiedersehen
38. Kapitel – Die Stadt der ewigen Ruinen
39. Kapitel – Heiliger römischer Kaiser
40. Kapitel – Die Fremden
VIERTER TEIL – FRANKENREICH
41. Kapitel – Heimweg
42. Kapitel – Eine herrliche Hochzeit
43. Kapitel – Nach Spira
44. Kapitel – Das Kuhdorf
45. Kapitel – Ein Kampf um Gerînsheim
46. Kapitel – Fischerfest
47. Kapitel – Ereignisse in Moguntia
48. Kapitel – Enthüllungen in Ingilinhaim
49. Kapitel – Aquisgranum, das neue Rom
50. Kapitel – Eine große Familie
51. Kapitel – Reliquien, Blößen und Mutterliebe
52. Kapitel – Bruder Reinoldus
53. Kapitel – Agonie in Kolna
54. Kapitel – Die Gesandten
Epilog
PERSONEN
LANDKARTE
HINTERGRUND
HISTORISCHER HINTERGRUND
DANKSAGUNGEN
Cover
Widmung
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Prologue
Prologue
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Prologue
Renauds zerschmetterter Körper lag in einer riesigen Blutlache auf dem Boden. Er trug ein schwarzes Benediktiner-Mönchsgewand. Die Nacht war pechschwarz, da dichte Wolken den Vollmond und die Sterne verdeckten. In der Ferne rief ein Käuzchen. Plötzlich erschienen helle, silberweiße Lichtstrahlen am Nachthimmel. Mehrere Gestalten, die wie menschliche Körper aussahen, aber riesige weiße Flügelpaare hatten, schwebten über dem Ermordeten und strahlten feurig. Sie waren völlig nackt, hatten aber kein Geschlecht, sondern nur perfekte, glatte Haut an der gewissen Stelle. Ihre silbernen Haare glänzten, während sie lang und offen von ihren Schultern hingen. Sie schienen verstört zu sein über das Verbrechen, das hier geschehen war.
Zwei dieser himmlischen Wesen ergriffen die Arme des Toten und hoben einen durchsichtigen, perfekten Körper von der geschundenen Leiche. Um seinen Kopf entstand ein golden leuchtender Heiligenschein. Auch der Mann war nackt, trug aber ein offenes, weiß schimmerndes Gewand aus feinstem Stoff. Musik und Gesang erklangen, als sie hoch in den Himmel aufstiegen. Die Nacht wich strahlend blauem Tageslicht, und Myriaden weißer, samtiger Wolken bedeckten das Firmament wie weiche Kissen, so weit das Auge reichte. Nah und fern saßen Scharen von leuchtenden, durchscheinenden Körpern auf diesen Wolken, manche mit Heiligenschein, die meisten jedoch ohne. Sie bildeten einen mächtigen Chor und sangen mit kräftigen Stimmen: „Hosianna, hosianna, hosianna in der Höhe“, immer und immer wieder.
„Das ist deine Wolke“, hauchte eines der engelhaften Wesen dem Mann zu. „Du wirst hier für immer und ewig bleiben, für immer und ewig. Du wirst singen und den Herrn preisen, für immer und ewig, für immer und ewig. Halleluja!“
Der neu angekommene Himmelsmensch starrte mit verengten, durchdringend graugrünen Augen auf die Engel und auf die singenden Seelen, während er sich seinen silbernen Bart streichelte.
„Ist das alles?“, fragte er mit lauter Stimme.
„Ist das wirklich alles?“, schrie er.
„Ist das wirklich alles, das es hier gibt?“, brüllte er.
Dann wachte er von seiner eigenen Stimme auf. Renaud brauchte eine Weile, um über diesen seltsamen Traum hinwegzukommen. Eher ein Albtraum, dachte er. Werde ich so sterben? Vielleicht? Er war in seinem Leben schon viele Male einem gewaltsamen Tod nahe gewesen. Dann erinnerte er sich, wo er war. Im Kloster Lauresham, wo er sich mehrere Tage aufgehalten hatte. Es war Wunnimanoth, im Jahr des Herrn, 802. Heute würde er weiterziehen. Es war Zeit, aufzustehen.
ERSTER TEIL – LEGENDE
„Es war an einem nebligen Morgen zur Zeit der Dämmerung in der Einsiedelei. Da sah ich die vier Söhne: Renaud, Alard, Richard und Guichard. Sie hoben ihre wunderschönen, stolzen Körper himmelwärts, aus der Vergangenheit aufbrechend und in die Zukunft reitend.“
‚La Chanson des quatre Fils Aymon‘, französisches ‚Chanson de Geste‘, circa 1250.
‚Die Sage von den vier Haimonskindern‘, ein Heldenlied, circa 15. Jahrhundert.
1. Kapitel – Der Pilger
Mai - Wunnimanoth 802
Renaud, ein großer, kräftig gebauter Mann, war im Begriff, das Kloster zu verlassen. Seine Haut war dunkel gebräunt von all den Jahren, in denen er bei jedem Wetter, das Gott ihm geschickt hatte, auf Wanderschaft war. Das lange, grobe Gewand, das er trug, brachte ihn an diesem warmen Frühlingstag zum Schwitzen. Sein breiter, verwitterter und mit der Zeit ausgefranster Filzhut bot ihm etwas Schutz vor der Sonne. Der Stab in seiner linken Hand, der in einem Kreuz endete, vervollständigte die typische Pilgertracht. Ein weiteres kleines Kreuz aus Palmblättern an seinem Hut wies ihn als einen Pilger aus, der das Heilige Land besucht hatte.
Mit zusammengekniffenen graugrünen Augen blickte er sich um und strich sich über den schwarzen Bart, der hier und da schon graue Flecken aufwies. Er deutete auf die romanischen Zwillingstürme, die hoch in den wolkenlosen Himmel ragten.
„Ein beeindruckender Ort, Bruder Lothair, euer Kloster Lauresham. Das ist schon eine Kirche, die ihr da gebaut habt“, sagte er zu dem rundlichen, nervös wirkenden Benediktinermönch.
„Gewiss, Pilger Renaud. Verzeih mir, was ich jetzt sage, denn Stolz ist ja eine Todsünde, aber wir sind stolz auf dieses Kloster. Wie können wir es vermeiden, sagen wir mal, dankbar zu sein? Carolus Magnus, unser geliebter König, nein Kaiser natürlich, war vor achtundzwanzig Jahren persönlich hier, um der Einweihung unseres Klosters und unserer Basilika Sankt Petrus, Paulus und Nazarius beizuwohnen. Damals war ich natürlich noch nicht hier. Und ich möchte dich, mein Herr, auch auf unser neues Skriptorium und die Bibliotheca aufmerksam machen, die erst vor einem Jahr fertiggestellt wurden.“
Lothair schaute mit seinen hervorquellenden Augen zu Renaud auf, ein breites Lächeln in seinem roten runden Gesicht, das eine dicke Warze auf der rechten Wange zierte.
„Ja, ich habe all die wunderschönen Bücher gesehen, die ihr Mönche so geduldig von Hand geschrieben und verziert habt. Aber ich muss weiterreisen. Ich würde gerne einige eurer Bücher lesen. Eines Tages werde ich bestimmt wiederkommen.“
Renaud ließ seinen Blick von der Kirche über den langen Säulengang zum Torhaus der Abtei schweifen.
„Ich bin wirklich beeindruckt. Wer war noch mal dieser Heilige, dieser Nazarius?“
„Der heilige Nazarius und sein Schüler, der heilige Celcus, verbreiteten das Evangelium in Italien und Gallien. Unter Kaiser Diokletian wurden sie in Mailand gefoltert und hingerichtet. Damals starben diese Märtyrer als Ausgestoßene der Welt. Jetzt aber werden sie von Gott mit ewiger Ehre gekrönt. Papst Paul selbst hat uns die Reliquien des heiligen Nazarius nur ein Jahr nach der Gründung des Klosters geschenkt. Das war Anno Domini 765. Nach einer feierlichen Wallfahrt, begleitet von Hymnen und geistlichen Gesängen, wurden die Gebeine des heiligen Leibes von einer unübersehbaren Menschenmenge an diesen vom Himmel geschenkten Ort gebracht.“
Der Mönch erhob seine Hand zum Himmel und blickte lächelnd zu Renaud auf. Dann fuhr er fort.
„Du solltest zum Fest des Heiligen Nazarius am zwölften Tag des Brachmanoth hier sein, mein Herr, und du solltest im Jahre unseres Herrn 804, am fünfhundertsten Jahrestag des Martyriums unseres Heiligen, wieder hierher kommen. An diesen Tagen besuchen uns jedes Jahr Tausende von Pilgern, die durch das Bußsakrament Vergebung ihrer Sünden und Versöhnung mit Christus und ihren Mitchristen finden.“
„Dazu sage ich nur Amen, Bruder. Ich werde sicher eines Tages wiederkommen. Ich frage mich, ob es das Schicksal eines Heiligen sein muss, einen schrecklichen Tod zu sterben. Hat es je einen Heiligen gegeben, der eines natürlichen Todes gestorben ist?“
Renaud lächelte den Mönch fragend an.
Bruder Lothair zuckte die Achseln. „Weißt du, was das Problem mit Heiligen und Helden ist? Meistens sterben sie eines gewaltsamen Todes.“
„Aber ich kann sehen, dass ihr gut von den Pilgern lebt, deinem runden Bauch nach zu urteilen, Bruder Lothair. Ich kann dir bestätigen, dass der Wein, den ihr hier ausschenkt, einer der besten ist, und dass auch eure Mahlzeiten nicht von schlechten Eltern sind.“
Lothair wirkte beleidigt.
„Lieber Pilger Renaud! Wir sind ein Reichskloster, unabhängig von Herzögen und Grafen und nur dem Kaiser verantwortlich. Sieh dir an, was hier im Laufe der Jahre für wunderbare Dinge geschehen sind: Blinde konnten wieder gehen, Lahme wieder sehen und Taube wieder hören.“
Der Mönch wischte sich ein paar Schweißperlen von der Stirn.
„Ich glaube, du meinst: Blinde konnten sehen und Lahme konnten gehen?“
„Ja, natürlich! Das habe ich doch gesagt, oder?“
Ein breites Grinsen breitete sich auf Renauds Gesicht aus.
„Um ehrlich zu sein, bin ich kein großer Bewunderer unseres Kaisers Carolus Magnus, und ich habe meine Gründe dafür.“
„Das habe ich mir schon fast gedacht. In den paar Tagen, die du mit uns hier verbracht hast, hast du uns viel über deine Pilgerreise ins Heilige Land erzählt, was zugegebenermaßen sehr lehrreich, unterhaltsam und spannend war. Und auch dein Besuch in der Ewigen Stadt Rom auf dem Rückweg war außergewöhnlich. Aber du hast uns nie viel Einblick in dein eigenes Leben gegeben. Wer du bist? Warum hast du diese Reise gemacht?“
„Ja, da hast du recht. Jetzt, wo ich aufbreche, kann ich dir ja verraten, dass ich ein Neffe genau dieses Kaisers Carolus Magnus bin. Ich hatte meine Probleme mit ihm. Deshalb habe ich diese Pilgerreise gemacht, die er von mir als Buße verlangt hat. Und ja, ich war gerade rechtzeitig in Rom, um dabei zu sein, als er am Weihnachtstag des Jahres unseres Herrn 800 zum Heiligen römischen Kaiser gekrönt wurde. Was für ein Spektakel das war! Perfekt inszeniert, muss ich sagen. Nun, wie reise ich von hier aus weiter, Bruder?“
Sie waren am Klostertor angelangt, von wo aus sie den davor liegenden Ort Lauresham überblickten.
„Um der Liebe Gottes willen“, seufzte Lothair. „Wir hätten einem so edlen Gast mehr Aufmerksamkeit schenken sollen, wenn wir das gewusst hätten.“
Er wischte sich über die Stirn.
„Es ist gut so, Bruder, wie es ist. Ihr Mönche habt mich behandelt wie jeden anderen Pilger, der euer Kloster besucht. Das ist alles, was ich wollte. Bald werde ich in Kolna sein und beim Bau des Doms helfen. Eine weitere Bedingung unseres geliebten Kaisers. Ich möchte endlich Frieden finden, nach einem Leben voller … nun, sagen wir mal, Herausforderungen.“
„Mein lieber Graf Renaud oder gar Herzog? Möge Gott mit dir sein und dich auf deinen Wegen begleiten. Nun, was deine Weiterreise nach Kolna betrifft, da gibt es einige Probleme. Der Rīna führt Hochwasser, wie immer im Frühjahr, aber später als in anderen Jahren. Du kannst leider nicht mit der Fähre nach Warmatia übersetzen und von dort auf der Reichsstraße nach Moguntia weiterreisen.“
Der Mönch seufzte und leckte sich die Lippen. Offenbar machte ihn die warme Sonne durstig.
„Ich schlage vor, du nimmst den weniger begangenen Weg auf dieser Seite des Flusses. Oder du bleibst einfach noch eine Zeit lang bei uns, bis das Hochwasser vorbei ist?“
Renaud zuckte die Schultern. „Nein, ich ziehe weiter.“
„Gut dann. Nachdem du die Wiesen und Felder hinter dir gelassen hast, gehst du eine Weile durch dichten Wald. Irgendwo zweigt ein Weg zum Weiler Raureheim ab, aber du bleibst auf dem Hauptweg. Dort steht eine Gruppe von Kopfweiden, die dir als Wegweiser dienen. Auf deinem weiteren Weg kommst du an einigen Hütten vorbei, einem Ort namens Rorheim, wo arme Fischer und Korbflechter leben. Es lohnt sich nicht, dort anzuhalten. Aber ich muss doch erwähnen, dass mir ein Korbflechter Ehepaar von dort einmal einen sehr kunstvollen Korb gemacht hat. Wie hießen die beiden noch mal?“
Lothair kratzte sich an der Stirn.
„Ach ja, Heimrich und Helga, was soll’s. Bald führt dich der Weg zu einem Ort, der Gerînsheim heißt, ein Königshof, oder besser gesagt, ein Reichshof, denn wir haben ja jetzt einen Kaiser. Der Verwalter dort, Herr Georg, wird dir auf deiner Reise behilflich sein, davon bin ich überzeugt. Richte ihm bitte meine Grüße aus, von seinem Verwandten, Bruder Lothair.“
Der Mönch lachte.
„Und falls du dem Steinmetz Bodo begegnest, richte ihm meine herzlichsten Grüße aus. Wir sind gute Freunde. Nun, noch eine Warnung: Sei vorsichtig, wenn du in die Auenwälder kommst. Seit einiger Zeit treiben dort Räuber ihr Unwesen. Reisende und Pilger sind schon mehrmals ausgeraubt worden.“
„Ich nicht, mein Freund“, sagte Renaud selbstbewusst. Er öffnete seinen Mantel und zeigte sein Schwert. „Das ist mein treues Zauberschwert, Froberge. Mein Vetter, der Magier Maugis, hat es mir geschenkt. Es hat mir bisher gute Dienste geleistet.“
„Wie merkwürdig! Ist da noch Heidenblut in dir, Herr Renaud? Zauberschwert und Zauberer.“
Der Mönch bekreuzigte sich vor Renaud und fuhr fort.
„Wenn du uns wieder besuchst, muss ich dir unsere Schmiede zeigen. Wir machen die besten Schwerter der Welt. Ich glaube, unser Schmiedemeister Ulfberht wird sich für dein Zauberschwert sicher interessieren. Jedenfalls wünsche ich dir eine gute Reise. Und ein besseres, heiligeres Leben in Kolna.“ Lothair machte das Kreuzzeichen zu Renaud hin. „Gott segne dich!“
Renaud bekreuzigte sich ebenfalls, schulterte sein Bündel und ging in die Richtung, die Bruder Lothair ihm wies.
Der Pilger durchquerte das verlassen wirkende Dorf Lauresham. Die Bauern und die Unfreien müssen auf den Feldern sein, dachte er. Ein paar Frauen standen an einem steinernen Wassertrog, wuschen ihre Wäsche und blickten Renaud scheu hinterher. Ein paar streunende Hunde bellten ihn an. Bald erreichte er das offene Tor im Palisadenzaun und verließ das Dorf.
Er genoss den zügigen Marsch, vorbei an Feldern und Wiesen. Das saftig grüne Gras war hoch gewachsen, nach all dem Regen und dem anschließenden warmen Sonnenschein. Und auch das Unkraut stand hoch. Bald würde die Heuernte beginnen.
Auf einem Feld in der Nähe führte ein Bauer mit einer Hand einen hölzernen Hakenpflug. Von zwei Ochsen gezogen, wälzte das Gerät die schwere Erde um. Mit der anderen Hand schwang der Landmann einen Stachelstock, um die Ochsen anzutreiben. Gleichmäßig ging er mit kräftigen, monotonen Schritten über den Acker, den Blick auf die Furche gerichtet. Es war schwere Arbeit. In der Ferne sah Renaud einen anderen Bauern mit einer hölzernen Egge, die nur von einem Ochsen gezogen wurde. Sie zerkleinerte die großen Erdklumpen des Pfluges. Irgendwo hatte er einmal einen eisernen Pflug gesehen, der die Arbeit sicher erleichtern würde, vermutete er. Aber Eisen war teuer und wurde für die Herstellung von Schwertern, Waffen und Rüstungen benötigt. Damit Carolus die beste Armee der Welt hatte, mussten andere leiden. Wie gut, dass ich nicht als Bauer oder gar als Unfreier geboren wurde, dachte er.
Nach Gerînsheim sollte er nur drei Stunden brauchen, was natürlich auch vom Zustand des Weges abhing. Bald wurden die Felder und Wiesen von Büschen und Wäldern abgelöst und nur noch vereinzelte Hütten lagen verstreut in der Landschaft. Hier und da weideten Ziegen und Schafe, die die Flucht ergriffen, sobald Renaud ihnen zu nahe kam. Ein Schäfer starrte ihn an und hielt seine ungepflegten, gefährlich bellenden Hunde zurück.
„Gottes Segen, Schäfer.“ Renaud lächelte den Hirten an.
„Dir auch, Pilger“, kam die Antwort. Der Schäfer schwenkte kurz seinen Hirtenstab.
Eine päpstliche Geste, dachte Renaud. Das ist er, unser Heiliger Vater, ein Hirte. Und ich bin eines seiner dummen Schafe. „Bah, bah!“, sagte Renaud laut und grinste.
Der Schäfer schüttelte den Kopf.
Renaud zog seinen Mantel aus und hängte ihn sich über die Schulter. Es war ein warmer Tag. Er blickte zum Himmel hinauf, wo hoch oben eine Feldlerche schwebte und zwitscherte, unbeeindruckt von dem, was sich unter ihr abspielte.
Bald durchquerte Renaud einen dichten Wald. Den mächtigen Rīna konnte er hinter all den Bäumen nicht sehen, aber er vermutete, dass er nicht weit entfernt war, wie er aus den überschwemmten Ständen von Weiden und Pappeln schließen konnte. Später entdeckte er die Kopfweiden, die Lothair erwähnt hatte, und sah den schlammigen Weg, der nach Raureheim abzweigte. Er hoffte, dass die Menschen dort in Sicherheit waren und das Hochwasser ihr Leben nicht zu sehr beeinträchtigt hatte.
Renaud genoss die frische Luft im Schatten der Bäume. Er liebte den eigenartigen Geruch der Weiden und das ständige Rascheln der Pappelblätter. Ein starker Duft von wilden Zwiebeln ließ ihn niesen. Bald wurde es kühler, als er durch einen dichten Wald aus knorrigen Eichen ging. In der Nacht hatte es geregnet, und der kühle Wind schüttelte hier und da dicke Wassertropfen von den Bäumen. Renaud schlüpfte wieder in seinen Mantel, unter dem er auch sein Schwert verbarg. Der Weg war gerade breit genug für einen Karren, wie man an den Radspuren erkennen konnte. Die knorrigen Wurzeln, die sich über den Weg krallten, machten ihn ziemlich holprig. Schlingpflanzen, wie Efeu, glätteten die Äste und überzogen sie mit einem pelzigen, grünen Belag. Weit voraus konnte man da nicht sehen.
Renaud setzte sich auf einen umgestürzten, moosbedeckten Baumstamm, auf den ein Strahl Sonne fiel. Er genoss sein Vesperbrot und den mitgebrachten Käse und trank ein paar Schlucke verdünnten Weins aus einer Lederflasche.
„Einen guten Handkäs’ machen sie auch, diese Mönche“, murmelte er und schnupperte an dem würzigen Aroma.
Die einfachen Freuden des Lebens sind die besten, dachte er, während er dem Trommeln eines Spechts und dem Gesang der Finken lauschte. In der Ferne hörte er eine Kirchenglocke zur Mittagsstunde läuten. Es musste Zeit für das Mittagessen sein. Er sah sich um, denn er hatte das seltsame Gefühl, beobachtet zu werden. Aber es war niemand da. Plötzlich kreuzte eine Rotte Wildschweine den Weg, einige Bachen mit ihren Frischlingen. Sie hatten es nicht eilig.
„Puh“, seufzt Renaud. Er hätte die Schweine längst bemerken müssen. Die aufgewühlte Erde um ihn herum und der verräterische Gestank waren eindeutige Zeichen.
Dann sah er die Gestalt. Ein großer Mann stand im Dickicht.
„Gib uns dein Geld!“
Der Räuber hob eine riesige Axt, bereit, sie jeden Moment auf Renaud niedersausen zu lassen.
„Der Friede des Herrn sei mit dir, Bruder! Hier nimm ein Stück Käse, mein Freund.“
Renaud wusste aus Erfahrung, dass solche Gesten die meisten Feinde irritierten. Er musste einfach ruhig bleiben und die Nerven behalten. Ein anderer, grob aussehender Mann tauchte neben ihm auf.
„Gerne“, sagte der Kerl und streckte die Hand aus. Er hatte bestimmt Hunger.
Während Renaud dem Gesetzlosen neben sich den Käse reichte, zog er blitzschnell sein Schwert. Der Wegelagerer schien überrascht und erschrocken, denn von einem Pilger hatte er keinen Widerstand erwartet. Renaud durchschlug den Arm des Räubers. Ein entsetzlicher Schrei erfüllte die Luft. Gerade noch rechtzeitig sah Renaud die Axt fliegen und duckte sich. Er spürte, wie sie sein Haar streifte, ihn aber nicht verletzte. Sie spaltete den Kopf des nun armlosen Wegelagerers und stoppte sein Schreien. Der Axtwerfer wollte gerade sein Messer ziehen, als Renaud ihm sein Schwert in den Bauch rammte. Er zog seinen Froberge heraus und Gedärme und Blut quollen aus der Wunde. Der Angreifer sank zu Boden und murmelte unverständliche Worte.
„Für einen Pilger bist du ein guter Kämpfer“, ertönte die tiefe Stimme eines dritten Mannes hinter ihm. Renaud wirbelte herum, gerade noch rechtzeitig, um einen Schwertstreich abzuwehren. Der Kerl war groß und finster, mit vielen Narben im Gesicht. Wieder schlug er zu. Renaud sprang zur Seite, um nicht getroffen zu werden, rutschte aber aus, fiel auf den Rücken und verlor sein Schwert. Der Räuber holte zum tödlichen Schlag aus.
„Herr, rette mich“, schrie Renaud, und zu seiner Überraschung ließ der Gesetzlose sein Schwert fallen und stürzte kopfüber neben ihm zu Boden. Aus seinem Rücken ragte ein Speer.
„Dein Gebet wurde erhört. Welch ein Wunder. Zum Glück war ich hinter den Wildschweinen her.“
Ein kräftig gebauter Jäger mit langen blonden Haaren und Bart lächelte Renaud an.
„Endlich sind wir diese verdammten Wegelagerer los. Sogar alle drei auf einen Streich.“
Er streckte die Hand aus und half Renaud auf die Beine.
„Ich heiße Walter.“
„Ich bin Renaud.“
Sie schüttelten sich die Hände.
„Ich bin ein Pilger, aus dem Heiligen Land zurück. In meinem früheren Leben war ich ein Ritter.“ Renauds Hände zitterten. Er hob sein Schwert auf und wischte das Blut an einem der Verbrecher ab. „Das Pilgern hat mich wohl aus der Übung gebracht. Was machen wir mit den Leichen? “ Renaud zeigte mit Froberge auf die Toten.
„Die drei Johannes, die Räuber vom Rīna, wie wir sie nennen. Wir holen sie später mit einem Karren ab und begraben sie.“ Walter stellte seinen Fuß auf den Rücken des Wegelagerers und zog seinen Speer heraus. „Schade, dass wir sie nicht lebend erwischt haben. Ich hätte sie gerne aufs Rad gespannt.“
„Eine üble Foltermethode, um die Knochen zu brechen“, bemerkte Renaud und verzog das Gesicht. „Ich habe das Rad schon mehrmals in Aktion gesehen. Besser, sie sind tot.“
„Du bist zu sanft, aber vielleicht hast du recht, Fremder. Das wäre kein schöner Anblick für die Kinder unserer Gemeinde.“ Walter kratzte sich an seinem blonden Bart und sah Renaud mit seinen blauen Augen fragend an. „Auf diese Verbrecher ist eine Belohnung ausgesetzt. Die muss ich wohl jetzt mit dir teilen?“
Renaud grinste. „Mach dir darüber keine Gedanken. Ich habe mein eigenes Einkommen. Sind wir in der Nähe eines Dorfes? Ich habe vorhin eine Kirchenglocke gehört.“
„Ja, wir sind nicht weit vom Reichshof Gerînsheim weg.“ Wieder streckte Walter seine Hand aus und schüttelte Renaud erneut die Hand. „Willkommen in unserer bescheidenen Gemeinde und sei unser Gast“.
2. Kapitel – Reichshof Gerînsheim
Mai - Wunnimanoth 802
Sie gingen an Rohrheim vorbei, einer kleinen Gruppe von Lehm-verputzten Flechtwerkhäuschen mit weit überhängenden Reetdächern. Walter winkte einer Frau und einem Mann zu, die vor einer Hütte saßen und Körbe flochten. Das Paar winkte zurück.
„Heimrich und Helga, nehme ich an“, schmunzelte Renaud.
„Genau. Woher kennst du sie?“
Renaud lachte. „Ich kenne sie nicht, aber Bruder Lothair hatte sie erwähnt.“
„Wir leben in einer kleinen Welt, nicht wahr?“, sagte Walter. „Fast jeder kennt jeden.“
„Da muss ich dir widersprechen, Walter. Unsere Welt ist ganz schön groß.“
Sie lachten beide und zogen weiter.
Bald näherten sie sich Gerînsheim. Endlich sah Renaud den Fluss Rīna. Er glich einem riesigen See, denn alle tiefer gelegenen Felder und Wiesen waren überflutet. Hier und da reckten Weiden und Pappeln ihre üppig belaubten Köpfe aus dem braunen Wasser. Die Häuser waren einige hundert Schritte vom Fluss entfernt auf einer Anhöhe errichtet worden. Die beiden kamen an zwei Fischerhütten vorbei, deren überhängende Schilfdächer mit Moos und Taubenkot übersät waren. Drei Fischer in einfachen Leinenhemden und eintönig braunen Beinkleidern reparierten neben ihren umgedrehten Booten ihre Netze. Walter winkte ihnen zu, und sie winkten zurück.
„Zu riskant, bei den Strömungen fischen zu gehen“, erklärte Walter. „Die müssen wohl noch ein oder zwei Wochen warten. In der Zwischenzeit hoffe ich, dass sie auf den überschwemmten Wiesen ein paar fette Aale fangen.“ Er kratzte sich am Kopf. „Weißt du etwa auch, wie diese Fischer heißen?“
„Nein. Aber vielleicht Petrus, Paulus und Nazarius?“
„Falsch. Ist aber egal.“
Sie lachten und gingen die Anhöhe hinauf, wo mehrere strohgedeckte Häuser standen. Einige waren aus Holz gebaut, andere aus Flechtwerk. Dort, wo der Rauch aus den Feuerstellen durch ein Loch abziehen konnte, war das Stroh geschwärzt. Die Häuser standen außerhalb eines hölzernen Palisadenzauns.
„Die meisten unserer Handwerker haben sich hier draußen niedergelassen.“ Walter zeigte auf sie: „Der Schmied wohnt da drüben. Du kannst den Schmiedeofen neben seinem Haus sehen, direkt am Bach. Weiter oben am Hang arbeitet ein Drechsler und sogar ein Knochenschnitzer ist seit kurzem bei uns. Noch weiter hinten ist unsere Schreinerei. Wir werden bald einen zweiten Palisadenzaun bauen müssen, um die Häuser vor wilden Tieren zu schützen und das Vieh drinnen zu halten, nehme ich an.“
„Und um die Wegelagerer fernzuhalten“, fügte Renaud hinzu.
Walter nickte. Als sie an einem Ziehbrunnen vorbeikamen, stürzte ein Schwarm weißer Gänse mit graubraunen Köpfen, die laut und bösartig schrien, mit weit ausgebreiteten Flügeln auf sie zu.
„Haut ab“, rief Walter und fuchtelte mit dem Speer, aber sie kamen immer näher, schrien und schlugen mit den Flügeln.
„Sie halten sich meistens in unserem Weinberg auf, wo sie ihr Quartier haben“, erklärte Walter. „Sie sind sozusagen gute und laute Wachhunde, die uns vor Traubendieben warnen.“
Plötzlich drehten sich die Vögel um und verschwanden hinter ein paar Büschen. Ein ungepflegter grauer Hund rannte wild bellend auf die Männer zu, gefolgt von drei weiteren räudig aussehenden Kötern.
„Etzel, komm her, mein Freund!“ Walter streichelte das große, rau aussehende Tier. „Sie sehen zwar wild aus, aber sie sind die besten Hunde der Welt. Geht zurück, ihr Schlingel.“
Die Hunde beruhigten sich, schnüffelten an Renauds Beinen und folgten den beiden Männern.
„Etzel klingt doch verdächtig nach einem Nibelungennamen, Walter?“
„Ja, Renaud. Er ist nach dem Hunnenkönig benannt, Königin Kriemhilds zweitem Mann. Ihr erster Mann, Siegfried, war ja vom finsteren Hagen ermordet worden. Du kennst doch sicher die Sage?“
„Oh ja, wer kennt sie nicht?“
„Barden besuchen uns von Zeit zu Zeit. Wir alle lauschen gerne ihren Liedern und Geschichten. Liebe und Hass, Mut und Feigheit, Hochzeit und Vergewaltigung, Kampf und Heldentod; all das hat sich hier zugetragen.“
„Wirklich?“
„Die Burgunder lebten in Warmatia.“ Walter deutete auf den Fluss, erst Richtung Süden, dann nach Norden, auf die weite, überschwemmte Fläche. „Irgendwo da draußen hat der finstere Hagen den Nibelungenhort versenkt. So erzählt es die Sage: ‚Der Hort wurde zu Loche im Rīna versenkt‘.“
„Vielleicht sollten wir versuchen, den Schatz zu finden“, lachte Renaud.
„Wenn du ertrinken willst, bitte. Du wärst nicht der Erste. Da draußen gibt es starke und gefährliche Strömungen.“
Sie erreichten das offene Tor, durch das sie hinter den Palisadenzaun kamen. Vor ihnen erstreckte sich der eigentliche Reichshof mit zahlreichen Gebäuden, alle mit Lehm verputzt und mit dicken, überhängenden Reetdächern gedeckt. Eine Schar brauner Hühner, angeführt von einem ebenso braunen Hahn, scharrte nach Fressbarem und pickten hier und da in der Erde.
„Jemand hat den Hühnerstall offen gelassen“, ärgerte sich Walter. „Manchmal lassen die Frauen sie raus, um draußen nach Futter zu suchen. Ein bisschen riskant. Die Füchse sind bestimmt nicht weit.“ Er zeigte zum hinteren Teil des Reichshofs. „Siehst du, dort hinten? Da haben wir sogar eine kleine Steinkirche gebaut.“
„Wie viele lebende Seelen gibt es in Gerînsheim?“, wollte Renaud wissen, während er ein Huhn aus dem Weg kickte.
„Gute Frage, mein Freund. Zuletzt waren es neunundachtzig. Aber ich glaube, es sind noch zwei oder drei unterwegs. Eines davon wird mein sechstes Kind sein.“
„Herzlichen Glückwunsch, Walter. Du scheinst ja ein fleißiger Mann zu sein.“ Sie lachten beide.
Sie gingen an den langen Häusern der Unfreien und Bauern vorbei und näherten sich dem edleren Haus des Verwalters. Es hatte hölzerne Wände und ein überhängendes Schindeldach. Eine große Holztür mit verzierten Scharnieren öffnete sich. Ein untersetzter, grauhaariger Mann in einem fein bestickten Überrock aus Leinen trat lächelnd heraus.
„Mein lieber Walter. Wo ist die Wildsau, die du uns versprochen hast?“
„Mein Herr Georg. Gott hat uns eine andere Beute geschenkt: Wir haben die drei Wegelagerer, die uns in den letzten Monaten so viel Ärger bereitet haben, gejagt und getötet. Später werden wir ihre Leichen einsammeln. Dann kann Pfarrer Albert entscheiden, mit welchen Riten wir sie in die Hölle schicken“.
„Und wer bist du, Fremder, wenn ich fragen darf? Du siehst wie ein Pilger aus. Ich bin übrigens der Verwalter dieses Reichshofs. Mein Name ist Georg.“
„Mein Herr, ich bin ein Pilger, der gerade aus dem Heiligen Land zurückgekehrt ist. Ich bin auf dem Weg nach Kolna, um beim Dombau zu helfen. Mein Name ist Renaud, genauer gesagt Renaud de Montauban.“
Georgs hervorstehende Augen öffneten sich weit und ein breites Lächeln breitete sich auf seinem runden Gesicht aus. Er streckte die Hand aus, und er und Renaud schüttelten ihre Hände.
„Mein Fürst Renaud, oder etwa Graf oder Herzog? Du musst unser Gast sein und uns alles über deine Pilgerfahrt erzählen: über die Orte, an denen unser Herr Jesus gelebt und seine Wunder gewirkt hat; Bethlehem, wo er geboren wurde, und die Stadt Jerusalem, wo er gekreuzigt wurde. Hast du all diese heiligen Stätten gesehen?“
Georg hielt noch immer Renauds Hand fest. Mit einem Ruck befreite sich der Pilger von dem feuchten Handgriff.
„Oh ja, das habe ich! Sie werden nun von den Muslimen beherrscht. “ Renaud bemerkte, dass Georgs Gesichtsausdruck ernst wurde, aber er fuhr fort: „Und vielen Dank für deine Gastfreundschaft, Herr Georg. Da ich den Rīna anscheinend nicht so schnell überqueren kann, bleibe ich gerne ein paar Tage.“
Georgs Wangen waren jetzt rot. „Ich bin mir sicher, dass unser Kaiser etwas gegen diese Muslime unternehmen wird. Diese heiligen Stätten sollten in Christenhand sein!“ Er bekreuzigte sich.
„Vielleicht, mein Herr. Aber ich muss sagen, dass ich von den Andersgläubigen dort nicht schlecht behandelt wurde. Du weißt es vielleicht nicht, aber unser Kaiser unterhält gute Beziehungen zum Kalifen Harun al-Raschid, dem Herrscher des Abbasidenreiches, in dem Palästina liegt. Deshalb können wir Christen ja in Frieden dorthin pilgern.“
Georg fehlten die Worte und Renaud wechselte das Thema.
„Nun, kann ich, solange ich hier bin, irgendwie behilflich sein, außer Geschichten zu erzählen? Vielleicht beim Waldroden helfen oder beim Hausbau? Ich bin ja auch ein erfahrener Steinmetz.“
Georg lächelte wieder.
„Unser Steinmetz Bodo hat angefangen, einen Kirchturm zu bauen. Du kannst ihm gerne dabei helfen. Aber worauf warten wir noch? Lasst uns doch hineingehen!“
Als sie das Herrenhaus betreten wollten, bemerkten sie eine Gruppe von Kindern, Frauen und Männern, die sich neugierig herangeschlichen hatten. Georg wandte sich ihnen lächelnd zu.
„Ihr dürft heute Abend alle zu uns in die Halle kommen. Wir haben einen hohen Gast, Fürst Renaud, oder vielleicht sogar Graf oder Herzog? Und sagt allen anderen, dass sie an diesem Tag unseres Herrn auch kommen sollen.“
Die Neugierigen nickten schüchtern und gingen. Es war Sonntag, und so konnten nur die dringendsten Arbeiten erledigt werden. Georg deutete in Richtung Kirche.
„Es ist gut, dass wir jetzt hier in Gerînsheim eine eigene Kirche haben. Dort sind wir heute Morgen alle zum Gottesdienst gewesen. Früher haben wir den ganzen Sonntag gebraucht, um zum Kloster Lauresham zu stiefeln und dann wieder zurückzustapfen. Und das mit meinem Bauch.“ Er lachte.
Renaud lächelte und sagte mit lauter Stimme: „Ja, die haben dort eine sehr beeindruckende Basilika. Was mich betrifft, so bin ich nur noch ein Pilger, kein Fürst, kein Graf und auch kein Herzog mehr. Also bitte, nennt mich einfach nur Renaud“.
„Ree, ree, ree - no, noh, noh“, ahmten einige halbwüchsige Jungen einander nach, als sie in die große Scheune hineingingen.
„Renaud - Renaud - Ree-noh.“
„Benehmt euch, Sigibert und Sigiward! Junge Burschen sind wie junge Hunde“, sagte ihr Vater, Walter, zu seiner Frau Gerlinde, die neben ihm stand. „Bald haben wir noch einen von der Sorte.“
Er deutete auf den runden Bauch seiner Frau. Er stellte sie Renaud vor und suchte sich dann einen Platz.
Das Treffen mit Renaud war in die große Gemeindescheune verlegt worden, da der Platz in der Halle des Verwalterhauses nicht ausreichte. Einige Auserwählte saßen auf Stühlen, Bänken oder Schemeln, während sich die Mehrheit auf Stroh auf dem Boden niedergelassen hatte. Die Scheune war knallvoll, da jede lebende Seele aus Gerînsheim anwesend war, sogar einige Hunde, Katzen und Hühner.
Da waren die einfach gekleideten Unfreien und Bauern, Frauen, Männer und Kinder, dann die etwas besser gekleideten Handwerker mit ihren Familien und die Adeligen, die aus der weiteren Familie des Herrn Georg bestanden. Unter ihnen befand sich auch der Ortspfarrer, Herr Albert, ein rundlicher Mann mittleren Alters. Er sieht interessant aus, dachte Renaud. Glattrasiert, kahler Kopf, mittelgroß, mit rundem Gesicht, durchdringenden dunklen Augen und einem ziemlich strengen Gesichtsausdruck. Und er hat keine Augenbrauen.
Draußen war es schon dunkel. Eine Fackel brannte neben Renaud und eine Kerze auf dem kleinen Tisch, an dem der Pfarrer Platz genommen hatte. Ein kräftiger junger Mann kam mit einem Holzeimer voll Wasser in die Scheune und stellte ihn neben die Fackel.
„Ich bin Julian, der Wachmann, verantwortlich für unsere Sicherheit. Danke, mein Herr.“
Er verbeugte sich und setzte sich neben den Eimer auf den Boden.
„Du bist gut organisiert, junger Mann.“
Renaud war beeindruckt. Er blickte auf, als er einen Säugling weinen hörte und sah, wie seine Mutter ihre Brust herausnahm und ihn stillte. Er beobachtete einige Kinder, die sich laut stritten. Ihr Vater gab einem von ihnen einen Klaps, und der Streit hörte auf. Die Leute unterhielten sich immer noch laut und aufgeregt. Renaud atmete tief ein. Ein starker Geruch von Menschenschweiß erfüllte die Scheune, vermischt mit dem Aroma von altem Heu und Kuhdung. Das Flackern der Fackel verlieh der Szene eine magische Note.
Renaud lächelte. Ein friedliches Bild der Menschlichkeit, dachte er.
Um diese Zeit, nach Sonnenuntergang, wären die Bewohner des Gutes normalerweise schon schlafen gegangen. Ihre Tage waren von morgens bis abends mit harter Arbeit ausgefüllt. Aber heute, an einem Sonntag, waren sie ausgeruht. Es war ein besonderes Vergnügen, einen Geschichtenerzähler hier zu haben. Renaud konnte sehen, dass sie ihren späten Abend genossen.
Der Verwalter erhob sich und bedeutete Renaud, nach vorne zu treten.
„Silentium!“, donnerte Georg und der Lärm stoppte schlagartig.
„Wie ihr inzwischen alle wisst, haben wir einen sehr geehrten Gast unter uns, den Herrn Renaud de Montauban. Ich habe festgestellt, dass viele von euch Schwierigkeiten haben, seinen Namen auszusprechen. Es ist ein Name aus dem fernen Westen unseres Reiches und damit aus einer romanischen Sprache, die uns hier unbekannt ist.“ Er wandte sich Renaud zu. „Mein Herr Renaud, darf ich einen Vorschlag machen. Dürfen wir dich etwas germanischer anreden? Wenn du einverstanden bist, nennen wir dich Reinhold, was ja im Prinzip der gleiche Name ist und soviel wie Ratgeber oder Herrscher bedeutet.“
Renaud blickte in die Runde und lächelte.
„Die Bedeutung des Namens kannte ich noch nicht. Danke, Herr Georg.“ Er verbeugte sich kurz. „Euer Herr Georg hat recht. Ich sollte einen germanischen Namen annehmen, da ich mich für längere Zeit im fränkischen Teil unseres karolingischen Reiches aufhalten werde. Ich bin froh, dass er einen solchen passenden Namen gefunden hat. Nennt mich von heute an bitte nur Reinhold. Ohne irgendwelche Titel. Oder wenn es gar nicht anders geht, nennt mich einfach nur Pilger Reinhold.“
„Danke, Pilger Reinhold.“ Georg grinste Renaud breit an. „Du kannst mit dem heutigen Unterhaltungsprogramm beginnen.“
Renaud holte tief Luft und schaute sein Publikum an.
„Ich habe den ganzen Nachmittag überlegt, welche Geschichten ich euch erzählen soll. Wo soll ich anfangen? Da die Ursache meiner Pilgerreise in früheren Ereignissen meines Lebens liegt, habe ich beschlossen, mit meiner Jugend zu beginnen.“
Er trank einen Schluck Wein aus einem hölzernen Becher und blickte in die vielen funkelnden Menschenaugen; dazu noch einige extra, meist schläfrige Augen, von Katzen, Hunden und Hühnern.
„Vor langer, langer Zeit, als ich noch jung war, wuchs ich im Westen unseres Reiches auf, in der Region Dordonne, auf einer Burg namens Tour de Cubzac …“
3. Kapitel – Jugend
776 bis 782
Ich bin der älteste der vier Aymon Brüder: Richard, Guichard, Alard und ich, Renaud. Wir sind auf unserer Burg, Tour de Cubzac, groß geworden, die auf einem Felsen über dem Fluss Dordonne thront. Sie war klein und bestand nur aus einem Bergfried, dem Hauptgebäude und einigen Ställen. Die alten Mauern waren längst eingestürzt, von Wind und Wetter zermürbt und nie wieder aufgebaut worden. Efeuranken kletterten über die Steine. Es war ein romantischer Ort, muss ich sagen, aber in einem Krieg wäre er nutzlos gewesen. Trotz dieser Vernachlässigung waren wir wohlhabend. Unser Besitz umfasste fünf Dörfer, insgesamt so um die zweihundert Bauern und Unfreie und große Ländereien mit Wiesen, Feldern und Wäldern.
Ich muss etwa zwölf Jahre alt gewesen sein, Richard ein Jahr jünger und meine Zwillingsbrüder Guichard und Alard zehn Jahre alt. An diesem Tag sah ich, wie schon viele Tage zuvor, meinen Brüdern bei ihrer Lieblingsbeschäftigung zu, dem Schwertkampf, aber nur mit Holzwaffen. Die Zwillinge griffen sich gegenseitig an und schlugen auf ihre Holzschilde ein, während Richard gegen Oswald kämpfte, einem alten, zähen Soldaten mit zerfurchtem Gesicht. Er war unser Waffenmeister. Ich saß im warmen Sonnenschein auf einer kleinen Steinmauer und genoss das Spektakel.
„Als ich noch jung war“, rief Oswald seinen Standardsatz, „kämpfte ich mit König Pippin in Aquitanien. Was für ein Krieg das war! Hier, nimm das, junger Herr.“
Peng, krachte sein Schwert auf Richards Schild.
Ich war erstaunt, wie beweglich und stark er trotz seines Alters war. Er riss seinen linken Arm hoch, fing Richards Schwerthieb mit seinem Schild ab und versetzte meinem Bruder im selben Moment einen heftigen Schlag gegen den Ellbogen. Richard schrie auf.
„Ich ergebe mich!“, und ließ das Holzschwert fallen.
Oswald drehte sich um und sah mich an.
„Du bist der Nächste, Renaud. Aber wir kämpfen mit richtigen Waffen. Mal sehen, ob du mich mit deinem magischen Zauberschwert, Froberge, schlagen kannst.“
Er lachte. Dieses Schwert hatte ich erst vor wenigen Monaten von unserem Vetter Maugis geschenkt bekommen. Maugis behauptete, es in einem Kampf gegen einen Sarazenenkönig gewonnen zu haben. Als ich ihn damals fragte, was ein Sarazene sei, erzählte er mir von den Muslimen und Mauren und all den Ungläubigen, die in unsere christlichen Länder in Hispanien und Gallien eingefallen waren.
‚Sie glauben an einen anderen Gott als wir‘, hatte er mich belehrt, ‚der Allah heißt‘. Er hatte Froberge hoch in die Luft gehalten und mir gesagt: ‚Dieses Schwert wurde aus dem besten Stahl der Welt gemacht, der aus Indien kommt. Sie haben Eisenerz verwendet, das aus einem Stern gewonnen wurde, der vom Himmel gefallen war und einen riesigen Krater hinterlassen hatte. Kannst du dir das vorstellen? Aus diesem Stahl wurde Froberge im Feuer eines Vulkans von einem Schmied geschmiedet, der wusste, wie man Magie anwendet‘.
Oswald reichte mir mein Schwert und zog sein eigenes.
„Damals in Aquitanien, als ich noch jung war …“
„Bereit, Oswald?“, unterbrach ich ihn.
„Gut, junger Herr. Keine Schilde, nur Schwerter. Los geht’s.“
Wir stellten uns gegeneinander auf, jeder mit einem Bein nach vorn. Ich schwang Froberge so schnell ich konnte, aber Oswald war schneller. Er landete einen Hieb nach dem anderen. Ich konnte ihn gut abwehren, bis ich von lauten Hufschlägen abgelenkt wurde. Im nächsten Moment flog Froberge durch die Luft. Wie von Geisterhand blieb es in einem Türrahmen stecken und vibrierte böse.
„Froberge singt, und du bist tot, Renaud!“ Oswald lachte und gab mir die Hand. Dann wandten wir uns alle dem Tor zu. Unsere Diener, alle Männer bis auf Fleur, unsere korpulente Köchin, eilten aus dem Hauptgebäude, angelockt von dem Lärm.
Algeron, unser großer, schlanker Verwalter, fragte: „Was ist das für ein Lärm? Klingt wie ein Riese.“
Und sicher war es einer. Mir stand der Mund offen, als ich unseren Vetter Maugis auf seinem eigenen Pferd in den Hof reiten sah und einen riesigen Hengst neben sich führte. Er war doppelt so groß wie sein Reitpferd. Maugis grinste uns an, ein freundliches, freches Lachen auf seinem runden Gesicht. Ich fand sein Gesicht immer komisch, denn er hatte einen langen weißen Bart, aber keinen Schnurrbart. Sein schulterlanges graues, fast weißes Haar war zerzaust und sah wild aus.
„Er heißt Bayard, weil er braun ist“, rief Maugis. „Ich habe ihn in einer verwunschenen Höhle gefunden. Um ihn zu reiten, musste ich viele Tage mit ihm kämpfen.“
Die Pferde blieben stehen, und unser Vetter stieg unbeholfen ab. Er war ein kräftiger Mann mit vorstehendem Bauch. Er reichte mir Bayards Zügel.
„Aufsitzen, los aufsitzen! Alle vier zusammen!“
Wir Brüder zögerten, aber dann taten wir, wie befohlen. Dem Hengst war es egal. Er streckte seinen riesigen Körper noch weiter, als ob er Platz schuf, damit wir alle vier auf ihm sitzen konnten.
Das war vielleicht ein Gefühl, zu viert, ohne Sattel und nur am Zügel, auf so einem riesigen Tier zu reiten. Erstaunlicherweise ließ sich Bayard leicht führen. Ganz selbstverständlich war ich es, der älteste Bruder, der die Zügel hielt und die Hilfen gab. Wir galoppierten die Straße entlang zum nächsten Dorf, Beauvillage. Die Hauptstraße war mit groben, flachen Steinen gepflastert. Das Stampfen von Bayards Hufen erschrak jeden. Die Dörfler sprangen zur Seite, manche erst im letzten Augenblick. Als Nächstes jagten wir über die Wiesen, Schafe und Ziegen fegten in alle Richtungen davon, und Hirten verfluchten uns.
Als wir zu unserer Burg zurückkehrten, lachte Maugis. „Ihr seid fertig für in den Krieg, Jungs! Bereit zum Kampf!“
Aber für die nächsten Jahre blieb unser Leben ruhig, mit einer gewissen Routine. Von Zeit zu Zeit ritten wir aus, aber um Ritter zu werden, mussten wir noch warten. Unser Vetter, Maugis d’Aigret, lebte ständig mit uns auf Tour de Cubzac. Er war sowohl unser Vater als auch unsere Mutter. Unseren leiblichen Vater, den Herzog Aymon de Dordonne, hatten wir nie gesehen. Wie ich später erfuhr, hatte er meine Mutter Aya, die uneheliche Halbschwester des Königs, nur deshalb geheiratet, weil König Karl es von ihm verlangt hatte.
‚Ich will nichts mit den Gören zu tun haben, die mir in dieser Ehe aufgezwungen werden‘, hatte er noch am Tag seiner Hochzeit erklärt. ‚Er ist ein kräftiger, cholerischer Mann‘, hatte mir Maugis erzählt. ‚Er gerät leicht in Wut und Zorn, und es ist schwer, ihn wieder zu beruhigen. Ein Choleriker fürchtet sich nicht, sein Schwert zu ziehen. Körperlicher Mut ist die wichtigste Eigenschaft eines Cholerikers. Um ehrlich zu sein, diesen Teil seines Charakters hast wohl auch du geerbt, Renaud‘.
Der Herzog war immer abwesend. Entweder war er auf einem seiner anderen Güter oder irgendwo mit dem König im Feldzug gegen die Feinde unseres Reiches. In Friedenszeiten folgte er König Karl von Turnier zu Turnier in einer seiner Pfalzen. Davon gibt es in unserem Reich so etwa vierhundert.
Unsere Mutter war und ist der liebenswerteste Mensch und, wenn ich das sagen darf, vom Charakter her ganz anders als ihr Bruder, unser geliebter Kaiser Karl. Sie war sehr schön. Ich sage das nicht nur, weil sie meine Mutter ist, nein, sie war und ist immer noch, so hoffe ich, sehr attraktiv. Unsere Mutter war auch nicht oft zu Hause, das muss ich zugeben. Entweder war sie mit ihrem Mann unterwegs oder sie blieb in Aquisgranum, wo ihre restliche Familie lebte. Zweimal im Jahr besuchte sie uns Jungs und blieb ein oder zwei Monate bei uns, manchmal auch länger. Unsere Mutter und Maugis waren gleichaltrig, und ich glaube, sie mochten sich sehr. Aber nur platonisch, also mehr im Geiste und ohne Techtelmechtel.
Jedenfalls kam außer den täglichen Waffenübungen zweimal in der Woche der Dorfpfarrer von Beauvillage, Pfarrer Pière, zu uns, um uns in Lesen, Schreiben, Latein und Fränkisch zu unterrichten. Wie ihr wisst, ist meine Muttersprache romanisch-gallischen Ursprungs. Wir waren sicher sehr beschäftigt: Waffentraining jeden Tag, Schule zweimal in der Woche und Religionsunterricht am Sonntag nach der Messe.
Im Sommer gingen wir oft mit Maugis im nahe gelegenen Fluss schwimmen. Das Gute daran war, dass Maugis uns das Schwimmen beibrachte, eine Fähigkeit, die nicht viele Menschen in unserem Reich haben.
Maugis war von der Zauberkunst besessen. Er hatte ein Kellergewölbe unter unserem Haupthaus, wo er mit Feuer, Schwefel und anderen stinkenden Dingen experimentierte.
„Eines Tages“, verkündete er, „werde ich Steine in Gold verwandeln“.
Er hatte einige Unfälle, meist Explosionen, die im Laufe der Jahre Narben in seinem Gesicht hinterließen. Zum Glück lebte im Nachbardorf eine sehr fähige Kräuterfrau. Ich glaube, sie hieß Camille, und das war sehr passend. Sie heilte Maugis jedes Mal. Als wir jünger waren, wunderten wir uns oft, warum sie ihn besuchte, ohne dass er einen Unfall hatte. Sie blieb meistens über Nacht und sie machten viele magische Geräusche zusammen. Als wir älter waren, wussten wir, warum.
Ich muss siebzehn Jahre alt gewesen sein, als sich spät an einem schönen Sommertag etwas Beunruhigendes ereignete. Die Sonne ging gerade unter, als fünf Ritter in unseren Burghof einritten, stehen blieben und unsere Burg anstarrten. Sie sahen beeindruckend aus, mit ihren Kettenhemden, runden Schilden, langen Schwertern und massiven Lanzen. Auf dem Rücken ihrer Pferde hatten sie ihre geschmückten Helme geschnallt. Ich möchte auch einmal Ritter werden, dachte ich.
„Ist jemand in dieser gottverlassenen Ruine zu Hause?“, rief ihr Anführer und zeigte sein arrogantes Gesicht mit einem schwarzen Schnurrbart, dunklen Augen und kurz geschnittenem schwarzem Haar. Algeron, unser Verwalter, begrüßte sie, und da Maugis an diesem Tag mit seiner Camille in Beauvillage zu einer Zaubersitzung weilte, trat ich als Herr der Burg vor die Männer. „Meine Herren, wie kann ich euch dienen?“, fragte ich und verbeugte mich.
„Ich bin Ritter Bertolai, Neffe unseres Königs Karl und unangefochtener Sieger des Turniers von Burdigala. Von dort sind wir erst spät aufgebrochen. Nun müssen wir leider hier in dieser verwüsteten Abbruchhalde übernachten.“ Er sah mich mit hochgezogenen Brauen an. „Wir verlangen Speise, Trank und Unterkunft für uns Ritter und Futter und Stallung für unsere Pferde. Ein ganzer Schinken, mehrere Hechte und ein Berg Kohl reichen kaum aus, um unseren Hunger zu stillen. Und Weiber von der jungen und hübschen Sorte, die wollen wir auch haben, wenn ihr überhaupt welche habt?“ Er drehte sich zu seinen Kumpanen hin um. „Was meint ihr, Kameraden?“
„Ja, ja, Herr Bertolai, ja, ja.“
Nun, wir mussten ihnen geben, was sie verlangten, außer den Frauen, die wir ja nicht hatten. Ich glaube, das hatten sie auch nicht erwartet. Später freundete sich unsere Köchin Fleur mit einem älteren Ritter aus dieser Gruppe an. Aber das war alles. Sie haben unseren Vorrat an Wein und Viktualien ziemlich gut reduziert. Zum Glück kam der Großteil der Ernte erst später im Herbst herein und wir konnten wieder aufstocken.
Fleur, auch wenn sie keine Schönheit war, schenkte ihre Liebe jedem, der sie brauchte. Auf unserem Schloss, Tour de Cubzac, waren wir alle Männer, nur sie nicht. Sie machte uns alle glücklich, und das war sicher eine Leistung. Und sie tat es gern. Jetzt, als ich siebzehn Jahre alt war, erteilte sie mir, und später auch meinen Brüdern, einige Lektionen im Liebesspiel. Doch zurück zu unseren Besuchern.
Ich musste mit Bertolai eine nicht-sagende Plauderei führen, und ich verachtete ihn. Was für ein arroganter Arsch er doch war. Angeblich, als er in Burdigala war, hatte er sich mit der Tochter des Duc de Gascogne verlobt.
„Sie ist noch eine Jungfrau, dieses üppige Mädchen“, schwärmte Bertolai von ihr. „Aber sie ließ mich nicht ihr buschiges Feuchtgebiet erforschen, noch nicht.“ Lachte er. „Eines Tages kriege ich sie rum, darauf kannst du dich verlassen, Bursche.“
Und so ging es weiter. Seine Angeberei war mir völlig egal. Bald waren die fünf Arschlöcher, entschuldigt meine vulgäre Ausdrucksweise, völlig betrunken und müde. Fleur hatte heimlich ein Schlafmittel in den Wein gemischt, aber darauf geachtet, dass ihr Ritter nur reinen Wein bekam. Wir hatten in unserer großen Halle Stroh und Decken ausgebreitet, auf denen sie schlafen konnten. Ich habe ihnen nicht gesagt, dass ich auch ein Neffe von König Karl bin. Wer weiß, vielleicht hätten sie mich zum Duell herausgefordert. Ich wollte nicht eines frühen Todes sterben oder schlimmer noch, für den Rest meines Lebens verkrüppelt sein. Wir versteckten Bayard in einem abgelegenen Gehege, während sie bei uns weilten. Als ich sie bald gähnen sah, verabschiedete ich mich und ging, aber ich hörte noch Bertolais Geschwätz:
„Lasst uns furzen und rülpsen, ihr edlen Männer, denn Essen und Trinken waren reichlich und besser, als ich dachte.“ Er ließ einen mächtigen Darmwind gehen, gefolgt von einem lauten Rülpsen. „Aber sonst“, er machte eine eindeutige Geste mit der geballten Faust, „müssen wir unter die Tische wichsen, meine edlen Ritter, da man uns keine Frauen gebracht hat.“
Er gähnte mit weit aufgerissenem Mund. „Ich bin jetzt müde. Nur der alte Ritter Bouchard hat eine Landpomeranze gefunden, der Glückliche. Ich glaube, es war eine Frau und keine Kuh. Er ist schon mit ihr gegangen, der alte Schürzenjäger. Prost, Waffenbrüder. Lasst uns schlafen gehen.“
Ihr könnt euch vorstellen, wie froh meine Brüder, ich und alle unsere Diener waren, als diese Schurken am nächsten Tag früh gingen. Sie haben uns nicht einmal etwas bezahlt. Außer Fleur, wie ich später erfuhr. Ritter Bouchard hatte ihr einen Silberpfennig gegeben. Die meisten edlen Besucher zahlen, wenn wir sie beherbergen, und respektieren unsere Sitten. Aber nicht diese Bande. Damals konnte ich nicht wissen, was in einigen Jahren mit Ritter Bertolai und damit auch mit mir geschehen würde.
Ein Jahr später kam ein Brief von unserer Mutter. Sie war über Weihnachten und bis Hornung bei uns gewesen, aber dann musste sie dringend gehen, da ein Bruder unseres Vaters gestorben war. Sie schrieb uns einoder zweimal im Jahr diese wunderbaren Briefe. Als Ältester musste ich sie natürlich meinen Brüdern vorlesen. Es war mehr oder weniger dasselbe, was sie in jedem Brief schrieb: Sie ließ uns wissen, wie sehr sie uns vermisste; sie ermahnte uns, Gott zu lieben und zu loben; unsere Eltern zu ehren, auch wenn sie die meiste Zeit weit weg waren; freundlich zu den Menschen zu sein, ob groß oder klein; die zu ehren, die über uns stehen; bereit zu sein, denen zu helfen, die in Not sind; deinen Nächsten zu lieben; höflich zu allen Frauen zu sein; die Keuschheit der Jungfrauen zu respektieren und nur mit einem Mädchen zu schlafen, nachdem du den Bund der Ehe mit ihr geschlossen hast. So werden dich alle Menschen loben. Ich erinnere mich noch gut an diese Worte. Unsere Mutter hat sich um uns gekümmert, obwohl sie selten persönlich bei uns war. Wir liebten und vermissten sie sehr. Nachdem ich den Brief vorgelesen hatte, sahen wir Brüder uns mit feuchten Augen an.
Ich erinnere mich noch gut daran, als Maugis uns einmal dabei zugehört hatte. Er fragte uns: „Du sollst nicht begehren deines Nächsten …?“
Er zeigte auf mich.
„Weib?“
Er schüttelte seinen Kopf und verzog das Gesicht.
„Tochter?“
Er schüttelte immer noch seinen Kopf und sagte dann: „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Hintern!“ Er lachte schallend.
Wir jungen Männer sahen uns angewidert an. Da es ein heißer Sommertag war, schlug ich vor: „Lasst uns schwimmen gehen.“
Und das taten wir.
Hinter unserer Burg erstreckte sich ein dichter Wald aus uralten Eichen, gemischt mit Erlen, Birken, Weiden und Stechpalmen. Ein langer Weg führte in ein abgelegenes Tal zu einem verzauberten See, dem Lac Naïade. Für uns Jungs war er nur deshalb verzaubert, weil Maugis das behauptete. Meine Brüder und ich waren schon oft dort zum Schwimmen gewesen. Aber nie sind wir auf etwas Magisches gestoßen.