Die Rosenlady und der Sekretär - Christine Meiering - E-Book

Die Rosenlady und der Sekretär E-Book

Christine Meiering

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Beschreibung

Alle vier Jahreszeiten mit Sonne, Regen, Schnee, Hagel und Sturm, Blühen, Wachsen und Vergehen, mit Vogelgezwitscher, allem voran dem lieblichen Nachtigallengesang; selbst Unscheinbarstes nimmt Lady Ethel in ihrer nächsten Umgebung wahr. Gebrechliche Glieder verwehren ihr das Verlassen ihres Landgutes in Norfolk; mit den ihr noch verbliebenen funktionsfähigen fünf Sinnen assimiliert sie Leben in seiner ganzen Vielfalt; Leben, das einige wenige vertraute Menschen ihr ins Haus tragen. Ihre größte Gartenliebe gilt der Königin der Blumen, der Vielzahl von Rosen, die sie noch mühsam hegt und pflegt. Als Witwe eines englischen Grafen erfährt sie eines ihrer letzten Lebensjahre zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zwischen Hoffen auf ein Wiedersehen mit ihrem geliebten Gatten in der jenseitigen Welt und dem Wunsch, auf Erden noch Wichtiges ordnen und erleben zu dürfen, um letztendlich alles, was sich nach seinem Tode hier unten ereignet hat, ihm dereinst in allen Einzelheiten mitteilen zu können. Eingebunden in Gottes Schöpfung, in Familie und geschlechtsübergreifender Geschlechterkette, im Einverständnis mit gesellschaftlich geformten Gegebenheiten erfährt sie sich weniger als handelndes Subjekt denn als eine vorrangig vom »Wir-Gefühl« geleitete Persönlichkeit. Ein altes überliefertes Möbel, ihr geliebter Sekretär aus der »regency-period« (1783 – 1834), offenbart ihr – zum letzten Mal? – Familienschätze wie Briefe, Tagebücher, Stammbäume, Karten, Fotos; kurzum führt sie der umfangreiche Inhalt ihres Sekretärs zurück in ihr erfülltes Leben, auch in das ihrer Ahnen, an dem sie vor allem ihre Lieblingsenkelin Adelaine Anteil nehmen lässt. Letztendlich ist sie dabei von der Hoffnung beseelt, dass das Familienerbe später von Generation zu Generation weitergegeben wird. Weit entfernt von ihrem Wunsch nach einer beschaulichen Zeit des Lebensrückblickes holen sie aktuelle Probleme ein, die sie als betagte Person so manches Mal an die Grenzen ihrer Belastbarkeit bringen.

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Die Rosenlady und der Sekretär

Christine Meiering

DIE ROSENLADY UND DER SEKRETÄR

ENGELSDORFER VERLAG

LEIPZIG

2018

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2018) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

PROLOG

Unseren betagten Schreibsekretär aus der Zeit der ‚regency period‘ vor Augen, malte ich mir seine mögliche Vorgeschichte in den farbigsten Bildern aus. Wenn dieses Möbelstück doch nur erzählen könnte! Nun, da es schwerlich möglich sein dürfte, dem guten Stück trotz allem guten Zuredens auch nur den kleinsten Ton zu entlocken, müssen wir schon die Schätze, die in seinem Inneren schlummern, selbst aufzuspüren versuchen, sofern sie von geschichtsbewussten Menschen über Jahrzehnte und Jahrhunderte lang in Ehren gehalten worden sind.

Lebensgeschichten können spannend sein und über Raum und Zeit einer bestimmten Epoche Aufschluss geben. Während ich mir überlegte, dass in männerdominierten gesellschaftlichen Epochen vergangener Zeiten zumeist die ‚Herren der Schöpfung‘ diejenigen waren, die Weltgeschichte schrieben, überkam mich erstens der Wunsch darüber nachzudenken, wie sehr die im Hintergrund agierenden Ehefrauen das Walten ihrer Ehemänner mit beeinflusst haben könnten und zweitens, dass es diese Frauen mehr als verdienten, einmal ins besondere Blickfeld gerückt zu werden.

Elisabeth Heyking (1861 – 1925), geborene Gräfin Flemming, Enkelin von Bettina und Achim von Armin, war es geglückt, den Berühmtheitsgrad ihres Gatten, weit gereister deutscher Diplomat (1850 – 1915) noch zu übertreffen. In ihren Veröffentlichungen „Briefe, die ihn nicht erreichten“ gibt sie Zeugnis der deutschen Außenpolitik am Ende des 19. Jahrhunderts. Sie schildert darin das Leben höherer Gesellschaftskreisen in vier Kontinenten und erreicht mit ihren Tagebüchern (1903) sogar die 100. Auflage. In ihren Kairoer Zeiten machte das Diplomatenehepaar u. v. a. auch die Bekanntschaft mit Evelyn Lord Baring, I. Earl of Cromer, englischer Generalkonsul in Ägypten, und seiner Gemahlin Ethel, geb. Errington, um deren Lebensrückschau es in meiner Erzählung geht.

Weitgehend unbeachtet geblieben sind die Ehefrauen einflussreicher Männer in Staat und Gesellschaft. Repräsentationspflichten, perfektes Organisationstalent bei der Haushaltsführung und eine erstklassige Kindererziehung mit dem Ziel, den vielfältigen Erwartungen höherer Töchter gerecht zu werden, prägten diese Leben schlechthin. Wer hat je ein Augenmerk auf die ‚Frau an seiner Seite‘ gerichtet? Wer hat ihre ureigenen Bedürfnisse, Sorgen, Ängste, Opfer, aber auch Freuden überhaupt wahr- bzw. ernst genommen? Meine Erzählung basiert zum großen Teil auf geschichtlichen Tatsachen, wenngleich ich mir erlaubt habe, die literarische Freiheit zu nutzen, um die Erzählung auszuschmücken.

KAPITEL EINS

„Oh, wo bist du denn? Du mein neugieriges Poussiertüchlein!“

Zittrige Finger greifen hin und her, ein bisschen wahllos, weil das gewohnte Versteck, die Kragenfalte des blauen Samtgewandes, nicht auf Anhieb das Spitzentaschentuch freigibt.

„Oh, wie schamlos du doch bist! Bist mir nichts, dir nichts, ein ganzes Stückchen weiter nach unten gerutscht?“

Eine grau gelockte Haarsträhne sich aus der Stirn streichend, hockt die alte Dame in ihrem Ohrensessel, mit einem leicht anstößigem Lächeln auf den erdbeerroten Lippen; ein Lächeln, schwerelos wie Federn im Wind, unanstößig auf Etikette bedacht, genauso flüstert sie ihre Worte, während sie mit gespitztem Daumen und Zeigefinger noch ein wenig tiefer dorthin vordringt, wo neugierige Blicke von ihr gewöhnlich mit einem irritierenden Augenaufschlag quittiert werden. Sie lächelt gedankenversunken vor sich hin. Sofern es geliebte männliche Blicke gewesen waren, oh, ja, damals in grauen Vorzeiten, ja, tatsächlich musste ich einmal jung gewesen sein, da pflegte ich diese anzüglichen Betrachtungen mit einem halb herausfordernden, einem Viertel verschämten und einem ebensolchem Viertel Blick Zurechtweisung zu erwidern, denn Zucht, Ordnung und Anstand sprechen seit jeher für eine adäquate Kinderstube, damals wie heute, dessen ist sie sich gewiss! Aber jene Erinnerungen liegen fest in tiefste Seelengründe versenkt! Nur im Geheimen darf ein solch prickelnder Gedankensplitter mal ans Tageslicht dringen, um der alten Dame jetzt ein Lächeln zu entwinden, ein vieldeutiges, ein sicherlich jederzeit beherrsch- und kontrollierbares dazu!

Ja, jetzt hält sie es endlich in ihren Händen, ihr schneeweißes Spitzentüchlein, das sich zwischen den beiden hocherhobenen Hügeln sichtlich wohl gefühlt hat, denn ein Korsett bewirkt nun einmal, dass sich erschlaffte Körperformen in vollendeter Gestalt darzubieten vermögen. Ihre spitzen erdbeerfarbenen Fingernägel ergreifen das knittrige Tüchlein und fahren damit über eine ihrer Wangen, auf ehemals prallem Wangenleben waren eine Anzahl Furchen, eingegraben in einer Haut-Hängepartie seitlich der korrekten Lippenkonturlinie, ersichtlich. Gräflich verpackt wandert das flüchtig benetzte spitzige Etwas schließlich in einen ihrer samtenen Ärmelbunde; erst später nach einem Mehr oder Meer an Tränen – oder schweißtreibender Befeuchtung wird es an jene Stelle gelangen, wo es dereinst in seifiger Wäschelauge treibend, den Weg aller Naturgesetze gehen muss.

„Ach, du mein Poussiertüchlein!“

Wehmütig schaut sie auf das Ärmelversteck, als sie mit ihren Armen herumfuchtelt, um aus dem untersten Fach ihres Schreibsekretärs etwas herauszuangeln, etwas, was sie schon lange gesucht und bisher nicht auftreiben konnte.

„Mein Gott! Was suche ich überhaupt hier? Bei aller hektischen Kramerei in den Fächern des Schreibsekretärs war es ihr schon wieder entfallen, das Objekt ihrer Begierde. „Das Alter treibt so manchen Schabernack mit mir!“, resümiert die alte Lady kopfschüttelnd im Gespräch mit ihrer Wenigkeit. „Aber eigentlich darf ich alles andere als erzürnt sein, denn mein Oberstübchen spielt keineswegs schon so verrückt, dass ein Tadel gerechtfertigt erschiene.“

Das Ärmelversteck gerät erneut in ihr Blickfeld. „Ach, ja, mein Poussiertüchlein! Warst du damals nicht auch daran beteiligt gewesen, als …?“

Die alte Dame lächelt, diesmal kommt das Lächeln aus weiter Ferne, genauer gesagt, aus einem längst entschwundenen Jungbrunnenland. Jeder Nervenstrang, jeder kleinste Teil ihrer grauen Zellen, mögen sie mit einem noch so vornehmen lateinischen Namen wie ‚substantia grisea‘ behaftet sein, jede einzelne ihrer Körperzellen gerät in eine seltsame Wallung, in diesem besagten Moment, in dem sich ihr Altersgesicht glatt wie ein rosiger Kinderpopo präsentiert. Ein verklärtes Lächeln durchstreift ihr Gesicht …, ja, genauso wie ich damals staunte, als das schwere Plätteisen über das schneeweiße Tischtuch auf dem Küchentisch glitt und ein kleines blond gelocktes Mädchen diese kleine Wundermaschine bewunderte, damals in grauen Vorzeiten, als sich feste glatte Handballen um den hölzernen Griff krallten, damit kraftvolle erfolgversprechende glättende Bewegungen jedem kleinsten Stoffknitter zu Leibe rücken konnten. Meisterhaft gebügelt stellte es sich später für alle Speisenden als eine wahre Augenweide dar …, ja damals als die Küchenmamsell, unsere Dora, später unsere Erna, Blümchen- und Goldschüsseln mit dampfendem Inhalt auf dem blitzblanken schneeweißen Laken servierte. Und von wegen graue Vorzeiten! Rote Möhren, grüner Spinat, buttergelbe Kartoffeln und bräunlich-schwarzer Krustenbraten stachen auf dem schneeweißen Untergrund in jedermanns Auge! „Ach, ja … damals …! Seltsam, mein Spitzentüchlein, seltsam … eine Alte mit solcherlei Anwandlungen!“

Sie lacht einmal laut auf! Ein heller Jungbrunnenlacher erfüllt den Raum, vorbeistreichend an der Standuhr, der es gerade in diesem Moment gefällt, ihr Dong – Dong – Dong – Dong – Dong – Dong, sechse an der Zahl, mit ihrem herzhaften Lacher zu vermählen, dieses Potpourri der Töne gelangt schließlich dorthin, wo die silbernen Glöckchen des Kronleuchters in die anmutige Melodie mit einstimmen.

Ach, ja, meine Jenny, die jüngste aller Schwestern, sie hat das Tischtuch, weil es so steif war wie ein Brett, zu einem ‚Bretttuch‘ umbenannt. Und die Servietten betitelte sie als ‚Kleinbretttücher‘. Aber Großmama nannte sie alle zusammen ‚mein Dutzend‘, auch die Betttücher bezeichnete sie mit diesem für uns Kinder seltsamen Namen! Und auch die Spitzentaschentücher wurden nicht davon ausgenommen! Wie auch immer, auf jedes ihrer geliebten Dutzende ließ sie partout nichts kommen. Nur im Dutzend hatte das Einzelne seinen Wert, seinen beinahe heiligen Wert.

„Und du … du schaust jetzt popelig versteckt aus meinem Ärmel heraus! Wo Du doch einst auch zum stolzen Dutzend gehörtest!“ Sie lächelt verschmitzt, auf den Ärmel ihres Gewands blickend. „Ja, damals …!“

Die alte Dame sendet einen zweiten Lacher nach oben. Er streift an der Vitrine mit den Blumentellern und Goldgläsern entlang und verfängt sich schließlich in dem schweren Samtvorhang, der das große Butzenglasfenster beidseitig umrahmt. Der zweite Lacher entspringt ihrer Erinnerung an einen Haufen Kinder, ohne Ende Schabernack treibend. Nur ihr, meine lieben Enkeltöchter und Enkelsöhne, ihr macht mir nicht einmal das halbe Dutzend voll. Ihre gedankliche Reise zu der großen Herkunftsfamilie und zu ihrer eigenen Familie lässt sie seufzen, ehe sie ein ‚Ja, es war herrlich!‘ von sich gibt, das zu schnell wieder von einem ‚Gott sei Dank!‘ ausradiert zu werden scheint. Ihrer lieben Grandma gälte es heute klar zu machen, dass ein halbes Dutzend Kinder und weniger vollauf genügten, einfach deshalb, weil Kinder heutzutage nicht mehr so unbeweglich zu halten seien wie früher, dass sie nicht genauso wie ein Dutzend Bettlaken, Servietten oder Spitzentaschentücher in den Schrank verlagert werden könnten. Heute dürfen die Kleinen ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten mehr gehorchen als früher und das strengt Eltern nun mal eben oft sehr an! Von daher, so sinniert sie, geht das mit dem halben Dutzend oder weniger bei meiner Nachkommenschaft schon in Ordnung.

Die alte Dame liebt es, ihren eigenen Gedanken nachzuhängen, besonders dann, wenn sie alleine ist. Das Alleinsein, das mit sich Selbstsein, ist ihr inzwischen zur zweiten Natur geworden. Ja, Großmutters und Mamas Stolz auf ihre trefflich gestärkte Wäsche scheinen sogar sprichwörtlich verewigt. ‚Das Tuch steht wie eine Eins!‘ Dieses geflügelte Wort aus dem Munde unserer Mama verbreitete sich in Windeseile. Die alte Dame schmunzelt, die Armstützen fest umklammernd, zur Vergewisserung, dass sie im Hier und Heute lebt. „Und weil ich mit sieben Jahren wahrlich nicht dumm gewesen bin“, verbessert sie sich vorsichtig, „denn als zu vorlaut zu gelten, das war in unseren Kreisen wahrhaft ein Übel, ja, also äußerst behutsam musste ich Mama zu verstehen geben, dass die Eins doch noch einen Haken habe und auch nicht so aufrecht stünde wie das steife Tischtuch, auch wenn es sich an den Seiten vollgestärkt präsentierte. Ich bemerkte das nicht ohne Stolz, denn die Familie brüstete sich nur allzu gerne mit wissbegierigen Kindern. Und wie erwartet erntete ich dabei ein leises verständnisvolles Nicken der Erwachsenen. Jedenfalls steckten wir Kinder oft einen winzigen Mokkalöffel in die aufgestellte steife Serviette und spielten mit ihr Segelboot. Dabei durften wir aber nicht zu wild unser Segelboot hin und her schaukeln lassen, denn sonst ernteten wir womöglich einen ‚Gehört-sich-nicht-Klaps‘, und zwar einen gehörigen, einen, mit dem nicht zu spaßen war. Ach, ja … Und Du, mein Spitzentüchlein, hier im Ärmel drin! Oder auch ein anderes Deiner elf Geschwister.“ Und je mehr ihre Gehirnwindungen mit Jungbrunnenwasser durchschwemmt werden, je mehr scheint der alte graue Kopf mit den geschrumpften Runzeln weit nach oben zu schweben, am Kronleuchter vorbei, die Zimmerdecke durchbrechend, jener Sphäre entgegen, die raum- und zeitlos von der Ewigkeit Kunde gibt!

„Ach, ja … damals …! Hilfe, ich entschwebe …! Alles an Tante Marie ist dick. Ich umarme sie nur, weil und wenn ich es muss; beim Begrüßen, Verabschieden und beim sich Bedanken; das ist heilige Pflicht. Ich liebe ihre Umarmungen überhaupt nicht, weil sie mich dann jedes Mal so feste an sich drückt, dass ich dann wie ein kleines, wehrloses Geschöpf nach Atem ringen muss. Und weil sie dabei so sehr schwitzt und stinkt wie ranzige Butter, ja, darum hasse ich alles an ihr. Alles, wirklich alles an Tante Marie ist dick: ihre Hände sind dick, ihr Bauch ist am dicksten, aber auch ihre Brust ist so schwer, dass sie, wenn Tante bei Tisch sitzt, wie eine schwere Last auf die Tischplatte gedrückt wird. Alles an Tante Marie ist eben unförmig, ihre Arme und Beine, ja sogar ihre Ohrläppchen und ihre Backen dazu. Diese zeigen sich noch meistens knallrot und ihre Augen funkeln wie Katzenaugen in der Nacht. Aber am allerallerdicksten ist ihr Po. Wir Kinder lachen, wenn Mama uns zuflüstert: Da kommt die Po-Tanz-Matrone! Aber eigentlich gehört sich das nicht, so über eine alte Tante zu sprechen, das gibt Mama später selbst zu. Und wir Kinder lachen uns krank, auch wenn wir kein Fieber dabei kriegen. Tante Marie wackelt nicht nur mit dem Po, sondern mit allem, was an ihr dran ist, wie roter Wackelpudding sieht sie aus, und zwar wie solch einer, den wir Kinder doch besonders lieben, einen mit Himbeergeschmack, wie köstlich! Nur die dicke Tante, die mögen wir eben gar nicht, weil die Matronentante nämlich alles andere als köstlich daher kommt. – Hahaha!“ Spöttisches Lachen im Alleingang muss erlaubt sein. Auch das Alter und der Stand, sie schützen so manches Mal auch vor Übermut nicht! Wie sehr unsere alte Dame vor ihrem Schreibsekretär hockend, im phantastischen Jungbrunnenland verweilend, sich den Kindheitserinnerungen hingibt – und das mit allergrößtem Vergnügen! – das ist an ihrer Trance zu merken, die sie himmelwärts zu tragen scheint: Tante Marie springt plötzlich auf. Ein dicker Hefekloß war gerade in ihren Magen gerutscht, als sie wie von der Tarantel gestochen, vom Stuhl hochhüpft. Ich muss losprusten, meine Schwestern Jenny und Diana ebenso. Erst recht mein Bruder John! Wir halten uns den Mund zu, während unsere Backen dicker und dicker werden und zu platzen drohen.

Tante Maries Arme umgreifen ihre wallende Brust und kreisen in einer Mordsgeschwindigkeit um Brust, um Bauch und Po, wobei die Bewegungen immer heftiger und ungezügelter werden. Die ganze Tante kommt jetzt wie ein wahrer Wackelpudding daher, diesmal muss es ganz bestimmt einer mit Himbeergeschmack sein, denn das Gesicht und ihr Hals, ja alles an ihr, was unbedeckt ist, erstrahlt in Himbeerröte, während süße vergorene Himbeeren ihr aus allen Poren dringen. Dabei wuchtet sie ihre kurzen Arme über den massigen Rücken; weit reichen sie nicht, diese kleinen wibbeligen Dinger – während sie dabei Zetermordio schreit: „Zum Donnerwetter! Hilfee!“

Als sie von Mama ein Spitzentaschentuch gereicht bekommt, um sich damit die Nase zu putzen, beginnen ihre funkelnden Augen wahre Sturzbäche zu produzieren. Ein Nieser jagt den anderen, ein wahres Spektakel für uns Kinder. Ach je, … wenn ich auf das Ende seh’, … dabei wird’s mir mulmig und flau im Magen …, ein siebenjähriges Herzchen beginnt zu flattern, so wie es im Buche steht! Ein achtzigjähriges Herz flattert mit dem siebenjährigen im Duett, jetzt in diesem träumerischen Erinnerungsmoment. Und dabei wird das gute lebenserhaltende Stück wie schon so oft im Leben mächtig aus dem Takt gebracht. Wenn die Ewigkeit auch aus Stockschlägen besteht, wehe mir, ja dann … und die alte Dame, wieder in der Gegenwart angekommen, setzt zunächst ein Bein auf den Wohnstubenboden, ein siebenfaches Dong-Dong vernehmend, als sie sich mit beiden Füßen auf dem Parkett und mit ihrem samtenen Gesäß auf dem schnörkeligen Sessel mitten zwischen Rosen herrlichster Farbschattierungen wiederfindet und den Arm nach dem ausstreckt, das sie schon seit langem sucht und bis jetzt noch nicht gefunden hat.

„Oh, je, ich zürne und habe doch kein Recht dazu! Nun zur anderen Sache: Bei meinem Vater hat’s damals Stockschläge gehagelt. Und das alles nur, weil der böse Bruder John die Idee mit den Hagebuttenkernen hatte! Und bekanntlich ist mit dem Juckpulver nicht zu spaßen! Und dass Tante Marie das Opfer geworden ist, das kam auch nicht von ungefähr!“ Sie spricht oft mit sich selbst, fühlt sie sich inzwischen doch viel einsamer in ihrem großen alten Landhaus als in früheren Zeiten. Die alte Dame lächelt, ein wenig verträumt noch, um sich anschließend wieder auf ihren Beinen befindend, die Schultern zu kitzeln, und den Rücken zu jucken, ehe sie sich dann wieder formvollendet mitten auf die Sessel-Rosenwiese platziert: „Mein Gott! Ich bin doch nicht mehr sieben, ich stecke niemanden mehr Juckpulver, wer weiß wohin, ich bin die altwürdige gräfliche Dame Ethel, Witwe des weltweit hochverehrten Earl of Cromer, Mutter zweier wohlgeratener Söhne und Großmutter von vier quicklebendigen Enkeln, und ich bin und bleibe …“, trotzig tritt sie mit ihrem Fuß auf das spiegelglatte Parkett fest auf, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, „eine feine Dame, eine Dame von Welt mit Anstand und Manieren! Das bin ich meinen Altvorderen schuldig! Ja – und das ist so sicher wie das Amen in der Kirche!“

Lady Ethel liebt Bequemlichkeit. Die Rosenwiese, auf der ihr gräfliches Gesäß thront, hat sie sich mit einem lindgrünen Kissen ausgepolstert, einem himmelbettartigem, dessen Federfüllung ihrem leicht gebeugten Rücken wohlige Wärme und Weichheit spendet. Ja, ihr Rücken, … der gute alte …, er hat wahrlich schon bessere Zeiten erlebt!

„Ja, du mein Guter, der du dich mehr und mehr krümmen wirst! Du hast mir immer treue Dienste geleistet und alles mit mir zusammen getragen, was das Schicksal unserer Familie auferlegt hat. Und wie habe ich dich dafür gehegt und gepflegt! Die Kammerzofe hat dich weichmassiert, wenn die Strapazen überhandnahmen. Weißt du noch, mein Lieber, wie Rosies Hände dich kraftvoll kneteten? Ja, sie, die Liebe, eine Meisterin in punkto Körpermassage. Mit rhythmischen Bewegungen spielte sie auf dir Klavier, mal ein Adagio, mal ein Piano forte! Erinnerst du dich noch an den zarten Lederriemen, mein Treuester, den Rosie in atemberaubendem Tempo in alle Himmelsrichtungen über dich gleiten ließ?“ Und als die alte Lady noch einmal versucht, ihrem alten lastenerprobten Gefährten eine dankbare Streichelgabe zu verpassen, da knackt es kräftig im stark gealterten Gebälk, was ihr einen mächtigen Schrecken versetzt! Sie ärgert sich über ihren Wagemut. Sicher wird er sich an ihr rächen und ihr eine schlaflose Nacht bereiten. – „Ja, mein Lieber, jetzt müssen wir beide die Konsequenzen tragen, nicht wahr! Aber immer nur vernünftig sein, oh, nein! Für eine Person, wie ich es bin, impulsiv und oft unvernünftig, gar nicht vorstellbar! Aber wäre das Leben ansonsten nicht kalt und öde?“

Gleichzeitig streift sie mit ihrer Hand über den weichen Stoff rund um ihre Hüfte. „Hier schaffe ich es noch hin! So gerade eben noch! Aber du, meine altgediente Lende, du bist doch noch wesentlich widerstandsfähiger! Gib mein Mitgefühl bitte an meinen Buckel weiter und sage ihm, dass er sich auf keinen Fall gekränkt fühlen möge!“

Die alte Lady muss lächeln und ihr Lächeln fällt auf den Teewagen neben ihr, ihrem Gehilfen in der Not, der sich auf großen hölzernen Rollen hin- und her bewegend, oft Mitleid mit ihrem schmerzenden Rücken zeigt. Ihr Blick fällt genau genommen von dem weißen Spitzendeckchen mit dem verschnörkelten silbernen Bilderrahmen schnurstracks auf eine stattliche Person, nicht auf irgendeine, nein, auf das Bildnis einer überaus vertrauten männlichen Statur, der sie mild entgegen lächelt. Gestern, heute und in alle Ewigkeiten werden sich ihrer beiden Blicke treffen, ja, sie werden verschmelzen, wenn …, sie räuspert sich und streicht mit ihrer Hand über seine Wange …, ja, wenn wir uns demnächst wiedersehen. Ladies jedweden Alters und Standes sind glücklicherweise nicht vor Gefühlsausbrüchen gefeit, auch wenn Haltung und Anstand in gewissen Kreisen zur Contenance verpflichten. ‚Ach, was habe ich nur eine liebevoll verrückte Dame geehelicht, eine, die so nah am Wasser gebaut ist, so nahe, dass es das ganze Land zu überfluten droht.‘ In seiner ihm eigenen Art und Weise vorgetragen, waren diese, seine schmunzelnd vorgebrachten Worte, bei ihr keineswegs auf Granit gestoßen.

Die alte Lady greift nach ihrem Spitzentaschentuch – ein taufrisches, eines aus Großmutters geliebtem Dutzend. Noch ehe sie sich ein paar wenige dicke Kullertränen abwischen kann, bewahrheitet sich das, was ihr Geliebter ihr immer zu verkünden pflegte. Ein Tränenbach ergießt sich über ihr kastanienbraunes Samtgewand, wobei sich der weiche Stoff mächtig anstrengen muss, so viel Tränenflüssigkeit mit einem Male in sich aufzusaugen. Selten geschieht das in dieser ergreifenden Form, aber ab und an, wenn die Rosen in voller Blüte stehen, wenn ihre Söhne oder Schwiegertöchter sie durch kränkende Worte herausfordern, ja, wenn der Vollmond sie unruhig im Bett hin- und her wälzen lässt, und auch sonst dann und wann, wenn das Gefühl der Einsamkeit sie übermannt, dann überkommt es sie so unerwartet, wie ein aus heiterem Himmel herein brechender Regenschauer. Dann streichelt sie ihren tierischen Liebling in seinem Körbchen, während sich Katze Käthchens Schnurren mit den Seufzern seines Frauchens vereinigen. Jetzt ist sie allein und weit und breit kein Mensch erfährt, dass sie augenblicklich ihren Evel fest an ihren Busen drückt.

„Mein Evel-Liebling! … Deine himmlischen Berührungen …! Um wie viel mehr haben sie mein Herz erweicht als alle Klavierspielkünste der besten Pianisten der Welt es je vermocht hätten! Weißt du eigentlich, was du mir mit deinem Weggehen angetan hast? Ich fühle mich ganz und gar verlassen von dir – bald werden es drei lange, lange Jahre sein! Im Leben bin ich dir auf Schritt und Tritt gefolgt, zwar oft mit Zaudern und Ängsten im Herzen, aber als folgsame Ehefrau wäre ich mit dir hunderte Male um die ganze Welt gereist, wenn der Ruf an dich ergangen wäre! Weltreisen sind es zwar nicht geworden. Aber aus der Geborgenheit eines Elternhauses jäh herausgerissen, jungverheiratet den Schritten des Angetrauten in ein so fernes fremdes Land wie Ägypten folgen zu müssen, das schien mir damals um nichts leichter als hundert Weltreisen zusammen genommen! Aber dein Glück war mein Glück, deine Last auch die meinige!“

Das Bildnis schiebt sie jetzt ein wenig von ihrer Brust weg, zur Fensterseite hin, damit das gleißende Licht der Abendsonne direkt auf Evels Gesicht fallen kann. Verharren können und warten, ja, das musste ich in jahrzehntelanger Ehe lernen. Verzeihen, um sich wieder versöhnen zu können, das hatte mir das Schicksal abverlangt. ‚Pass’ ja gut auf deinen Mann auf!‘ Dieser Ratschlag ihrer besten Freundin Lea und deren nicht ganz von der Hand zu weisende Erkenntnis ‚Dein Mann ist ein Herzensbrecher!‘ sind heute in Ethels Ohr noch genau so laut vernehmbar wie ehedem.

„Und wie recht sie hatte! Louisas, deines Töchterchens Ankunft lange vor unserer Bekanntschaft, war bis kurz vor deinem Tod offiziell in Dunkel gehüllt. Ihre Existenz gehörte zu den tiefsten viktorianischen Geheimnissen. Aber von Herzen geliebt hast du nur mich, nicht wahr, Evel?“

Und da plötzlich ist es ihr, als ob sich ihr eine Hand entgegenstreckt, eine warme und kraftvolle, die sich wohlig in die ihrige schmiegt.

„Wie sehr haben mich alle beneidet, damals, als du um meine Hand angehalten hast, damals im Hause meiner Eltern! Wir haben weit auseinander auf dem roten Plüschsofa gesessen – so wie sich das damals gehörte! – und Mutter hat uns Earl Grey serviert. Stell’ dir das nur vor: Einen Tee: Earl Grey für einen zukünftigen Earl Blond, denn du betörtest mich damals mit deinem blond gelocktem Haar. Wie liebte ich es später, eine Locke von dir durch meine Finger gleiten zu lassen! Meine Schwester Irma nannte dich ein stattliches Mannsbild und in ihren Worten schwang auch ein wenig Neid mit, na ja, vielleicht war es ja sogar auch eine gehörige Portion von dieser Sorte, denn allerseits sprachen die Leute von der blendenden Partie, die ich gemacht hätte. Hast du in solchen Momenten nicht gespürt, wie wild mein Herz bibberte, besonders dann, als du bei meinen Eltern um meine Hand angehalten hattest? Mein Brustkorb schwoll bis zum Zerbersten an, als endlich das erhoffte ‚Ja‘ aus ihren Mündern ertönte. Zunächst Mamas ‚Ja‘, ehe etwas zögerlicher das ‚Papa-Ja‘ folgte. Solch ein berühmter Mann, als Siebzehnjähriger bereits Leutnant der Königlichen Artillerie und dann Privatsekretär bei seinem Cousin Thomas Baren, dem Vizekönig von Indien, welch eine andere Frau konnte sich schon mit solch einem begnadeten Manne schmücken? Evel, du glänztest als wirkliches Sprachgenie, spielerisch lerntest du Griechisch, Latein, Italienisch, Französisch und Türkisch! Welches junge Mädchen wird schon mit strahlenden Augen von einem so großartigen Manne, wie du es gewesen bist, in den Hafen der Ehe geführt?“

Ihr Blick hakt sich in seinem Bildnis, in seinen Augen fest. Verschlingend und einverleibend wird er für alle Ewigkeiten in ihrer Seele eingebrannt bleiben, ihre letzten Lebensschritte bestimmen und den oft tristen Alltag beflügeln.

„Deine Augen blicken so zielstrebig und willensstark, genauso wie auch dein ganzer Lebensweg verlaufen war. Mag das nicht auch daran gelegen haben, dass du dich schon früh gezwungen sahst, dich gegenüber acht älteren Geschwistern behaupten zu müssen? Aber einige Male, besonders in der Zeit, in der die britische Presse deinen Rücktritt als erster britischer Generalkonsul in Ägypten herbeiführte, brauchtest du mich doch, meine tröstenden Worte und meine weiche Schulter zum Anlehnen. Du ahntest gar nicht, wie sehr ich zu jener Zeit dein Anlehnungsbedürfnis genossen habe! Es tat mir unendlich gut, dir auch einmal Stärke schenken zu dürfen. Lieber Evel, weißt du noch? Ja, bibbertest du nicht auch noch bei dem Gefühl an jener, an unserer Stelle, gekitzelt zu werden, dort zwischen Unterlippe und Kinn, wo die Natur dir eine kleine Vertiefung beschert hatte, wie ein kleines Nest lud es zum Kitzeln ein! … Ja, mein Liebster, über zweidreiviertel ewig lange Jahre sind wir schon getrennt, aber hab’ keine Sorge, so viele Jahre werden es bestimmt nicht mehr, bis wir uns wiedersehen. Einige Zeit werde ich noch benötigen, wichtige Dinge in unserem Sekretär zu ordnen. Ich werde es auskosten, gemeinsame Erinnerungen aufzuspüren, ehe meine Zeit gekommen sein wird, dieser erhoffte, aber doch ehrlicherweise auch ein wenig gefürchtete Moment! Dann, ja, dann werde ich dir alles, aber auch wirklich alles erzählen, was mich hier auf Erden nach deinem Weggehen noch beschäftigt hat. – Was suchte ich eigentlich?“

Die alte Dame stöhnt kurz auf, als sie vor ihrem Sekretär taumelnd, mit ihren erdbeerfarbenen Fingern über das frisch polierte Holz streicht. Liebevoll und stolz, ganz so wie jemand ein Kleinod behandelt.

KAPITEL ZWEI

„Lady Ethel, wie oft muss ich noch fragen, ob ich den Earl Grey servieren darf? Ich befürchtete schon, dass Sie ein Nickerchen machen!“

Als Mrs. Smith, für die Essenszubereitung und für die Hauspflege der Gräfin zuständig, den Raum wieder verlässt, nippt Lady Esther mit ihren erdbeerfarbenen Lippen bei halbgeschlossenen Augen vorsichtig an der heißen dünnwandigen Blumentasse und muss dabei lächeln, geheimnisvoll, denn in dieser heutigen Zeit darf eine wirkliche Gräfin mit silbergrauen Haaren ihren Earl Grey auch von Herzen genießen. Lady Ethel summt eine leise Melodie. Das Vogelgezwitscher, das Summen der Bienen, das schwebende Vorbeigleiten der Zitronenfalter, der Rosenduft, der Herz und Sinne betörende, das Rot, das Feuer der Liebe entfacht, und das die anderen sich bescheiden zurückhaltenden Blumen beinahe schon ihrer Würde beraubt, das alles beflügelt ihre Sinne, denn wie auf einen Weckruf hin, hatten sich ihre Glieder zuvor verjüngt, um ohne viel eigenes Mühen ins Grüne entschweben zu können. Lady Ethel spürt in diesen frühen Morgenstunden ein Geschenk des Himmels: ein Hauch Unbeschwertheit, eine Leichtigkeit, die sie schon lange vermisst hat, ja, eine gehörige Vorahnung der Ewigkeit!

„Go forth my Heart, and seek Delight!“, und ganz im Hinterstübchen schlummert das deutsche Original: „Geh’ aus mein Herz und suche Freud …!“

Ihr Evel kannte noch die erste Zeile in deutscher Version und er wurde nicht müßig, immer wieder zu betonen, dass er ja schließlich deutsche Vorfahren gehabt habe.

Und als ihr Summen zu einem mächtigen Strom anschwillt, tritt ein Nachbar an das Gartentörchen, schwenkt seinen Hut und strahlt mit der Sonne um die Wette: „Hallo Frau Nachbarin! Sollen wir gemeinsam ein Duett zwitschern?“

Lady Esther macht das ein wenig verlegen. „Oh …“, meint sie darauf hin kleinlaut, „… meine krächzende Altdamenstimme passt bestimmt nicht zu ihrem klaren Tenor! Aber ein paar gelbe Teerosen werden auch in ihr Haus Sommerfreude bringen. Sie haben doch, wie ich weiß, keine Rosen im Garten. Aber dafür besitzen Sie eine richtige bunte Blumenwiese, auf der sich Schmetterlinge und alle möglichen Insekten ihr Stelldichein geben.“

Lady Esthers Rücken knackst ein klein wenig, als sie sich zum Rosenabschneiden hinunterbeugt, aber es tut wirklich nur ein klein bisschen weh, denn Sommerfreuden betäuben jedes Schmerzzentrum und lassen die Welt in einem alles andere als tristem Licht erscheinen. „Wie herrlich leuchtet mir die Natur! Wie …“

Ihr Evel wusste die ersten Strophen noch zu rezitieren. Sie stockt, weil ihr die weiteren Worte fehlen. Ein wenig beherrscht sie die deutsche Sprache zwar, aber das, wie gesagt, wirklich nur ein klein wenig. Mit dem Namen ‚Goethe‘ und einigen seiner Werke ist sie natürlich vertraut; zwar fühlte sie sich nie so eng mit dem Künstler verbunden wie Evel, aber sie mag generell Dichter, die ihr Herz streicheln und denen es mit melodiösen Textkreationen gelingt, ihre empfindsame Seele in das Reich der Träume zu entführen. Goethes Werke stehen in englischer Übersetzung in ihrem alten Schreibsekretär. Eine Berühmtheit wie Goethe, der bekannteste Dichter der Deutschen, er darf natürlich in dem Dichterreigen nicht fehlen, … und ehe sie zurück in ihr Wohnzimmer tippelt, überlegt sie sich, an welcher Stelle er im Sekretär seine Bleibe gefunden haben könnte. Ob sie ihn in den unteren beiden Fächern entdecken kann? Die Zeiten des ‚Auf-Stühle-Kletterns‘ sind endgültig vorbei!

„Oh, welch’ ein Glück! Ohne mich recken und strecken zu müssen, habe ich ihn – unseren verehrten Herrn Geheimrat Goethe! – schon gefunden! Und dann blättert sie und blättert, eine gefühlte Ewigkeit lang!

„Ich hab’s!“ Zufrieden beginnt sie mit der eigentlichen Arbeit, der Entzifferung der deutschen Sprache! Wie gerne hätte sie jetzt die Hilfe ihrer Enkelin in Anspruch genommen. Sie studiert in Cambridge Germanistik! Als eine der ersten jungen Mädchen überhaupt! Aber Cambridge ist zu weit weg, um kurz mal bei ihr Guten Tag sagen zu können.

„Also …“, murmelt sie, „… muss sich ein müdes Hirn selbst noch darum bemühen!“ Kätzchen Käthe schnurrt neben ihr auf dem Lehnstuhl. Ach, so ein Katzenleben ist wahrlich nicht zu verachten! Das geht ihr durch den Kopf, als sie versucht, sich den guten alten bewährten Herrn von und zu Goethe zu Gemüte zu führen. Es geht im Schneckentempo, aber wo ein Wille ist, ist bekanntlich auch ein Weg.

„Wie herr – lich leuch – tet mir die Na – tur! Wie gl – gl – änzt die Sonne! Wie lacht die Flur! Es drin – gen Blüten aus jedem Zweig wie tau – send Stim – men aus dem Ge – sträuch, … Ach, verehrter Herr Goethe! Ihr ganzes Gedichtwerk in der Ursprungssprache zu lesen, das ist mir jetzt zu anstrengend! Bitte, geschätzter Herr, verehrter Dichter, bitte haben Sie dafür Verständnis!“

Das in grünes Leinen gebundene Buch stellt sie wieder ins Regal zurück. Die Gedanken kreisen um ihre große Anzahl von Büchern, um Evels geliebte Schriften, so auch um beide von ihm selbst verfassten Werke wie ‚Modern Egypt, Teil 1 und 2‘. Sie nimmt sich vor, öfters mal darin zu blättern. Schließlich hatte nicht zuletzt dieses umfangreiche Werk ihren Gatten unsterblich gemacht. Auch wenn sie dabei eine noch stärkere Lupe zu Hilfe nehmen muss. Altwerden ist eben kein Kinderspiel! Mütter sprechen oft aus Erfahrung, auch wenn wir es in unserem jugendlichen Übermut früher nicht glauben konnten. Ihre Mutter, auch ihre Großmutter, sie alle, ja, nun muss sie es sich eingestehen, sie sagten nichts anderes als die Wahrheit; sie alle schöpften aus einem großen von Weisheit geprägten Erfahrungsschatz. Das spürt sie auf Schritt und Tritt. Ja, das Alter ist durchaus eine Bürde, wie recht die Altvorderen gehabt haben, alle diese, damals von einer jungen Göre wie sie belächelten Alten. Aber heute ist heute, nachtrauern gilt nicht, und heute strahlt die Sonne. Nur dieses Heute, es soll mir heute genügen! Und schon streckt sie ihren wackligen Hals wieder in Richtung Garten. An ihren Blumenlieblingen hat sie sich noch nie sattsehen können. Mutter Natur hat die bezauberndsten Einfälle gehabt, bei deren Erschaffung, dessen ist sie sich gewiss, und kein Mensch wird es ihr je nachmachen können, auch wenn die Menschheit sich noch so klug gebärdet. Groß hervor preschen, ja, das können Menschen durchaus, vor allem, wenn es darum geht, Kriege anzuzetteln und ihre Macht spielen zu lassen. Aber, jetzt reiß’ dich zusammen, Ethel! Nicht weiter denken! Heute scheint die Sonne, … du weißt schon, Ethel …

Die alte Dame beobachtet draußen einen Zitronenfalter durch die blauen Lüfte gleiten. Er umkreist eine ihrer orangefarbenen Rosenlieblinge. Ob er darauf wartet, Einlass gewährt zu bekommen, wie sehr ähnelt sich solches Verhalten beim Menschen, wenn sie darauf erpicht sind, dass ihr mühsames Werben beantwortet wird. Oh, ja … alle Märchen beginnen mit ‚Es war einmal …!‘ Auch eine Weisheit, der sie sich selbst an einem der herrlichsten Sommertage nicht verschließen kann.

KAPITEL DREI

„Grandma! Grandma! Ich glaube, dass es da ist! Ich hab’s gefunden!“

Adelaine ist für einige Tage bei ihrer Großmutter zu Besuch auf dem Land. Gerade zeigt sie auf ein Brieflein, ehe ihre Hand über einen kleinen Kasten streicht, aus dem sie es genommen hat, es ist einer von fünfen an der Zahl. Sie streicht nicht nur einmal darüber, nein, das ebenmäßige Holz schmiegt sich so fest in ihre weichen Hände, dass sie nimmer müde wird, es immer wieder zu befühlen und zu betasten.

„Guck’ mal, hier, solch ein klitzekleines Ringlein ist zudem noch so fein verziert, obwohl es doch nur als Griff zum Aufschieben des Schubladenkästchens dient! Wie liebevoll haben die Handwerker die Feinheiten gestaltet.“

Die großmütterliche Erwiderung lässt nicht lange auf sich warten: „Hör’ gut zu, Adelaine! Der Sekretär entstammt der ‚regency period‘ und in dieser Zeit Ende des 18./Anfang des 19. Jahrhunderts wurden erste Möbel und Kunstwerke maschinell hergestellt. Zuvor sind diese Möbel noch handwerklich geschnitzt worden. Unser Sekretär ist im klassizistischen Stil gestaltet, mit griechischen Elementen verbunden!“ Lady Ethel erzählt stolz, was sie von ihrem Mann über das Erbstück aus Elternhand noch in ihrem alten Kopf, im hintersten Winkel einquartiert, behalten hat. „Aus griechischen Elementen sind die Beschläge der Griffe!“

Adelaine, ein junges Mädchen mit schwarzen bis auf die Schultern fallenden Locken und dunklen wachen Augen, ergreift einen Messingbeschlag und spürt, wie glatt er sich der Bewegung ihrer Hand anpasst. „Grandma, mir kommt gerade der Gedanke, wer alles schon diesen Griff in der Hand gehalten haben mag und mit welcher Erwartungshaltung die Schubladen geöffnet worden waren. Deine Schwiegereltern oder vielleicht deine Ur-Schwiegereltern haben das gute Stück doch, soviel ich weiß, erstanden, oder? Und jedes Mal verstauten sie wichtige oder weniger wichtige Familiendokumente dort hinein und, wie uns heute ersichtlich, waren auch so manches Mal geschäftliche Briefe mit von der Partie. Ich finde es einfach amüsant, mir vorzustellen, welche Hinterteile, ob gut gepolsterte oder schmächtige, in stattlichen Schreibtischsesseln davor gehockt haben mögen! Männer mit dicken Bäuchen vielleicht, solche, die aufpassen mussten, dass sie zwischen Schreibplatte und Sessel nicht eingequetscht wurden. Mit hochrotem Kopf verfassten sie unter Umständen Drohbriefe an Geschäftspartner oder lasen mit hochrotem Kopf an sie gerichtete Ermahnungsschreiben. Mein Urgroßvater war doch, soviel ich mitbekommen habe, auch im Bankwesen tätig gewesen, Grandma, oder?“

Großmama nickt, heftig sogar. Dabei glänzen ihre Augen wie Kinderaugen, die den leuchtenden Weihnachtsbaum bewundern. „Dein Ururgroßvater, ja, das war der Francis, der Sohn vom John, der sogar als der Gründer seiner eigenen Bank über alle Landesgrenzen hinweg Furore machte!“

Adelaine rühmt sich mit stolzgeschwellter Brust ihrer Vorfahren; beinahe gleichzeitig spürt sie jedoch einen Schauer über ihren Rücken laufen, der alles andere als Begeisterungsstürme in ihr entfacht. Ob sie ihren Vorfahren einmal das Wasser wird reichen können? Aber …, so arbeitet es in ihrem Kopf weiter, … ich bin ja eine Frau und eine Frau wird immer noch in erster Linie dafür verantwortlich zeichnen müssen, ihrem Mann eine stützende Kraft und ihren Kindern eine treusorgende Mutter zu sein. Ihr Universitätsstudium, ja, es bedeutet eine Auszeichnung für sie, ohne Zweifel! Ob es aber eine Eintrittskarte in das Bildungsbürgertum bereithält, das steht auf einem völlig anderen Blatt, wie sie im Stillen sinniert. Vielleicht wird es sie lediglich dazu befähigen, ihrem Ehemann eine geistig ebenbürtige Frau Gemahlin zu werden? Der Beginn der zwanziger Jahre verheißt zwar neue Möglichkeiten, aber sie, sie schluckt heftig, als sie ihren Gedanken weiterspinnt, Mutter von vielen Kindern, nur nicht gerade einem Dutzend, möchte ich aber unbedingt auch werden! Bisher hatte sie sich um ihre Zukunft nicht allzu viele Gedanken gemacht. Jetzt reißt sie der Blick auf den glänzenden Messinggriff, den sie andächtig streichelt, erneut abrupt aus ihrem tiefsinnigen Gedankengang.

„Hier musste sicher massenhaft Geschäftspost erledigt werden. Ob dieser riesige Tintenfleck noch von daher stammt?“

Die Großmutter lauscht jedem Wort ihrer Enkelin, spürt sie doch ihr langes In-Sich-Gekehrt-Sein, sie schweigt jedoch, während Adelaine weiterspricht und das in einem Galopp, der aufsehenerregend ist. Ob sie erregt ist? Sicher empfindet sie die Geschichte ihrer Vorfahren als sehr faszinierend!, so sinniert die alte Dame, ehe sie fortfährt: „Vielleicht hat sich mein Vater als kleiner Bub ja an das Tintenfass begeben und wollte wie die Großen auch mit dem Federkiel schreiben! Und dann ist womöglich das Tintenfleck-Malheur passiert! Oder junge Männer, vielleicht auch der Großvater, könnten über einem Liebesbrief gebrütet haben, wer weiß, aber solcherlei Gefühlsduselei scheint wohl mehr Weiberkram gewesen zu sein. So war es, ist es und so wird es wohl immer bleiben! Du kommst aber auch auf kreative Ideen! Du hast Phantasien, meine Kleine!“ Lady Ethel betrachtet ihre Enkelin mit verschmitztem Blick. Sie lässt gerade wieder einen Schwall Earl Grey in ihre Tasse laufen und fordert Adelaine auf, es ihr nachzutun. „Deinen Vater, Evel im Kleinformat, den muss ich unbedingt in Schutz nehmen! Nie und nimmer kann er der Übeltäter gewesen sein! Den Fleck hatte dein Großvater nämlich schon mit in die Ehe gebracht, verstanden? Wer weiß, wer da so stürmisch zu Werke gegangen und wem dabei das Tintenfass-Missgeschick passiert war?“

Die Großmutter liebt es, mit ihren Enkeln beisammenzusitzen und über frühere Zeiten zu plaudern, wobei Adelaine zugegebenermaßen als ihre Lieblingsenkelin gilt, denn beide verbindet eine starke Seelenverwandtschaft miteinander.

„Aber die Sache mit dem Liebesbrief! … äh, ja, eigentlich ist das nicht von der Hand zu weisen, dass dein Großvater mir einen von dieser Sorte geschrieben hat. Damals nach unserem Kennenlernen auf der Insel Malta, das heißt wenige Wochen später habe ich doch tatsächlich ein Briefchen von ihm erhalten und da wusste ich, dass es bei ihm auch eingeschlagen hatte, aber mächtig mit Donner und Doria, so wie ich es beim ersten Treffen im Park schon bemerkte!“

„Handelt es sich da etwa um dieses Briefchen hier, aus dem untersten Fach links? Ich habe es gerade gefunden!“

Wenn Omas rot werden, dann ist das das höchste Warnsignal, überlegt sich die Enkelin, plötzlich leicht bis mittelmäßig verlegen. Wie konnte sie dieses pikante Thema überhaupt vor ihrer Großmutter ausbreiten?, fragt sie sich, denn sie beobachtet, wie sich Omas Haut sichtlich von ihrem blassen rosa-weißen Teint in einen dunkleren Farbton verwandelt.

„Lass’ mich ihn erst einmal still lesen! Gib’ ihn mir bitte mal!“ Lady Ethel nimmt schnell wieder Haltung an. Schließlich darf sie sich doch auf keinen Fall gehen lassen, allein im Stübchen mag das noch angehen, aber wenn ihre Kinder und Enkel bei ihr sind, darf sie sich das nie und nimmer erlauben! Sie überfliegt das Briefchen im Nu! Das vergilbte Papier lässt einige der wenigen Buchstaben kaum noch entziffern. Aber sie, die Verblichenen, hatten sich Jahrzehnte zuvor schon längst in ihr Herz eingegraben. Mit dem Kopf nickend und erleichtert darüber, dass seine Liebesschwüre gekonnt sachlich, voller Ehrerbietung und Anstand ausgefallen waren, sinniert sie: Typisch Evel, denn Gefühlsdinge anzusprechen, das passte so ganz und gar nicht zu ihm.

„Adelaine, mein Kind, hör’ mal, wie gewählt er sich hier ausdrückt: Mein höchst verehrtes Fräulein, der gewisse Herr, der auf der Insel Malta Ihre werte Bekanntschaft machen durfte, sinnt darüber nach, diese freundschaftliche Beziehung zu intensivieren, da er nach reiflicher Überlegung zu der Auffassung gelangen konnte, dass eine Fortsetzung derselben im Interesse der männlichen wie weiblichen Seite sein dürfte! Bitte teilen Sie mir in gnädiger Weise mit, wie Ihr Standpunkt zu dieser Thematik ausfällt! Mit hochachtungsvollen Grüßen verbleibe ich als Ihr werter Herr Evel Baren!“

„Grandma, du machst mich richtiggehend neugierig! Jetzt musst du mir aber auch erzählen, wie ihr euch auf Malta kennengelernt habt! Oh, ich glaube, ich ahne es schon!“

Familiengeheimnisse werden gerne untereinander weitergereicht, flüsternd natürlich, hinter vorgehaltener Hand, mit einem verschämten oder verschmitztem Lächeln, vielleicht auch einem fragenden Blick, der nur schwer glauben kann, was der Mund des Gegenübers im Flüsterton artikuliert. Großmutter Ethel, gerade noch auf der äußeren Kante des Sessels hockend, wie zum Absprung bereit, rückt mit ihrem Gesäß zurück in ihre gemütliche Kissenkuhle. Ehe sie gedenkt, sich in aller Ausführlichkeit ihrer Enkelin mitzuteilen, zupft sie in aller Seelenruhe ihr Spitzentuch aus ihrem Ärmel, um einen Teetropfen auf ihrem Dekolleté abzutropfen, einen einzigen, der gerade das Ziel verfolgt, zwischen ihren Brüsten entlang zu träufeln.

„Ja, in Malta war dein Großvater als Adjutant für Sir Henri Storks tätig gewesen. Dieser hochstehende Generalleutnant bestand, wie dein Großvater immer schmunzelnd betonte, fast nur aus Orden und Medaillen, die, an seiner Uniform befestigt, glänzten. Ernst und erhaben befehligte er seine Armee. Ja, so war das eben und so ist es noch, auch jetzt noch sechzig Jahre später, in mir lebendig! Und genauso wird es für mich auch in alle Ewigkeiten bleiben!“

Adelaine kann nicht umhin, einen Einwurf zu machen: „Dass hinter diesen Herrschern Menschen mit Herz und Seele stecken, das merkt man sicher, wenn überhaupt nur, beim engerem Kontakt mit ihnen. Und dabei werden bestimmt auch oft genug unüberwindliche Abgründe sichtbar. Aber wer darf schon in tieferer Verbindung mit Hochwürdigen treten, ausgenommen der eigenen Familie und einigen engsten Freunden? Übrigens …“ Adelaine stützt ihren Kopf ein wenig auf die Finger ihrer rechten Hand, ehe sie fortfährt, „… stand Malta zu diesem Zeitpunkt nicht unter Kolonialherrschaft von England?“

„Ja, sie dauerte sogar, … warte mal, ich muss jetzt mal tüchtig überlegen …!“ Und jetzt ist es Lady Ethel, die ihren alten Kopf auf beide Hände stützen muss, um dort noch etwas herauszubefördern, was ihr über Jahrzehnte lang präsent geblieben, aber in diesem Moment weggehuscht zu sein scheint. „Oh, ich hab’s! Mein Dickschädel kramt doch noch hier und da etwas Sinnvolles hervor. Die Kolonialherrschaft dauerte genau 164 lange Jahre an!“ Ein einziger Gehirnstups genügte also, um ihre grauen Zellen vollends zu aktivieren und somit einen ganzen Wasserfall aus ihrem Munde sprudeln zu lassen. „Mitte des 19. Jahrhunderts, da blühte die Insel richtiggehend auf. Die Landwirtschaft entwickelte sich und Werften wurden errichtet. Die Malteser waren ein arbeitsames Volk. Anstelle der Segelschiffe fuhren Dampfschiffe und nachdem der Suezkanal gebaut worden war, galt Malta als Zwischenstation zum Nachladen der Kohle!“ Lady Ethel spürt, dass ihre Adelaide nur mit halbem Ohr bei der Sache ist.

„Grandma, spann’ mich nicht zu lange auf die Folter! Du weißt, wie sehr ich darauf brenne, alles über euch, über euer Kennenlernen und die erste Liebe zu erfahren!“

Lady Esther muss lächeln. Irgendwie kommen ihr solche Gefühlsregungen und Fragen bekannt vor! „Ja, die ganze Prozedur Kennenlernen zeigte sich ziemlich verwirrend, mein Schatz!“

Und dann lacht die Großmutter, aus vollem Hals sogar, wie ein Backfisch, alle Konventionen abschüttelnd, so dass Adelaine sie erstaunt und belustigt ansieht.

„Grandma! So gefällst du mir! Erzähl’ nur, erzähl’, ich kann es kaum vor Neugierde aushalten!“

„Ja, Kind, das ist so gewesen: Stell’ dir mal vor …“ Und dabei sprudelt wieder ein besonders herzhafter Lacher aus ihr heraus. „Stell’ dir das nur mal bildlich vor! Er hat mich zuallererst mit den Füßen getreten!“

Bei Adelaine beginnt es zu dämmern. Irgendetwas Fußiges war es also, das Großvater mit Großmutter in Kontakt gebracht hatte!

„Seltsam! Seltsam! Aber erzähl’ …!“, drängt sie ihre Großmutter.

„Ja, mein liebes Kind, das hat sich alles so begeben: Mein Patenonkel, Onkel John, der diente auch zu jener Zeit dort in der Armee als Hauptmann. Und wie es das Schicksal so wollte, kamen Großvater und Onkel sich bei einem Gläschen Wein ein wenig näher! Und da in meinem Elternhaus schon lange erörtert worden war, wie es am besten anzustellen wäre, die Tochter Ethel unter die Haube zu bringen, so trug, wie alle Welt im Nachhinein erfuhr, dieser, mein Onkel, ganz zufälligerweise natürlich, ein Bildnis mit meinem Antlitz bei sich. Damals gab es nur in begüterten Familien die Möglichkeit, sich entweder malen oder von einem der seltenen Photographen mit einem großen schwarzen Kasten ablichten zu lassen. Jedenfalls rutschte, so wie es mein Onkel beschrieb, ihm ‚ganz versehentlich‘ mein Bild aus seiner Jackett-Tasche, ja wirklich versehentlich, wie es familiengeschichtlich immer wieder betont wurde. Und weil das gemütliche Beisammensitzen beider Herren vor stürmischer See stattfand, erhob sich just in diesem besagten Moment eine Windböe, die mein Bildnis erfasste und es gerade auf Nimmerwiedersehen weg tragen wollte. Noch gerade im rechten Moment sprang dein Großvater in spe auf und trat mit der dicken Stiefelsohle darauf, um der Böe ihr Handwerk zu legen.“

Adelaine betrachtet ihre Großmutter, ungläubig belustigend fängt sie an wie eine ganze Horde Backfische loszukichern. „Ha, ha, ha, das ist wirklich eine lustige Geschichte! Wie geht sie denn weiter? Erzähle!“

„Dein Großvater in spe, der führte sich, wie der Onkel erzählte, ganz intensiv mein Bildnis zu Gemüte! Dann nach langer stillen Betrachtung und Begutachtung meinte er nur: Das Antlitz, wirklich gut geschnitten! Die Augen klar und vertrauensvoll! Ja, so ist er eben immer gewesen, dein Großvater! Ein Mann weniger Worte! Besonders in Bezug auf Gefühlsangelegenheiten! Das war ganz und gar nicht seine Sache!“

„Ja, und wo habt ihr euch dann zum ersten Male gesehen?“ Adelaine platzt bald vor Neugier.

„Wochen später hat Onkel John dann ein Treffen in Malta arrangiert. Meine Eltern standen dem Ganzen ganz und gar nicht ablehnend gegenüber, wie du dir ja denken kannst. Eine solche Partie für ihre Tochter, das konnten sie sich unter keinen Umständen entgehen lassen! Und dann wurde das erste Treffen arrangiert, zunächst im Beisein von Onkel John, dann gestattete man uns in großzügiger Weise das Flanieren in einer Parkanlage. Ich trug ein buntes Sommerkleid mit Bolero, Großvater in spe machte auf mich einen riesigen unvergesslichen Eindruck durch seine schicke Uniform. Später kam dann dieses Briefchen hier …“, und bei ihren letzten Worten drückt sie das vergilbte Papier fest an ihre Brust. „Und morgen erzähle ich dir weiter! Von unserer Hochzeit! Jetzt muss ich mir erst mal einen Baldriantee zubereiten. Damit ich wenigstens nach so vielen Gefühlswallungen ein wenig Nachtruhe finden kann!“

„Grandma, lass’ mich den Tee zubereiten!“

Als Adelaine schließlich mit einem Kännchen dampfenden Tees ins Zimmer tritt, staunt sie nicht schlecht. Die Großmutter liegt mit geschlossenen Augen, den Kopf fest in ihr Sessel-Kissen vergraben, und schlummert in aller Seelenruhe. Adelaines Blick schaut gebannt auf ihr Antlitz, ein von großer Erfahrung geprägtes Gesicht, dessen Furchen, Falten, Sorgen- und Lachfalten zugleich, tiefe Spuren eines spannungs- und ereignisreichen Lebens sich jenem Gegenüber auftun, das imstande ist, empfindsam in tiefere Seelenschichten einzutauchen. Adelaine, den Blick noch immer unverwandt auf das ihr so sehr vertraute Antlitz gerichtet, vertieft sich in ihre nachsinnenden Überlegungen: Wie lassen sich Grübel- von Weinfalten überhaupt unterscheiden? Grübelfalten nisten sich doch vornehmlich in der Stirn ein, oder? Beim Weinen werden andere Gesichtspartien beansprucht. Wie lassen sich überhaupt Lach- und Sorgenfalten voneinander trennen? Sicher hat Großmutter einen ganzen Fluss voller Tränen vergossen, als sie von ihrer jüngsten Tochter Abschied nehmen musste. Damals in Ägypten! Seit dem tragischen Unfall ihrer Henriette, die mit drei Jahren beim Spielen in den Parkteich gefallen und ertrunken war, darf das mit keiner Silbe von niemanden in der großen Familie erwähnt werden. Das ist ein unumstößliches Gesetz! Aber wenn ich mich in Großmamas Gesicht vertiefe, dann entdecke ich dort keinerlei Resignation. Ein Mensch, der immer wieder von Herzen lachen kann und Freude am herrlichen Blühen und Wachsen ihrer Rosen und Gartensträucher hat, ein Mensch, der immer noch regen Anteil an Wohl und Wehe jedes Einzelnen innerhalb ihrer großen Familie nimmt, der zeigt wie Großmutter ein offenes, vertrauensvolles Gesicht! Wenn Großmutter nur nicht immer wieder die Sehnsucht nach ihrem geliebten Evel übermannen würde! Er, mein Großvater, zeigte sich jederzeit als ihre große Stütze, vom ersten Kennenlernen an! Sie weiß es so genau, weil Grandma nicht müde wird, das immer und immer wieder zu betonen. Aber an jedem Geburtstag eines Enkels entging es keinem im vertrauten Familienkreis, dass sie einige Male tief seufzte, begierig nach Luft schnappte und sich mit ihrem Spitzentaschentuch eine Träne von ihren Wangen wischte.

„Meine Kleine, warum durfte sie nur nicht älter werden?“ Sie streichelte dabei jedes Mal Kätzchen Käthe, das genauso wie heute auch damals zu ihren Füßen lag, behaglich schnurrend! Ob das Tierchen eine Antenne dafür hat, wenn Frauchen ihren Trost braucht? Frauchen lächelte jedenfalls zaghaft, das schnurrende Kätzchen im Visier, und das zur spürbaren Erleichterung aller besorgt drein blickenden Mienen im Stuhlkreis.

„Hoch soll es leben!“ Bei jedem Enkelgeburtstag musste, sollte oder durfte, je nachdem, wie das Geburtstagskind das Hochheben und Schütteln auf der männlichen Händebrücke empfand, dieses Ritual vollführt werden. Und nun lächelte zur Freude aller sogar die Großmutter.

KAPITEL VIER

„Grandma, wie herrlich ist es mit dir zusammen das Frühstück einnehmen zu dürfen! Wie unvorstellbar, in Abwesenheit deines köstlichen Gelees dejeunieren zu müssen! So wie dein lauschiger Kamin, in dem die Funken sprühen, aber sicherheitshalber nur, wenn Papa dabei ist, und erst recht ein Leben ohne deine Schatztruhe hier … alles zusammen genommen: ein ‚Ohne‘ wäre nicht auszudenken!“, und dabei zeigt sie auf den altgedienten Sekretär, der so viel zu erzählen weiß, besonders all jenes, das besonders auch junge Mädchen brennend interessiert. „Und bedenke, Grandma, mein Besuch bei dir, ohne deine Rosen und ohne deinen Frühstücksstuten, weißt du noch, wie ich früher die Rosinen herausgepickt und gezählt habe? – ohne alle diese Dinge ‚grandmother-like‘, wäre doch alles wie fade und nur halb so vergnüglich und todlangweilig dazu und überhaupt, ein Hiersein ohne meine verehrte Großmutter, meine Grande Dame, oh, wie sterbenslangweilig der bloße Gedanke nur daran! Na ja, ein Palast ägyptischer Art ist es nicht gerade, aber eben ein Landhaus fürstlicher Art, gerade zum Wohlfühlen wie für dich geschaffen! Immer wenn ich mit dem Postbus zu dir hergefahren komme, bewundere ich die riesigen Mohnflächen. Das alles sieht mir sehr nach geheimnisvollem Opiumhandel aus, der hier früher im wahrsten Sinne des Wortes Blüten trieb! Oder, was meinst du, verehrte Grandma?“

„Meine Liebe, jetzt aber mal nicht zu stürmisch! Du erdrückst mich ja bald! Aber eins kann ich bestätigen: die Sache mit dem Rauschgifthandel, das stimmt. Dein Großvater trat übrigens dem ungezügelten Opiumhandel mit dem Ausspruch entgegen: Der Liberalismus hat seine Grenzen. Er musste aber zwischen der Anti-Opium-Lobby in Indien und der indischen Wirtschaftshaltung, die um eine Insolvenz bangte und eine völlige Freigabe des Rauschgiftes forderte, vermitteln. Das geschah zu jener Zeit, als er Privatsekretär seines Cousins Thomas Baren in Indien gewesen war. Keine leichte Aufgabe, aber wählte er sich je einfache Herausforderungen? So, jetzt möchte ich dir mal berichten, wie wir früher unsere Großmutter erlebt haben. Damals galt für uns Kinder, ihr immer den größten Respekt entgegenzubringen! Der Kammerdiener geleitete uns zu einer buckligen alten Dame mit hagerem Gesicht, aber hellwachen himmelblauen Augen. Sie thronte meist in dem sogenannten ‚blauen Zimmer‘, das hieß so, weil die Sitzmöbel in einem Königsblau gehalten waren. Und erst nachdem sie uns Einlass gewährt hatte, durften wir ihr die Hand reichen. Immer in einem gehörigen Abstand, das schien oberstes Gesetz. Danach erfolgte der Knicks der Mädchen und der Diener der Jungen. Übrigens finde ich es auch als sehr lobenswert, dass eure Mutter euch Kinder auch noch nach gewissen Regeln erzogen hat. So wartet ihr auch immer solange, bis ich euch eine Sitzangelegenheit anweise. Es erfreut mich zutiefst, beobachten zu dürfen, dass meine Söhne und Schwiegertöchter euch Kindern ebenfalls eine, ihrem Stand gemäße, Erziehung gewährt haben. Mein Kind, gute Manieren machen einen kulturell hochstehenden Menschen aus. Vergiss das nie in deinem Leben! Bei meiner Großmama durften wir unseren Mund nur aufmachen, wenn wir gefragt wurden. Das wird heutzutage nicht mehr so steif wie zu früheren Zeiten gehandhabt, was ja durchaus vorteilhaft ist. Unsere Großmama trug ständig ein Häubchen auf dem Kopf. An Feiertagen oder beim Kirchgang thronte ein Brüsseler Spitzenhäubchen auf ihrem Haupt. Als es unerlaubter Dinge doch einmal ein wenig zur Seite rutschte, amüsierte uns Kinder das derart, dass wir unsere Hand möglichst heimlich vor den Mund pressten, um nicht laut losprusten zu müssen. Einmal, so erinnere ich mich, zog ich an einem Bändchen der Schleife so kräftig, dass die alte Lady aus einem vor sich hindösenden Zustand jäh aufgeschreckt uns ermahnte, doch mit ihr als alternde Dame nicht solchen Schabernack zu treiben. Und da senkte ich ganz schuldbewusst mein blondes Lockenköpfchen. Wie sehr ging es mir zu Herzen, dass sich meine liebe Großmutter über mich beklagen musste. Ja, Großmutter war eine kluge Frau. Sie bemerkte gleich, wer der Übeltäter gewesen war. Aber weil sie auch unendlich lieb war, streichelte sie meine Wange und sagte: Ich verzeihe es dir, mein Täubchen! Aber mach’ das nicht noch einmal! Du darfst gerne zu mir in aller Sittsamkeit sagen: Verehrte Frau Großmutter, ihr Häubchen ist etwas zur Seite gerutscht! Und dann vermag ich es wieder zu richten! Großmutter hatte sich um ihren Hals stets ein silberfarbenes Schälchen gewickelt und ihre Füße waren mit einem größeren Schal, in einem schwarzen oder weißen flauschigen Wollstück ummantelt. Großmutter war hager und sie fror ständig. Manchmal hüstelte sie vor sich hin und verlangte vom Butler eine Tasse Lindenblütentee! Ja, mein Kind, das waren noch Zeiten, aber durchaus liebenswerte! Bedenke aber eins: Nie und nimmer hättest du in jener Zeit studieren können. Du siehst es selbst heutzutage, dass so gut wie kein Mädchen neben dir ein Studium aufnimmt. Damals wäre das gänzlich undenkbar gewesen. Ein Mädchen wurde von der Gouvernante erzogen und auf ihr späteres Leben als repräsentierende Ehefrau vorbereitet, in denen es vornehmlich um die Einhaltung von Etiketten ging. Mein Kind, wir sprachen doch gestern über Malta. Da ist mir hinterher eingefallen, dass im Sekretär, zweite kleine Schublade von oben, noch eine maltesische Briefmarke sein muss. Guck’ mal bitte nach, mein Mädchen!“ Und weil ihr Mädchen ein ganz besonders Liebes ist, gehorcht diese ihrer Großmutter aufs Wort. „Meinst du das hier?“ Und mit ihren Fingerspitzen erfasst sie diesen kleinen Schatz und reicht ihn vorsichtig der Großmutter weiter. „Welche maltesische Königin ist denn hier drauf abgebildet?“, will sie von ihr wissen. „Oder hat Malta zu dieser Zeit …, 1885 steht hier drauf, … hat Malta zu jener Zeit irgendeine Herrscherin gehabt?“

Lady Ethel ergreift wie immer ihr Monokel. Das ist ihr bereits in Fleisch und Blut übergegangen; jeder noch so kleinste Schriftzug wird von ihr genauestens inspiziert. Und das geschieht durch ihr kleines Einglas, das auf einem Auge festgeklemmt wird.

„Ach was, meine liebe Enkeltochter, ich gebe dir hiermit die Kunde, dass unsere große britische Queen Victoria an dieser Stelle abgebildet erscheint. Es ist eine Two-pence-halfpenny-Marke! Nun steck’ sie mir bitte wieder sehr sorgfältig in jene Schublade hinein, aus der du sie herausgeholt hast. Weißt du was?“

Adelaide blickt ihre Großmutter erstaunt an. „Ja, was soll ich denn wissen?“

„Moment mal, gerade ist es mal kurz weggehuscht, das was ich dir sagen wollte. Wie dumm! Warte mal einen kleinen Moment, gleich taucht es sicher wieder an der Oberfläche auf!“

Als Adelaine die Schublade mit der Schreibplatte dank des glänzenden Griffes – ach, ja, das sind die griechischen Elemente, fällt ihr dabei ein – als sie sie wieder schließt, ruft Grandma ihr schon freudestrahlend entgegen: „Ich hab’s! Jamaika ist wieder da! Großvater und sein Jamaika! Nachdem er auf Malta gedient hatte, wurde er anschließend nach Jamaika beordert. Er begleitete Sir Henry Storks dorthin, um wichtige Militärreformen durchzusetzen. Diese waren nach dem Krimkrieg bitter notwendig geworden. Großvater, der hat immer seine Meinung gesagt. So ist er nun einmal gewesen! Unsere Armee hat sich im Krimkrieg nicht mit Lorbeeren geschmückt, genau so hat er es viel später ausgedrückt. England und Frankreich waren den Osmanen zu Hilfe gegen die Russen geeilt. Jetzt muss ich mal nachdenken.“ Lady Ethel stützt wieder einmal ihren schweren Kopf in ihre Hände. „Mein Gott, was muss dort auch alles drin einquartiert sein. Ja, mein Kind, wenn ein Mensch so viel erlebt hat wie ich, dann quillt der Kopf bald über. Ja, wenn ich mich recht entsinne, dann war es zu jener Zeit, es muss so Ende der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts gewesen sein, da ging es in Jamaika hoch her!“

„Grandma, du machst mich neugierig! Erzähl!“

„Soweit ich mich entsinne, ist da auch der Aufstand der Sklaven, der Landarbeiter, gewesen, meistens Schwarze. Sie haben damals sogar einen Brief an Queen Victoria geschrieben, dass sie Land zum Bebauen beanspruchen. Weil die Queen ihnen keine Hilfe angedeihen ließ, kam es zum blutigen Aufstand und viele Engländer erzürnten sich schrecklich darüber, dass die englische Armee den Aufstand niedergeschlagen habe. Das war vielen Briten zu radikal, zumal die Benachteiligung der Sklaven offiziell schon längst abgeschafft worden war.“ Die alte Lady stutzt für einen kurzen Moment, so dass Adelaine das Ruder übernehmen kann.

„Na, und wie war’s dort eigentlich mit deiner neuen Liebschaft?“

„Du bist mir ja die Richtige! Solch’ eine Frage geziemt sich einem anständigen Wesen eigentlich nicht! Hast du nur Liebelei im Kopf, Adelaine?“

„Aber, nein, nein!“ Ein bisschen verschämt lässt das Mädchen vornüber ihren Kopf herunterhängen – wie kann ich nur? Wie neugierig darf ich überhaupt sein? Jetzt bin ich wohl zu weit gegangen? Gedanken, die sich wie eine düstere Wolke in ihrem Inneren auftun, aber andererseits sind da Großmutters Augen, die wie vom Sonnenstrahl getroffen in höchster Lebendigkeit blinken, so registriert es das junge Mädchen jedenfalls beruhigt und mit sich und der Welt wieder im Reinen. Sieh’ mal da, registriert ihr aufmerksames Auge, greise Pupillen weiten sich und um zerfurchte Mundwinkel herum zuckt es verdächtig, wie bei einem jungen Mädchen, das verschmitzt seine kleinen Sünden beichtet, so amüsiert sich die Enkelin, natürlich ohne auch nur den kleinsten Mucks von sich zu geben.

„Der erste Kuss, ja, das war ein Jamaika-Kuss und der schmeckte nach der Süße des Jamaika-Rums, aber eigentlich schmeckt das Getränk gar nicht süß, oder? Egal, in der strahlenden Sonne und am blauen glitzernden Meer erschien mir alles voller Süße. Mein Herr Papa musste mich natürlich begleiten und für wenige Minuten haben wir uns dann doch aus seiner Umklammerung lösen können. Meinen Papa sehe ich noch deutlich vor mir. Mit Hut und Schirmstock bewaffnet, einen leichten knielangen Stoffmantel über seine Schultern gelegt, es war ja ziemlich warm, so flanierte er neben uns beiden her – wahrhaft majestätisch. Und Evels Orden an seinem Uniform-Frack befestigt, glänzten mit den Sonnenstrahlen um die Wette. Und die wunderbaren Mangrovenbäume, die an einigen Stellen ein wenig Schatten spendeten, die waren uns eine höchst willkommene Labsal! Einfach himmlisch!, und nun hocke ich hier mit meinem runden Buckel, mit meinen kaputten Knien, mit dem Monokel im Auge und bin so müde …“ Ein herzhaftes Gähnen überfällt sie, noch bevor sich ihre schweren Augenlider vollständig senken, flüstert sie ihrer Enkeltochter noch zwei Worte zu: ‚Hochzeit‘ ist das eine und ‚morgen‘ ist das andere! Und Kätzchen Käthe schnurrt zu ihren Füßen. Adelaine schiebt das Rosenkissen ein wenig seitwärts nach oben und lässt Großmutters Kopf vorsichtig drauf gleiten, um ihrem müden Haupt eine behagliche Ruheposition zu vergönnen.

KAPITEL FÜNF

Lady Ethel und ihre Rosen, eine Symbiose, die in die Familiengeschichte der Earls eingehen wird. Jeder Nachbar, der in Herrgottsfrühe das Sträßchen entlang der exquisiten Landgüter passiert, weiß, dass der in der Morgendämmerung wahrgenommene Schatten, zwischen Rosensträuchern gespenstig hin- und her wandelnd, der im wehenden Morgenrock umhüllten alten Lady, der Rosennärrin, zugeordnet werden muss. Und jeder Passant versucht möglichst lautlos von dannen zu schreiten, um die himmlische Morgenidylle des gräflichen Gartens ja nicht zu stören.

Selten geschieht es, dass die alte Lady aufschaut, weil sie ein Knistern oder Knarren vernommen hat, welches ihr Gehör, zu dieser frühen Morgenstunde noch traumselig, als Störenfried ausmacht. Streckt sie ihren Kopf dennoch ein wenig in die Höhe, der weiblichen Neugier wegen, die schließlich doch über ihren Unmut triumphiert, weil sie einer Person gewahr wird, die nicht wie Dr. Goldman oder Mr. Miller zügig zur Arbeit eilt, sondern mit einem mehr oder weniger braven Vierbeiner vom Hundespaziergang zurückkehrt, dann ergreift sie manches Mal besonders flink die Gartenschere, um dem dazu gehörenden Zweibeiner einen einzelnen Duftling zu präsentieren. Dieser Rosenduft auf dem Frühstückstisch, wie betörend muss er auf Ihre Sinne wirken – den ganzen Tag lang!“ Bei diesen Worten spürt sie, wie Herr Nachbar oder Frau Nachbarin ihren morgendlichen Rosengruß aufs Höchste schätzen! Das verschönert nicht zuletzt auch Rosenladys Tag mit seinen rituellen Gepflogenheiten. Ihre Rosen tragen Namen wie ‚Portland‘, ‚Gallica‘ und ‚Bourbon‘. Lady Ethels Ansicht zufolge drücken diese Namen nicht annähernd solcherart Herrlichkeit aus wie diese Blütenfülle in natura. Diese Pracht schätzt sie stets als ein Geschenk von oben, ihrem einfühlsamen und begeisternden Herzen in die Arme gelegt. Dornenstachel, die ganz schön pieken können, machen ihr immer wieder bewusst, dass das Lebensglück nicht ohne Blessuren zu haben ist. Ihre Rosen blühen zwar nur sechs bis acht Wochen im Jahr, aber oft denkt sie, dass ein Mensch diese Überschwänglichkeit gar nicht länger ertragen könnte. Wie ein kleines Kind am Heiligen Abend in Begeisterungstürme ausbricht, nein, nicht so lautstark, eher still verzückt, so lässt sie jede neu entdeckte Knospe, die sie hervor brechen sieht, durch ihre Hände gleiten, dann, wenn sie im zeitigen Sommer ihren morgendlichen rituellen Rundgang durch den Garten vollzieht. So flüstert sie der einen oder anderen Blume eine Liebeserklärung zu: „Innig freut sich mein Gemüt, eine neue Rose ist erblüht!“