Die Revolution des 17. Oktober - Miriam Younes - E-Book

Die Revolution des 17. Oktober E-Book

Miriam Younes

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Beschreibung

Seitdem die Regierung im Oktober 2019 ankündigte, neue Steuern unter anderem auf Kommunikations-Apps zu erheben, demonstrieren die Menschen im Libanon für einen radikalen Wandel und den Sturz der machthabenden politischen Elite. Bei der sogenannten »Revolution des 17. Oktober« handelt es sich um die größten Massenproteste in der jüngeren Geschichte des Landes und eine der radikalsten Absagen an das politische und wirtschaftliche System, das seit Jahrzehnten eine Elite protegiert, die sich bereits in Zeiten des Bürgerkrieges (1975–1990) einen unrühmlichen Namen gemacht hat. Sie herrscht mit einer vertrauten Mischung aus Klientelismus, Konfessionalismus und Korruption sowie einer engen neoliberalen Vernetzung von Kapital und Politik. Die Folgen sind ein quasi nicht vorhandenes staatliches Sozialsystem, der zunehmende Wegfall oder die Privatisierung staatlicher Leistungen, steigende Lebenshaltungskosten, die Entstehung informeller Wirtschaftsstrukturen und eine wachsende Verarmung und Arbeitslosigkeit vor allem der untersten Schichten der libanesischen Gesellschaft. Es ist diese Politik, gegen die die Leute am 17. Oktober aufbegehrten, und es ist dieses System, dessen Sturz die Protestierenden auf der Straße bis zum heutigen Tag fordern. Miriam Younes erklärt die Entwicklung der Proteste aus der modernen Geschichte des Libanons heraus, liefert Innenansichten in die Dynamiken, Herausforderungen und Ziele der Bewegung, fragt nach ihrer Zukunftsfähigkeit und erörtert die mögliche politische Zukunft des Landes.

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Seitenzahl: 226

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Miriam Younes ist Politikwissenschaftlerin und Soziologin mit Schwerpunkt auf Politik und Gesellschaft des Libanons, des Iraks und Syriens. Sie lebt seit 2009 im Libanon und leitet seit 2017 das Auslandsbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Beirut.

Miriam Younes

Die Revolution des 17. Oktober

Ursachen, Verlauf und Ziele der Massenproteste im Libanon

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Miriam Younes

Die Revolution des 17. Oktober

1. Auflage, August 2021

eBook UNRAST Verlag, Juni 2022

ISBN 978-3-95405-110-6

© UNRAST-Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Felix Hetscher, Münster

Satz: Andreas Hollender, Köln

Inhalt

EinleitungReicht der Mut?

Kapitel 1Das Haus der vielen Treppen: Zur modernen Geschichte des Libanons

Kapitel 2»Alle heißt Alle« – Soziale Bewegungen seit 2011

Kapitel 3WhatsApp-Steuer und Wirtschaftskrise: Der Abend des 17. Oktober 2019

Kapitel 4»Bring us a dancer« – Proteste von Tripoli bis Nabatieh

Kapitel 5Organisierung ohne Leitung, Forderungen ohne Programm?

Kapitel 6Wo ist der Staat? Hier ist der Staat!

Kapitel 7Corona, Hunger und die Explosion – Wann ist der Zusammenbruch vollständig?

FazitPerspektiven eines ›revolutionären Experiments‹

Glossar der wichtigsten Begriffe, Personen und Orte

Literatur

Anmerkungen

EinleitungReicht der Mut?

»Schreib mir, wie’s dir geht! Verschont man dich? Schreib mir, was sie treiben! Reicht dein Mut? Schreib mir, was du tust! Ist es auch gut? Schreib mir, woran denkst du? Bin es ich?«

(Bertolt Brecht, Fragen)[1]

Ende November 2019 war ich an einem Sonntagnachmittag auf einem Ausflug in den libanesischen Bergen. Auf dem Rückweg entschied ich mich, auf dem Märtyrerplatz vorbeizuschauen, auf dem in dieser Zeit täglich und vor allem sonntags große Proteste der ›Revolution des 17. Oktober‹ stattfanden. Auch an den Tagen, an denen zu keiner Demonstration aufgerufen wurde, und vor allem dann, wenn es zu keinen gewaltvollen Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und Sicherheitskräften kam, war der Platz täglich eine Anlaufstelle für alle Menschen, die die Protestbewegung unterstützten und einen Ort zum Austausch, zur Diskussion oder zum Verweilen suchten. Viele der revolutionären Gruppen hatten dort ihre Zelte aufgebaut, Essen und Trinken wurde umsonst verteilt oder zu günstigen Preisen verkauft. Einige Leute brachten ihre Stühle oder ihr eigenes Essen und Trinken mit und saßen auf dem Platz, um sich mit Freund*innen zu treffen oder das Treiben auf dem Platz zu beobachten. An dem besagten Sonntag im November 2019 war genau dies mein Ziel, ich setzte mich auf einer der aufgestellten Bänke auf dem Platz und schaute den Leuten zu. Ich kam mit mehreren Menschen ins Gespräch, Aktivist*innen, Familien, Kinder. Alle erzählten mir, warum sie auf dem Platz waren und was ihre Einstellung zur Revolution oder ihre Erfahrung damit waren. Dieser Sonntagnachmittag war sicher nicht der ereignisreichste oder aufregendste, den ich auf dem Märtyrerplatz verbracht hatte, und dennoch ist er mir als ein Moment in Erinnerung geblieben, der für mich die Revolution des 17. Oktober verkörpert: das Miteinander von Menschen verschiedenen Alters, verschiedener Klassen, verschiedener Nationalitäten und verschiedener Konfessionen auf einem Platz in der Innenstadt Beiruts, den sie seit Monaten besetzt hielten; die Selbstverständlichkeit und das Selbstbewusstsein, mit der von der »thawra«, der Revolution, gesprochen wurde, als wäre sie bereits vollendet oder es nur eine Frage der Zeit; die Verwandlung eines ehemals geschlossenen und ausgrenzenden Stadtzentrums in einen Ort des täglichen Miteinanders, der Selbstverwaltung und des Neuanfangs; das überbordende und vielleicht naive Gefühl von Hoffnung und von Aufbruch, der angesichts der Menschen auf dem Platz in diesem Moment wie eine gegebene Tatsache erschien.

Anderthalb Jahre später, im Januar 2021, fuhr ich auf der Autobahn von Saida nach Beirut. Es war der letzte Tag, bevor im Libanon der zweite Lockdown anfing, um die Verbreitung des Coronavirus im Land einzudämmen. Der Lockdown sollte strikter sein als der erste und beinhaltete auch mehr Einschränkungen der Bewegungsfreiheit. Weil die Menschen noch letzte Besorgungen erledigen wollten, waren die Straßen, Supermärkte und Geschäfte voll mit gestressten Menschen und Autos. Die Menschen waren auch deswegen zusätzlich gestresst, weil die Preise seit Monaten durch die Inflation ins Unermessliche gestiegen waren und israelische Jets seit Tagen tief über dem libanesischen Luftraum flogen. Auf der Autobahn rasten die Autos aneinander vorbei, drängelten von hinten und überholten rücksichtslos von rechts und links. Da es keinen Strom gab, war die Straßenbeleuchtung aus und wir fuhren im kompletten Dunkel. Für einen Moment verfiel ich in Panik, mein Hund, der auf dem Rücksitz saß, wurde nervös, die Autos rasten links und rechts an uns vorbei während ich kaum etwas sah außer den blendenden Scheinwerfern von der gegenüberliegenden Straßenseite. Ich hielt am Standstreifen an und versuchte mich, den Hund und das Auto wieder unter Kontrolle zu kriegen. Als meine Panik abflaute, wurde mir klar, dass in meinem Kopf für einen Moment die Möglichkeit eines plötzlichen Todes durch einen Autounfall als etwas sehr Wahrscheinliches erschienen war. Es war, als wäre in den letzten Monaten im Libanon der Tod oder irgendeine Art von Katastrophe, die zum Tod führen kann, eine nur allzu mögliche und tagtägliche Option geworden. Angefangen von der Explosion am 4. August 2020[2] bis hin zu steigenden Todesfällen durch Corona, dem täglichen Wahnsinn bedingt durch die Folgen der Wirtschaftskrise, der Vorhersage eines neuen Krieges im Land – sei es durch die israelischen Jets, die täglich über unseren Köpfen flogen, oder durch einen neuen Bürgerkrieg – im Libanon erlebt man seit Monaten täglich die multiplen Krisen und gleichzeitig die ständige Androhung immer neuer Krisen und des letztendlichen Zusammenbruchs – was auch immer ein solcher tatsächlich bedeuten sollte. Der Tod, sei es durch eine Explosion, durch Krankheit oder durch Gewalt, war ein nur allzu mögliches Szenario in dieser Realität geworden. Als hätten wir alle Aspekte des Lebens, die uns Vertrauen, Sicherheit, Ausdauer und Hoffnung für unser tägliches Leben gaben, verloren. Gleichzeitig wissen wir alle, dass der Zusammenbruch des Libanons wie auch die Explosion des 4. Augusts Produkte eines politischen Systems und einer politischen Elite sind. Diese hat den Menschen bewusst ihre ›Revolution‹, ihre Selbstverständlichkeit, ihr Selbstbewusstsein und ihre Hoffnung genommen und stattdessen ständige Angst, Bedrohung und Trauer in sie gepflanzt. Ein Freund von mir drückte es vor ein paar Wochen mit den Worten aus, dass es im Moment im Libanon nur noch ums Überleben geht. Er sagte auch, dass diese Zeit vorübergehen wird und dass wir froh sein können, dass wir bisher überlebt haben, psychisch und physisch. In der Reduzierung auf das reine Überleben steckt auch eine kollektive Geiselnahme, in der sich all unsere Ängste, unsere Trauer, unsere Verletzlichkeit und unsere Wut ähneln. Ähnlich dem kollektiven Revolutionsgefühl der Hoffnung und des Neuanfangs fühlen wir jetzt einen kollektiven Niedergang und eine politische Pattsituation, der wir in einer Mischung aus Ohnmacht, Verzweiflung und zeitweiser Hoffnung gegenüberstehen.

Der starke Gegensatz zwischen der ersten Szene im November 2019 und der zweiten Szene im Januar 2021 verdeutlichte für mich während des Schreibens dieses Buches, in welch unglaublichem und vor allem rasantem Maße sich das Leben im Libanon seit Oktober 2019 verändert hat und wie wenig wir im Libanon in der Lage sind, diese Veränderung zu begreifen und dementsprechend auf sie zu reagieren, möglicherweise auch, weil wir in ständiger Habachtstellung vor der nächsten Stufe des Zusammenbruchs verweilen.

Dass der Anfangspunkt dieses gegenwärtigen Zusammenbruchs ein Moment der Hoffnung und des politischen und gesellschaftlichen Aufbruchs war, der in der Geschichte des Landes wohl einzigartig ist, macht dieses Narrativ einerseits so tragisch und gibt mir andererseits auch eine neue Art von Hoffnung, dass dieser Moment etwas gepflanzt hat, das auch in der Gegenwart und Zukunft wieder wachsen kann. Vielleicht heißt leben im Libanon deswegen im Moment nicht nur überleben, sondern auch reflektieren, begreifen und verarbeiten, um beim nächsten Schritt eines politischen Aufbruchs oder Aufschreis besser vorbereitet zu sein als im Oktober 2019.

Dieses Buch beginnt mit der modernen Geschichte des Libanons seit Anfang des 20. Jahrhunderts, um die Protestbewegung des 17. Oktober 2019 in ihrer geschichtlichen, gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Entstehung verständlich zu machen. Es versucht in den folgenden Kapiteln verschiedene Aspekte der Protestbewegung vor allem aus der Erzählung ihrer Protagonist*innen zu verstehen: ihre Version der Geschichte, ihre Motive, Beweggründe und Perspektiven auf die Ereignisse und vor allem den Verlauf ihrer Revolution und ihre eigenen Rollen darin. Die Protestbewegung des 17. Oktober wird demnach sowohl aus ihrer politischen Entstehungsgeschichte als auch in ihren verschiedenen Momentaufnahmen, ihren Schicksalsschlägen, Entscheidungen und Verläufen betrachtet. Das Buch stellt Fragen nach politischen Möglichkeiten, Chancen, Rückschlägen und Entscheidungen, nach politischer Struktur und politisch-nationalen Systemen sowie den Aussichten und Perspektiven auf Veränderung in Phasen von Umbruch und Revolte. Es stellt sowohl die Frage nach persönlichen Entscheidungen und dem hierfür nötigen Mut als auch nach kollektivem Planen, Organisieren und Entwickeln von Visionen, Strategien und Ideen innerhalb dieser Phasen. Und es stellt schließlich auch die Frage nach der Bedeutung von Niedergang, Konterrevolution, Katastrophe und Krise, von Ohnmacht, Wut und Enttäuschung innerhalb dieser Prozesse. In einem meiner Interviews für dieses Buch identifizierte eine Aktivistin das dominante Gefühl nach der Explosion des 4. Augusts als Angst. Diese Angst steht im Gegensatz zu dem überbordenden Mut, der die ersten Wochen und Monate der Revolte auszeichnete. Im derzeitigen Libanon, d.h. im Libanon nach der Explosion, inmitten von Krisen und wirtschaftlichem und politischem Niedergang, stellt sich demnach auch die Frage, wie die herrschende Angst überwunden werden und wieder in Mut verwandelt werden kann, der politische Strategien, Visionen und Ideen greifbar macht.

Die immer noch andauernde Protestbewegung im Libanon steht jedoch nicht alleine da. Im Irak, in Chile, aber auch in Frankreich, in den USA, in Hong Kong, zuletzt in Myanmar und in vielen anderen Ländern erheben sich Protestbewegungen gegen autoritäre und korrupte Regime, gegen Neoliberalismus und Kapitalismus, gegen politische Gewalt und für ein Leben in Würde, Schutz und Gerechtigkeit. Diese Bewegungen haben ihren spontanen und scheinbar unorganisierten Charakter gemeinsam, ihre Ablehnung von traditioneller Organisierung und Institutionalisierung in den vorhandenen Strukturen von Politik. Es stellt sich im neuen Trend der ›Bewegungen ohne Führung‹ die Frage nach der Zukunftsfähigkeit dieser neuen sozialen Bewegungen und damit auch der Zukunftsfähigkeit von radikaler oppositioneller Politik jenseits der politischen Institutionen.

Die libanesischen Protestierenden nennen ihre Revolte eine Revolution (»thawra«), sich selber Revolutionär*innen, sie bestehen auf diese Bezeichnung und sangen immer wieder laut auf der Straße: »thaw, thaw, thawra, thawratna mesh hirak« (Rev, Rev, Revolution, unsere Revolution ist keine Bewegung). Auch wenn der Libanon momentan weit entfernt von einem echten Umsturz politischer, sozialer und wirtschaftlicher Verhältnisse ist, behalte ich in diesem Buch bewusst den Begriff ›Revolution‹ (wenn auch in Anführungszeichen) bei, um zu betonen, dass das erklärte Ziel der Protestierenden ein allumfassender politischer und sozialer, ökonomischer und kultureller Wandel ist. Das bedeutet auch, dass die ›Revolution‹ in den Augen derer, die auf der Straße sind, absolute Priorität hat, d.h. sie impliziert einen gewissen ›revolutionären‹ Lebensstil und gewisse Werte, die die Protestierenden verfolgen: auf dem Platz bleiben, soziale Strukturen und Regeln auf dem Platz ausarbeiten und einhalten, Solidarität untereinander, ›Privates‹ zurückzustellen etc. In diesem Sinne werden in diesem Buch revolutionäre Prozesse eher anthropologisch als politikwissenschaftlich betrachtet. Der Fokus liegt vor allem darauf, wie ›normale‹ Menschen diese revolutionären Prozesse erleben und mitgestalten. Hierzu gehört auch, Revolutionen als langwierige Prozesse zu betrachten, die wir in ihrer langen Dauer beobachten können und müssen, bevor vorschnell ihr Ende konstatiert wird (wie oft in der Diskussion zur ersten Protestwelle des arabischen Frühlings 2011) oder sie auf ihr letztendliches Ergebnis reduziert werden.

In diesem Buch habe ich konsequent versucht, das Gendersternchen zu verwenden, allerdings habe ich bewusst an einigen Stellen darauf verzichtet, um den rein männlichen Charakter der Personengruppen zu betonen, z.B. im Falle der libanesischen Politiker oder Milizenführer.

Für die Recherche an diesem Buch wurden viele Aktivist*innen der Protestbewegung interviewt. Diejenigen, die Anonymität verlangten, wurden nicht namentlich genannt, die benutzten Zitate wurden mit den Interviewpartner*innen abgesprochen.

Ich bin vielen Menschen zu Dank verpflichtet, die in der einen oder anderen Weise an der Entstehung dieses Buches mitgewirkt haben. Namentlich nennen möchte ich vor allem diejenigen, die mir bei Fragen und bei der Recherche behilflich waren und Inspiration gaben, sei es für dieses Buch oder in den letzten Jahren im Libanon: Maher Abi Samra, Marie-Noëlle AbiYaghi, Lara Bitar, Mohamad Blakah, Barbara Kassir, Fawwaz und Nawal Traboulsi sowie Bassel, Nader und Rayan Younes. In besonderem Maße möchte ich außerdem Paul Achcar und Moussa Yaakoub danken, ohne die dieses Buch sicher nicht entstanden wäre. Ein großer Teil der Arbeit an diesem Buch fand in einem kleinen, von wunderschöner Natur umgebenen Cottage in Debbeye in den libanesischen Bergen statt. Der friedliche und ruhige Charakter dieses Ortes und seine freundlichen Menschen und Tiere gaben mir inmitten dieser turbulenten Zeit die Möglichkeit zur Reflektion und Konzentration. Mein Dank geht daher auch an Nada Boustani und ihre Familie, die diesen zauberhaften Ort im Libanon geschaffen haben und ihn Menschen zur Verfügung stellen. Meiner Mutter Ulrike Younes möchte ich zudem für die Korrektur des Textes danken und Karim Natour vom UNRAST Verlag für seine Unterstützung und Geduld bei der Erstellung des Textes.

Kapitel 1Das Haus der vielen Treppen: Zur modernen Geschichte des Libanons

Im Jahre 1988 veröffentlichte der libanesische Historiker Kamal Salibi sein Buch A House of many Mansions: The History of Lebanon Reconsidered, in dem er nach mehr als einem Jahrzehnt Bürgerkrieg im Libanon die konfliktreiche Geschichte des Landes aus den diversen Geschichtsinterpretationen der verschiedenen religiösen Gemeinschaften im Land (der verschiedenen »mansions«) erklärt. Jede dieser Gemeinschaften gebraucht nach Salibi ihre eigenen nationalistischen Ideen und Mythen, um eine ›vorgestellte Gemeinschaft‹[3] für ihr jeweiliges »mansion« zu kreieren. Der libanesische Konfessionalismus im Sinne Salibis hat folglich wenig mit tribalen oder immer dagewesenen primordialen Gemeinschaften zu tun, sondern vor allem mit modernen Konstrukten, die sich paradoxerweise im Laufe der libanesischen Nationenbildung Anfang des 20. Jahrhunderts herauskristallisierten. Im Libanon, dem kleinsten Land des asiatischen Kontinents, leben offiziell 18 verschiedene religiöse Gemeinschaften, die größten darunter die Zwölfer- Schiit*innen, die Sunnit*innen, die Drus*innen sowie die Maronit*innen. Da seit 1932 keine offizielle Volkszählung mehr durchgeführt wurde, ist es schwierig abzuschätzen, welchen Anteil an der Gesamtbevölkerung die jeweilige Religionsgemeinschaft ausmacht. Diese konfessionelle Vielfalt auf kleinstem Raum ist nicht nur unbestrittenes wichtiges Merkmal verschiedener Perioden libanesischer Geschichte, sondern auch seit der Unabhängigkeit des Landes in Verfassung und politischem System des Landes verankert.

Sie definiert damit unbestritten politische sowie soziale Realitäten im Libanon bis heute, von der Besetzung politischer und öffentlicher Ämter, der Personenstandsgesetzgebung, dem Wahlrecht bis hin zu klientelistischen Netzwerken, die Zugang zu Arbeit, sozialen Leistungen und administrativen Begünstigungen ermöglichen. Jegliche politische Bewegung oder Gruppierung im Libanon, die den politischen Status Quo in irgendeiner Form herausfordern will, muss demnach vor allem und in erster Linie eine Position zu den vielschichtigen Dimensionen des libanesischen Konfessionalismus einnehmen. Auch die Protestbewegung seit Oktober 2019 hadert – ähnlich früheren Protestbewegungen im Libanon – mit den politischen und sozialen Realitäten und der starken Deutungskraft des Konfessionalismus im heutigen Libanon und positioniert sich gleichzeitig als eine klar konfessionsübergreifende und den Konfessionalismus ablehnende Bewegung.

Dennoch: Die derzeitige politische, soziale und wirtschaftliche Realität des Libanons nur durch die Brille des Konfessionalismus oder Antikonfessionalismus zu sehen, ist kurzsichtig und verschleiert den Blick auf andere wichtige Dimensionen der libanesischen Geschichte und politischen Realität. Der Libanon ist eben nicht nur ein Haus der vielen »mansions«, die seit Jahrzehnten mehr schlecht als recht versuchen, eine sowohl vorgestellte als auch politische Gemeinschaft in dem einen, ihnen zur Verfügung stehenden »Haus« zu bilden, der Libanon ist auch ein Haus der vielen Treppen, die diese »mansions« teilweise miteinander verbinden, teilweise voneinander trennen. Für jede*n Beobachter*in von moderner Geschichte und politischer und sozialer Realität des Libanons ist demnach immer auch entscheidend, welche Treppe er oder sie einschlägt und demnach auch, welchen Blickwinkel er oder sie auf die verschiedenen »mansions« und das gesamte Haus einnimmt.

Die ersten Proteste brachen am 17. Oktober 2019 aus, nachdem am selben Tag ein Regierungssprecher eine neue Steuer auf Apps wie WhatsApp, Signal oder Telegram verkündet hatte. Innerhalb von wenigen Stunden füllten sich die Straßen mit wütenden Bürger*innen, die gegen die verkündete Steuer und gegen einen vor allem in der Sozialpolitik abwesenden libanesischen Staat protestierten. Der Ausbruch der Proteste kam für viele Menschen inner- und außerhalb des Libanons überraschend: Nicht die üblichen Verdächtigen von politischen und sozialen Protestbewegungen der letzten Jahre im Libanon waren die ersten Demonstrant*innen auf der Straße am 17. Oktober, vielmehr handelte es sich vor allem um junge und ökonomisch unterprivilegierte Menschen, für die eine marginal scheinende Besteuerung von Apps den berühmten Tropfen darstellte, der das Fass ihrer Toleranzgrenze zum Überlaufen brachte. Betont wird deshalb bis heute immer wieder, dass die ›Revolution des 17. Oktober‹ vor allem von diesen in Protestbewegungen des Libanons bis dahin eher unterrepräsentierten sozialen Gruppen ins Leben gerufen wurde und erst am nächsten und übernächsten Tag andere politisch oppositionelle Gruppen und systemkritische Menschen auf die Straße folgten.

Diese Tatsache macht einen häufig übersehenen Aspekt libanesischer moderner Geschichte deutlich: Sozioökonomische Ungleichheit ist seit Jahrzehnten ein Teil der gesellschaftlichen Realität des Libanons. Bereits in den 50er-Jahren entstanden rund um die ökonomisch florierende Hauptstadt Beirut ghettoähnliche Vororte, in denen vor allem Migrant*innen, Geflüchtete sowie aus den ländlichen Regionen in die Städte gezogene Binnenmigrant*innen lebten. Gleichzeitig florierte vor allem Beirut wirtschaftlich und gesellschaftlich, wurde oft das ›Paris des Nahen Ostens‹ oder die ›Hauptstadt arabischer Kultur‹ genannt, war stets ein sicherer Ort für Investitionen vor allem von ausländischem Kapital für Immobilien- und Bankgeschäfte sowie eine Stadt der kulturellen und künstlerischen Offenheit und Vielfalt. Der Ausbruch der Demonstrationen am 17. Oktober 2019 und die sich in der Folge aufzeigende und derzeit intensivierende Wirtschafts- und Finanzkrise weisen auf eine lange sozioökonomische Entwicklung hin, in der illusorisches Wachstum und steigende sozioökonomische Ungleichheit sich in der Wahrnehmung vieler für lange Zeit die Waagschale halten konnten, eine Gleichung, die allerdings ab Oktober 2019 innerhalb weniger Monate ihre Gültigkeit verlor.

Neben ihrer klar sozioökonomischen und konfessionsübergreifenden Komponente bezeichneten sowohl auswärtige Beobachter als auch Menschen innerhalb der Bewegung die Protestbewegung als ziel-, führungs- und programmlos. So seien sich die verschiedenen Gruppierungen vor allem darin einig, gegen was sie einstanden, hätten aber wenig politisches Programm oder politische Ideen für einen zukünftigen ›post-revolutionären‹ Libanon. Zudem lehne die Bewegung sowohl parteienähnliche Organisation als auch hierarchische Strukturen dezidiert ab. Viele Protagonist*innen der Protestbewegung erklären diese Distanz zu politischer Organisierung und Ideologisierung mit ihrer umfassenden Ablehnung jeglicher Art von Annäherung an ein politisches System und eine politische Repräsentation, wie sie sie im Libanon vorfinden. Eine totale und radikale Ablehnung dieses Systems ohne politischen Gegenentwurf sei demnach ein erster und notwendiger Schritt. Dieses Charakteristikum stellt die Frage nach Formen der Organisation jenseits politischer Parteien auf der einen Seite, und der tatsächlichen Rolle bereits existierender politischer Parteien innerhalb der Protestbewegung (wie die Libanesische Kommunistische Partei und die Lebanese Forces) auf der anderen Seite. Jenseits von Organisationsformen politischer Gruppierungen sowie von kollektiven politischen Handlungen stellt sich hier auch die Frage nach der historischen Rolle von politischen Ideen, Ideologien sowie politischen Akteuren im Libanon wie auch ihre Entwicklung und Rolle im Laufe der Protestbewegungen der letzten Jahre und der ›Revolution des 17. Oktober‹.

Um die ›Revolution des 17. Oktober‹ aus der modernen Geschichte des Libanons heraus zu betrachten, folgt dieses Kapitel vor allem drei Aspekten innerhalb der libanesischen Geschichte: der Rolle des Konfessionalismus, der sozioökonomischen Entwicklung und der Rolle von Klassendynamiken sowie dem Aspekt von politischer Organisierung und ideologischer und potenzieller realpolitischer Ausrichtung.

Konfessionalismus – Der Mythos der libanesischen Identität

Ein Teil des heutigen Staatsgebiets des Libanons wurde als autonomes Emirat innerhalb des Osmanischen Reiches unter dem Namen ›Libanon‹ oder ›Libanongebirge‹ (›Mount Lebanon‹) zum ersten Mal Ende des 16. Jahrhunderts gegründet. In diesem Emirat lebten zu dieser Zeit vor allem Drus*innen und christliche Maronit*innen, daneben aber auch Sunnit*innen, Zwölfer-Schiit*innen sowie Anhänger*innen der griechisch-orthodoxen und griechisch-katholischen Kirchen. Mitte des 19. Jahrhunderts kam es zu verstärkten Spannungen zwischen Maronit*innen und Drus*innen, vor allem aber zwischen der Landbevölkerung (überwiegend maronitisch) und ihren überwiegend drusischen Feudalherr*innen. In dieser Zeit hatten zudem die europäischen Mächte verstärkt angefangen, Allianzen mit den im Emirat lebenden Religionsgemeinschaften zu bilden: Während Frankreich sich mit den christlichen Maronit*innen verbündete, fanden die Drus*innen in dem damaligen ›Vereinigten Königreich Großbritanniens und Irlands‹ ihren Alliierten. Trotz Versuchen der beiden Großmächte, die Spannungen zwischen den beiden Religionsgruppen zu entschärfen, kam es im Jahre 1860 zum sogenannten ›Bürgerkrieg des Libanongebirges‹, in dem schätzungsweise 20.000 Menschen, vor allem maronitische Christ*innen, getötet wurden. Im Sommer 1860 intervenierte Frankreich als erklärte Schutzmacht der Christ*innen im Osmanischen Reich in den Konflikt und das Osmanische Reich stimmte in der Folge der Entsendung einer europäischen Schutztruppe in das Gebiet des Libanongebirges zu.

Der Bürgerkrieg von 1860 führte zu der Erklärung des ›Mount Lebanon‹ Gebietes als quasi autonomes ›Mutessariflik‹[4] unter einem vom Osmanischen Sultan ernannten christlichen, nicht-arabischen Gouverneur (›mutassarif‹). Die Quasi-Autonomie des neuen Mutessariflik war durch die europäischen Großmächte (Frankreich, Großbritannien, Österreich, Preußen und Russland) garantiert. Zusätzlich zu dem ›mutassarif‹ wurde ein Verwaltungsrat, bestehend aus zwölf Mitgliedern etabliert. Dieser Rat sollte der konfessionellen Vielfalt des Gebiets Rechnung tragen. Er bestand in den ersten drei Jahren aus jeweils sechs Muslimen (zwei Drusen, zwei Sunniten und zwei Schiiten) und sechs Christen (zwei Maroniten, zwei Griechisch-Orthodoxe und zwei Griechisch-Katholische), ab 1864 erhielten die Christen ein Mitglied mehr und die Muslime dementsprechend eines weniger (7:5). Das Mutessariflik des Libanons hielt sich bis zum Zusammenbruch des Osmanischen Reiches in relativer Stabilität und Frieden, vor allem aufgrund des florierenden Seidenhandels und der relativen Unabhängigkeit, die die europäischen Mächte dem Gebiet zustanden. Der Bürgerkrieg von 1860 und in der Folge die Etablierung des Mutessariflik ist für die moderne Geschichte des Libanons im Allgemeinen und die Geschichte des libanesischen Konfessionalismus im Besonderen vor allem aus zwei Gründen von Bedeutung: Zum einen wird bereits hier deutlich, inwiefern religiöse oder konfessionelle Zugehörigkeiten sowohl mit politischen Interessen als auch mit Klassenzugehörigkeiten zusammenspielen und sowohl Konflikte als auch Allianzen und Abkommen ermöglichen und verursachen können. Zum anderen wird das Mutessariflik aber auch als erstes Beispiel in der modernen Geschichte des Libanons genannt, in der politisch-öffentliche Ämter nach der Religionszugehörigkeit verteilt wurden, um Koexistenz und Frieden zu sichern, aber auch um zwischen den verschiedenen Interessen des Osmanischen Reiches und der europäischen Mächte (vor allem Frankreich) in diesem Gebiet zu vermitteln.

Die libanesische Republik in ihren heutigen Staatsgrenzen wurde am 1. September 1920 zuerst als ›Staat des Großlibanons‹ verkündet. Im Jahre 1923 gab der Völkerbund Frankreich dann offiziell das Mandat über Syrien und den Libanon. Im Jahre 1926 wurde die Verfassung verabschiedet und der Staat hieß ab diesem Datum ›Libanesische Republik‹. Mit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches nach Ende des Ersten Weltkrieges hatten Großbritannien und Frankreich die ehemaligen syrischen Provinzen des Osmanischen Reiches unter sich aufgeteilt. Die Bezeichnung ›Großlibanon‹ wurde gewählt, da die Größe des neu definierten Staates etwa das Doppelte des ehemaligen Mutessariflik ausmachte und auch die ehemaligen osmanischen Provinzen Tripoli, Saida (Sidon) und die Bekaa-Ebene umfasste. Damit wurden große Teile der muslimischen Bevölkerung dieser Regionen in den libanesischen Staat inkorporiert. Ein Großteil dieser neuen muslimischen Bevölkerung lehnte die Einbürgerung in den neu gegründeten Staat unter französischem Mandat ab und hätte einen unabhängigen großsyrischen Staat, bestehend aus dem Gebiet des heutigen Syriens und dem des heutigen Libanons, bevorzugt.

In der 1926 verabschiedeten Verfassung des neuen Staates wurde der Libanon als demokratische parlamentarische Republik deklariert. Bereits in der Präambel der Verfassung wurde die Vorläufigkeit des politischen Konfessionalismus festgelegt, dessen Abschaffung als nationales Ziel definiert wurde. Dennoch verankerte die Verfassung, die – in einigen Aspekten verändert – bis heute in Kraft ist, den politischen Konfessionalismus in zwei Artikeln: Artikel 9 garantiert absolute Gewissensfreiheit für jedes Individuum sowie den Respekt des Staates gegenüber allen Glaubensrichtungen und Religionen. Gleichzeitig wird diesen verschiedenen Religionsgemeinschaften das Recht zugesprochen, ihre jeweiligen Systeme von Personenstandsrecht auszuüben, d.h. sie besitzen das legislative und judikative Recht über jegliche Personenstandsgesetzgebung wie Heirat, Scheidung, Geburt und Erbe. Diese Festlegung definiert eine wichtige Dimension des libanesischen Konfessionalismus: Bis heute gibt es kein ziviles Personenstandsrecht. Die Durchsetzung eines solchen – wie immer wieder von einzelnen Politiker*innen und Aktivist*innen gefordert – würde demnach auch eine Veränderung der Verfassung erfordern. Von religiösen Würdenträger*innen wird eine solche Veränderung vehement abgelehnt. Angelegenheiten des Personenstandsrechts werden bis heute von insgesamt 15 verschiedenen religiösen Gerichtshöfen geregelt.

Der zweite ›konfessionelle‹ Aspekt der Verfassung von 1926 findet sich in Artikel 24, in dem verankert ist, dass, solange bis die Abgeordnetenkammer ein nicht-konfessionelles Wahlrecht verabschiedet hat, die Sitze der Abgeordneten in einem Verhältnis von sechs (Christ*innen) zu fünf (Muslim*innen) verteilt werden müssen. Die Gesamtzahl der Sitze soll zudem proportional unter den jeweiligen christlichen und muslimischen Religionsgemeinschaften verteilt werden. In Artikel 95 wird einerseits die Abschaffung des Konfessionalismus als fernes Zukunftsziel festgelegt und gleichzeitig seine temporäre Gültigkeit in einer zeitlich nicht definierten Interimsperiode verankert. Es ist – vage formuliert – Aufgabe der Abgeordnetenkammer, in dieser Interimsperiode »die geeigneten Maßnahmen« zu ergreifen, »um den politischen Konfessionalismus abzuschaffen«.

Die libanesische Verfassung birgt vor allem zwei grundlegende Widersprüche oder Ambivalenzen: Auf der einen Seite gewährt sie allen Staatsbürger*innen juristische und politische Gleichheit, auf der anderen Seite wird diese politische und juristische Gleichheit durch die Zuordnung der Staatsbürger*innen zu ihrer jeweiligen Religionsgemeinschaft aufgehoben, da es in letzter Instanz die Religionsgemeinschaft ist, die über ihren politischen und juristischen Status bestimmt. Zudem verankert die libanesische Verfassung einerseits den politischen Konfessionalismus in seinen zwei wichtigsten Dimensionen (Proporzsystem im Parlament und konfessionelles Personenstandsrecht) und andererseits seine notwendige Abschaffung. Sie macht es damit auf der einen Seite sehr schwierig, bestimmte Aspekte des Konfessionalismus, wie zum Beispiel das religiös bestimmte Personenstandsrecht, abzuschaffen, und gibt auf der anderen Seite libanesischen Politiker*innen bis heute die Möglichkeit, von einer theoretischen und in die ferne Zukunft gerichteten Abschaffung des Konfessionalismus zu sprechen und diese als Ziel zu definieren, ohne konkrete Schritte in diese Richtung unternehmen zu müssen. Ohne Ausnahme propagieren heute alle politischen Parteien im Libanon die Abschaffung des Konfessionalismus als erklärtes Ziel und richten dennoch jegliche Programmatik und Politik an dem konfessionellen System und der konfessionellen Aufteilung des Libanons aus.

Anfang der 40er-Jahre wurde das Ende der französischen Mandatsherrschaft greifbar und Planungen zur Unabhängigkeit der Libanesischen Republik nahmen Gestalt an. Die Frage der nahenden Unabhängigkeit brachte das Thema der verschiedenen Gemeinschaften, ihrer Interessen und Allianzen, das bereits zu Beginn der Mandatszeit Kontroversen erzeugt hatte, wieder auf den Tisch. In Verhandlungen mit der Mandatsmacht in Paris kam die Frage der konfessionellen Vertretung sowie Macht- und Kompetenzverteilung wieder neu auf: Während viele der muslimischen Vertreter*innen in Paris darauf bestanden, dass Frankreich sie als Minderheit gegenüber der christlichen Mehrheit beschützen sollte, forderte die christliche Delegation gleichermaßen, dass Frankreich ihnen ihre Unabhängigkeit gegenüber Syrien und den libanesischen Muslim*innen garantierte. Aus dieser doppelten Unsicherheit, was die zukünftige friedliche Koexistenz und Machtverteilung in einem unabhängigen Libanon angehen würde, entstand der sogenannte ›Nationalpakt‹, der neben der Verfassung das zweite Gründungsdokument der Libanesischen Republik darstellt. Der ›Nationalpakt‹ ist ein ungeschriebenes, informelles Abkommen zwischen zwei Gründungsvätern der Republik: Bechara al-Khoury, Gründer der Constitutional Bloc Partei[5] und erster Präsident des unabhängigen Libanons, und Riad al-Solh, erster Premierminister des Landes. Der Pakt ist ein Versuch, den Unsicherheiten der verschiedenen Religionsgemeinschaften zu begegnen, ihre Interessen auszugleichen und die Idee der Macht- und Rechteverteilung unter den Konfessionen zu konkretisieren. Er bestimmt demnach einerseits die Beziehungen des Landes nach außen und definiert den Libanon als ein »Land mit einem arabischen Profil der alles Sinnvolle und Nützliche der westlichen Zivilisation integriert«[6]