Die Reise unseres Lebens - Lovis Wiefelspütz - E-Book

Die Reise unseres Lebens E-Book

Lovis Wiefelspütz

0,0
17,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

2 Freunde, 16 Länder, 344 Tage Weltreise Als der schwerbehinderte Alex seinem besten Freund Lovis vorschlägt, nach dem Studium gemeinsam ein Jahr lang auf Weltreise zu gehen, ist auch der bald Feuer und Flamme von der Idee. Bald sind zwei Rucksäcke gepackt und die ersten Flugtickets gekauft, den Rest planen sie unterwegs. Ein Plädoyer für Inklusion und Freundschaft Während Lovis unterwegs Alex' körperliche Pflege übernimmt und ihm bei Barrieren hilft, profitiert er mit seinem ADHS von Alex' kühlem Kopf und seinem Organisationstalent. Unterwegs erleben sie gemeinsam Heimweh und Gastfreundschaft, reisen wochenlang in einem vier Quadratmeter großen Van durch Neuseeland, feiern Partys in Malaysia, pflegen einander durch Krankheiten, sind tagelang abgeschottet im Amazonasgebiet in Ecuador, tauchen in Kolumbien, wobei Lovis eine Panikattacke erlebt, und geraten immer wieder aneinander. Trotz ihrer Differenzen, da sind sie sich einig, sind sie bald ein eingespieltes Team. Erfolgsgeschichte über gelebte Inklusion, Freundschaft, Barrieren und die Freuden und Tücken des Reisens Alex und Lovis gehen miteinander durch dick und dünn und zeigen wie wichtig in einer Freundschaft offene Kommunikation und Augenhöhe sind. Ein emotionaler Weltreisebericht zweier guter Freunde, die Barrieren trotzen und unterwegs viel über sich selbst und einander lernen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mehr über unsere Autorinnen, Autoren und Bücher:

www.malik.de

Wenn Ihnen dieses Buch gefallen hat, schreiben Sie uns unter Nennung des Titels »Die Reise unseres Lebens« an [email protected], und wir empfehlen Ihnen gerne vergleichbare Bücher.

Mit 67 farbigen Abbildungen, einem Schwarz-Weiß-Foto und einer Karte

Inhaltswarnung:

Dieses Buch enthält persönliche Schilderungen u. a. zu Ableismus, Verlust nahestehender Personen, Alkoholkonsum, psychischer Belastung, Panikattacken, Angstzuständen, körperlicher Erschöpfung sowie Beziehungskrisen und finanzieller Unsicherheit. Manche Passagen können emotional herausfordernd sein.

© Piper Verlag GmbH, München 2025

Redaktion: Margret-Trebbe-Plath

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de

Coverabbildung: Hurdle the World

Icon: Hurdle the World

Bildteilfotos: Hurdle the World, außer anders angegeben

Karte: Marlise Kunkel, München

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Wir behalten uns eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Karte der Reise unseres Lebens

Vorbereitung auf das größte Abenteuer unseres Lebens

Wie alles begann

Vorsichtige Vorfreude

Ein »kreativer Kopf«

Physische Grenzen

Start der Weltreise – Istanbul

Weg von zu Hause

Einem Teppichhändler auf den Leim gegangen

Die erste große Hürde – Oman

Taxifahren für Anfänger

Alex wird krank

Ein früher Härtetest

Paradebeispiel – Singapur

Welcome to Singapore

Modern und barrierefrei

Städtetour Down Under – Australien

Schönes und teures Sydney

Erste Schritte allein

Kängurus und Glück im Unglück

Auf der anderen Seite der Welt – Neuseeland

Van Life

Weihnachten in einer internationalen WG

Zurück in Asien – Malaysia

Studentenleben

Dutzende Affen und 272 Treppenstufen

Die Segnung im Tempel der Batu Caves

Urlaub vom Urlaub auf Langkawi

Backpacking in Südostasien

Mit dem Bus von Nord- nach Südvietnam

Sehenswürdigkeiten satt und ein gefährliches Pflaster

Land der verschiedenen Gesichter – Ecuador

Ein Start mit Hindernissen

Reisen zu viert

Adrenalin

Mit dem Motorkanu im Amazonas-Regenwald

Heiße Stiche und dünne Luft

Das falsch verstandene Land – Kolumbien

Die verrufene Stadt

Ohne Lovis unterwegs

Mein erster und einziger Tauchgang

Vertrauensprobe unter dem Meeresspiegel

Kulturschock USA

NYC – Wie es leibt und lebt

Zwei Sportpaläste und eine Demonstration

Der französische Teil unserer Reise – Kanada

Lechzen nach Natur

Zum letzten Mal Neuland – Südafrika

Stadt, Land, Schluss

Big Five minus 1 – Auf Safari

Der Kreis schließt sich – Istanbul 2

Das, was bleibt

Anhang

Dank

Hinweise zur Transparenz

Bildteil

Anmerkungen

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Karte der Reise unseres Lebens

Vorbereitung auf das größte Abenteuer unseres Lebens

 

Zeit: Februar bis Oktober 2022

Ort: Hamburg

Wie alles begann

Alex

Von Anfang an war mir klar, dass ich die Reise nicht allein machen würde. Wie auch? Und ich wusste auch sofort, wen ich fragen würde, ob er mit mir zusammen dieses große Abenteuer, ein Jahr lang alle Kontinente bis auf die Antarktis zu bereisen, bestreiten möchte: Lovis. Er ist mein bester Freund und derjenige, mit dem ich bisher am meisten zusammen gereist bin. Wir kennen uns seit der Oberstufe und haben schnell gemerkt, dass wir auf einer Wellenlänge sind. Uns verbinden viele gleiche Leidenschaften wie der Sport, und wir haben auch denselben Humor. Zwar ist der Kontakt während der Studienzeit etwas weniger geworden, aus dem einfachen Grund, dass wir in unterschiedlichen Städten gewohnt haben. Doch abgebrochen ist er nie, und seit der Coronapandemie sind wir wieder deutlich mehr im Austausch miteinander, weil wir gemeinsam einen Podcast über das Thema Inklusion gestartet haben.

Zunächst aber weihe ich einige Familienmitglieder in meinen Plan ein. Die Reaktionen sind vielfältig. Die allgemeine Meinung lautet, dass es eine verrückte, aber gute Idee ist, die jedoch schwierig in die Tat umzusetzen sein wird. Der Plan ist zu dem Zeitpunkt noch sehr vage, schließlich habe ich Lovis noch nicht gefragt. Eines Abends ist es aber so weit. Ich atme einmal tief durch und rufe ihn an.

 

Reisen, das war für mich bislang vor allem das gemeinsame Reisen mit meiner Familie. Häufig war und bin ich immer noch weit und breit der einzige (offensichtlich) körperlich behinderte Mensch. Früher noch mehr als heute wurde ich dann meistens wie ein Einhorn behandelt. Die Blicke der anderen Reisenden schrien förmlich: »Was machst du denn hier? Gehörst du nicht eigentlich ganz woandershin? Diese Umgebung ist doch überhaupt nicht für dich gemacht!«

Mit dem letzten Satz hatten und haben die Menschen sogar recht, doch manchmal kommt es mir so vor, als würde die Transferleistung nach diesem Gedanken fehlen. Nämlich, dass sie dafür verantwortlich sind, dass sich die Umgebung bei Reisen den Bedürfnissen aller Menschen anpasst, eben auch Menschen mit einer Behinderung. Nachdem ich also für viele Jahre zusammen mit meiner Familie gefühlt unberührtes Terrain betreten und mehr oder weniger freiwillig ein Umdenken in den Köpfen anderer Menschen gefördert habe, ist es Zeit für ein neues Kapitel. Ein Kapitel, in dem ich aus meinen eigenen Denkmustern ausbreche und auf eigene Faust nach den Sternen greife.

Ich bin ohne andere Menschen mit Behinderung in meinem Freundeskreis aufgewachsen. Entsprechend haben sich meine Wünsche und Ziele natürlich ein Stück weit an denen meiner Freunde ohne Behinderung orientiert. Ein unfairer Vergleich, doch meiner Meinung nach hat dieser Umstand meine großen Ambitionen nur noch gefördert. Klar, das war nicht immer einfach, und manchmal bin ich an diesen eigenen Ansprüchen verzweifelt, doch heute bin ich sehr dankbar dafür, dass ich dieses Ungleichgewicht in meinem Leben hatte. Denn das hat mich nur stärker gemacht und mich zum Träumen animiert. Mit aller Macht haben meine Eltern versucht, dass ich in einer Welt zurechtkomme, für die ich nicht gemacht wurde. Oder andersherum: die für mich falsch entwickelt wurde.

Ich habe aufgrund meiner großen Leidenschaft für Sport Sportmanagement studiert und an den Bachelor noch ein Masterstudium in Wirtschaftspsychologie drangehängt. Schon zu Beginn meiner Studienzeit war es mein Traum, zumindest für eine Zeit im Ausland zu studieren. Doch für die Weltreiseidee brauchte es erst eine lebensverändernde Zeit im Ausland.

An einem grauen Wintertag in Hamburg während der Coronapandemie saß ich in einem Videocall im Rahmen meines Studiums. Gerade unterhielten wir uns über das Thema Auslandssemester in Zeiten von Covid, da tauchte ein Nachzügler auf dem Bildschirm auf. Schnell war Dennis Teil der Diskussion. Ich teilte der Gruppe meinen sehnlichen Wunsch mit, im Ausland zu studieren, fügte dem aber auch gleich hinzu, dass dieser Traum in meiner Situation alles andere als einfach umzusetzen wäre.

Dennis war vielleicht gerade mal zehn Minuten dabei, da bot er mir aus dem Blauen heraus an, dass ich doch mit ihm gemeinsam nach Spanien gehen könnte, um ein Semester dort zu studieren. Ich war einfach sprachlos und bekam sofort Gänsehaut. Konnte er das gerade ernst gemeint haben? Wusste er, worauf er sich da einließ? Bei mir herrschte Gefühlschaos. Ich hinterfragte ihm gegenüber das Angebot nicht, da ich Angst hatte, dass er denken könnte, ich würde ihn nicht ernst nehmen. Das Onlinemeeting ging weiter, und Dennis und ich hielten fest, dass wir diesbezüglich in Kontakt bleiben würden.

Tatsächlich hatte er es ernst gemeint. Dennis und ich verbrachten dreieinhalb sagenhaft gute Monate zusammen in Santander an der Nordküste Spaniens, und durch ihn hatte ich tatsächlich die Möglichkeit, meinen Traum zu leben. Wahnsinn! Ich hatte etwas gemacht, das viele in meinem Umfeld all die Jahre für unmöglich gehalten hatten. Doch anstatt meinen Hunger nach der Ferne zu stillen, hatte diese Zeit das Feuer in mir erst richtig angefacht: Ich wollte neue Länder, Kulturen und Menschen kennenlernen. Die Grenzen meiner Vorstellung waren aufgebrochen, ich merkte, dass mehr möglich ist, dass ich mehr will. Weiter aus meiner eigenen Komfortzone heraus, weiter diese Freiheit genießen. Als Dennis und ich uns dann vor unserer Rückkehr nach Hamburg überlegten, was uns in unserer Heimat nun wieder erwarten würde, kam ich ins Nachdenken. Wie sahen meine Pläne aus? Klar, ich wollte meine Masterarbeit schreiben und das Studium beenden. Aber danach? Welche Ziele hatte ich sonst noch?

»Ich könnte ja auf Weltreise gehen«, scherzte ich. Doch dabei blieb es erst einmal.

 

An einem regnerischen und kalten Februarabend sitze ich an meinem Schreibtisch und denke über die Zeit nach dem Studium nach. Nur noch ein halbes Jahr, und dann fängt schon der Ernst des Lebens an, die Arbeitswelt wartet auf mich. Nach dem aufregenden und tollen Aufenthalt in Santander bin ich wieder zu Hause und absolviere ein Praktikum in der Personalberatung. Ein sehr nettes Team, ein sehr sympathischer Chef, aber irgendetwas passt nicht. Wenn ich mir vorstelle, nach der Masterarbeit in Vollzeit zu arbeiten, fühlt es sich so an, als wäre da noch eine Lücke, die gefüllt werden muss. Ein Ziel, das noch erreicht werden will.

Und an diesem grauen Winterabend macht es klick: Verschiedene Gedanken verbinden sich, und plötzlich pulsiert mein Körper vor lauter Energie. Man sagt, dass in jedem Scherz auch ein Körnchen Wahrheit steckt, und das trifft wohl auch auf meinen Spruch zu, den ich Dennis am Ende unseres Spanienaufenthalts mitgegeben hatte. Eine Weltreise – aber wie soll ich das denn schaffen? Allein ist das doch unmöglich für mich! Und wer soll das überhaupt finanzieren? Tausend Fragen und Bedenken, die gegen ein solches Vorhaben sprechen, kommen mir in den Sinn, und doch schwappt in diesem Moment die Euphorie komplett über. Alle Bedenken und Probleme sind wie weggewischt, und urplötzlich scheint eine Weltreise eine realistische Idee zu sein. Als Erstes erzähle ich meiner Mutter davon, die vollkommen überrascht ist, aber die Idee sofort unterstützt. Bevor ich allerdings mit irgendjemand sonst darüber spreche, muss ich nachdenken und einen Plan entwickeln. Erst dann kann ich auch andere von der Idee überzeugen.

Vorsichtige Vorfreude

Lovis

Wie bereitet man sich auf etwas vor, von dem man vorher weder weiß, wie lange es dauern wird, noch, worauf man sich da genau einlässt?

Nach dem Telefonat mit Alex, bei dem er mich gefragt hat, ob ich mir vorstellen könne, mit ihm auf Weltreise zu gehen, lege ich erst einmal das Handy beiseite und öffne das Fenster. Der kühle Wind an diesem Februarabend tut mir gut. Nicht, um meine Gedanken zu sortieren, sondern einfach, um ein wenig herunterzukommen. Tausend Ideen, Überlegungen und auch Bedenken schwirren in meinem Kopf herum.

Mit geschlossenen Augen massiere ich mir die Schläfen und atme tief durch. Ich bin überfordert. Gleichermaßen von meinen Gedanken an mögliche und unmögliche Probleme wie von meinen Ideen, wie wir zu zweit ein solches Vorhaben umsetzen könnten. Alex träumt von einem Jahr Weltreise. Eine verdammt lange Zeit.

Ich rufe meinen Vater an. Ich muss mit jemandem sprechen, um herauszufinden, was ich möchte und was in meinem Kopf alles so vor sich geht. Erst wenn ich meine Gedanken ausspreche, werden sie für mich real, und ich kann anfangen, sie zu sortieren. Allein war ich darin noch nie gut, aber mit meinem Vater zusammen kann ich das. So eine Reise ist etwas, das ich in seinem vollen Umfang gar nicht greifen kann. Ich bin mir weder des Ausmaßes dieser Entscheidung für mich allein noch der Verantwortung, die ich für uns beide – Alex und mich – übernehmen würde, bewusst. Daher muss ich mir klar darüber werden, warum ich diese Reise unternehmen möchte. Mache ich sie für mich, für Alex oder für alle, die nicht daran glauben, dass wir so eine Reise schaffen können, und denen ich das Gegenteil beweisen will? Außerdem frage ich mich, ob uns überhaupt genug Zeit bleibt, um eine solche Tour vorzubereiten. Ab jetzt haben wir knapp ein halbes Jahr, bevor es losgehen soll; Monate, in denen sowohl Alex seine Masterarbeit als auch ich meine Bachelorarbeit schreiben werden.

In dem Gespräch mit meinem Vater und weiteren Telefonaten mit Verwandten, Freunden und auch mit meiner Freundin bekomme ich schließlich Klarheit. Nach einigen Wochen Bedenkzeit ist meine Antwort darauf, ob ich eine Weltreise mit Alex machen möchte, ein deutliches »Ja, wenn …«. Ja, ich möchte all das Unbekannte und das Aufregende erleben. Ja, ich möchte ein Jahr lang mit Alex Seite an Seite verbringen. Ja, ich möchte die Welt sehen … wenn wir es schaffen, einige mir wichtige Punkte zu klären.

Am wesentlichsten für mich ist ein Plan für die Finanzierung. Es geht mir nicht darum, dass wir die Reise vorab komplett durchfinanzieren, aber wir sollten eine Idee davon haben, wie wir an Gelder kommen, um ein Jahr lang reisen zu können. Der zweite wichtige Punkt ist, dass Alex und ich an einem Strang ziehen, dass unsere Ziele gleich ausgerichtet sind und wir nicht gegeneinander arbeiten.

Ich rufe Alex an, um alles mit ihm zu besprechen. Wie wollen wir unsere Reise gestalten? Wie sehen seine Vorstellungen aus? Ich muss ehrlich zugeben, dass ich unsicher bin, ob das Ganze nicht einfach zu viel wird. Immer wieder fallen mir Hürden ein, die schier unmöglich zu überwinden scheinen. Und dann müssen wir auch noch mit unseren Ideen auf einen Nenner kommen. In Alex’ Vorstellung machen wir im Backpackerstyle eine Reise um die Welt. Na toll, denke ich. Gleich bei einem der ersten Telefonate über das »Wie« kommen wir direkt an einen Punkt, der zu Gesprächsstoff führt. Alex’ Naivität und seine manchmal an liebenswerten Größenwahn grenzende Ideen werde ich die gesamte Reise noch schätzen lernen.

Ich merke an, dass ich es nicht schaffen werde, ein Jahr lang mit Rucksack und ohne Plan durch die Welt zu touren. Besonders die Idee, alle paar Tage woanders zu sein, stresst mich innerlich doch sehr! Schon jetzt, ganz am Anfang unserer Planung, steht für mich fest, dass diese Reise ein Balanceakt werden wird zwischen dem, was Alex und ich wollen, und dem, was wir schaffen können.

Wir sprechen viel miteinander in dieser Zeit. Fast jeden Tag fallen uns Dinge ein, die wir beachten und bedenken müssen. Impfungen, Visa – wo wollen wir überhaupt hin? Was nehmen wir mit? Wie wollen wir die Reise gestalten? Jede dieser Fragen hat einen großen Einfluss auf die anderen.

Ein Kernpunkt, der immer wieder zum Gesprächsthema zwischen uns wird, ist die Finanzierung der Reise. Wir teilen unsere Möglichkeiten in drei Kategorien auf:

Sowohl Alex als auch ich haben während unseres Studiums etwas Geld gespart. Dieses, so haben wir uns abgesprochen, werden wir zu hundert Prozent in die Reise stecken. Ich verkaufe meinen halben Hausstand und erwerbe von dem Erlös einige, vor allem technische Gegenstände für die Reise.

Wir werden von unseren Familien während der Reise monatlich und vor allem von Alex’ Familie mit weiteren, teilweise sehr großzügigen Summen unterstützt. Darüber hinaus haben wir einen kleinen Kooperationsvertrag mit dem Unternehmen, welches Alex’ Orthesen herstellt. So kommt etwas Geld in die Reisekasse.

Weder Alex noch ich werden auf der Reise typische Backpackerjobs, wie Kellnern oder Orangenpflücken, annehmen können. Alex aufgrund seiner körperlichen Voraussetzungen und ich, weil ich mit Alex’ Pflege zu sehr eingespannt sein werde. Daher entscheiden wir uns, eine Crowdfunding-Kampagne zu erstellen. Diese wird unterwegs besonders durch unsere im Laufe der Reise wachsende Reichweite auf Social Media und auch durch Fernsehauftritte gut funktionieren. Der Plan, über Social Media weitere Kooperationen einzugehen, wird dagegen nicht aufgehen, aber trotzdem werden wir es irgendwie schaffen, am Ende der Reise mit noch fünfzig Euro im Portemonnaie dazustehen. Unsere Social-Media-Auftritte, die allesamt unter dem Namen »Hurdle The World« laufen, werden wir trotzdem die gesamte Zeit über bespielen, und besonders die persönlichen Rückmeldungen geben uns Energie, der Welt zu zeigen, wie inklusives Reisen funktionieren kann.

Ich bin für das Thema Gepäck zuständig, denn mir ist bereits vor der Reise und bevor ich das erste Mal packe, bewusst, dass ich meistens den Großteil unserer Sachen tragen werde. Ich weiß von unseren Reisen 2017 nach dem Abitur durch Portugal, ein Jahr zuvor im Winter nach Polen und auch letzten Sommer nach Norwegen, wie anstrengend es sein kann, das Hab und Gut von zwei Personen zu transportieren. Wie auch immer unsere Reise am Ende aussehen wird, wir müssen das Gepäck klein halten. Es folgen Wochen und Monate, in denen wir uns alle Blogs und YouTube-Videos ansehen, in denen mehr oder weniger reiseerfahrene Blogger:innen beschreiben, was sie mitnehmen. Mir wird schnell klar, dass wir es anders machen müssen. Niemals können wir all das transportieren, was sie dabeihaben, wir müssen sparsam sein. Ich habe einen Reiserucksack, der für mich allein im Urlaub groß genug ist. Jetzt muss er groß genug sein für zwei. Darüber hinaus trägt Alex einen kleinen Reiserucksack und ich einen Kamerarollkoffer, jeweils in Handgepäckgröße.

Wir einigen uns recht schnell darauf, dass wir in nicht allzu kalte Regionen reisen wollen. Ein Jahr lang Sommer – wer träumt nicht davon? Einerseits, weil es angenehmer ist, im Warmen unterwegs zu sein, und andererseits: je wärmer die Orte, desto weniger Gepäck. Wir nehmen beide jeweils nur einen Sweater, eine sehr klein zusammenpackbare Daunenjacke und eine, die vor Regen schützt, mit. Doppelte Funktion ist das Stichwort. So dient meine kurze Hose ebenso als Sport- und als Badehose, meine T-Shirts sind sowohl beim Sport als auch beim Stadtbummel tragbar. Alles ist darauf angepasst, klein und handlich zu sein. Alex und ich nehmen etwa die gleiche Menge Kleidung mit. Kein Schickimicki, nichts Besonderes und vor allem nicht viel. Das bedeutet weniger Gepäck, dafür mehr waschen. Ist dann eben so.

Darüber hinaus stellt sich mir immer wieder die Frage: Was brauche ich wirklich außer Kleidung? Gut, ich benötige eine Zahnbürste, etwas Haarwachs und vielleicht einen Waschsack und eine Reisewäscheleine. Aber abgesehen davon? Brauche ich irgendetwas für meine Seele?

Die letzten Monate vor der Reise sind für mich geprägt von Sport, Musik und irgendwie auch meiner Bachelorarbeit. Ich brauche Bewegung und Musik, denn einerseits sind das beides Dinge, die einen Großteil meines Alltags ausmachen, andererseits nutze ich beides auch zur Regulation meiner Emotionen. Schwierige Themen verwandle ich seit Jahren in Musik auf meiner Gitarre, schlechte Laune werde ich oftmals mit Sport los. Das ist also etwas, worauf ich mich vorbereiten muss. Ich überlege, mir eine Reisegitarre zuzulegen.

»’ne Gitarre? Ist die nicht ein bisschen sperrig und groß?«, fragt Alex ungläubig, als ich ihm die Idee vorstelle.

Nach einigem Hin und Her entscheide ich mich schweren Herzens dann doch gegen die Gitarre. Es geht bei dieser Reise ja auch irgendwie um Verzicht und das Füreinander-da-Sein. Die Gitarre zählt zu den Dingen, die ich in den kommenden Monaten am häufigsten vermissen werde. Zugleich werde ich zwischendurch auch froh sein, sie nicht dabeizuhaben, besonders dann, wenn wir weite Strecken laufen oder stressige Situationen mit Gepäck bewältigen müssen. Es ist eben nicht immer alles schwarz oder weiß, gänzlich gut oder schlecht. Da ich aber nicht ohne Musik auskommen kann und möchte, besorge ich mir ein Minikeyboard und leiste mir damit einen der wenigen Luxusgegenstände unseres Reisegepäcks. Das Keyboard ist etwas kleiner als ein Laptop, deutlich leichter und stellt somit keine große Belastung für mich dar.

Meine zweite Entscheidung betrifft die Bewegung. Wie kann und will ich dafür sorgen, dass ich mich genug bewege? Normalerweise mache ich, wenn ich gesund und fit bin, mindestens dreimal die Woche Sport, eher mehr. Das werde ich auf der Reise vermutlich nicht durchhalten können. Vor allem, weil ich es mir schwierig vorstelle, eine Fußballmannschaft zu finden, in der ich spielen kann, während ich auf Reisen bin. Also einfach ein paar Sportklamotten und Schuhe einpacken, in denen ich auch mal joggen gehen kann … und ein Kendama. Dieses kleine japanische Holzspielzeug, das mir meine Schwester vor Jahren gezeigt hat, ist vielseitig verwendbar und eignet sich hervorragend, um meine ADHS-getriggerten wilden fünf Minuten auszuhalten. Dazu noch Magnete als Fidget Toy und einen kleinen Kompressionsring, der sowohl zum Massieren von Fingern dienen kann als auch dafür, in Angstzuständen oder Phasen von großen Emotionen zur Regulierung beizutragen. Diese Reise ist für mich bereits vor dem ersten Tag auch eine Reise zu mir selbst.

Ein »kreativer Kopf«

Lovis

»Zappelphilipp«, »Reiß dich einfach mal zusammen«, »Das wächst sich raus« – solche Aussagen fallen häufig im Zusammenhang mit ADHS. Auch Folgendes habe ich schon hundertfach gehört: »Du musst dich nur mal richtig konzentrieren« oder: »Stell dich nicht so an, jeder hat mal so eine Phase!« Und vor allem: »Hast du mal versucht, dir eine To-do-Liste zu erstellen oder einen Kalender zu führen?«

Ich mache eine Weltreise mit ADHS. Um zu verstehen, wieso das kein Gegensatz, aber eine Besonderheit ist, bedarf es einer kurzen Erklärung darüber, was ADHS und Neurodivergenz überhaupt sind. Und wie sie mich und mein Leben beeinflussen.

Meine Geschichte mit ADHS beginnt als Grundschulkind in einem Behandlungszimmer, in dem ein doch recht unseriöser Arzt ADHS bei mir diagnostizierte und mir unmittelbar darauf eine medikamentöse Behandlung verschrieb. Meine Eltern stellten mich daraufhin bei einer Therapeutin für weitere Informationen vor, und auch sie kam zu dem Ergebnis, dass bei mir starke Symptome von ADHS festzustellen sind. ADHS klinisch zu diagnostizieren, ist in der Regel ein langwieriger Prozess. Meine Eltern haben sich damals dazu entschieden, keine weitere Diagnostik durchführen zu lassen, sondern vielmehr mich durch verschiedene Forder- und Fördermaßnahmen dabei zu unterstützen, mit meiner Andersartigkeit zurechtzukommen.

Die Meinungen von Ärzt:innen hätten mich wahrscheinlich zwar nicht geheilt, aber der Versuch meiner Eltern, mich von jeglicher medikamentösen Behandlung fernzuhalten, hat nachhaltige Wirkung hinterlassen. Ich habe eine Abneigung gegenüber Medikamenten, fühle mich unwohl bei dem Gedanken, Tabletten nehmen zu müssen; aber auch die Hoffnung, dass sich mein ADHS verwächst, hat sich nicht bewahrheitet. Was mir bleibt, ist eine halbe Diagnose, die vorgenommen wurde, als ich ein kleines Kind war, die Gewissheit, dass viele der typischen Symptome von ADHS mich in meinem Alltag beeinträchtigen, und die Befürchtung, dass ich vermutlich immer in einem Zustand irgendwo zwischen »Sonnenschein«, »Hans Guckindieluft« und »nicht still zu kriegendem kleinem Professor« leben werde. Neben ADHS kamen im Laufe meines Lebens auch die Themen Hochbegabung und Hochsensibilität zur Sprache. Für Ersteres habe ich gefühlt alle Förderprogramme, die es gibt, durchlaufen, und für Letzteres habe ich einen geräuschreduzierenden Gehörschutz, der auch auf der Reise das ein oder andere Mal zum Einsatz kommen wird. Im Erwachsenenalter habe ich zwar mehrere Therapien gemacht, jedoch keine spezifisch für ADHS. Der Grund dafür liegt irgendwo zwischen »Ach, ich schaff das doch auch ganz gut so« und »Jemanden zu finden, der oder die auf ADHS im Erwachsenenalter spezialisiert ist, kommt leider immer noch einem langwierigen Prozess gleich, den ich bisher noch nicht angegangen bin«. Außerdem wäre es ein schier unmögliches Unterfangen, ADHS-Medikamente für ein ganzes Jahr auf Reisen mitzuführen, da sie in vielen Ländern besonderen Einfuhrgesetzen unterliegen.

Doch was ist ADHS, und wieso ist es mit ADHS vermeintlich eine größere Herausforderung, eine Weltreise zu machen? ADHS steht für Aufmerksamkeits-Defizit Hyperaktivitäts-Störung oder -Syndrom. In Deutschland sind etwa 2,8 Prozent der Erwachsenen davon betroffen. Bei Kindern beläuft sich der Wert auf fünf Prozent, wobei es sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen eine hohe Dunkelziffer geben dürfte.[1] Bei Jungen und Männern ist die Zahl der Diagnostizierten höher als bei Mädchen und Frauen;[2] die Datenlage über nicht binäre und transidentitäre Menschen ist unzureichend.[3] Außerdem treten bei ADHS oftmals Doppeldiagnosen beispielsweise mit Autismus-Spektrumsstörung und Hochsensibilität auf.[4] Die typischen Symptome bei ADHS sind Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität,[5] wobei es bei etwa der Hälfte der Betroffenen zu weiteren Symptomen wie Erschöpfung, Depressionen oder Angststörungen kommt.[6]

Die Auswirkungen von ADHS auf mein Leben zu beschreiben, ist mit einer einzelnen Situation nicht getan, weil es so viele verschiedene Dimensionen gibt. Dennoch passieren mir im Alltag immer wieder Dinge, die ich als typisch beschreiben würde. Einmal bin ich beispielsweise zu einem Campingausflug mit einer befreundeten Familie gefahren, ohne Schlafsack und Isomatte mitzunehmen. An meine damalige Obsession, den Rubik’s Cube, hatte ich allerdings gedacht. Immer wieder sitze ich stundenlang einfach in der Gegend herum und warte darauf, dass die Zeit verstreicht, ohne dass ich etwas dagegen tun kann. Beim typischen Auf-Termine-Warten spricht man von exekutiver Dysfunktion, ein aus dem Englischen geliehener Begriff. In diesem Zustand weiß ich zwar genau, was ich tun sollte oder müsste, kann es aber nicht ausführen. Besonders prominent ist das beim stupiden Abarbeiten von Aufgaben.

Es gibt auch viele positive Aspekte, die bei Menschen mit ADHS vermehrt auffällig sind. In einer nicht repräsentativen Studie einer niederländischen Forschungsgruppe erwies sich Kreativität als die Eigenschaft, die mit weitem Abstand zu anderen bei den meisten Menschen mit ADHS festzustellen war.[7] Bei mir zeigt sich meine Kreativität nicht nur, wenn ich Logos erstelle, Musik mache oder mich künstlerisch versuche, sondern auch meine Lösungsansätze bei kniffligen Problemen haben mir in meinem Leben schon so einige Male aus der Patsche geholfen und werden auch Alex und mir auf der Reise helfen.

Dass ich meinen Schlafsack vergesse, wenn ich campen gehe, passiert mir heute seltener, nicht, weil mein ADHS jetzt, da ich erwachsen bin, zurückgegangen wäre, sondern eher, weil ich gelernt habe, damit umzugehen. Denn nach aktuellem Forschungsstand ist ADHS nicht heil-, sondern nur behandelbar. Dadurch, dass ich mich mittlerweile ganz gut kenne, kann ich viele meiner Besonderheiten besser handhaben. Meine größte Stärke dabei ist mit Sicherheit meine sich stetig verbessernde Fähigkeit zur Kommunikation. Ich spreche heute viel offener aus, was ich brauche, was ich möchte und, vor allem, wo ich Hilfe brauche. Auf unserer Reise um die Welt wird sich das als eine meiner Kernkompetenzen erweisen: meine eigenen Stärken und Schwächen einzuschätzen und beurteilen zu können, wann ich Hilfe brauche, wobei mir Alex helfen kann und wann ich einfach mal eine Pause benötige.

Dass ich mich jetzt traue, trotz meiner manchmal nachlässigen Art ein Jahr lang nicht nur für mich, sondern auch für einen weiteren Menschen Verantwortung zu übernehmen, liegt im Kern an mir und an Alex. Zum einen habe ich über die Jahre sehr gut gelernt, mit mir selbst umzugehen; ich traue mir zu, auf unser Gepäck aufzupassen, zu funktionieren, wenn es notwendig ist, und meine Eigenheiten in den Hintergrund rücken zu können, falls es die Situation erfordert. Der zweite Grund ist, dass ich Alex vertraue, mir ein guter Reisepartner zu sein. Mich so zu akzeptieren, wie ich bin, und mich zu unterstützen, wie er kann. Ich bin der festen Überzeugung, dass unsere Reise eine Win-win-Situation sein wird und wir beide uns auf einzigartige Art und Weise ergänzen. So ist für uns von Anfang an klar, dass ich mehr die körperlichen Aufgaben erledige, wie etwa Sachen packen, tragen, einkaufen, kochen, Wäsche waschen und so weiter. Alex übernimmt dafür einen Großteil der Verantwortung, was die Planung der Reise angeht: Buchung von Flügen und Zügen und Herausfinden, welches Visum wir wann und wie brauchen und beantragen können.

Schlussendlich bin ich fest davon überzeugt, dass erst die vielen Vorteile, die ich durch meine Neurodivergenz erlebe, mich auch dazu befähigen, ein Projekt dieser Größenordnung durchzustehen. Ein ausgeprägtes Empathievermögen, Spontaneität und ein hohes Maß an Kreativität werden sicher helfen, Alex bei seinen Hürden zu unterstützen.

Physische Grenzen

Alex

»Wir können froh sein, wenn Ihr Sohn eines Tages einen elektrischen Rollstuhl bedienen kann!«

Dieser Satz hat sich mir tief ins Gedächtnis gebrannt, und ich werde ihn nie vergessen, obwohl er mir gegenüber nie aktiv ausgesprochen wurde. Ich kenne ihn nur aus den Erzählungen meiner Mutter. Sie hat ihn sich von einem Hausarzt anhören müssen, als ich zwei Jahre alt war. Ein Faustschlag direkt ins Gesicht, so hat es sich für sie angefühlt. Dieser Satz hat ihr die Hoffnung auf eine bessere Zukunft geraubt und sie in ihren Grundfesten erschüttert. Gleichzeitig hat dieser Satz meine Mutter aber auch motiviert, das Bestmögliche aus mir herauszuholen. Und ich habe die Emotionen von meiner Mutter komplett übernommen, mittlerweile fühlt es sich so an, als hätte man mir diesen Satz damals direkt ins Gesicht gesagt. Er sitzt so tief in mir drin, dass ich es mir zur Lebensaufgabe gemacht habe, ihn so weit zu widerlegen, wie es nur geht. Auch wenn ich das schon vor langer Zeit geschafft habe, brennt in mir nach wie vor ein Feuer. Ein Feuer, das mich dazu antreibt, immer mehr erreichen zu wollen.

Ich wurde mit einer schweren körperlichen Behinderung namens AMC(Arthrogryposis multiplex congenita) geboren, ins Deutsche übersetzt bedeutet das so viel wie »Angeborene Gelenksteife«. Arthro heißt »Gelenk«, gryposis kann mit »gekrümmt« übersetzt werden, multiplex bedeutet »mehrfach« und congenita »angeboren«.[8] Dabei stellt der lateinische Name mehr einen Oberbegriff dar und beschreibt nicht die Ursache der Behinderung, sondern vielmehr die Symptome, die durch verschiedene Ursachen zutage treten können.[9] Deshalb spricht man auch eher von einem Befund als von einer Diagnose.[10] In den meisten Fällen sind mehrere Gelenke und auch die Muskulatur betroffen, wobei es verschiedene Typen beziehungsweise Schweregrade von AMC gibt. So reicht die Ausprägung des Krankheitsbildes von Klumpfüßen ohne weitere größere Einschränkungen bis hin zu der Betroffenheit des ganzen Skeletts sowie Organen und des zentralen Nervensystems.[11] Es gibt also Menschen mit AMC, die ihren Alltag fast ohne Probleme alleine bewältigen können und dabei keine Hilfe benötigen, aber auch das andere Extrem kommt vor, und die Betroffenen sind auf den elektrischen Rollstuhl angewiesen. Je nachdem, von welchem Typ ausgegangen wird, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind mit AMC auf die Welt kommt, zwischen 1:3000 und 1:10 000.[12] Heute weiß man, dass die Behinderung in einigen Fällen erblich bedingt ist, aber auch durch äußere Faktoren zwischen der achten und elften Schwangerschaftswoche hervorgerufen werden kann.[13] Zwar ist AMC nicht heilbar, doch auch nicht fortschreitend, das heißt, eine signifikante Verschlechterung des Zustands, wie beispielsweise bei Multipler Sklerose (MS) der Fall, ist nicht zu erwarten.

Die medizinischen Fakten sind in Teilen schwer verständlich und kompliziert, jedenfalls war meine Kindheit geprägt von Wochen und Monaten im Krankenhaus. Ich wurde im Kinderkrankenhaus in Aschau am Chiemsee behandelt unter der Obhut von Dr. Correll, zu seiner Zeit führender Spezialist in Deutschland, wenn es um die Behandlung der Symptome von AMC ging. Damit ich die Chance hatte, das Leben aus einer anderen Perspektive wahrzunehmen, wurden bei mir drei große Operationen durchgeführt: zwei an meinen beiden Füßen und eine an meiner rechten Hüfte, die es mir bis dahin unmöglich gemacht hatte, aufrecht zu stehen. Neben den Operationen und langen Krankenhausaufenthalten hat meine Mutter schon früh sehr hart um die Beweglichkeit meines Körpers mithilfe von Physiotherapie nach Vojta gekämpft. Dreimal täglich ist sie dabei emotional an ihre Grenzen gegangen, ich dafür körperlich. Für sie hat es sich immer so angefühlt, als würde sie mich foltern, da sie verstärkt gegen meine Sehnenverkürzungen und Gelenkversteifungen vorgehen musste.

Mit vier Jahren konnte ich dann meine ersten Schritte laufen. Ich habe es nicht mehr ganz in Erinnerung, meiner Familie aber kam es wie ein Wunder vor, die intensive Arbeit an meinem Körper hatte sich bezahlt gemacht. Möglich war dies mithilfe von Orthesen, die stählernen Strümpfen gleichen. Diese helfen mir, die Beine gestreckt zu halten, was mir das Laufen ermöglicht. Noch heute bin ich auf die Orthesen angewiesen, die ich am Kniegelenk ausrasten kann, um mich hinzusetzen. Mittlerweile habe ich es geschafft, nur mit wenig Hilfe ein paar Treppenstufen hinunterzugehen, mein Kryptonit erreiche ich aber dann, wenn es darum geht, die Treppe wieder hochzukommen.

Die größere Einschränkung im Alltag geht jedoch nicht von meinen Beinen, sondern von meinen Armen und Händen aus. Ich kann sie nur sehr eingeschränkt dazu nutzen, um etwas zu heben oder zu greifen. Für mich bedeutet das eine stark beschnittene Mobilität und die Abhängigkeit von anderen Personen, wenn es um alltägliche Dinge wie Hygiene, Umziehen, Haushalt und Essen geht.

Meine Familie und vor allem meine Mutter haben alles dafür gegeben, dass ich ein möglichst sorgenfreies Leben führen und mit meinen Möglichkeiten das Maximale erreichen kann. Sie haben mich anscheinend schon von früh an richtig eingeschätzt und erkannt, dass ich immer noch höher hinaus möchte. Vielleicht haben aber auch sie mir genau das beigebracht. Wenn man so darüber nachdenkt, ist das immer schon eine ziemliche Herausforderung gewesen, gegen die alltäglichen Hürden angehend immer das Beste erreichen zu wollen.

Natürlich gibt es immer wieder Momente, in denen ich mental mit meiner Behinderung stark zu kämpfen habe. Doch schon früh habe ich gelernt, meine körperliche Andersartigkeit als einen Teil von mir zu akzeptieren. Durch sie bin ich zu dem Menschen geworden, der ich heute bin. Sie hat meinen Charakter geprägt, mich ein feines Gespür für meine Mitmenschen entwickeln lassen und meinen Willen gestärkt. Heute bin ich sogar davon überzeugt, dass ich ohne die Behinderung eine solch abenteuerliche Reise nie gemacht hätte. Ich trage meine Behinderung stolz nach außen und überzeuge jede:n, dass eine Behinderung das Leben ganz und gar nicht wertloser werden lässt.

Start der Weltreise – Istanbul

 

Zeit: 22. bis 29. Oktober 2022

Ort: Istanbul

Fahrzeuge: Flugzeug, Busse, Trams, Fähren, Uber, Taxen

Weg von zu Hause

Alex

Ich drehe mich ein letztes Mal um, dann sind meine Familie und engsten Freunde außer Sichtweite. Sooo elegant verläuft die Sicherheitskontrolle am Hamburger Flughafen nicht, mal wieder wird ein Sprengstofftest an meinen Orthesen durchgeführt, doch das ist am Flughafen mittlerweile Routine für mich. Nur dass dadurch kein kurzes, schmerzloses Abschiednehmen möglich ist, nervt mich. Anstatt meiner Familie und meinen Freunden zuzuwinken, beziehungsweise in meinem Fall zuzunicken, und anschließend hinter der Sicherheitskontrolle zu verschwinden, stehe ich nun so, dass ich sie nicht sehen kann, während wir auf das Ergebnis des Sprengstofftests warten, das – Überraschung – negativ ausfällt.

Heute, am 22. Oktober 2022, startet also das größte Abenteuer meines Lebens, an das ich seit Monaten fast in jeder freien Minute gedacht habe. Lovis und ich gucken uns an und müssen grinsen. In unseren Augen glitzert es.

»Na, dann mal los«, sage ich.

Normalerweise sind wir gesprächiger, aber der Abschied von unseren Liebsten drückt ein bisschen aufs Gemüt. Doch Zeit, um Trauer aufkommen zu lassen, bleibt kaum. Wir steuern nach einem versichernden Besuch beim Gate – der Flieger ist noch nicht ohne uns gestartet – die erste Toilette an, denn die Aufregung drückt auf die Blase. Ich schwitze mittlerweile unter meinem Pulli schon so sehr, dass ich Lovis bitte, ihn mir auszuziehen. Er hat Mühe damit, denn der Stoff klebt an meiner Haut. Nachdem er es geschafft hat, gucken wir beide in den Spiegel und müssen lachen. Der genau richtige Moment, um im Spiegel unser erstes Weltreise-Selfie zu machen. Es ist so weit. Wir sind bereit, um die erste Etappe unserer einjährigen geplanten Tour in Angriff zu nehmen. Istanbul, wir kommen! Anschließend soll es weiter nach Osten gehen: über den Oman, die Vereinigten Arabischen Emirate und Singapur nach Australien. Danach sind wir ziemlich offen und gucken, wo es uns hintreibt. Ziel ist es aber auf jeden Fall, bis auf die Antarktis alle Kontinente zu besuchen.

Ich kann behaupten, dass ich kein ganz unerfahrener Reisender bin, schließlich hatte ich das Glück, von Eltern großgezogen zu werden, die das Reisen genauso lieben wie ich jetzt. Und doch bin ich perplex und weiß gar nicht, wie ich reagieren soll, als mich die Stewardess im Flieger fragt, ob sie mir beim Anreichen des Essens helfen könne.

»Haha, nein danke. Mein Freund kümmert sich um mich«, antworte ich mit einem verlegenen Lachen.

Eine solch offene Hilfsbereitschaft bin ich bei all meiner Reiseerfahrung dann doch nicht gewohnt. Als sie weitergeht, schaut mich Lovis von der Seite aus mit einem Zwinkern an: »Tue ich das? Du könntest dir doch auch von der netten Stewardess helfen lassen«, meint er lachend. Die Anfangsnervosität verfliegt, und wir beide brennen darauf, endlich in Istanbul zu landen und die Stadt zu erkunden.

Wie ich später erfahren sollte, war das Angebot der Stewardess nur ein kleiner Vorgeschmack auf das, was uns später in Istanbul erwarten würde. So geht es mit der Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft nach der Landung auf dem gigantischen Flughafen nordwestlich der Stadt gleich weiter. Gedanklich bereite ich mich schon darauf vor, eine recht lange Strecke mit meinem circa sieben Kilo schweren Rucksack laufen zu müssen, da der Flughafen einfach so groß ist. Denn obwohl der Plan vorsieht, dass Lovis, sooft es geht, die Hauptlast unseres Gepäcks schultert, um meinen Rücken zu schonen, werde ich immer wieder, gerade wenn wir mit dem vollen Gepäck unterwegs sind, auch meinen Teil tragen müssen. Doch als wir gerade den Finger verlassen, steht plötzlich ein kleines Elektrofahrzeug vor uns. Der Fahrer schaut uns sehr freundlich an und fragt, ob er uns ein Stück mitnehmen könne. Ich bin absolut verwundert, da mir auch so etwas selten zuvor widerfahren ist. Lovis und ich wechseln kurz verdutzte Blicke, dann nehmen wir das Angebot dankend an.

Binnen kürzester Zeit zieren schwarze Einreisestempel unsere Reisepässe. Da unsere Akkus noch voll sind und wir vor Reiseenergie nur so strotzen, entscheiden wir uns natürlich für den günstigen, aber umständlichen Weg, ins Stadtzentrum von Istanbul zu kommen. Also rein in den kleinen Bus, was sich als gar nicht so einfach erweist. Lovis hilft mir irgendwie die steilen Stufen hinauf, während ich versuche, immer einen Blick auf das Gepäck zu haben. Nach dieser Anstrengung kann ich auf dem Sitz endlich durchatmen. Als wir unser Hostel in der historischen Altstadt auf der europäischen Seite erreichen, bin ich vollkommen fertig. Hinter uns liegen drei Stunden, zwei Busse, eine Trambahn und viel Hin-und-her-Geirre zu Fuß auf der Suche nach der Unterkunft.

Ich ärgere mich sehr darüber, dass unser Zimmer im Keller ist und mich Lovis deswegen die Treppe hoch- und heruntertragen muss. Schließlich bin ich für die ganze Planung der Reise zuständig! Doch auch daraus lernen wir für spätere Buchungen. Glücklicherweise bekommen wir schon am nächsten Tag ein Zimmer im Erdgeschoss. Doch auch vom Frühstück trennen uns Stufen: Eine enge Wendeltreppe führt hinauf auf die Dachterrasse im vierten Stock, wo es serviert wird. Schnell müssen wir zugeben, dass sich die Anstrengung lohnt. Wir dürfen über den Dächern Istanbuls frühstücken und dabei den exotischen Geräuschen der Stadt lauschen. Gerade ist Gebetszeit, überall ertönen die Rufe der Muezzins.

»Boah, da bekomme ich immer Gänsehaut, das erinnert mich daran, dass ich weit weg bin von zu Hause und eine fremde Stadt nur darauf wartet, erkundet zu werden«, raune ich Lovis ergriffen zu. Der nickt zustimmend, ist aber mehr damit beschäftigt, die Qualität des türkischen Brotes zu untersuchen.

»Hey, Alex, bist du das?«, fragt plötzlich eine Frau in meinem Alter, also auch etwa Mitte zwanzig.

Ich werde aus meiner Tagträumerei gerissen und schaue in die Richtung, aus der die Frage kam. Am ersten Morgen unserer Weltreise werde ich auf Deutsch angesprochen? Im Ernst jetzt? Und dann sehe ich Mariana, wir kennen uns noch aus der Schule und waren in der gleichen Jahrgangsstufe. Allerdings fällt mir in dem Moment ihr Name nicht ein, wie das häufig bei mir der Fall ist.

»Hey … du hier? Was treibt dich denn nach Istanbul?«

Schnell kommen wir ins Gespräch und sind einfach nur baff, dass wir uns hier treffen. Es stellt sich heraus, dass auch sie momentan viel reist und nun für ein paar Tage in Istanbul bleibt, genau wie wir. Lovis kennt sie nur flüchtig, er ist erst später auf meine Schule gekommen, doch er integriert sich ganz natürlich in unser Gespräch. Zu dritt planen wir unseren Tag und nehmen uns erst einmal vor, ganz entspannt die historische Altstadt zu erkunden. Gar nicht so einfach für mich, denn die ist ziemlich hügelig, und die Straßen bestehen teilweise aus unebenem Kopfsteinpflaster. Für mich gibt es heute also nicht nur Sightseeing, sondern auch eine große Sporteinheit dazu, nicht schlecht. So etwas nennt man, glaube ich, Effektivität.

Wir schlendern durch die Straßen und lassen uns einfach von dem enormen Menschenstrom durch die Stadt treiben. Dabei verstehen wir uns blendend und prusten immer wieder los vor Lachen. Mir kommt der Gedanke, dass es deutlich schlechtere Starts in eine Weltreise gäbe. Ich bin sehr gerne unter Menschen und genieße es, sie besser kennenzulernen. Mit Lovis, da bin ich mir sicher, werde ich das nächste Jahr über noch genug Zeit alleine verbringen.

Zwei Tage später reist Mariana ab. Zum dritten Mal trägt Lovis mich die Wendeltreppe hinauf zum Frühstück. Ich habe schon einiges an Erfahrung, meinen Kopf in so engen Treppenkorridoren nicht gegen die Wand schlagen zu lassen, doch hier ist das immer wieder eine sehr enge Kiste. Wir reden zwar noch nicht darüber, weil es erst der vierte Reisetag ist und wir noch ausreichend Energiereserven haben, aber mir kommt es so vor, als gäbe es eine innere Hürde für ihn, mich jeden Morgen die Treppe hinaufzutragen, die mit jedem Tag ein wenig größer zu werden scheint. Doch der schöne Blick hinunter auf die Dächer der Stadt fasziniert und entlohnt uns jeden Tag aufs Neue. Außerdem sind das Hostel und damit auch das inbegriffene Frühstück supergünstig.

So sitzen wir wieder zu zweit beim Frühstück, als ich neben uns erneut eine deutsche Stimme höre. Das ist in Istanbul nicht unbedingt ungewöhnlich, doch irgendetwas fällt mir besonders auf. Es ist nicht nur einfach Deutsch, was ich da höre, es ist Norddeutsch, und der Sprecher versucht gar nicht erst, diesen Fakt zu vertuschen, was ihm gleich Sympathiepunkte einbringt.

»Moooin, auch aus Hamburch?«, traue ich mich nach kurzem Zögern zu fragen.

Es folgt ein kurzes und knappes »Nein«. Nach einer kleinen Pause folgt: »Aus Oldenburg. Ihr kommt also aus Hamburg?«

Und schon haben wir mit Lars einen Gefährten an unserer Seite, der viele norddeutsche Stereotype bedient. Er drängt sich null auf und hat gar kein Problem damit, auch mal für sich allein zu sein. Einfach ein sehr angenehmer und ruhiger Zeitgenosse, der einem nicht so schnell auf die Nerven geht. Typisch norddeutsch eben.

Er erzählt uns, dass er mit dem Fahrrad von Deutschland nach Istanbul gefahren ist, nun ein paar Tage die Stadt erkunden will, um dann weiter in den Nahen Osten zu radeln. Beeindruckend, denke ich. Abends gehen wir zu dritt etwas abseits des Zentrums in einer Art Kantine essen. Außer uns sind keine anderen Tourist:innen hier. Das stimmt unsere Geldbeutel gleich fröhlich, denn hier können wir uns sicher sein, dass es keine überteuerten Touripreise gibt. Das Essen schmeckt sehr gut, und wir genießen die authentische Atmosphäre.

Wenn wir nicht allein essen gehen, bedeutet das für Lovis hin und wieder eine Ablösung beim Anreichen meines Essens. Ich habe ein Gespür dafür, wann ich Menschen, selbst solche, die ich noch nicht lange kenne, um diese etwas besondere Hilfe bitten kann. Lars gibt mir an diesem Abend sofort ein gutes Gefühl.

Auch Lars müssen wir nach kurzer Zeit wieder Tschüss sagen. Seine Anwesenheit hat uns ein Stück weit in das bekannte, von uns geliebte Norddeutschland zurückversetzt. Schon auf dem ersten Stopp unserer Reise lerne ich: Es ist unglaublich schön, in so kurzer Zeit so viele neue tolle Menschen kennenzulernen, mit denen man immer eine aufregende Zeit hat, da wir mit jeder und jedem etwas anderes, für uns Neues erkunden. Doch leider stimmt es mich auch immer traurig und melancholisch, diese Menschen dann wieder ziehen zu lassen, wenn es Zeit zum Abschiednehmen ist.

Wir sind dankbar für die tollen zufälligen Begegnungen und freuen uns nun auf unsere vor der Reise geplanten Treffen mit Bekannten, die wir schon ewig nicht mehr gesehen haben. Wir werden das Jahr über immer wieder Bekannte und Freund:innen treffen, die rund um den Globus verteilt sind. Hier sind es erst Elif und am nächsten Tag Maral, die uns an etwas abgelegenere Orte in Istanbul führen, die nicht jede:r Tourist:in zu sehen bekommt. Wir kennen die beiden noch aus Schulzeiten, als sie uns für eine Woche mit dem »Erasmus+«-Projekt in Hamburg besucht hatten. Elif zeigt uns ein richtiges türkisches Frühstück, ein kahvaltı. Dabei wird der Tisch reich eingedeckt mit verschiedenen Käsesorten, Fladenbrot, Walnüssen, Honig, Marmeladen, frischem Gemüse, Sucuk im Teigmantel und vielem mehr. Von nun an wollen Lovis und ich in Istanbul morgens nichts anderes mehr zu uns nehmen. Aufgrund des inkludierten Frühstücks im Hostel und unserer Ambitionen, sparsam zu sein, bleibt es aber leider nur bei dem Wunsch.

An einem Straßenstand gönnt Lovis sich einen frischen Obstsaft. Kurz darauf krümmt er sich und hält sich den Bauch.

»Ich habe dir doch vor der Reise gesagt, dass frisches Obst von Straßenbuden immer gefährlich ist«, rüffle ich ihn grinsend.

»Jaja, aber der sah halt so lecker aus …«, entgegnet er.

Lovis’ Bauchschmerzen können uns aber nicht davon abhalten, ein paar Meter weiter eine echte Delikatesse zu essen.

»Das müsst ihr unbedingt probieren«, sagt Elif, während sie sich schon eine große Muschel mit Reis in den Mund schiebt und kurz darauf die leere Muschelschale wieder herausholt. Midye dolmasi sind gefüllte Muscheln. Auch die hätte ich normalerweise nicht einfach am Straßenrand gegessen, bei Fisch muss man meiner Erfahrung nach aufpassen. Doch wenn Elif sie isst … Ach, was soll’s, denke ich und lasse mir von Elif ein großes Exemplar in den Mund schieben. Eine gute Entscheidung, weiß ich sofort.

Am nächsten Tag treffen wir Maral, die uns ebenfalls Istanbul zeigt. Für abends haben wir uns mit Frederick verabredet, einem amerikanischen Bekannten aus dem Umfeld von Lovis’ Familie. Frederick ist ein schon etwas älterer Mann mit einem sehr großen Herzen. Als wir mit ihm und seinem türkischen Gefährten zu Abend essen, kann er gar nicht genug von uns beiden und unserer geplanten Weltreise bekommen.

»Da müssen wir aber etwas ganz Großes draus machen, ihr habt das Zeug dazu! So eine Geschichte, so eine Freundschaft gibt es nur ganz, ganz selten«, meint er.

Lovis und ich nicken, sind ein wenig überwältigt von seinen Worten. Plötzlich zieht er während des Essens sein Handy aus der Tasche und ruft jemanden an.

»Ich kenne da eine Journalistin, sie ist mir noch einen Gefallen schuldig. Sie soll noch heute Abend einen Artikel über euch beide schreiben, der kann dann in der größten türkischen Zeitung, Hürriyet, erscheinen«, flüstert er uns zu, bevor Janet ans Telefon geht.

Einen Tag später treffen wir uns dann tatsächlich mit Janet, sie ist begeistert von unserer Geschichte und saugt unser Vorhaben auf wie ein Schwamm. Während der Reise werden wir immer wieder Kontakt zu ihr haben, ein Artikel von ihr über uns wird aber leider aus unterschiedlichen Gründen nie erscheinen.

Einem Teppichhändler auf den Leim gegangen

Lovis

Wenn uns Menschen fragen, was Alex und mich miteinander verbindet, nennen wir meistens drei Leidenschaften: Sport, Inklusion und Reisen. In meiner Kindheit habe ich mit meiner Familie viele europäische Länder besucht: zum Beispiel Dänemark, Tschechien und Frankreich. Doch eine Sache hat mir immer gefehlt – eine Reise außerhalb Europas. Das war aufgrund der finanziellen Situation meiner Familie nicht möglich, und jetzt habe ich mir vorgenommen, innerhalb eines Jahres sechs Kontinente zu bereisen.