Die schamlose Generation - Sven Kuntze - E-Book
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Sven Kuntze

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Beschreibung

Das große Fressen – und nach uns die Sintflut?

Unstillbare Wachstumsgier, das große Fressen auf Kosten der Zukunft, Erfinder der hirnlosen »Alternativlosigkeit« – Sven Kuntze geht mit seiner eigenen Generation hart ins Gericht. Sie hat zu viel verbraucht und zu wenig bewahrt, sie hat sich zu wenig vermehrt und wird zu alt; ihre Schulden sind gigantisch, gezahlt wird von Kindern und Enkeln. Keine Generation vorher war so selbstbestimmt, frei und in Frieden gesättigt, keine kam ihren Träumen so nahe. Und was haben sie aus diesen Möglichkeiten gemacht? Sven Kuntzes Abrechnung ist unnachsichtig, denn diese schamlose Generation hat mehr beansprucht, als ihr zusteht. Mit dem Effekt, dass Klima, Ressourcen und Visionen einer allseitigen Ökonomisierung zum Opfer gebracht wurden und werden. Er blickt zornig auf die ernüchternde Bilanz seiner Generation, die alles aufs Spiel setzt und der sich dennoch die Jungen kaum widersetzen, weil ihr Protestpotenzial durch die verständnisinnige, aber tödliche Umarmung der Älteren neutralisiert wird. Also nach uns die Sintflut – oder gibt es noch eine Chance, ein positives Zeichen zu setzen?

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Seitenzahl: 310

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SVEN KUNTZE

Die schamlose Generation

Wie wir die Zukunft unserer Kinder und Enkel ruinieren

C. Bertelsmann

1. Auflage© 2014 by C. Bertelsmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlaggestaltung: buxdesign MünchenSatz: Uhl + Massopust, AalenRedaktion: Sibylle Auer, MünchenISBN 978-3-641-14173-8www.cbertelsmann.de

Für Inka, Klara und Sophie

Inhalt

Prolog

Die Vierziger – Schaubild einer Generation

Verwaiste Krippen

Ein neuer Gott

Exkurs: Die Geburtsstunde der Grünen aus dem Geist des Kettenhofwegs – eine Grille

Vom Ende der Beredsamkeit

Leben auf Pump

Kann das weg – oder ist das Kunst?

Exkurs: Die Männergruppe – ein Rekonstruktionsversuch nach Notizen von Henning Müller

Warme Zeiten

Die Vierziger im Einsatz

Die Nachkommen

Was bleibt?

Was tun?

Prolog

»Die wahre Großzügigkeit gegenüber der Zukunft besteht darin, alles der Gegenwart zu geben.«

ALBERT CAMUS

Ich habe von folgendem Erlebnis an anderer Stelle schon einmal berichtet. Aus gutem Anlass aber erzähle ich die Geschichte noch einmal.

Es liegt bereits einige Jahre zurück, als ein Freund mich bat, eine kurze Rede zum achtzehnten Geburtstag seiner Tochter aus zweiter Ehe mit einer sehr viel jüngeren Frau zu halten. Unterhaltsam sollte die Rede sein, aber auch die Probleme nicht verschweigen, mit denen sich der Nachwuchs heutzutage auseinandersetzen muss.

Die junge Dame, der nun meine Aufmerksamkeit galt, war ein reizendes Geschöpf, sportlich und musisch begabt, Klassensprecherin und der Mittelpunkt einer großen Freundesschar. Der Stolz eines jeden Elternpaars, wenn man einmal davon absah, dass sie eine aufdringliche Art an sich hatte, ihre unmittelbare Umgebung an ihrem Problembewusstsein teilhaben zu lassen. Sie marschierte unbeirrbar in den ersten Reihen jeder der unzähligen Bewegungen zur Verbesserung oder Verhinderung von diesem und jenem, die damals wieder über das Land kamen wie die biblischen Plagen über das alte Ägypten.

Die Eltern waren in ihrer Studienzeit ebenfalls öfters unterwegs gewesen, um einem diffusen Unmut Ausdruck zu verleihen. In die Jahre gekommen, waren sie fußfaul geworden und hatten ihren Protest in den Kopf verlagert, wo er, von gelegentlichen kompromisslosen Äußerungen unterbrochen, ein friedliches Dasein führte.

»Wir sind doch ihrer Meinung«, seufzte ihr Vater, mein Freund, genervt angesichts zahlloser Merksätze, die sie auf gesundem Papier ohne Rücksicht auf die durchgängige Einrichtung mit Möbeln und anderen Ikonen aus den Zwanzigerjahren in der elterlichen Wohnung verteilt hatte.

»Das grüne Licht leuchtet nicht für lau«, »Jutesack statt Plastiktüte« oder »Obst aus Neuseeland verschwendet Energie« stand dort in bewusst ungelenker Schrift zu lesen.

Seine beiden Kinder aus erster Ehe waren, nebenbei, besser geraten. Sie führten ihre Leben unauffällig in akademischen Berufen und abseits der großen Themen. Was dem Vater aber auch nicht recht war. »Ein wenig engagierter, so wie wir damals, könnten sie schon sein«, knurrte er gelegentlich.

Was sie von meiner Rede erwarte, wollte ich von der jungen Dame wissen, bevor ich begann, darüber nachzudenken.

»Warum erzählst du nicht von der Erbschaft deiner Zeit«, antwortete sie freundlich, mit zweideutigem Unterton.

Ich muss irritiert geschaut haben.

Das sei sicher ein Thema, das mir liegen müsse, denn schließlich sei ich, wie die meisten anderen meiner Generation, auch so ein Erbonkel, auf dessen Hinterlassenschaft sie gerne verzichten würde.

Ich war immer noch irritiert.

»Klimakatastrophe«, half sie mir nachsichtig auf die Sprünge, »Staatsverschuldung«, fuhr sie fort, »Atommüll«. Sie kannte keine Gnade. »Das sind doch ergiebige Themen für das, was vor mir liegt.«

Ich habe die Rede dann doch nicht gehalten.

Einige Tage später erzählte ich meiner etwa gleichaltrigen Tochter von dem Zwischenfall, in der vagen Hoffnung, dass sie mir beistehen würde.

»Sie hat ganz recht. Was ist das auch für ein Durcheinander, Himmeldonnerwetter, das ihr uns nach sechs Jahrzehnten Friede und Wohlstand hinterlasst!« Erbarmungslos wies sie meine Bitte um Unterstützung ab: »Ihr solltet euch was schämen, aber Scham ist euch wahrscheinlich in den wilden Jahren, auf die ihr so stolz seid, abhandengekommen.«

Scham? Geht’s noch? Was war das denn für ein Ladenhüter aus dem Mund meiner Tochter, die eine in jeder Hinsicht fortschrittliche Erziehung genossen hatte, nämlich gar keine?

Ganz sicher kein Begriff aus dem elterlichen Bestand verblasster Theorien, von denen etliche, wie etwa die vom »tendenziellen Fall der Profitrate« oder der »Kaderpartei als Vorhut des revolutionären Subjekts, des Proletariats« bereits reichlich Patina angesetzt hatten, wenn wir sie nicht schon gänzlich auf dem Müllhaufen unserer persönlichen Biografien entsorgt hatten. (Genossenhumor und nur nach dem Studium der Klassiker, in Sonderheit Lenin, recht verständlich: »Die KPD-AO ist die Vorhaut des Proletariats. Immer, wenn’s ernst wird, zieht sie sich zurück.« Damals ein Brüller!)

Die Scham indes ist eines der kostbarsten Gefühle, derer wir Menschen fähig sind. Sie ist die emotionale Grundierung der Moral als Maßstab unseres Handelns. Ohne das tiefe Gefühl der Scham, das uns gelegentlich heimsucht oder dies zumindest tun sollte, hat Moral keinen Halt. Die Scham ist das Gefäß, in welches die Moral ihren Inhalt gießt und Form gewinnt. Ohne jene würde diese austrocknen wie die Pfütze in der Wüste. Im Gegensatz zu den angeborenen Emotionen wie Angst, Wut oder Traurigkeit gehört die Scham zu den sozialen Emotionen wie Schuld oder Eifersucht, die erlernt werden müssen.

Nachdem ich den Begriff der Scham und damit die Sache selbst spät im Leben und unerwartet wiederentdeckt hatte, trug ich bei Lesereisen durch die deutsche Provinz anlässlich einer Veröffentlichung über das »Alter« gegen Ende der Veranstaltungen gelegentlich die aufmüpfigen Thesen der beiden jungen Damen vor. Wir, die »Vierziger«, das heißt diejenigen, die in den Vierzigerjahren und Anfang der Fünfzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts zur Welt kamen, waren bei diesen Veranstaltungen bis auf seltene Ausnahmen unter uns. Meine Zuhörer waren in der Regel erst einmal wie gelähmt. Es brauchte seine Zeit, bis sie Atem geholt, das Vorgetragene begriffen und zugeordnet hatten und reagieren konnten.

»Absurd, lächerlich«, hieß es dann. »Können Sie noch einmal wiederholen, was Sie meinen? Ich finde da keinen Zugang!« – »Wovon reden wir eigentlich? Ich dachte, das sei eine Lesung zum Thema Alter. Ich habe wenig Lust, mir Vorwürfe anzuhören!«

Nach einer zweiten Runde der Erläuterung wurde es dann meist recht lebhaft, was zumindest bezeugt, dass die Anschuldigungen meiner Tochter und ihrer Bekannten nicht ganz spurlos an ihnen vorübergegangen waren. Das sei »Unsinn«, wurde ich belehrt. »In jedem Augenblick leben verschiedene Generationen nebeneinanderher. Das kann man nicht einfach trennen, nur weil’s passt.«

»Aber wir sprechen doch auch von der Generation unserer Väter und Großväter!«

»Und Mütter und Großmütter!«

Fortschrittliches Gedankengut, das wie flüssiges Quecksilber in alle Poren des Landes eingedrungen war, hatte auch vor dem Hochsauerland nicht haltgemacht.

»Ja, schon recht, aber die wichtigen Stellen sind doch nicht nur von Frauen und Männern mit sechzig plus besetzt. Da gibt’s haufenweise Dreißig- bis Fünfzigjährige. Die sind verantwortlich wie alle anderen auch!«

»Denken Sie mal an das schwere Erbe des Faschismus, das wir zu ertragen hatten!«

»Was war an dem für uns so unerträglich?«

»Ich habe daran gelitten und tue es heute noch!«

Mit der Last des Faschismus indes konnten die meisten der Anwesenden wenig anfangen.

»Alle haben gemeinsam Verantwortung, nicht nur wir.«

»Dann muss mir mal einer erklären, wie es sein kann, dass wir nach sechs Jahrzehnten Wohlstand, Wirtschaftswachstum und geringer Arbeitslosigkeit einen Schuldenstand von zwei Billionen Euro angehäuft haben. Das sind vier Billionen in alter D-Mark!«, gab ich zu bedenken.

»Das sind doch alte Kamellen. Jeder weiß, dass die Umstellung eins zu zwei nie der Realität entsprochen hat.«

Und schon waren sie mir entwischt.

»Der Itaker …«

»… sagt man nicht mehr!«

Zustimmendes Gelächter.

»Der Italiener am Marktplatz, neben dem Café Leuthen, der hat damals von heute auf morgen eins zu eins umgestellt.«

»Die Eisdiele auch!«

»Mag sein, das ändert aber nichts an dem hohen Schuldenstand.«

»Dafür kriegen unsere Kinder und Enkel ein Land in tadellosem Zustand.«

In der ersten Reihe meldete sich ein schmaler, scheuer Mann zu Wort und erklärte umständlich, dass die Toiletten in der Winkelreinschule drüben im Hägert …

Unwirscher Zwischenruf aus dem Publikum: »Wir wissen, wo die ist!«

»… seit geraumer Zeit völlig verdreckt« seien. Sein Sohn pinkle deswegen über den Zaun, der das Schulgebäude umgibt, in einen Nachbargarten, dessen Besitzer sich deswegen bei der Schulleitung beklagt habe. Damit, so hatte ich ihn verstanden, wollte er andeuten, dass es mit dem tadellosen Zustand nicht weit her war.

Die Leute murrten und bestraften ihn mit dem Verräterblick. Eingeschüchtert setzte er sich wieder hin. Ihm folgte ein kräftiger, kahler Sauerländer. Er habe sich früher über Landstraßen fast eine Stunde lang zu seiner Arbeitsstelle in einer Traktorenfabrik quälen müssen. Seit aber das neue Autobahnstück fertig sei, bezahlt von den Steuergeldern »der Vierziger, wie Sie die nennen«, brauche er nur noch die Hälfte der Zeit. Das sei ein Stück Hinterlassenschaft an Kinder und Enkel, derer man sich nicht zu schämen brauche. »Überhaupt, dieses Wort!«

So ging das querfeldein, vom Autobahnteilstück und dem Erbe des Faschismus bis hin zum Verhältnis von Euro und D-Mark und verdreckten Grundschulklos.

Für mich war das leichtes Tagwerk, da ich nun, ohnehin erschöpft nach neunzig Minuten Vortrag, ruhig und gelassen beiwohnen konnte, wie die Wogen hochschlugen.

Der Höhepunkt war ohne Zweifel eine Veranstaltung auf der Schwäbischen Alb, wo ein erregter Zuschauer seinem redseligen Nachbarn drohte: »Noch ein Wort, und i bompf dr oine!«, was wohl heißen sollte: »Ich hau dir eine aufs Maul!«

Aufgeregte Reaktionen im Publikum: »So goats fei et.«

Die Fortsetzung des Abends fiel schließlich der schwäbischen Sitte, mit den Würmern vor den Vögeln aufzustehen, zum Opfer.

Freilich blieben Einsicht und Nachdenklichkeit, gar Reue oder Scham die seltene Ausnahme bei den Lesungen, insofern waren meine Bemühungen vergeblich. Immerhin haben die erregten Wortmeldungen am späten Abend alle Einsprüche gegen das, was ich auf den folgenden Seiten ausbreiten werde, vorweggenommen. Und zum Teil haben sie ja recht. Der Begriff der »Vierziger«, im Zusammenhang mit den sozialen und ökonomischen Entwicklungen der vergangenen fünf Jahrzehnte, entspricht nicht der Trennschärfe, welche die Wissenschaft von Begriffen fordert. Trotzdem ist der Generationenbegriff in den Geschichts- und Sozialwissenschaften häufig verwendet worden, als »Generation der Sachlichkeit« für die Zwischenkriegszeiten zum Beispiel, oder als »skeptische Generation« für diejenigen, die als Heranwachsende das Kriegsende noch erlebt hatten. Der Begriff taugt, wenn die Betroffenen konkrete Vorstellungen mit ihm verbinden und sich ein Gefühl von Gemeinsamkeiten nachweisen lässt.

Mein Publikum in jenen Tagen, recht besehen aber vor allem die beiden jungen Damen, waren Anstoß für dieses Buch gewesen, aus dem unter der Hand schließlich ein Pamphlet geworden ist, in dem es zuweilen recht unsachlich zugeht. Im Folgenden werde ich nur in Ausnahmen nach Ursachen suchen – zu denen gibt es bereits Veröffentlichungen in großer Zahl –, sondern vor allem Behauptungen anstellen. Das muss kein Schaden sein, solange die generelle Marschrichtung sich einigermaßen mit der Realität verträgt.

Gelegentlich geht es querfeldein und endet in unzugänglichem Unterholz. Das ist vor allem dem Dickicht der Realität geschuldet, das bislang noch keiner zu durchdringen wusste.

Ein Pamphlet will nur in zweiter Linie korrekt darstellen und analysieren. Vor allem will es Krakeel machen und in dessen Nachfolge wirken und wird deswegen mit groben Maschen in grellen Farben gestrickt.

Ein Pamphlet ist immer Aufruf zur Aktion – so auch in diesem Fall. Es fordert jedoch weder Aufruhr noch Revolution, sondern besinnt sich am Ende auf jene Tugenden, die jedem Gemeinwesen von jeher gut angestanden haben: Solidarität, Gemeinsinn, Mitleid, Bescheidenheit und Verantwortung – Tugenden, die jeder Einzelne für sich zwar gern in Anspruch nimmt, deren Umsetzung in der Praxis aber regelmäßig den äußeren Umständen zum Opfer fällt. Wären sie jedoch als Kollektivtugenden wieder eingeführt, folgte das Notwendige fast von selbst.

Was die Theorien, und derer gibt es ohne Ende, zum Zustand der Gegenwart und Zukunft betrifft, so bin ich mit leichtem Gepäck unterwegs. Dies ist, wie bereits angedeutet, keine wissenschaftliche Arbeit. Ich habe deswegen auf exakte Anmerkungen und Quellennachweise verzichtet, bedanke mich aber bei all denjenigen, deren Gedanken oder Formulierungen – anonym zwar, aber stets durch Anführungszeichen markiert – auf den folgenden Seiten zu finden sein werden.

Ich habe auch auf reichliches Zahlenmaterial verzichtet, es wird ohnehin überlesen. Wer studiert schon Tabellen, Prozentsätze und deren Vergleichsgrößen sowie die volkswirtschaftlichen Schlüsseldaten, denen oft komplizierte Definitionen zugrunde liegen, ohne deren Verständnis die Zahlen bedeutungslos bleiben? Die Dimensionen sind zudem so ungeheuerlich, dass sie die Vorstellungskraft eines jeden Lesers, wie auch die meine übrigens, überfordern. Sie tun das täglich bei der Zeitungslektüre. Was den erwünschten Effekt hat, dass die sehr realen Entwicklungen mit sehr realen Konsequenzen für jeden Einzelnen die Gestalt einer mystischen Realität annehmen, die mit der Wirklichkeit nichts mehr gemein hat. Ganz so wie das Paradies jenseits unserer irdischen Existenz.

Und noch eines: Gelegentlich vagabundiere ich zwischen dem Begriff »die Vierziger« und der ersten Person Plural, dem »Wir«, hin und her. Das hat jedoch keine tiefere Bedeutung, sondern dient, wie ungelenkt auch immer, ausschließlich dem Fluss der Darstellung.

Viel Unterstützung aus den eigenen Reihen habe ich bei diesem Projekt nicht erfahren dürfen. Eine alte Freundin, die »den jungen Joschka Fischer noch kannte«, ganz wie Tante Musi noch »am kaiserlichen Hof getanzt« hatte, findet das Projekt »ungehörig«, ein Urteil, das wiederum zu der längst verstorbenen Tante gepasst hätte.

Ein Freund aus frühen Jahren, der eine lange Strecke Wegs vom Berufsrevolutionär zum melancholisch konservativen Kulturkritiker zurückgelegt hatte (wenngleich, recht betrachtet, der Weg so lang nicht gewesen war), beschied mich knapp: »Ich sehe überhaupt keine Zusammenhänge. Gibt es auch nicht«, und fügte hinzu: »Das ist ein Zitat. Woher es kommt, wirst du selbst herausfinden müssen.« Hilfreich war das auch nicht gewesen.

Die beiden jungen Damen, die mich auf das Thema gebracht hatten, werfen mir heute vor, mich an ihre Generation »anschleimen« zu wollen, und machen mir wenig Hoffnung auf Zustimmung oder Absolution, und wenn ich »noch so kritisch wäre«. Zudem sei die Idee, mein Gewissen durch die Publikation eines gut verkäuflichen Buches zu entlasten, typisch für Leute wie mich.

Ein alter Freund spricht von »Verrat«, immerhin, denn die meisten wollen »davon nichts mehr hören«.

Einer von denen damals, der es zu einem Professor für Philosophie gebracht hatte, fand das alles sehr interessant, bevor er mir erklärte, Gartenzwerge in deutschen Vorgärten seien des Kleinbürgers Traum von einer eigenen Armee von Lohnabhängigen unter Tage, die er, der Kleinbürger, sich in der Realität nicht leisten könne. Deswegen stelle er sie als Gartenzwerge zwischen Petunien und Cotoneaster vor die Haustür. Bevor solche Träume nicht aufgearbeitet und gelöst seien, sei jede politische Praxis zum Scheitern verurteilt.

Auf meinen Vorschlag hin, die Gartenzwerge zu verbieten, bekam ich jenen kurzen Blick, der besagt: »Nichts begriffen!« Auch mein Professor war einst ein Revolutionär gewesen und wollte die Welt vom Kopf auf die Füße stellen.

Flüchtig besehen, haben meine unwilligen Gesprächspartner den Augenschein auf ihrer Seite. Die »Erbschaft unserer Zeit« liegt so prächtig vor uns wie vermutlich keine andere in der Geschichte der Menschheit, von der unserer unmittelbaren Vorfahren ganz zu schweigen.

Wir haben die weite Welt für jedermann zugänglich gemacht. Bei meinen Streifzügen als ARD-Korrespondent kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten kam ich in manch entlegenen Winkel – deutsche Rentner waren immer schon da gewesen. Wir Vierziger sind rüstig ins Alter gekommen. Wir verzehren im Durchschnitt eine auskömmliche Rente. Unsere Gesundheit bietet nur in Ausnahmen Anlass zu Sorge. Der technische Fortschritt, an dessen Entwicklung die Vierziger beteiligt waren, hat eine unendliche Anzahl neuer Produkte auf den Markt gebracht, die jedes Leben in vielfacher Weise bereichern können. Der Konsum im weitesten Sinn hat ein unerhörtes Niveau erreicht. Nahrungsmittel, die einst den Betuchten vorbehalten waren, finden sich heute auf dem Frühstückstisch jedes drittklassigen Hotels garni. Über die Jahre sind soziale Barrieren und Ungleichheiten, die ihre Ursachen in Traditionen und Vorurteilen hatten, abgebaut worden, die Gesellschaft ist blitzblank geputzt von überflüssigen Vorschriften. Vieles ist zwar der Dynamik des Marktes geschuldet, aber irgendjemand muss es in die Tat umgesetzt haben. Zudem sind neue Grundrechte, an die ehedem keiner dachte, wie die auf Abtreibung, Kindheit, Privatheit, Arbeitsplatz oder sexuelle und körperliche Identität, entdeckt und durchgesetzt worden. Sie ergänzen die klassischen Menschenrechte der Aufklärung auf Leben, Besitz und Freiheit.

Über sieben lange Jahrzehnte sind politische Katastrophen trotz der jüngst erworbenen Fähigkeit der Menschheit, sich im Handumdrehen auszulöschen, verhindert worden. Keine geringe Leistung, wenn man die Turbulenzen in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts bedenkt. Aus diesem Grund ist der Europäischen Union 2012 der Friedensnobelpreis verliehen worden. In der Begründung heißt es unter anderem: »Über siebzig Jahre hatten Deutschland und Frankreich drei Kriege ausgefochten. Heute ist Krieg zwischen Deutschland und Frankreich undenkbar. Das zeigt, wie historische Feinde durch gut ausgerichtete Anstrengungen und den Aufbau gegenseitigen Vertrauens enge Partner werden können.«

Auch die großen Verführungen der Vergangenheit, Faschismus und Kommunismus, scheinen bis auf Reste nach langen und verlustreichen Auseinandersetzungen erledigt.

Das ist eine Bilanz, die sich sehen lassen kann, und sie scheint durchaus den Vorstellungen des schottischen Historikers Robert Mackenzie zu entsprechen, der in der pathetischen Sprache des 19. Jahrhunderts festhielt: »Jede Generation übergibt der nachfolgenden die Schätze, die sie einst geerbt hatte, verändert und verbessert durch eigene Erfahrungen, Erfindungen und die Früchte der Siege, die sie errungen hat.«

Ein Jahrhundert vor ihm hatte sein berühmter Landsmann Edmund Burke beschwörend geschrieben: »Das menschliche Gemeinwesen ist eine Partnerschaft, zu der nicht nur die Lebenden, sondern ebenso die Verstorbenen und jene, die noch geboren werden, gehören.«

Wie glänzend die Gegenwart also auch gewesen sein mag, eine Generation wird an dem gemessen, was sie den Kindern und Enkeln hinterlassen hat. Die amüsante Twain’sche Einsicht über die Schwierigkeiten von Prognosen in Bezug auf die Zukunft hat viel von ihrem Witz verloren, denn wir wissen heute recht genau, was auf uns zukommen wird, und sind deshalb in der Lage, die Hinterlassenschaft der Vierziger auf Heller und Pfennig zu berechnen.

Die Vierziger – Schaubild einer Generation

Die »Vierziger« werden gemeinhin als Produkt jener Wochen und Monate beschrieben, in denen kurzfristig eine Revolution auf der Tagesordnung der Republik zu stehen schien. In den verwirrenden und unerhörten Ereignissen dieser Zeit, als rote Fahnen das Straßenbild westdeutscher Universitätsstädte beherrschten und Maos rote Bibel als Leitfaden für eine gelungene Zukunft herhielt, soll die Identität dieser Generation entstanden sein, welche die Vierziger seither mit einem unsichtbaren, nur ihr zugänglichen Band in Stil und Bewusstsein verbindet. Das gemeinsame Erlebnis, das jeder Identität zugrunde liegt, war demnach der heroische und selbstlose Kampf gegen das versteinerte Bewusstsein unserer Eltern und deren hoffnungslos veraltete Vorschriften und Moralvorstellungen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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