Die Rotzlöffel-Republik - Susanne Schnieder - E-Book

Die Rotzlöffel-Republik E-Book

Susanne Schnieder

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Beschreibung

Dieses Buch erzählt wahre Geschichten aus dem Leben, die zeigen, inmitten welchen Irrsinns aus pädagogischen Modellen, überforderten Eltern und bildungspolitischen Trugschlüssen sich der Alltag von Erzieherinnen und Erziehern mittlerweile abspielt. Die Autorinnen wollen keine Schuld zuweisen, aber Verantwortung benennen und zeigen, welche Einflüsse Kinder oft als Tyrannen wirken lassen. Ein Praxisbuch mit vielen eindrücklichen Fallbeispielen, verständlich, glaubwürdig. Ein erziehungspolitischer Appell.

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Seitenzahl: 216

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Tanja LeitschSusanne Schnieder

DIE ROTZLÖFFEL-REPUBLIK

Vom täglichen Wahnsinnin unseren Kindergärten

Mit Carsten Tergast

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger

Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw.

Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1 Auflage

© 2017 Benevento Publishing,

eine Marke der Red Bull Media House GmbH,

Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Umschlaggestaltung: b3K design, Andrea Schneider, diceindustries

ISBN 978-3-7110-0133-7

eISBN 978-3-7110-5201-8

INHALT

Prolog: Traumjob mit Aussicht

Kindergärtnerin war gesternAus dem Alltag von Entwicklungsbegleitern und Potenzialentfaltern

Idealismus versus RealitätAls Erzieherin steht man immer mit einem Bein im Knast

Was uns krank machtUm die Gesundheit von Erzieherinnen ist es schlecht bestellt

Schwere FälleWenn die Arbeit Einblicke in Abgründe verursacht

Der Tanz ums goldene KindPartizipation ist alles

Lauter »pädagogische Happen« oder:Illusion und Realität in der Kita-Welt

»Ich Chef – Ihr nix!«Wenn die Kita-Kinder groß werden

In den Kitas ziehen wir unsere Zukunft großWas sich ändern muss

»Wir wären wohl mal gern …«Zukunftsingenieurinnen

Anmerkungen

Dank

PROLOG: TRAUMJOB MIT AUSSICHT

Wollen Sie in einem Beruf arbeiten,

•in dem Ihre Leistung nie ausreichend ist?

•in dem Sie andauernden Störungen Ihrer Arbeitsabläufe ausgesetzt sind?

•in dem Sie Ihre Arbeit immer wieder unterbrechen müssen?

•der kein Ansehen in der Gesellschaft genießt?

•in dem Sie so gut wie keine Aufstiegschancen haben?

•der hoffnungslos unterbezahlt ist?

•in dem die Chance auf ständiges Kranksein riesengroß ist?

•in dem Sie häufig unerträglichem Lärm ausgesetzt sind?

Dann werden Sie Erzieherin!

Haben Sie schon mal solch eine Stellenanzeige gesehen, mit der eine Erzieherin gesucht wird? Nein? Natürlich nicht. Dabei wäre diese Stellenanzeige das Ehrlichste, was in den letzten Jahren über den Beruf der Erzieherin geschrieben worden wäre. Wir wissen alle, dass sie niemals erscheinen wird, doch enthält sie im Kern genau das, worüber wir als Gesellschaft dringend sprechen müssen.

Denn wir haben ein Problem. Und zwar ein großes. Das herzerwärmende Bild von der Kindergartentante, die tagein, tagaus in der Arbeit mit süßen kleinen freundlichen Kindern aufgeht, ist Geschichte. Es spukt zwar immer noch in den Köpfen von Eltern, Großeltern und Bildungspolitikern herum, doch reicht ein Blick in die Realität von Kindertagesstätten und Krippen, um für vollständige Ernüchterung zu sorgen.

Diesen Blick wollen wir mit diesem Buch gewähren. In der Hoffnung, dass die hier geschilderten Dinge ein Weckruf sein können. Denn es ist genau dieser Blick in die Realität, hinter die Eingangstüren der Einrichtungen, in die Gruppenräume und Außenspielanlagen und nicht zuletzt in das alltägliche Leben von uns Erzieherinnen, den es braucht, um aus der Realitätsverweigerung herauszukommen.

Studien etwa zum gesundheitlichen Zustand von Kita-Personal gibt es durchaus, doch bilden diese den real existierenden Wahnsinn des Kita-Alltags mit ihren nüchternen Zahlen und Diagrammen nicht wirklich ab. Oft sind sie sogar kontraproduktiv, liest man doch aus diesen Studien letztendlich nur heraus, dass die schwache Konstitution der Erzieherinnen wohl dafür verantwortlich sein muss, dass ein Anstieg bestimmter Erkrankungen zu verzeichnen ist. Wobei wir bei diesen Erkrankungen nicht über gelegentliche Erkältungen oder Magen-Darm-Erkrankungen sprechen, die für Kita-Personal zum Alltag gehören, sondern über Dinge wie den Verlust des Gehörs, langfristig zu behandelnde Burn-out-Erkrankungen oder auch chronische körperliche Leiden, die nicht mit einem ruhigen Abend auf dem Sofa wieder verschwinden.

Der Kita-Alltag, der sich negativ auf die Gesundheit von Erzieherinnen auswirkt, sieht beispielsweise so aus wie bei Frau Lange und ihren dreijährigen Zwillingstöchtern. Frau Lange ist 29 Jahre alt. Als es für die beiden Mädchen in die Kita gehen sollte, hatte die Mutter sehr viele Fragen, und das komplette Team bemühte sich nach Kräften, diese Fragen zu beantworten. Die Fragen wurden nicht nur in der Kita selbst gestellt, sondern immer auch mal wieder telefonisch zwischendurch. Nachdem klar war, dass hier erheblicher Gesprächsbedarf bestand, wurde Frau Lange gebeten, doch einfach alle Fragen zu notieren und zu einem ausführlichen Gespräch in die Einrichtung mitzubringen. Es wurde auch ein Termin gefunden, und man setzte sich zusammen. Allerdings hatte Frau Lange bei diesem Termin plötzlich gar keine Fragen mehr, so dass sich das Gespräch in wiederholten allgemeinen Ausführungen der Kita-Leiterin erschöpfte, die sich dafür allerdings extra Zeit genommen hatte.

Parallel dazu lief die Eingewöhnungszeit der beiden Mädchen. In dieser Zeit bleiben die Eltern normalerweise etwa drei bis vier Tage in der Einrichtung dabei. Ziel ist es in der Regel, dass sie nach einiger Zeit das Kind nach dem Bringen noch kurz verabschieden und sich dann wieder auf den Weg machen. Frau Lange allerdings machte noch Wochen nach dem Start des Kita-Jahres ein Riesendrama aus der morgendlichen Abschiedszeremonie. Sie weigerte sich, einfach zu gehen, und zelebrierte den Abschied so lange, bis mindestens eines ihrer Mädchen zu weinen begann und wieder mit Mama nach Hause gehen wollte. Auch der dezente Hinweis, dass eine der beiden Kolleginnen aus der Gruppe mit nahezu 40 Jahren Berufserfahrung durchaus in der Lage sei, dafür zu sorgen, dass die Kinder morgens in den Kita-Alltag hineinfinden, fruchtete nicht. Im Gegenteil: Jeden Morgen erteilte Frau Lange beiden Erzieherinnen der Gruppe eine Liste von Anweisungen, wie mit ihren Töchtern umzugehen sei. Wenn sie weinten, sei dieses zu beachten, begännen sie zu schreien, müssten jene Dinge umgesetzt werden.

Da die Leidensfähigkeit von Kita-Mitarbeiterinnen strapazierfähig ist, ließ das Personal Frau Lange gewähren. Aus Gesprächen mit anderen Eltern erfuhren sie nebenbei, dass auch daheim die Lage kompliziert sei. So sei der Vater der Mädchen häufig beruflich unterwegs, und bei jeder neuen Dienstreise zöge Frau Langes Oma bei ihr ein, um ihr mit den beiden Kindern zu helfen. Die baldige Vermittlung eines Au-Pair-Mädchens sei geplant.

Da sich die Situation in der Kita kaum veränderte, stieg die Gereiztheit auf allen Seiten nach und nach spürbar an, bis sie schließlich in einem Vorfall gipfelte, der überflüssiger nicht hätte sein können. Wochenlang war mit einem Schild in Signalfarbe am Eingang der Kita darauf hingewiesen worden, dass die Einrichtung an einem bestimmten Tag geschlossen sei, weil ein Tag im Wald geplant war. Natürlich, wie sollte es auch anders sein, war Frau Lange eine von zwei Müttern, die an diesem Tag anrückten, um ihre Kinder in die Kita zu bringen.

Eine Kollegin, die zufällig noch etwas aus dem Büro holen musste, bekam die Szene mit. Während die zweite Mutter sich über sich selbst ärgerte, weil sie sich den Waldtag zwar notiert, aber komplett vergessen hatte, ließ Frau Lange ihrem Frust freien Lauf. Mit den Zwillingen an der Hand wandte sie sich an die arme andere Mutter, die noch neben ihr stand, und schimpfte wie ein Rohrspatz über die Einrichtung, das unfähige Personal und den allgemeinen Betreuungsnotstand in diesem Land. Auch die Erzieherin wurde noch mit einem ganzen Schwall an Vorwürfen überzogen, als sie aus dem Büro kam.

Als die ältere, erfahrene Erzieherin am nächsten Tag versuchte, den Vorfall in Ruhe mit Frau Lange zu besprechen, bestand deren Reaktion lediglich aus Wut, Schuldzuweisungen und schließlich sogar Tränen. Die Leiterin gesellte sich dazu und schlug vor, im Sinne der Erziehungspartnerschaft ein klärendes Gespräch für einen anderen Termin zu vereinbaren. Nachdem mehrere Terminvorschläge nicht passend waren, verließ eine verheulte Frau Lange die Kita, um daheim mit ihrem Mann über alles zu sprechen. Ein paar Stunden später rief sie an, und man einigte sich auf einen Termin.

Gesagt, getan. Der Termin stand an. Mutter und Vater kamen in spürbar aggressiver Stimmung in die Kita. Die Leiterin versuchte, von vornherein Schärfe aus der Begegnung zu nehmen, und machte nach einer freundlichen Begrüßung den Vorschlag, die Situation als unglücklich gelaufen abzuhaken und für kommende Gelegenheiten ähnlicher Natur eine Vorgehensweise zu finden, die weniger emotional sein sollte. Sie hatte jedoch kaum ausgesprochen, als sich ein Schwall von Vorwürfen aus dem Munde des Vaters über sie ergoss. Seine Frau und er würden mit Anschuldigungen überhäuft, dabei käme die Kita ihrer Informationspflicht nicht nach, zitiere aber seine Frau ohne Grund zum Gespräch. Und so weiter. Und so fort. Hochroter Kopf, funkelnder Blick, aggressive Körperhaltung. Und zwei erstaunte Erzieherinnen, die trotz aller bisherigen Erlebnisse nicht mit einem solchen Gesprächsverlauf gerechnet hatten. So ging das eigentlich als klärend vorgesehene Gespräch noch eine Weile weiter. Jeder neue Versuch einer vernünftigen Unterhaltung wurde mit neuen Vorwürfen und neuer Aggressivität beantwortet, bis hin zu dem Vorwurf, seine Frau werde ignoriert. Als die Leiterin vorsichtig darauf hinwies, dass dies nicht stimme, reichte ihm ein Blick in die mittlerweile tränengefüllten Augen seiner Frau, um sich noch mehr aufzuregen. Zum Abschluss seines Vortrags erklärte Herr Lange dann der Leiterin der Einrichtung, wie man eine Kindertagesstätte ordentlich führe. Dass sie diesen Job seit 30 Jahren machte, musste er wohl irgendwie übersehen haben. Beendet wurde das Gespräch schließlich durch die beiden Mädchen, die einen Blick durch die Tür warfen. Die Zwillinge wussten, dass die Eltern in der Einrichtung waren, und forderten verständlicherweise Aufmerksamkeit. Mit einem »Ja, ich weiß, ihr wollt nach Hause, gleich sind wir hier fertig« war der Termin dann auch abrupt beendet, ohne dass es auch nur ansatzweise zu einer Form der Verständigung gekommen war. Die Unterhaltung endete also, wie sie begonnen hatte: mit Vorwürfen der Eltern an das Personal der Kita, mit kompletter Einsichtslosigkeit in deren eigenes Verhalten und mit dem Heraufbeschwören einer Atmosphäre der latenten Aggressivität.

Solche Beispiele gibt es in unbegrenzter Zahl, mit ihnen ließen sich mehrere Bücher füllen. Sie sind nicht, wie einem gerne vorgeworfen wird, Ausnahmen, über die man getrost hinwegsehen könnte, nicht der mittlerweile sprichwörtlich gewordene Einzelfall. Sie sind vielmehr mittlerweile in vielen Einrichtungen zum Regelfall geworden und machen die Arbeit als Erzieherin bisweilen unerträglich. Natürlich sind es nicht nur Eltern wie die Langes, die einen geordneten Kita-Alltag immer häufiger unmöglich machen. Es sind vor allem auch politische Entscheidungen. Getroffen werden diese von der großen Politik, deren Kenntnis der Materie vorsichtig ausgedrückt unterdurchschnittlich ist. Aufgrund dieser nicht vorhandenen Kenntnisse lassen sich diese hohen Politiker dann von Wissenschaftlern beraten, die zwar vorgeben, zur Sache zu forschen, von täglicher Kita-Arbeit aber offenbar ungefähr so viel wissen wie ein Fisch vom Fahrradfahren.

Was bei dieser Arbeit herauskommt und uns in den Wahnsinn treibt, werden wir noch genauer unter die Lupe nehmen, an dieser Stelle soll aber schon einmal eine Zahl genannt werden, um eine erste Ahnung vom real existierenden Beurteilungs- und Fortbildungswahnsinn des Systems zu vermitteln.

Diese Zahl lautet 1789. Man mag zunächst an eine Jahreszahl denken, ein historisches Ereignis, das sich Ende des 18. Jahrhunderts zugetragen hat. 1789, das wäre das Jahr der Französischen Revolution, eine bewegte Zeit also.

Tatsächlich jedoch ist die Zahl 1789 keine Jahreszahl, sie ist auch nicht revolutionär, zumindest nicht im positiven Sinne. Bewegte Zeiten indes, dafür steht sie durchaus sinnbildlich, denn bewegte Zeiten sind es ganz sicher, die wir Erzieherinnen, und mit uns Kinder, Eltern und die ganze Gesellschaft durchmachen.

1789 ist die Zahl der Kreuze, die wir als Mitarbeiter einer Kita auf zahllosen Blättern eines der Qualitätssysteme machen müssen, um den Pflichten hinsichtlich der Qualitätskontrolle in den Einrichtungen nachzukommen. 1789 Kreuze, die 1789-mal Zeit stehlen, in denen sich die Kita-Fachkräfte nicht mit denen beschäftigen, die ihnen anvertraut worden sind. 1789 kleine Momente, in denen sie ihren Kindern zwischen einem und sechs Jahren Zuwendung geben, Vertrauen bilden, Fähigkeiten entwickeln und dafür sorgen könnten, dass sich über die zwischenmenschliche Beziehungsebene die Psyche der Kinder entwickelt.

Stattdessen füllen wir Fragebögen aus, die ein Team aus Menschen entwickelt hat, die von unserer täglichen Arbeit oft so gut wie nichts wissen. Das Angebot an Qualitätssystemen ist umfangreich. Manche werden mehr, manche weniger eingesetzt. Private Institute und Akademien verdienen sich mit der Entwicklung und Publikation dieser Systeme eine goldene Nase. Für uns Erzieherinnen jedoch bedeutet das: Wir stehen jeden Tag in der Kita unsere Frau, denn Männer gibt es in diesem Beruf leider immer noch viel zu wenig, was auch der Grund dafür ist, dass wir uns in diesem Buch durchgängig für die weibliche Berufsbezeichnung entschieden haben. Wir bekommen täglich, wöchentlich, monatlich Knüppel um Knüppel zwischen die Beine geworfen, die die Ausübung unserer Kernaufgaben fast unmöglich machen.

Damit kein falscher Eindruck entsteht: Wir sind für gute Qualität in den Einrichtungen. Es soll täglich gute Arbeit mit den Kindern gemacht und dokumentiert werden. Dazu braucht es aber andere Rahmenbedingungen, wie mehr Personal, mehr Zeit und die gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten.

Weil das so ist, ist es an der Zeit, aus dem Innenleben der Institutionen zu erzählen, in denen unsere Kinder einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer noch jungen Leben verbringen und die sie auf eine Schulkarriere vorbereiten sollen, die nicht minder viele Herausforderungen für alle Beteiligten zu bieten haben wird.

Die Diskussion, ob ein Kind überhaupt in den Kindergarten gehen sollte oder nicht, gibt es schon so lange, wie diese Einrichtungen existieren. Allerdings führen wir sie in einer Zeit, in der die Betreuung durch die Eltern daheim durch die Lebensumstände der meisten Menschen ohnehin keine echte Option mehr ist, nicht mehr mit so großer Vehemenz. Heute gibt es einen Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz, und die Diskussion in den Familien dreht sich nicht darum, ob das Kind in die Kita gehen, sondern darum, wie früh es dort hingehen sollte und wie viel Zeit es dort jeden Tag verbringen kann.

Das bedeutet ganz automatisch, dass die Wichtigkeit der Einrichtungen an sich und damit auch die Wichtigkeit des dort beschäftigten Personals eigentlich extrem gestiegen sein müsste. Ersteres trifft zu, Kitas stehen im Zentrum der öffentlichen Diskussion um frühkindliche Bildung und Betreuung. Letzteres trifft leider nicht zu. Denn Personal, das sind Menschen. Und Menschen haben zwei Nachteile: Sie haben eine Meinung, und sie kosten Geld. Aus diesem Grund versucht man, möglichst viele Betreuungseinrichtungen mit möglichst wenig Personal zu führen und dem vorhandenen Personal so viele Pistolen auf die Brust zu setzen, dass eine sinnvolle Kita-Arbeit fast nicht mehr möglich ist.

Die Ausführungen in diesem Buch sollen daher vor allem auch Verständnis bei denen wecken, die von unserer Arbeit profitieren und dafür einen oft nicht unerheblichen Teil ihres Einkommens opfern. Das sind die Eltern. Damit kein falscher Zungenschlag reinkommt: Wir haben mit ganz vielen netten, höflichen, engagierten und vor allem auch dankbaren Eltern zu tun, für die es sich lohnt, jeden Tag zur Arbeit zu fahren. Doch gerade auch diese sind eine wichtige Zielgruppe unserer Ausführungen, da sie helfen können, den Druck aufzubauen, den es braucht, tatsächlich etwas am System zu ändern. Die Zustände, welche die Arbeit mehr und mehr ad absurdum führen, müssen einer breiten Öffentlichkeit bekannt sein, damit die große Politik und die Wissenschaft aufwachen und sich darauf konzentrieren, gute Rahmenbedingungen für eine sinnvolle Arbeit mit den uns anvertrauten Kindern zu gewährleisten.

Darüber hinaus ist es allerdings auch wichtig, beispielhaft zu zeigen, wie unsere Arbeit in zunehmendem Maße auch von Elternseite torpediert und überstrapaziert wird. Aus Sicht der Eltern haben wir eine ganze Palette an Berufen abzudecken, für die es eigentlich Spezialisten gibt. Wir sind aus dieser Perspektive also nicht einfach nur Erzieherinnen, sondern wir sollen auch sein: Erziehungs- und Lebensberatungsstelle, Phyiotherapeuten, Psychotherapeuten, Therapeuten diverser weiterer Fachrichtungen, Elterncoaches, Ärztinnen, Krankenschwestern, Logopäden und vieles andere mehr.

Wir haben es mit einer Elterngeneration zu tun, die teilweise nur noch bedingt erziehungsfähig erscheint, und zwar in zweierlei Hinsicht. Diese Väter und Mütter haben große Probleme im Umgang mit ihren Kindern, die wir in der Einrichtung auffangen müssen, und sie sind auch selbst weitgehend beratungsresistent, wenn Erzieherinnen versuchen, eine andere Sicht der Dinge darzustellen. Das Beispiel von Familie Lange hat das ja bereits gezeigt.

Darüber, woher diese zunehmende Erziehungsunfähigkeit kommt, ist in den letzten Jahren viel geschrieben worden, vor allem der Ansatz des Kinderpsychiaters Michael Winterhoff in Warum unsere Kinder Tyrannen werden und den folgenden Büchern hat da wertvolle Hinweise zur Analyse geliefert. Er hat auch gezeigt, dass es niemals um Schuldzuweisungen geht, sondern um den Versuch, zu erkennen, warum Eltern und Kinder sich heute anders verhalten als noch vor 20 oder 25 Jahren. Da spielt das Hamsterrad eine große Rolle, in dem wir alle tagtäglich stecken. Immer mehr Stress durch äußere Einflüsse lässt viele Erwachsene kaum noch zur Ruhe kommen, sondern hält ihre Psyche in einem andauernden Erregungszustand, der sich schließlich auch auf die Kinder überträgt. In der Kita sind wir dann am Ende der Kette und bekommen sowohl den Stress der Eltern als auch dessen Auswirkungen auf das Verhalten der Kinder ungefiltert mit.

Dazu kommt, dass der ständige Informationsoverkill bei den Eltern nicht nur für eine psychische Überlastung sorgt, sondern auch ein vermeintliches elterliches Expertenwissen hervorbringt, das im Alltag zu kuriosen Situationen führt. So wie bei Curtis-Bo. Natürlich heißt Curtis-Bo in der Realität nicht Curtis-Bo, der Trend zu kreativer Namensgebung hat allerdings stark zugenommen.

Curtis-Bo, drei Jahre alt, war vor Kurzem in der Kita angemeldet worden und befand sich mitten in der Eingewöhnungsphase. Die Erzieherinnen hatten bereits bemerkt, dass seine Mutter dazu neigte, die Fäden in der Hand zu behalten, und in die Kompetenz der Mitarbeiter wenig Vertrauen setzte. Eines Morgens kam sie auf Curtis-Bos Erzieherin zu und gab ihr folgende Anweisung: »Ich möchte, dass Sie sich jeden Morgen vor Curtis-Bo hinknien, wenn Sie ihn begrüßen!« Auf die irritierte Frage, was der Sinn dieser Aktion sein solle, antwortete sie in barschem Ton, die Erzieherinnen hätten ihrem Sohn gefälligst auf Augenhöhe zu begegnen, also sei es ja wohl vollkommen selbstverständlich, dass sie vor Curtis-Bo auf die Knie fallen. Natürlich kamen diese Anweisungen nicht unter vier Augen, sondern mitten in der 25-köpfigen Kindergruppe, zu der auch Curtis-Bo gehörte. Sie können sich vorstellen, wie interessiert die anderen Kinder diese Unterhaltung verfolgten und wie manche von ihnen das gesamte Kita-Personal schon regelmäßig auf die Knie fallen sahen. Trotz langjähriger Erfahrung machen einen solche elterlichen Anwandlungen immer noch einen Moment sprachlos. Diesen Moment der Sprachlosigkeit nutzte Curtis-Bos Mutter, um in Richtung ihres Sohnes hinterherzuschieben: »Du fändest das doch auch schön, wenn du so von deiner Erzieherin begrüßt würdest, oder, Curtis-Bo?!«

Natürlich: Im ersten Moment klingt das amüsant und erzeugt ein Kopfschütteln. Wer sich allerdings klarmacht, dass solches Verhalten von Eltern stellvertretend für sehr viele Situationen in deutschen Kindertagesstätten ist, und wer dann noch selbst regelmäßig diesem Verhalten ausgesetzt ist, dem vergeht sehr schnell das Amüsement. Curtis-Bo kann mit seinen drei Jahren nichts für das Verhalten seiner Mutter. Gleichwohl ist er diesem Verhalten täglich ausgesetzt und lernt sehr schnell, welche Rollenverteilung in seiner Eltern-Kind-Beziehung herrscht. Er ist derjenige, an dem sich alles ausrichtet, das wohlklingende Wörtchen »Augenhöhe« bedeutet konkret, dass seine Mutter sich zur Sklavin ihres Kindes macht und das in aller Konsequenz auch von den Erzieherinnen verlangt. Curtis-Bo erlebt keine erwachsene Bezugsperson, an der er sich orientieren kann, sondern einen menschlichen Spielball, der sich ausschließlich nach ihm ausrichtet. Bleibt dies so, werden auch der jugendliche und der erwachsene Curtis-Bo erwarten, dass andere Menschen nach ihrer Pfeife tanzen. Geschieht das nicht, wird protestiert, geheult, aufgegeben. Frustrationstoleranz nahe null.

Das alles ist schon lange nicht mehr lustig. Nicht für die Erzieherinnen, die in diesem täglichen Wahnsinn arbeiten müssen und dabei langsam aber sicher vor die Hunde gehen. Nicht für die Kinder, denen sie kaum noch gerecht werden können und die in den ersten sechs Jahren ihres Lebens bereits Entwicklungsverzögerungen erfahren, die ihnen ein Leben lang Probleme bereiten werden. Nicht für die vielen Eltern, die sich redlich Mühe geben, gute Eltern zu sein und mit der Wahl der Kita versuchen, ihrem Kind eine optimale Zeit außerhalb der Familie zu verschaffen, in der es vielfältige Anregungen bekommt, lernt, mit anderen Kindern umzugehen, und nicht einfach nur verwahrt wird. Und auch nicht für uns alle als Gesellschaft, die mit den Kindern, die unsere Einrichtungen verlassen, umgehen muss: als Lehrer, als Ausbilder, als Kollege oder einfach nur als Mitmensch, weil man sich zufällig über den Weg läuft und miteinander zu tun hat.

Haben wir es also immer noch mit einem Traumjob zu tun? Die Antwort muss derzeit lauten: Nein. Und wie sind die Aussichten? Die Antwort muss derzeit lauten: Trübe. Können wir etwas tun, um die Perspektive wieder heller zu machen? Die Antwort lautet: Wir hoffen es, sonst würden wir dieses Buch nicht schreiben.

KINDERGÄRTNERIN WAR GESTERN

Aus dem Alltag von Entwicklungsbegleitern und Potenzialentfaltern

Alles, was wir hier beschreiben, ist echt, und es handelt sich nicht um die sprichwörtlichen Einzelfälle, die nichts über den Gesamtzustand eines Systems aussagen. Natürlich ist es so, dass sich Kita-Arbeit in verschiedenen Einrichtungen voneinander unterscheidet, abhängig vor allem auch vom jeweiligen Träger. Kommunale Einrichtungen arbeiten oft anders als die in privater Trägerschaft, kirchliche Häuser haben ihre eigenen Spezifika, Verbände, Elterninitiativen, Vereine, sie alle betreiben Kindertagesstätten und haben ihre individuellen Vorstellungen davon, wie es dort laufen soll.

Jedoch: Spricht man mit Erzieherinnen aus diesen verschiedenen Einrichtungen, so bekommt man immer wieder die gleichen Rückmeldungen. In der Gesamtschau ergibt sich ein einheitliches Bild vom Zustand des Kitawesens. Ein Garten Eden ist es schon lange nicht mehr.

Allein aus diesem Grund geht es hier auch nicht um eine wie auch immer geartete Form der Abrechnung mit diesem System. Ziel ist vielmehr eine ungeschönte Darstellung des Status quo von Erziehungsarbeit, gleich bei welchem Träger, um den Finger in die Wunde zu legen und damit den Weg für Verbesserungen zu ebnen.

Mit einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen ließen sich vielleicht auch die diversen, eigentlich unglaublichen Erlebnisse besser verarbeiten, die uns immer wieder den Alltag »versüßen«. So wie die Geschichte mit Torben, jenem selbstbewussten Sechsjährigen kurz vor der Einschulung, dem andere Kinder eher egal waren.

Torben machte sich einen Riesenspaß daraus, sich auf dem Spielplatz vor die anderen Jungs hinzustellen und in drei rosa Sandförmchen zu strullern, die gerne von den Mädchen der Einrichtung benutzt wurden. Natürlich war er damit erstmal ein Held, alle anderen Jungs kicherten und bestärkten ihn in seinem Handeln.

Nachdem eine Erzieherin die Sauerei bemerkt hatte, wies sie Torben an, die Förmchen mitsamt Inhalt zur Toilette zu tragen und sein Pipi dort zu entsorgen. Im Anschluss daran schenkte sie ihm die Förmchen mit den Hinweis, niemand wolle mit Spielzeug spielen, auf das jemand Pipi gemacht habe. Außerdem sei es seine Aufgabe, neue Förmchen zu besorgen. Natürlich teilte die Erzieherin dies auch der Mutter des Jungen mit.

Am nächsten Tag kam es zum »Showdown«. Die sichtlich erregte Mutter baute sich vor der Erzieherin auf: Sie habe mit Torben gesprochen, und er habe ihr glaubhaft versichert, dass er gar nichts für diesen Vorfall könne. Das sei alles aus Versehen passiert, und überhaupt hätten ihn die anderen Jungs gezwungen, in die Förmchen zu pullern. Der Vortrag der Mutter gipfelte schließlich in der Aussage: »Der Urin meines Jungen ist rein und klar!« Mit dieser Begründung wurde der Kauf neuer Förmchen abgelehnt.

Die Erzieherin bestand allerdings auf ihrer Ansage, sie fand, dass 1,50 Euro für drei neue Förmchen durchaus zumutbar sein sollten. Als sie am nächsten Tag die Einrichtung betrat, wurde sie von der vierjährigen Schwester Torbens mit großen Augen angeschaut und mit den Worten »Du bist ja gar nicht tot!« begrüßt. »Nein, zum Glück nicht. Wie kommst du denn darauf?«, erwiderte die Erzieherin. »Naja, Mama hat gestern zu uns gesagt: ›Die ist für uns gestorben!‹ Da war ich ganz traurig. Aber jetzt bist du ja doch hier, da freu ich mich!«

Nun, Totgesagte leben bekanntlich länger, und es passiert immer wieder, dass wir unfreiwillig durch die Kinder mitbekommen, wie Eltern uns Pest und Cholera an den Hals wünschen.

In solchen Situationen fragt man sich schon mal, was für ein Bild von unserer Tätigkeit bei den Eltern besteht. Das führt uns zu der Frage: Wer sind wir, und wie wollen wir gesehen und behandelt werden?

Das Drama beginnt bereits damit, wie wir selbst uns bezeichnen. Bei der Arbeit an diesem Buch haben wir diese Frage intensiv diskutiert, denn bereits die Berufsbezeichnung ist mittlerweile ein echtes Politikum. Früher waren wir alle Kindergärtnerinnen, und kaum jemand hat etwas Negatives in diesen Begriff hineininterpretiert. Im Gegenteil, es war ein Grundvertrauen in die Fähigkeiten dieser außerhäuslichen Erziehungskompetenz vorhanden, den Kindern wurde vermittelt, dass sich hier jemand um sie kümmert, der nett und vertrauenswürdig ist und ein paar andere Spiele und Tricks kennt als Papa und Mama. Die heute despektierlich klingende Bezeichnung »Kindergartentante« beziehungsweise einfach nur »Tante« war eher eine Hommage an die Fähigkeit vieler Kindergarten-Mitarbeiterinnen, den Kindern ein Gefühl von Geborgenheit außerhalb des Elternhauses zu vermitteln. Dazu kam das Bild des Gartens, das unterschwellig auch vermittelte, dass Kinder hier »wachsen und gedeihen« konnten, dass sie gehegt und gepflegt und in ihrer bunten Vielfalt anerkannt werden.

Kindergärtnerin sagt heute allerdings fast niemand mehr, dafür ist meistens von Erzieherinnen die Rede, und auch wir benutzen diesen Begriff in unseren Ausführungen. Das ist zum einen sinnvoll, weil es eben die gängige Bezeichnung ist, zum anderen kommt damit aber auch sprachlich bereits gut zum Ausdruck, dass immer mehr Eltern heute ihre Verantwortung als Erziehende mehr oder weniger an uns abgegeben haben.

Wie stark der Job von Erzieherinnen als reine Dienstleistung angesehen wird, die beliebig in Anspruch genommen werden kann, zeigt eine kleine Anekdote aus einer Kleinstadt. Ein dort ansässiges Online-Portal hatte einen Wettbewerb ausgeschrieben, Titel: »Wer bedient Sie am nettesten?« Die Auswahl war nicht vorgegeben, vielmehr konnten Vorschläge der Nutzer eingereicht werden. Neben vielen erwartbaren Vorschlägen, etwa aus dem Bereich des Einzelhandels, schlug auch jemand eine Erzieherin des städtischen Kindergartens vor. Und tatsächlich: Diese Erzieherin gewann bei der Abstimmung haushoch! Sie war also nach Meinung der Menschen in dieser Stadt diejenige, die am nettesten »bedient«. Natürlich darf die betreffende Mitarbeiterin dieses Ergebnis als Kompliment für ihre gute Arbeit auffassen, und es ist von den abstimmenden Lesern sicher nett gemeint. Wenn man einen Moment darüber nachdenkt, offenbart sich jedoch die Denkweise, die dahintersteht. Kita-Erziehung als simple Dienstleistung, nichts anderes, als wenn jemand bei anderen die Fenster putzt, das Auto wäscht oder im Garten die Blumen pflegt.