Die Salzburger Festspiele -  - E-Book

Die Salzburger Festspiele E-Book

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Beschreibung

Die Salzburger Festspiele versuchen Jahr für Jahr durch unterschiedliche Kunstformen eine Darstellung der Wirklichkeit. Sie wollen Visionen umsetzen, um Erinnerung und Zukunft in einen konzeptuellen Ausgleich zu bringen. Solche Festspiele erfordern Konzepte, die zwischen Kultur, Organisation und Management, zwischen Recht, Wirtschaft und ästhetischen Ansprüchen angesiedelt sind. Eine Arbeit, die nur durch Verknüpfung unterschiedlicher Wirklichkeitskonstruktionen und Kommunikationssysteme gelingen kann: Kunst, Wissenschaft, Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. Festspiele sind ohne Bezug zur Gesellschaft nicht denkbar. Doch sie agieren nicht als Stützkorsett für anderswo definierte Modernisierungsprozesse, auch nicht als Krisenbewältigungsmittel, sondern immer als ein Instrument zur Ausgestaltung und Entwicklung von (identitätsstiftenden) Erzählungen. Und sie sind Suchbewegungen im Feld des Zumutbaren, des Aufbruchs, des Öffnens von Horizonten. Theater, Oper oder Festspiele stellen aber auch Bastionen und Symbole für das Leben, den Wohlstand und die Geschichte Europas dar. Mit Beiträgen von Eleonore Büning, Bazon Brock, Klaus von Dohnanyi, Michael Fischer, Markus Hinterhäuser u.a.

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Michael Fischer (Hg.)

DieSalzburgerFestspiele

Ihre Bedeutung für dieeuropäische Festspielkulturund ihr Publikum

Michael Fischer (Hg.)

DieSalzburgerFestspiele

Ihre Bedeutung für dieeuropäische Festspielkulturund ihr Publikum

Impressum

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2014 Verlag Anton Pustet5020 Salzburg, Bergstraße 12Sämtliche Rechte vorbehalten.

Lektorat: Dorothea ForsterLayout und Produktion: Tanja Kühnel

ISBN 978-3-7025-8017-9

www.pustet.at

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Dank

Einleitung

Margarethe Lasinger: Der Visionär mit dem Werkzeugkoffer

1. Europäische Festspiele des 21. Jahrhunderts

Gründungsmythen

Gerbert Schwaighofer: Gründungsmythos Salzburger Festspiele

Johannes Honsig-Erlenburg: Mozartkult versus Festspielvision

Hans Richard Brittnacher: Europäismus im Fin de Siècle

Norbert Christian Wolf: Ideologische Grundlagen der frühesten Salzburger Festspielplanungen

Ingrid Hentschel: »Spiel und Ritual bleiben aktuell.« Acht Gedanken zur paradoxen Verfasstheit der Festspiele und ein Vorschlag zur Zukunft

Festspiel-Profile

Heinz Sichrovsky: Erwartungen an Markus Hinterhäuser

Manuel Brug: Wenn ich mir was wünschen dürfte.

25 Forderungen an die Salzburger Festspiele

Michael Wimmer: Hammer und Kitt – Festspiele in Zeiten des Auseinanderbrechens

Tomas Zierhofer-Kin: Die Festspiele als gesellschaftspolitisches Zukunftslabor: essentieller kulturpolitischer Auftrag im 21. Jahrhundert

Carl Philip von Maldeghem: Querdenker gesucht: Die Zukunft der Festspiele träumen

Das kulturelle Europabild

Philipp Ther: Das Musiktheater als Medium der Europäisierung

Wilfried Haslauer: Das Europäische an den Salzburger Festspielen – eine Annäherung

Johannes Hahn: Nationalismen versus europäische Identität

Klaus von Dohnanyi: Europa bleibt Mosaik und will keinen Einheits-Anstrich

Norbert Mayer: Ein Tauglichkeitstest für Europa

Festspiel-Visionen

Bazon Brock: Neue Festspiel-Visionen?

Festspiel-Visionen. Podiumsgespräch mit Bazon Brock, Markus Hinterhäuser und Rudolf Scholten unter der Leitung von Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler

2. Kunst – Kritik – Publikum

Die emanzipierte Öffentlichkeit

Eleonore Büning: Wozu noch Musikkritik? Eine Arbeitsplatzbeschreibung

Hedwig Kainberger: Die Kulturkritik ist am Ende, der Kulturjournalismus blüht

Dirk Pilz: Kein Ende der Kritik

Harry Lehmann: Die Demokratisierung der Hochkultur.

Über die Leerstelle einer autonomen Kunstkritik

Siegbert Stronegger: Kein Untergang der Kunstkritik, aber Ausdifferenzierung

Publikumsbindung

Ulla Hahn: Fest Spiele Salzburg

Bernd Gaubinger: Publikumsbindung

Georg Albert Winkler: Festspiele – Publikum – Die Beziehungskrise als Dauerzustand?

Erinnerungsbüro Jedermann

Erinnerungsbüro Jedermann. Podiumsgespräch mit Gernot Friedel, Cornelius Obonya, Mats Staub und David Tushingham unter der Leitung von Margarethe Lasinger

Autorinnen und Autoren

Vorwort

Michael Fischer

Im Jänner 2012 fand das erste Symposion zum Thema Festspiele der Zukunft statt. Dabei erörterten herausragende Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kunst und Presse die Spezifika der Salzburger Festspielkulturen und die unterschiedlichen Erwartungshaltungen von Publikum und Mitwirkenden. Im Jänner 2014 wurde beim zweiten Symposion der Diskurs auf die europäischen Festivalkulturen ausgeweitet sowie auch der tief greifende Wandel in den Publika selbst thematisiert.

Auch wenn es paradox klingen mag: Gerade die Ausprägung von Nationalstilen, die im 19. Jahrhundert ihre Blütezeit fand, führte zur Europäisierung Europas (Philipp Ther) und in der Folge zu dem, was wir eine europäische Kultur nennen können. Ein Prozess, der 1914 abrupt beendet wurde.

In ihrem Gründungsmythos rekurrieren die Salzburger Festspiele auf »einen Europäismus, der die Zeit von 1750 bis 1850 erfüllt und erhellt hat« (Hugo von Hofmannsthal). 1917 (mitten in den Wirren des Ersten Weltkriegs) meinte Max Reinhardt in Beschwörung des erst später als solchen geprägten Habsburgischen Mythos: »dass gerade von Österreich aus es möglich wird, die zerrissenen Fäden der europäischen Kulturgemeinschaft wieder anzuknüpfen und in keinem Zeichen eher als im Zeichen der Musik und des Theaters«. Für die Salzburger Festspiele ergibt sich somit eine doppelte Verpflichtung: erstens als europäisches Gedächtnis zu agieren und die Mythen, die Europa prägten und prägen, zu erzählen, zu interpretieren und zu verdeutlichen. Und zweitens gilt es, europäische Festspiele zu leben und zur Identitätsstiftung für ein Europa des 21. Jahrhunderts beizutragen.

Eindeutig ist, dass die Oper seit der Spätrenaissance zum Medium europäischkultureller Identität wurde. Vielleicht erinnern sich manche Leser an das European Art Forum 1996 in Salzburg: Ära Mortier, Aufbruch! Die Oper als europäische Erzählung, als Zivilisationsagentur, das war unser Thema. Wir dachten, dass Salzburg als Plattform für den Streit der Meinungen zu den aktuellen Festivalkulturen auf der Hand liegen würde. Und wir planten in Kooperation mit der EU eine Biennale zu finanzieren und zu gestalten, die diesen wichtigen Lebensbereich zeitnah verhandelt.

Daraus wurde aus verschiedenen Gründen nichts. Die beiden Symposien haben diese Lücke teilweise gefüllt und sind nun, zu meinem großen Bedauern, auch Gerard Mortiers Vermächtnis.

Recht besehen sind die Salzburger Festspiele eine alljährliche Projektgruppe von Menschen, die durch unterschiedliche Kunstformen eine Darstellung der Wirklichkeit versuchen und Visionen umsetzen wollen, um Erinnerung und Zukunft in einen konzeptuellen Ausgleich zu bringen. Festspiele erfordern Konzepte, die zwischen Kultur, Organisation und Management, zwischen Recht, Wirtschaft und ästhetischen Ansprüchen angesiedelt sind. Eine Arbeit, die durch Verknüpfung unterschiedlicher Wirklichkeitskonstruktionen und Kommunikationssysteme gelingt: Kunst, Wissenschaft, Politik, Gesellschaft und Wirtschaft.

Festspiele sind ohne Bezug auf die Gesellschaft nicht denkbar. Doch sie sind kein Stützkorsett für anderswo definierte Modernisierungsprozesse, auch kein Krisenbewältigungsmittel, sondern ein Mittel zur Ausgestaltung und Entwicklung von (identitätsstiftenden) Erzählungen. Suchbewegungen im Feld des Zumutbaren, des Aufbruchs, des Öffnens von Horizonten. »Wir müssen in den Stoffen und Geschichten, die wir erzählen, das Gegenwärtige finden. Nicht das Zeitgeistige oder Modische«, sagt Markus Hinterhäuser.

Wir müssen aufpassen, dass nicht gezielt das sachlich falsche Klischee subventionsfressender bürgerlicher Kulturtanker bemüht wird und dass Spitzenleistungen und höchste Qualität nicht gegen eine angeblich viel breitere und unterdotierte Basiskultur ausgespielt und klassenkampfartig unter Generalverdacht gestellt werden.

Theater, Oper oder Festspiele funktionieren im europäischen Verständnis sicher nicht als bloß dem Markt ausgesetzte Betriebe. Sie sind Bastionen und Symbole für das Leben, den Wohlstand und die Geschichte Europas. Dies gilt selbst für diejenigen, die noch nie eine Vorstellung besucht haben. Die Festspiele sind, wie Bazon Brock formuliert, »europäische Agenturen einer Weltzivilisation«.

Daher sind Festspiele erst dann als erfolgreich zu bewerten, wenn sie Erklärungen, Diskussionen und neue Ansätze provozieren! Und nicht nur dann, wenn sie bloß gefallen, bloß schön sind!

Wer immerzu abstrakt von Schönheit, Tradition und humanistischer Bildung redet, fördert in gewissem Maße den rasanten Aufstieg einer neuen Art von Vulgarität. Die Folge sind Distanzlosigkeit und mangelnde Sensibilität für feine Unterschiede, seien sie emotional, moralisch oder ästhetisch. »Nichts ist wohlfeiler als die plakative Leidenschaft … man braucht nichts gelernt zu haben«, heißt es bei Nietzsche. Und in der Tat wird heute Bildung durch Empathie ersetzt. Die Skala der positiven Emotionen geht im Einheitsbrei der Begriffe schön, Spaß und Unterhaltung unter. Dieses Symposion war und dieser Band ist ein Beitrag, die Wachsamkeit dagegen zu schüren.

Dank

Ich bedanke mich für das Engagement der Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler und des designierten Festspielintendanten Markus Hinterhäuser, die beide das Symposion mit Interesse verfolgten und im Vorfeld mit mir diskutierten.

Weiters danke ich allen Referentinnen und Referenten für ihre Kompetenz und intellektuelle Präsenz und dem Publikum für seine Konzentration und Aufmerksamkeit.

Das Programm selbst habe ich unter Mitarbeit von Margarethe Lasinger erstellt, der ich an dieser Stelle ebenfalls für ihre Ideen und ihre Unterstützung bei der Durchführung der Tagung danken möchte.

Mein ganz besonderer Dank gilt den finanziellen Unterstützern des Projekts:

ACM-Projektentwicklung GmbH

Salzburger Festspiele

Freunde der Salzburger Festspiele

Universität Salzburg

Gerard Mortier (1943–2014) in dankbarem Gedenken.

Der große Humanist stellte die Weichen der Salzburger Festspiele für das 21. Jahrhundert.

»Aus dieser von mir so geliebten Dialektik entstand einer der wichtigsten Bausteine des neuen Salzburg. Die Festspiel-Dialoge existieren heute fast 20 Jahre und konnten eine wahre Festspielgemeinde um sich sammeln. In der sich selbst konsumierenden Gesellschaft wurden sie immer wichtiger und auf bestimmte Weise das Gewissen der Festspiele.« (G.M., Festschrift Michael Fischer, 2010)

Michael Fischer

Die Regie des Lebens wollte es, dass dieses Buch Michael Fischers Vermächtnis ist. Seine letzte Arbeit vor seinem Tod galt der Fertigstellung des vorliegenden Bandes.

EinleitungDer Visionär mit dem Werkzeugkoffer

Margarethe Lasinger

Als Visionär mit dem Werkzeugkoffer stellt man sich den idealen Intendanten der Salzburger Festspiele vor. Solche Bilder und viele Forderungen mehr wurden dem designierten Intendanten Markus Hinterhäuser beim Symposion Festspiele der Zukunft II mit auf den Weg gegeben. In insgesamt sieben Panels diskutierten Wissenschafter und Wissenschafterinnen, Künstler und Künstlerinnen, Journalisten und Journalistinnen, Kulturmanager und Kulturmanagerinnen sowie Politiker am 17. und 18. Jänner 2014 in Salzburg über Salzburger Festspiel-Visionen, den Wandel in der Kulturkommunikation und das emanzipierte Publikum. Dabei wurde auch mit so manchem Mythos aufgeräumt.

Gleich gegenüber den Festspielhäusern, gewissermaßen in der Keimzelle der Salzburger Universität, also im alten Studiengebäude, liegt die prunkvolle Bibliotheksaula. Neben den prächtigen Büchern, die in schweres Leder gebunden sind und die Wände bis zur Decke füllen, findet sich an diesem Ort auch der berühmte, um 1770 gefertigte Globus von Josef Jakob Fürstaller. Zu dieser Zeit erlangte Mozart auf seiner Reise durch Norditalien europaweiten Ruhm. Die moderne Zeit brach an und in der ersten gesamteuropäischen Bewegung, der Aufklärung, wurden die geistigen Grundsteine für moderne Demokratien gelegt.

In dieser repräsentativen Atmosphäre fand das Symposion Festspiele der Zukunft II, das Prof. Michael Fischer ausrichtete, seinen Anfang. Wie nun passt ein solch historisch aufgeladener Raum mit dem Thema zusammen? Spätestens bei jedem Intendantenwechsel stellen sich die Salzburger Festspiele erneut die Identitätsfrage – und fast alljährlich werden die Stiftungsmythen rund um die Gründung der Festspiele neu bemüht. Aus diesem Grund wurden eben diese Mythen zu Beginn des Symposions neu befragt.

Ingrid Hentschel, Theaterwissenschafterin an der FH Bielefeld, wies darauf hin, dass Rituale dazu dienten, Krisen zu bewältigen. Sie konstruierte die Vision eines Europa, das am Gedanken des Spiels festhält, und formulierte den Wunsch, 2020 ein Ritualspiel des Friedens zu programmieren, in dem sich die Bewohner zu Akteuren formieren.

Der Präsident der Stiftung Mozarteum, Johannes Honsig-Erlenburg, betonte, dass das »Außergewöhnliche nicht planbar« sei und die Salzburger Festspiele eine Handlungspflicht hätten, Auslöser für künstlerische Impulse zu sein. In der Rückschau auf den Mozartkult wies er darauf hin, dass mit dem Einbruch der Realpolitik 1914 das Kultische der Musikfeste wegbrach und durch die neuen gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen der Weg für eine umfassendere Festspielvision geebnet wurde.

Den Europäismus des Fin de Siècle beschwor der Literaturwissenschafter Hans Richard Brittnacher herauf: das Wien um 1900, »Kraftzentrum einer europäischen ästhetischen Larmoyanz«. Als einen der Protagonisten führte er Hugo von Hofmannsthal an, dessen frühen Europa-Ideen mehr Beachtung geschenkt werden müssten.

Mit Hofmannsthals Gründungsideen ging Norbert Christian Wolf, Literaturwissenschafter in Salzburg, hart ins Gericht. Sie seien in den frühen Schriften aus einem »dezidierten Österreich-Patriotismus« zur Rettung der Habsburger-Monarchie konzipiert worden. Er regte eine Re-Lektüre des Kanons an und verwehrte sich gegen eine unreflektierte Anknüpfung an die Gründungsprogrammatik.

Daran anschließend formulierten Manuel Brug und Heinz Sichrovsky ihre Thesen zu einem »Traum von Salzburg« (Brug). Der kultur- und bildungspolitische Berater Michael Wimmer legte eine sozialwissenschaftliche Sicht dar und referierte über die nicht gerade erbaulichen Studien zum kulturellen Verhalten, die ein wachsendes Desinteresse an Kultur zeigen. Auf Festspiele übersetzt, hielt er fest: »Elite trifft Elite, miteinander wird künstlerische Qualität verhandelt.« Als wichtige Forderung sieht er damit die Notwendigkeit, ein »Neuverhältnis mit dem Publikum« herzustellen. Tomas Zierhofer-Kin wiederum, der in den 1990er-Jahren mit Markus Hinterhäuser für die Programmierung des Zeitfluss-Festivals verantwortlich war und langjähriger Intendant des donaufestival Krems ist, plädierte für ein Referenzfestival des 21. Jahrhunderts.

In der daran anschließenden Podiumsdiskussion wurde deutlich, dass sich der Schwerpunkt der Auseinandersetzung zum Publikum hinwenden muss. Die vordringlichen Fragen lauteten: Haben wir uns wirklich gut mit unseren Publika beschäftigt? Leisten Medien ihre Übersetzungsarbeit adäquat? Wie kann der Diskurs zum neugierigen Publikum geöffnet werden?

Über das kulturelle Europabild schließlich sprachen so hochkarätige Politiker wie Landeshauptmann Wilfried Haslauer, der EU-Kommissar Johannes Hahn und der ehemalige Erste Hamburger Bürgermeister und Bundesminister Klaus von Dohnanyi. Hahn warnte vor der Idee, eine europäische Überidentität kreieren zu wollen, und plädierte für lokales Agieren und die Erhaltung der Vielfalt. Haslauer sprach den Festspielen den Auftrag zu, »die rechte, weil emotionale Gehirnhälfte Europas« zu sein, und von Dohnanyi warnte vor dem »besserwisserischen Gouvernantentum« der Europäischen Union. Vor diesen Ausführungen blickte der Historiker Philipp Ther in die Zeit des Vormärz zurück, als sich Kunst als einendes Element konstituierte. Er zog aus seinem Rückblick die Vision der neuerlichen gesellschaftlichen Mobilisierung.

Im Hauptpanel am Freitagabend erörterten Markus Hinterhäuser und Rudolf Scholten unter der Moderation von Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler die Notwendigkeit der »Schaffung eines künstlerisch reflektierenden Epizentrums« (Hinterhäuser). Dabei entwarf Scholten das Bild des »Visionärs mit dem Werkzeugkoffer«. Markus Hinterhäuser bestätigte diesen Vergleich und erläuterte: »Ein gutes Programm für Festspiele ist eine Addition von Utopie, praktischer Überlegung, künstlerisch-kreativer Idee und Notwendigkeit.« Der Ästhetiker Bazon Brock bemühte sich erneut, die universalen Strategien von Wissenschaft und Kunst im Gegensatz zu kulturellen Prägungen herauszuarbeiten und formulierte einmal mehr den Auftrag, »eine Agentur der Weltzivilisation« zu sein.

Nach den durchaus lebhaften Diskussionen im Anschluss ging es am zweiten Symposionstag um das Thema Kunst im Spannungsverhältnis von Publikum und Kritik. Eleonore Büning und Hedwig Kainberger schilderten eindringlich den fundamentalen Wandel in den Kulturressorts und korrigierten die Fragestellung des Symposions in Richtung: Wie sieht die Musikkritik der Zukunft aus?

Diese Frage beantwortete der Philosoph Harry Lehmann auf seine Weise. Er forderte die öffentliche Institutionalisierung der Kunstreflexion. Die Kunstkritik müsse bei den Künsten selbst angesiedelt sein und bedürfe ebensolcher öffentlicher Unterstützung wie die Künste selbst – ein Auftrag an Politik und universitäre Einrichtungen gleichermaßen.

Kein Ende der Kunstkritik ortete der Theaterkritiker Dirk Pilz, der durch die digitale Revolution neue Einsichten für die Kunstkritik konstatierte sowie das Verschwinden der festgeschriebenen Hierarchien. »Nicht die Kritik ist fraglich geworden, sondern die Position des Kritikers.« In den neuen Formen der Kommunikation sieht er die Chance, den Kommentar des Lesers ernst zu nehmen, diesen als potenziellen Partner, als Gegenüber des Kritikers wahrzunehmen.

Mit der Rolle des Publikums schließlich beschäftigten sich die beiden abschließenden Veranstaltungsrunden. Standen im Panel sechs Fragen über das Publikum im Zentrum und der Aufruf, sich mehr um die »Publikumsfindung« (Bernd Gaubinger) zu kümmern, wurde zum Abschluss noch einmal ein Mythos herbeizitiert: Jedermann.

Im letzten Veranstaltungspanel ging es um die besondere Atmosphäre, die Aura, die Festspiele kreieren müssen, um das vielfältige Publikum in einer »atmosphärischen Einheit« (Hofmannsthal) zu erhalten. Der neue Jedermann Cornelius Obonya und Jedermann-Dramaturg David Tushingham erzählten über den Dialog zwischen Publikum und Darstellern, die besonderen Verbindungen, die zum Publikum geschaffen werden.

Überlegungen, die auch im Zusammenhang mit der Kreation eines Publikumsprojekts eine Rolle spielen, das im Rahmen des Symposions abschließend vorgestellt wurde. Mats Staubs Erinnerungsbüro-Projekte gaben den Anstoß, sich über eine unkonventionelle Festspiel-Geschichte des Publikums Gedanken zu machen.

Nach einem Testsetting soll mit dem Schwerpunkt Wissenschaft und Kunst der Universität Salzburg / Universität Mozarteum, genauer gesagt: in Zusammenarbeit mit dem Programmbereich Arts und Festival Culture, ein interdisziplinäres Projekt entstehen, das auch Empiriker und Publikumsforscher mit einbezieht, um aussagekräftige Antworten zu erhalten – ein transdisziplinäres Projekt, das die Schnittstellen von Kunst und Wissenschaft exemplarisch vorführt.

Zu ganz persönlichen Jedermann-Erinnerungen ließen sich schließlich die Gäste auf dem Podium verführen. Cornelius Obonya erzählte von alten Fotos und wie ihn sein Vater Hanns, der zwischen 1969 und 1972 den Armen Nachbarn im Jedermann gab, zu den Proben mitnahm. In der Garderobe kümmerten sich die Damen von Kostüm und Maske rührend um den kleinen Jungen und füllten ihn mit Mozartkugeln ab.

Gernot Friedel, der 18 Saisonen den Jedermann als Regisseur betreute, kam sein erster Jedermann-Besuch in Erinnerung, der eigentlich gar keiner war. Als Regieassistent in Leopold Lindtbergs Lumpazivagabundus lernte er Attila Hörbiger kennen, der den Knieriem spielte. Diesen bat Friedel, mit ihm eine Jedermann-Probe besuchen zu dürfen. Der große Schauspieler nahm den jungen Regieassistenten mit in Richtung Domplatz – und spielte ihm auf dem Weg dorthin den Jedermann, den er Jahre zuvor selbst interpretiert hatte, wortgewaltig vor. Ein Besuch der Probe erübrigte sich danach, die beiden gingen stattdessen auf ein Bier. – Ein Ort der Erinnerung sind die Salzburger Festspiele allemal.

1. Europäische Festspieledes 21. Jahrhunderts

Gründungsmythos Salzburger Festspiele

Gerbert Schwaighofer

Das Panel Gründungsmythen widmet sich dem Gründungsmythos der Salzburger Festspiele. Nachgegangen werden soll darin der Frage, inwieweit die Gedanken, die einst Hugo von Hofmannsthal, Max Reinhardt und ihre Mitstreiter formulierten, noch heute ein tragfähiges Fundament für die Salzburger Festspiele bilden können.

Meist beziehen sich jene, die den Gründungsmythos bemühen, auf jenes Manifest Salzburger Festspiele von Hugo von Hofmannsthal, das dieser 1920 veröffentlichte.1 In diesem sind einige Überlegungen formuliert, die zum Teil noch heute Gültigkeit für die Salzburger Festspiele haben: Zunächst geht es um eine jährliche Veranstaltung, die primär im Sommer stattfinden soll, eventuell auch rund um Festtage wie Pfingsten oder Ostern. Inhaltlich denkt man sowohl an Oper als auch an Schauspiel zugleich, da beide Kunstgattungen nicht voneinander zu trennen sind.

Schon damals wird die Forderung nach einem eigenen Aufführungsort (man dachte an Hellbrunn) erhoben, der sich für beide Gattungen eignet. Die Salzburger Festspiele wurden schon zu diesem Zeitpunkt groß gedacht, denn man stellte sich ein Haus vor, das 2 000 Besucher fasst.

Bei der Qualität wollte man immer schon die beste oder wie Hofmannsthal formulierte: »Die Oper oder das Schauspiel? Beides und von beiden das Höchste.«2 Im musikalischen Bereich sollten vor allem sämtliche Werke Mozarts im Mittelpunkt stehen.

Man wollte sich klar von einem Festival unterscheiden, das hochwertige künstlerische Projekte, die anderswo produziert wurden, als Gastspiele einlädt. Alles sollte in und für Salzburg entstehen, ohne die räumlichen und zeitlichen Beschränkungen, unter denen ganzjährig arbeitende Repertoirebetriebe leben müssen.

Als Publikum wollte man alle Menschenschichten ansprechen, das naivste Publikum (also jenes ohne Vorwissen) ebenso wie die Höchstgebildeten.

Salzburg wurde als idealer Ort im Zentrum Europas identifiziert, für den auch die Schönheit der Stadt und der landschaftliche Reiz der Umgebung sprachen. Salzburg wurde auch deshalb als ideal angesehen, weil es gerade nicht eine Großstadt ist, die viel Zerstreuung bietet, sondern ein Ort, an dem eine Konzentration auf die Kunst für die Mitwirkenden und das Publikum möglich wird.

Letztlich wird auch der Gedanke eines Friedensprojektes zur Stärkung des Europäismus und zur Überwindung des Nationalismus formuliert.

Bei der intensiven Beschäftigung mit dem Thema Gründungsmythos – wie Norbert Christian Wolf3 in seinem Beitrag ausführlich erläutert – kommt man jedoch etwas überraschend zu der Erkenntnis, dass die programmatischen Ideen für die Gründung der Salzburger Festspiele nicht immer gleich und nicht immer mit gleichen Gewichtungen und Schwerpunkten während des Ersten Weltkrieges bzw. danach aufgestellt wurden. Sie unterschieden sich in ihren Formulierungen durchaus je nach Kontext und Adressatenkreis: hier Monarchie – dort Republik, hier Bundespolitiker in Wien – dort lokale Kräfte in Salzburg.

So wollte Hofmannsthal zum Beispiel in einigen Überlegungen vor Ende des Ersten Weltkriegs Bayreuth etwas entgegensetzen, und es ging um eine Rettung des multikulturellen Habsburger Reiches.

Gemeinsam blieb allen Bemühungen, bestmögliche Rahmenbedingungen für Kunst auf höchstem Niveau zu schaffen. Daher scheint es aus heutiger Sicht auch nicht so bedeutend, sich in jedem Detail auf die Äußerungen von damals zu berufen, sondern im Heute die Rolle der Salzburger Festspiele zu betonen, die sie als zentraler Erinnerungsort Österreichs leisten können. In der Widersprüchlichkeit und Inhomogenität liegen Kräfte, die die Salzburger Festspiele als jenen künstlerischen und gesellschaftspolitischen Kristallisationspunkt erhalten, der auch in Zukunft für heranwachsende Generationen einen spannenden Ort der Begegnung bedeutet.

Diese Überlegungen zu Ende gedacht bedeuten, dass die Salzburger Festspiele ihr Selbstverständnis nicht zu sehr aus den historischen Grundlagen herleiten sollen, sondern diese vielmehr weiterdenken müssen. Es geht darum, die Probleme der eigenen Zeit anzusprechen und herauszuarbeiten und dann auch die folgerichtigen Schlüsse zu ziehen, damit diese in die strategischen Planungen, konzeptionellen Entwürfe und künstlerischen Gestaltungen Eingang finden.

So bleiben die Salzburger Festspiele ihrer Tradition verpflichtet, ohne dass diese zur Bürde wird, sondern im Gegenteil, als Chance zu immer neuer Gestaltung verstanden werden kann.

Anmerkungen

1 Hugo von Hofmannsthal, Die Salzburger Festspiele, in: Ders., Gesammelte Werke in 10 Einzelbänden, Bd. 9: Reden und Aufsätze II, hg. von Bernd Schoeller u. a., Frankfurt am Main 1979, 258–263.

2 Ebd., 258.

3 Norbert Christian Wolf, Ideologische Grundlagen der frühesten Salzburger Festspielplanungen, in diesem Buch, 29–36.

Mozartkultur versus Festspielvision

Johannes Honsig-Erlenburg

Die Stärke jeder religiösen oder politischen Bewegung, jeder Unternehmung, jeder Institution liegt in ihrer Identität: Wofür stehen wir, was wollen wir erreichen, welche Werte und Prinzipien sollen unser Handeln leiten?

Diese Fragen sind nicht immer leicht zu beantworten. Klar ist beispielsweise, dass die Stiftung Mozarteum das Erbe Mozarts bewahrt. Nur: Auch wenn ein derartiger Gründungsauftrag existiert – wie sah das Bewahren zum Zeitpunkt der Gründung, also vor weit mehr als 100 Jahren aus – wie ist das heute?

Und bei den Salzburger Festspielen? Es gibt keine so eindeutige Aufgabenstellung wie bei der Stiftung Mozarteum, es gibt keine definitive Gründungssatzung. Aber wir haben es mit einem hochinteressanten Gründungsgeschehen zu tun, einer Gemengelage aus Wahrheit und hinzugedichteter Fiktion, kurzum einem Gründungsmythos. Diesen Gründungsmythos gilt es zunächst zu definieren und zu verstehen. Und wie beim vorher genannten Beispiel der Stiftung Mozarteum wird der Zeitenwandel zu berücksichtigen sein. Ziel muss sein – damit befasst sich mein Beitrag –, aus dem Gründungsmythos der Zeit von 1920 Grundlagen für ein heutiges Leitbild, ein Mission Statement, abzuleiten.

Bei der Aufarbeitung dieses Themas habe ich unendlich viel gelernt. Ich bin auf hochspannende Erkenntnisse gestoßen, die mir bislang so nicht bewusst waren. Bisher empfand ich es als ungerecht, dass das jahrzehntelange Bemühen der überzeugten Mozartverehrer, in Salzburg auf immer und ewig Mozartfestspiele zu etablieren, nicht umgesetzt wurde. Ich war der Meinung, dass Max Reinhardt und Hugo von Hofmannsthal (Reinhardt mit seiner barocken Theatralität und Hofmannsthal mit seinen gesellschaftspolitischen Visionen) die besseren Karten hatten.

Jetzt sehe und bewerte ich das Gründungsgeschehen völlig anders:

Dass die Salzburger Festspiele 1920 bei unterschiedlichsten Interessen und Strömungen mehr in Gang gesetzt als tatsächlich gegründet worden sind, war zuallererst die vielleicht nicht immer bewusste Reaktion auf das politische Realgeschehen: vier Jahre apokalyptischer Erster Weltkrieg, das längst erahnte, aber über Jahrzehnte verdrängte Ende der Donaumonarchie, die politische Unbedeutsamkeit der Republik Deutschösterreich, das Ringen nach österreichischer Identität; das faktische Geschehen, besser die radikalen politischen Veränderungen waren die wirklichen Geburtshelfer.

Was ich aber auch gelernt habe, und zwar am Beispiel der jahrzehntelang hinarbeitenden Mozartverehrer, ist, dass das Außergewöhnliche nicht planbar ist. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges war das Mozart-Verehrungsbemühen dem Tode geweiht. So hart und anachronistisch das heute klingt, und ich will hier nicht missverstanden werden: Das tragische politische Realgeschehen hat gleichzeitig eine große Chance eröffnet und den Salzburger Festspielen – zu Recht, wie ich meine – den Mythos einer gesellschaftspolitischen Reflexion verschafft; einer Reflexion auf das gesellschaftspolitische Stimmungsbild der Orientierungslosigkeit nach Jahrzehnten der Verdrängung politischer Realitäten.

Ich habe auch gelernt, wie gesund und notwendig es war, mit den realpolitischen Ereignissen ab 1914 die im Geiste des 19. Jahrhunderts verfremdete Mozartverehrung abzuschütteln (ganz ohnedies nicht – bestehen blieben [deutsch]nationale Kräfte, die Hitler die Grundlage für eine neuerliche Mozartverfremdung geschaffen haben). Schließlich ist mir mehr denn je bewusst geworden, wie kontroversiell, natürlich positiv kontroversiell, wir Mozart heute sehen und verstehen. Mit Mozart öffnen wir nahezu jede politische Tür, mit Mozart begegnen wir den politischen Repräsentanten unserer Welt auf Augenhöhe und – das ist kein Hineininterpretieren – Mozarts Geisteshaltung im musikalischen Werk und in seinen Briefen symbolisiert ein gesellschaftspolitisch relevantes Bekenntnis zum Menschensein.

Worauf will ich hinaus?

Wenn die Salzburger Festspiele in ihrem Gründungsmythos eine gesellschaftspolitische Aufgabestellung sehen wollen – das scheint mir unzweifelhaft der Fall zu sein und das halte ich auch für notwendig und gerechtfertigt –, dann stellt sich die Frage nach der inhaltlichen Neuausrichtung, der Definition, wie diese Gründungsidentität aus 1920 heute im Jahr 2014 und zukünftig inhaltlich zu besetzen ist. Mit der politischen Neugestaltung Europas, so wie sie 1920 und in den Folgejahren thematisiert wurde, befassen sich heute andere Institutionen. Mit den gesellschaftspolitisch drängenden Fragen hingegen kann es, ganz besonders auf dem Wege der Kulturverantwortung, nicht genug Auseinandersetzung geben. Diese Auseinandersetzung nicht alleine, aber auch in den Geist Mozarts zu stellen, also jener Person, der es wesentlich zu danken ist, dass Salzburg Salzburg ist, in den Geist jener Person, die weltweit uneingeschränkte Achtung und emotional bewegende Weltschätzung erfährt, sollte ernsthaft bedacht werden!

Dazu habe ich vier kurze Themenkreise vorbereitet: Zunächst geht es um den Begriff und die Bedeutung des Gründungsmythos. Dann will ich knapp die Jahre vor dem Entstehen der Salzburger Festspiele beleuchten. Der dritte Themenkreis betrifft das Politische in Mozarts Wesen und Tun als Reflexion auf das, was uns 2014 gesellschaftspolitisch bedrängt. In der vierten und abschließenden Kurzbetrachtung stelle ich die Frage, wie eine, auch vom Geiste Mozarts getragene, Geisteshaltung beispielhaft umgesetzt werden könnte.

1. Warum Gründungsmythen?

Dass Romulus von der Wölfin, dem Symbol der wilden Kraft, gesäugt wurde, war im Römischen Reich, wohl auch im Rom der Renaissance, wesentliche Orientierung. Dass Buddha vor seinem Tod eine Lotusblume in der Hand gedreht haben soll, ist für den ZEN-Buddhismus heute noch identitätsstiftender Gründungsmythos: Das Unbegreifliche wird von Anfang an in das Zentrum gestellt.

Zwei Beispiele für zwei Arten von Gründungsmythen: Beiden gemeinsam ist die Ursprungserzählung, gebildet aus Wahrheit und Legende, beiden gemeinsam ist die Funktion, die Schaffung konsensfähiger, sinnstiftender Werte, die Erzeugung kollektiver Identitätsvorstellungen.

Hingegen unterscheidet sich der römische Gründungsmythos vom buddhistischen unter anderem darin, dass Ersterem heute nur mehr Geschichtswert, dem buddhistischen hingegen größte gesellschaftspolitische Bedeutung innewohnt. Das mag einerseits in der vielleicht stärkeren Kraft einer Weltreligion liegen, zum anderen spiegelt die Buddha-Erzählung exakt das wieder, was nicht wenige Menschen heute bewegt und anzieht: Die Welt des absolut Machbaren fördert den Drang zum Unbegreiflichen.

Warum diese Beispiele? Fördern wir einen Gründungsmythos der Salzburger Festspiele zutage, das kann – wohlmeinend – nur die aus Wahrheit und Fiktion gebildete Ursprungserzählung einer geistigen und friedvollen Neuordnung Europas über den Weg der Kultur (ich unterschlage deutschen Kultur) sein, dann stellt sich die Frage, welchen Stellenwert dieser Gründungsmythos für die Salzburger Festspiele heute hat. Oder noch klarer: Welche weitergehende Kraft könnten die Salzburger Festspiele als das wohl wichtigste Aushängeschild der Republik Österreich auf dem Gebiet der Hochkultur durch eine Neubestimmung ihres politischen Gründungsmythos erreichen?

2. Kurze Rückkehr in das Vorgründungsgeschehen, in die Zeit vor 1920

Jahrzehntelang hat sie darauf hingearbeitet, die nicht uneffiziente Lobby aus Mozartverehrern in und außerhalb von Salzburg. Dabei waren ihnen unglaubliche Erfolge vergönnt, die Errichtung des Mozart-Denkmals nicht nur als Akt der Huldigung, sondern ein Symbol bürgerlicher Emanzipierung; die aus demselben Selbstverständnis gewachsene, Ende des 19. Jahrhunderts gegründete Stiftung Mozarteum; die Etablierung der Mozartfeste mit den renommiertesten Künstlern der damaligen Zeit: Gustav Mahler, Reynaldo Hahn, Camille Saint-Saëns; der erstmalige Auftritt der Wiener Philharmoniker außerhalb von Wien; die Aufstellung des Zauberflöten-Häuschens am Kapuzinerberg, um in Salzburg eine Mozart-Verehrungs- und Pilgerstätte zu eröffnen; die vorläufige Krönung: der Bau des Studien- und Konzertgebäudes an der Schwarzstraße, des heutigen Mozarteums, mit dem ehrgeizigen Plan, den Eröffnungsakt im August 1914 mit dem groß angelegten 9. Mozartfest zu begehen.

Bekanntermaßen wendet sich da das Schicksal der erfolgsverwöhnten Mozartianer: Die Mobilmachung zum Ersten Weltkrieg Anfang August 1914 vereitelt das Eröffnungsfest. Die Apotheose Mozarts, symbolisiert in nackter Bronze, mutiert zur Absurdität. Die Mozartlobby, noch immer getragen von der Vision der Errichtung eines eigenen Mozart-Festspielhauses, muss gespürt und darunter gelitten haben, wie ihr Tag für Tag mehr und mehr der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. 1918 noch einmal ein Aufflackern: Im Schlosspark von Hellbrunn soll zwar eine Gralsburg errichtet werden, jetzt geht es aber zuallererst um die Förderung von Österreichs Wiederaufbau für die Bereitung des Weges zur dauernden Versöhnung der Geister auf dem Boden der allumfassenden Kunst.1

1919: Die Donaumonarchie hat der Republik Deutschösterreich Platz gemacht. Ein weiterer Sargnagel für den Schritt für Schritt zu Grabe getragenen Mozartkult: Das Festspielhaus ist nun eine Angelegenheit der europäischen Kultur, von eminenter politischer, wirtschaftlicher und sozialer Bedeutung, eine geistige Brücke zwischen Ost und West.2

In dieser Zeit dann auch Hugo von Hofmannsthals Erster Aufruf zum Salzburger Festspielplan3, ein Kompendium von allem und jedem; ein kluges Marketingpapier, beinhaltend auch das Bekenntnis zum Europäismus. Nicht wirklich im politischen Sinn, wie wir das heute verstehen und interpretiert wissen wollen, also im Sinne einer europäischen Neuorientierung, vielmehr eine Reminiszenz an die goldene Zeit von 1750 bis 1850.

Dennoch halte ich es für gerecht, Hugo von Hofmannsthal auch beziehungsweise gerade diese gesellschaftspolitische Intention zu unterstellen. Er war es, der bereits 1922 in seinem großen Welttheater die Symbolik der Festspiele als Spiegelbild einer idealisierten gesellschaftlichen Totalität gesehen und den Begriff der konservativen Revolution geprägt hat.4 Von allen Gründungspersönlichkeiten hat Hofmannsthal wohl am deutlichsten wahrnehmbar (gesellschafts)politisch gedacht.

Was sein Aufruf aber auch enthält, ist die klare Abgrenzung zu den Mozartbekennern: »Salzburg will dem ganzen klassischen Besitz der Nation dienen.«5

Wenn nun die Salzburger Festspiele im August 1920 mit Hofmannsthals Jedermann ihr eigenes Werden manifestiert haben, dann wurde damit der Ursprungserzählung, dem Gründungsmythos der (moralischen) gesellschaftspolitischen Neuorientierung, der idealisierten gesellschaftlichen Totalität ein vorläufiger Schlussstein eingesetzt. Und zeitgleich wurde die kultische Mozartverehrung – vorerst einmal – zu Grabe getragen. Nur vorerst – wie bereits angedeutet –, zeitgleich mit dem tatsächlichen Ingangsetzen der Salzburger Festspiele, deklarieren neue kultische Mozartverfremder Mozart zur »Galionsfigur des nationalistischen Salzburger Weltbürgertums«, das sich die Verbreitung deutscher Kultur über alle Welt zur Aufgabe macht.6 Diese Verfremdung bereitet der aufkeimenden Nazi-Ideologie den geradezu idealen Nährboden: Für Hitler ist Mozart Chefsache. Was für ein Narr, der da nicht erkannt hat und nicht erkennen wollte, wessen Geist und Werk er huldigt.

3. Zur vielleicht spannendsten, aber auch unergründlichsten Frage meines Beitrags: das Politische in Mozarts Wesen und Tun

»Mozarts Musik ist ein Monument der Freiheit – vielleicht das größte seiner Art, das für die Menschheit von einem Einzelnen hervorgebracht wurde.«7

Diesem Manifest Ekkehart Krippendorfs schließe ich mich mit voller Überzeugung an, nicht aus Huldigung der Person Mozarts, sondern aus der Überzeugung, dass Mozart, und zwar nicht nur seine Musik, sondern auch sein Geist Menschheitserbe sind; dass dieses Erbe allen Menschen auf der Welt und – am Ort seines Entstehens – auch hier in Salzburg gehört. Dieses Erbe bewegt, berührt und verändert viel mehr, als wir das in unserem alltäglichen, viel zu oberflächlichen Umgang wahrnehmen.

Lassen Sie mich dazu in Kürze die heute gesellschaftspolitisch bewegenden Themen skizzieren: Es sind die ethnisch-religiösen Konflikte, die soziale Ungerechtigkeit, Migration und Diskriminierung, die Ausgrenzung des Andersartigen, sei es der Herkunft wegen (Rassismus) oder aufgrund der sexuellen Ausrichtung (Homosexualität).

Bestimmend ist heute nicht – so wie in den Vorgründungsjahren der Salzburger Festspiele – die Erhaltung der alten Ordnung um jeden Preis; bestimmend ist auch nicht die Neuordnung Europas und Österreichs nach dem Zweiten Weitkrieg, genauso wenig die gesellschaftliche Neuordnung nach dem Ende der Donaumonarchie; bestimmend ist heute zuallererst – frappant ähnlich zum ausgehenden 18. Jahrhundert – die Frage nach der Würde und Achtung des ausgegrenzten, politisch oder religiös verfolgten oder unterdrückten Menschen.

Der von mir bereits zitierte Ekkehart Krippendorff bezeichnet Mozart nicht nur als Monument der Freiheit, für ihn überschreitet Mozart ständig die Grenzen, ohne sie zu zerstören. Mozarts Musik ist bis in die kleinsten Strukturen immer dialogisch, ein »herrschaftsfreier Dialog«. In Mozarts Leben und Werk findet sich nicht die Spur »patriarchalischer Präpotenz«, in seinen Opern lässt Mozart keine Gelegenheit aus, seine »humanistische Botschaft musikalisch zu predigen«.

Hier stellt sich kurz die Frage, was Mozarts Botschaft von der anderer, sagen wir mehr oder weniger zeitgenössischer Komponisten unterscheidet: Haydn ist Mozart sicher am nächsten. Genauso getragen vom Gedankengut der Aufklärung und überzeugter Klassiker propagiert Haydn seine Schöpfungsbotschaft – schlussendlich bleibt er aber doch obrigkeitsergeben und zögerlich. Und Beethoven, für manche der Prototyp des Ich-Menschen, gleichzeitig mit seiner 9. Sinfonie das Symbol des Freiheitsdenkers, von dem aber Bertolt Brecht sagt, dass er Beethovens Sinfonien deshalb nicht schätze, »weil er aus jeder von ihnen eine napoleonische Schlacht heraushöre …«8.

Zurück zu Mozarts Geisteshaltung, in der ich eine Grundlage, eine Orientierung für heutiges gesellschaftspolitisches Denken und Handeln, ein Bekenntnis zur Würde des Menschen, zur dialogischen Auseinandersetzung ohne patriarchalische Präpotenz sehe und erkenne. Gehen wir einen Schritt weiter und assoziieren wir Mozarts Werk auch mit einer außergewöhnlichen Fähigkeit zur Empathie9, zur Einfühlung als Reaktion auf Gefühle wie Mitleid, Trauer, Schmerz und auch Freude. Dann läge uns ein einzigartiges Rüstzeug für die Auseinandersetzung mit den Themen, die unsere Gesellschaft bewegen und in Atem halten, zu Füßen.

Ich will mich korrigieren: Tatsächlich liegt dieses Rüstzeug vor uns – es gehört erkannt, formuliert und zur Geisteshaltung der Institution gemacht. Dann nähern wir uns dem an, was Michael Schmidt-Salomon10 wie folgt ausdrückt: »Musik ist weit mehr als bloße Organisation von Klangmustern in Raum und Zeit … Sie ist stets Ausdruck existentieller tiefenpolitischer Inhalte, die alles andere als beliebig sind.«

4. Wie soll diese Umsetzung, diese Neudefinition des Gründungsmythos der Salzburger Festspiele geschehen?

Pierre Boulez sieht im Künstler den Räuber, der – wo immer es nur geht – Impulse für sein Tun zu stehlen hat; gleichzeitig soll die Institution diese Impulse auslösen und unterstützen; diesen an die Institution (ich ergänze: Kunst- und Kulturinstitution) gerichteten Auftrag bezeichnet Boulez als unersetzlich.11

Der Zugang von Pierre Boulez spiegelt genau wider, was ich aufzuzeigen versucht habe: Die Antennen nicht nur des Kulturschaffenden, sondern auch der Kunst- und Kulturinstitution müssen sich mit den gesellschaftspolitisch relevanten Themen auseinandersetzen. Auf die Räuberrolle des Kunstschaffenden will ich an dieser Stelle nicht näher eingehen, mich interessiert die Rolle der Institution: Sie hat Handlungspflichten, sie hat die Intuitionen, die Impulse der Künstler auszulösen und diese zu unterstützen.

Welche Art von Impuls ausgelöst wird, bestimmt – soweit das möglich ist – die Institution selbst; Orientierungshilfe soll dabei zuallererst die ureigenste Aufgabenstellung oder – wie im Falle der Salzburger Festspiele – ihr zeitgemäß definierter und interpretierter Gründungsmythos sein!

Für entscheidend halte ich – und das betone ich im Boulez’schen Sinn –, dass die Salzburger Festspiele eine Handlungspflicht trifft, eine Handlungspflicht in mehreren Stufen: nicht nur im Erkennen der eigenen Geisteshaltung und der gesellschaftspolitischen Ausrichtung, sondern auch im Auslösen der künstlerischen Impulse, die diese Geisteshaltung öffentlich werden lassen.

Somit: Nur dann, wenn sich die Kunst- und Kulturinstitution, konkret die Salzburger Festspiele mit ihren handelnden Personen, ihres Gründungsmythos und ihrer daraus erwachsenden Pflichten bewusst ist, wird diese Identität spürbar; nur dann wird es gelingen, die Institution in ihrer inneren Struktur, aber auch in ihrer Außenwirkung im Sinne dieser Gründungsorientierung strahlen zu lassen.

Das mag in einem hohen Maße planbar und damit Aufgabe der Intendanz gemeinsam mit dem Direktorium sein; diese Identität sollte aber auch die Köpfe und Herzen der Träger der Salzburger Festspiele erfassen. Im gemeinsamen Bekenntnis liegt die Stärke. Dazu gehört auch – das betone ich an dieser Stelle ausdrücklich – das klare Bekenntnis der öffentlichen Träger zur federführenden Finanzausstattung der Salzburger Festspiele: Nur dann bleibt die Freiheit gewahrt, gesellschaftspolitisch zu steuern. Jedes andere Dictum, sei es der (stillschweigende) Auftrag zur weiteren Optimierung des Kartenverkaufes oder der Sponsorenzuwendungen, erschwert, ja verhindert die Umsetzung und Weiterentwicklung dieser Gründungsidentität!

Ich sprach und spreche von einer gesellschaftspolitisch relevanten Gründungsidentität, die in der musikalischen Botschaft, in der Geisteshaltung Mozarts neu definiert sein soll. Dass sich dieses Handeln im Geiste Mozarts nicht darin erschöpfen kam, den x-ten Da-Ponte-Zyklus zu programmieren oder Salzburg wieder einmal damit zu überraschen, endlich das ideale Mozartensemble aus dem Hut zu zaubern, versteht sich von selbst.

Dass hingegen die Ouverture spirituelle, verbunden mit der dialogischen Auseinandersetzung zwischen den großen Religionen der Welt, diese Geisteshaltung durchaus widerspiegelt, soll ausdrücklich angemerkt werden; das gilt auch für den besonderen Stellenwert, den El Sistema und Maestro José Antonio Abreu im vergangen Jahr innehatten; genauso für die feinfühlige Schauspielprogrammierung in diesem Jahr.

Jeder von uns wird Beispiele für Projekt- und Gestaltungsideen, wie gesellschaftspolitisch relevante, im Geiste Mozarts geprägte Impulse ausgesendet werden können, in sich tragen, vielleicht auch nennen können. Es sind die Themen der Multikulturalität, des inhumanen Umganges mit den Schwächeren und Schwächsten der Gesellschaft, der Migration, die deutlich mehr aufgegriffen und bearbeitet werden könnten. Wäre es beispielsweise nicht ein Gebot der Zeit, noch vor der 100-jährigen Erinnerung an das Gründungsjahr der Salzburger Festspiele jenem Kontinent, der zugunsten unseres (europäischen) Wohlbefindens das wohl größte Leid tragen muss, Afrika, eine Bedeutung einzuräumen; wenigstens eine anstelle von keiner?

Ich wünsche den Salzburger Festspielen, dass sie dieses Potential zu nutzen wissen. Keine Angst haben vor einer Veränderung, einer Sensibilisierung im Denken und Tun, vor dem Neuen, dem scheinbar Unbewältigbaren. Nur damit kann glaubwürdig an die einzigartige und starke Gründungsidentität der Salzburger Festspiele angeknüpft werden; an die Identität eines Miteinander im Wege der Kunst und der Kultur, heute nicht mehr begrenzt mit dem alten Europa, sondern gerichtet an die Menschen in aller Welt.

Anmerkungen

1 Aufruf des Festspielkomitees 1918, vgl. Michael P. Steinberg, Ursprung und Ideologie der Salzburger Festspiele. 1890–1938. Aus dem Amerikanischen von Marion Kagerer, Salzburg–München 2000, 62.

2 Salzburger Version des Aufrufes der Festspielhausgemeinde 1919, vgl. ebd., 65.

3 Hugo von Hofmannsthal, Der erste Aufruf zum Salzburger Festspielplan, 1919, in: Ders., Festspiele in Salzburg, Wien 1938, 33–38.

4 Vgl. Steinberg, Ursprung und Ideologie der Salzburger Festspiele, 87.

5 Hofmannsthal, Der erste Aufruf zum Salzburger Festspielplan, 35.

6 Vgl. Steinberg, Ursprung und Ideologie der Salzburger Festspiele, 207.

7 Kapitel 24: Die beglaubigte Hoffnung der Freiheit: Mozart, in: Ekkehart Krippendorff, Die Kunst nicht regiert zu werden. Ethische Politik von Sokrates bis Mozart, Frankfurt am Main 1999, 429–452.

8 Vgl. ebd., 18.

9 An dieser Stelle danke ich meinem Cousin Rupert Biedrawa für seine wertvollen Anregungen.

10 Michael Schmidt-Salomon, Die tiefenpolitische Dimension der Musik oder: Warum es sinnvoll ist, über Geschmack zu streiten, s. Link: http://www.schmidt-salomon.de/mupo1.htm (03.06.2014).

11 Pierre Boulez, Parcours, in: Michael Schwalb (Hg.), Liber amicorum – Gedanken über Musik, Literatur, Kunst, Hildesheim 2012.

Europäismus im Fin de Siècle

Hans Richard Brittnacher

Der Erste Weltkrieg ist immer wieder als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet worden, in der die bis dahin gültigen Werte buchstäblich zerfetzt und zerrieben wurden. Die durch ihn verursachten Krisen haben nachhaltig den Salzburger Festspielgedanken begründet, der in einer erschütterten Zeit eine neue Orientierung zu geben versprach.

Große Krisen werfen, das haben sie mit großen Ereignissen gemein, ihre Schatten voraus. Schon in den Jahren um 1900, die nicht zufällig unter dem schwermütigen Label Fin de siècle in die Kulturgeschichtsschreibung eingegangen sind, ist die Rede von der Krise allgegenwärtig: Krise der Sprache, Krise der Nerven, Krise des Subjekts, Krise der Wahrnehmung, Krise der geschlechtlichen Identität. Unisono tönt in den Literaturen des deutschsprachigen Raums, aber auch Englands, Frankreichs, Italiens, der skandinavischen Länder die Klage über eine Welt, die zu entgleiten droht, über ein Leben, das nur im Zustand der Entfremdung erfahrbar ist, über eine Sprache, die sich, überfordert, dem Verstummen nähert, über eine Liebe, die sich ihrer Objekte und der Intensität ihrer Empfindung nicht mehr sicher weiß. Zugleich aber ist diese Gemengelange einer umfassenden Krisenerfahrung auch der Nährboden einer ungeheuren ästhetischen und literarischen Produktivität. In Wien geschieht in diesen Jahren etwas historisch Einzigartiges: Eine kulturell gesehen eher an der Peripherie der großen ästhetischen Revolutionen in Paris, in London, in Christiania gelegene Welt wird zum Kraftzentrum eines neuen ästhetischen Selbstbewusstseins, einer – was polemischer klingt, als es gemeint ist – europaweit kultivierten ästhetischen Larmoyanz. Wie kein Zweiter hat der junge Hugo von Hofmannsthal in einem ungeheuer vielseitigen essayistischen Werk die europäische Kultur seiner Zeit ausgemessen. Aus ihrer subtilen Analyse bezog er die Merkworte der Epoche, die er dann zu Schlüsselbegriffen des ästhetischen Selbstverständnisses seiner Generation ausbuchstabierte: Décadence, Müdigkeit, Seelenparalyse, Selbstverdopplung, Schönheit des Sterbens, Untergang des Schönen, Verlust des Lebens lauten die klangvollen Chiffren dieses elegischen Bekenntnisses.

Theodor W. Adorno hat in seinen Bemerkungen zum Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal maliziös Hofmannsthal als »Zwischenhändler des fin du siècle« abgewertet, der seinen Freunden und Zeitgenossen, seinen »Wiener Phäaken«, in seinen Essays Unterweisungen darüber erteilte, was im großen Haus der europäischen Kultur gerade à la mode sei. Das ist, lässt man den boshaften Tonfall beiseite, als Beobachtung durchaus richtig und weist auf einen bis heute noch nicht hinreichend bedachten Sachverhalt hin: dass im imponierend umfangreichen essayistischen Werk gerade des jungen Hofmannsthal ein gewaltiger ästhetischer und mythischer Thesaurus zur Beschwörung einer integralen europäischen Kultur liegt.