Einigt Euch! - Sven Kuntze - E-Book

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Sven Kuntze

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Beschreibung

Warum Kompromisse im Leben unverzichtbar sind

In unserer gesamten Entwicklungsgeschichte bis hin zur Demokratie, vom Liebesleben bis ins Kanzleramt ist der Kompromiss unser ständiger Begleiter: eine probate und unerlässliche Sozialtechnik seit Menschengedenken, wenn es darum geht, uns im Großen wie im Kleinen durch die Wogen des Lebens und unsere vielschichtigen Beziehungen zu navigieren. Gewohnt unterhaltsam und (lebens-)klug spürt Sven Kuntze in unterschiedlichen Annäherungen den mannigfaltigen Formen des Kompromisses nach – in Geschichte und Gegenwart, in der Gesellschaft und im Leben jedes Einzelnen – und zeigt, warum er unerlässlicher ist denn je.

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Zum Buch

In unserer gesamten Entwicklungsgeschichte bis hin zur Demokratie, vom Liebesleben bis ins Kanzleramt ist der Kompromiss unser ständiger Begleiter: eine probate und unerlässliche Sozialtechnik seit Menschengedenken, wenn es darum geht, uns im Großen wie im Kleinen durch die Wogen des Lebens und unsere vielschichtigen Beziehungen zu navigieren. Gewohnt unterhaltsam und (lebens-)klug spürt Sven Kuntze in unterschiedlichen Annäherungen den mannigfaltigen Formen des Kompromisses nach – in Geschichte und Gegenwart, in der Gesellschaft und im Leben jedes Einzelnen – und zeigt, warum er heute unerlässlicher ist denn je.

Zum Autor

Sven Kuntze studierte Soziologie, Psychologie und Geschichte an der Universität Tübingen. Er berichtete als TV-Reporter für den WDR aus Bonn, New York und Washington, moderierte ab 1993 das ARD Morgenmagazin und ging mit dem Regierungsumzug nach Berlin, wo er als Hauptstadtkorrespondent arbeitete. Seit 2007 ist Sven Kuntze im Ruhestand, aber immer noch als freier Journalist und Autor tätig. Sein Buch Altern wie ein Gentleman (2011 bei C. Bertelsmann) war ein SPIEGEL-Bestseller. Zuletzt erschien von ihm Alt sein wie ein Gentleman (2019).

www.cbertelsmann.de

SVEN KUNTZE

EINIGTEUCH!

Warum der Kompromiss kompromisslos ist

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Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Dataminings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2023 C. Bertelsmann

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Lektorat: Dr. Caroline Draeger, Hannover

Umschlaggestaltung: Favoritbuero, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-26286-0V001

www.cbertelsmann.de

Für meine geliebte Frau, die Kompromisse schätzt.

Wenn ich sie mache.

Inhalt

Vorbemerkung

Einleitung – Ein Blick zurück

1   Erste Annäherung

2   Der Kompromiss im sozialen Tumult – Ein Rundgang

3   Der Kompromiss im politischen Tumult – Eine Übersicht

4   Aus deutschen Landen

5   Neue Heimat für den Kompromiss

6   Sir Dahrendorf – Die Entdeckung der Streitkultur

7   Die 68er – Eine Ausschweifung

8   Vom Recht auf Diskursverzicht

9   Protagonist auf diplomatischer Bühne

10   Seit’ an Seit’ – Die Toleranz

11   Der Streit, die Mutter der Eintracht

12   Stürmische Zeiten – Der Kompromiss unter Beschuss

13   Die Alternativlosigkeit: Dienstmagd der Vereinfachung

14   Langmut und Gelassenheit

Nachwort – Auf zum letzten Gefecht!

Dank

Anmerkungen

Vorbemerkung

»Am Ende der Jahre kommen die Einsichten.«

Im Laufe einer langen, abwechslungsreichen Karriere als politischer Fernsehkorrespondent in Bonn, New York, Washington und schließlich Berlin, schloss die Bandbreite der Themen, über die ich fast drei Jahrzehnte lang berichtet hatte, nahezu alle Ressorts ein.

Zur Ruhe gekommen, fiel mir auf, dass meine Beiträge trotz ihrer Vielfalt in der Regel einen gemeinsamen Kern hatten, nämlich die Suche nach Kompromissen. Überrascht und neugierig geworden, wollte ich mehr über den Begleiter wissen, der mir über lange Jahre zwar stets zur Seite, aber unauffällig geblieben war.

Der Kompromiss weicht uns von der Wiege bis zur Bahre nicht von der Seite, fand ich bald heraus. Es geht nicht ohne ihn. Gleichwohl verstecken wir ihn. Er sei »das Graubrot des politischen Alltags«, lese ich. Im Gegensatz zur »Tat«, die häufig der strahlende Höhepunkt einer geschichtlichen, sozialen Entwicklung sei. Ohne ihn sei alles nichts, verknüpft ein anderer Autor den Kompromiss untrennbar mit dem Schicksal der Gattung. Und dennoch: Die Moderne, die ständig Themen jeder Couleur in die Öffentlichkeit bringt, ist beim Kompromiss von unerklärlicher Zurückhaltung. Woher kommt diese Scheu?

Aus einer überraschenden Entdeckung und nachfolgender Neugierde ist ein Buch geworden. In den folgenden Kapiteln werde ich versuchen, dem rätselhaft Scheuen im weitesten Sinne Gestalt zu verleihen, in der Überzeugung, dass er heute und in unmittelbarer Zukunft notwendiger sein wird als je zuvor.

Sven Kuntze

Berlin, im August 2023

Einleitung – Ein Blick zurück

»… und jede gibt und nimmt zugleich und alles strömt und alles ruht.«

Conrad Ferdinand Meyer

Er war von Beginn an dabei. Lange bevor die Menschheit in der Lage war, Pfeilspitzen zu schnitzen, Bogensehnen zu spannen oder die Wände ihrer Höhlen mit Zeichnungen zu schmücken, haben sich die frühen Menschen im Schein einer weiteren Kulturleistung, dem gezähmten Feuer, niedergelassen und Kompromisse ausgehandelt. Im Gegensatz zum Feuer musste der Kompromiss zu diesem Zweck nicht eigens entdeckt werden. Techniken seiner Durchführung im Laufe der Zeit wohl, ansonsten war er einfach da. Ohne ihn war die Welt nicht zu haben.

Wo Menschen zusammenleben, ist Gewalt nie fern. Jede Gemeinschaft steht daher unaufhörlich vor der Aufgabe, diese zu zähmen und in geordnete Bahnen zu lenken. Das Mittel der Wahl ist der Kompromiss. Ethnologen haben in allen Stammesgesellschaften dichte, verbindliche Netze aus Sozialfertigkeiten entdeckt, um Differenzen durch Kompromisse Herr zu werden.

Kompromisse sind von Beginn an anspruchsvolles, soziales Handwerkzeug gewesen. Ihre sorgfältige Pflege und Weitergabe zählt zu den wichtigsten Pflichten jeder Generation und zieht sich als roter Faden durch die Menschheitsgeschichte.

Als Bereitschaft zur friedfertigen Übereinkunft wirkt der Kompromiss häufig als ruhige Hand im täglichen Tumult und ist in der Lage, die besten Eigenschaften des Menschen – Mitgefühl und Großmut – hervorzurufen. Ebenso die schlechtesten: Rachsucht und Missgunst. Unermüdlich hat er sich durch die Zeiten auf den Stufen der Gesellungsformen nach oben gearbeitet: aus dem Dunstkreis der Familie über den Clan hin zum Stamm und Staat. Schließlich wurde 1945 mit der Gründung der Vereinten Nationen versucht, den Kompromiss als verbindliches Prinzip zur Lösung von Konflikten zwischen allen Staaten einzuführen. Seither gelten zwischen den Mitgliedern der UN das »Gewaltverbot« und das Gebot, »internationale Streitigkeiten durch friedliche Mittel beizulegen«. Der Kompromiss wird zwar in der Charta der UN nicht eigens erwähnt, ist aber seither in der Logik politischer Auseinandersetzungen das Mittel der Wahl, um Konflikte beizulegen. Denn wer auf Gewalt verzichten muss, um seine Ansprüche durchzusetzen, wird auf den Kompromiss angewiesen sein.

Kurz: Die Vereinten Nationen versuchten 1945, die stets drohende Gewaltbereitschaft zwischen Staaten durch den Kompromiss zu ersetzen. Er sollte von nun an den konfliktreichen Verkehr zwischen Nationen regeln.

Auf allen sozialen Ebenen, von persönlichen Beziehungen über Vereine und Nachbarschaften bis hin zum politischen Nahbereich, würde es weiterhin beim Handgemenge alter Machart bleiben können. Der Mensch wünscht sich zwar Friedfertigkeit, hält sie aber offensichtlich nicht endlos aus. Es scheint etwas in ihm zu sein, das ihn zu Zank und Hader treibt.

Mag sein, der Kompromiss war zumindest den Frauen als natürliche Beigabe in die Wiege gelegt worden. Erhard Valentin Jakob Sprengel war 1798,[1] als die Aufklärung bereits zahlreiche einst unverrückbare Gewissheiten entsorgt hatte, überzeugt: »Man kann sicher sein, dass die Welt längst zur großen menschenleeren Wüste geworden sei, wenn bloß Männer daraufgesetzt worden wären.« Als geheimer preußischer Kriegsrat am Hofe in Potsdam wird er gewusst haben, wovon er sprach. Gewiss war ihm das frühe Wetterleuchten der Romantik nicht entgangen, die sich damals anschickte, das »Weibliche als Psyche in der Kultur« zu entdecken, was die Chance bot, der männlichen Rauflust den Kompromiss als unentbehrliche Kulturleistung entgegenzusetzen.

Lohnt sich indes die Beschäftigung mit einem sozialen Phänomen, das den Menschen seit jeher treu zur Seite gestanden hat und trotzdem durch alle Zeiten der ungeliebte Außenseiter geblieben ist? »Unbedingt«, ist sich Eva Menasse, Autorin eleganter »Gedankenspiele über den Kompromiss«[2], sicher und fügt hinzu: »Das Zeitalter, in dem unsere Kompromissfähigkeit geprüft wird, ist auf Leben und Tod gerade erst angebrochen.« Das klingt bedrohlich, und so ist es auch gemeint. Eine Menschheit, die alle Mittel zur Selbstvernichtung zur Hand hat und sich Entwicklungen gegenübersieht, die ihre Lebensgrundlagen bedrohen, ist, wie keine je vor ihr, auf den Kompromiss als Sozialtechnik angewiesen. Unsere Befähigung zum Kompromiss ist – wie schon zu Beginn unserer langen Geschichte – zur Voraussetzung für unsere zukünftige Anwesenheit auf dem Planeten geworden. Entweder wir stellen die nächsten Dekaden unter sein Primat und akzeptieren allseitig die Opfer, die er notwendig fordern wird, oder wir verlieren die Handlungshoheit über unsere Zukunft.

1   Erste Annäherung

»Ein Kompromiss ist dann vollkommen, wenn alle unzufrieden sind.«

Aristide Briand

Im Marschgepäck unserer frühen Vorfahren befand sich nicht nur der Kompromiss, sondern auch das Talent zur Empathie, eine wesentliche Voraussetzung für die Befähigung zum Kompromiss, wie sich zeigen wird.

Wo aber sind die nützlichen Begabungen zu verorten? Wir entdecken sie in der Geselligkeit. Allein ist der Mensch zu schwach, und einsam hält er sich nicht aus. Die Befähigung zur Gemeinschaft ist das kostbarste Geschenk der Evolution an den Homo sapiens, wie das tragische Schicksal des Neandertalers bezeugt. Der war zwar klüger und stärker als die Migranten, die vor 50 000 Jahren aus Afrika nach Europa zugewandert waren. Ihm fehlte jedoch, im Gegensatz zu seinem Konkurrenten, die Bereitschaft zum Miteinander. Der Neandertaler blieb Einzelgänger, und diese sind »zum Niedergang verurteilt«, wie Charles Darwin später erkannte.

Für beide frühen Menschenformen, Homo sapiens wie Neandertaler, gab es noch einiges zu lernen, um sich gegen eine feindliche Natur zu behaupten. Wer jedoch gemeinsam lernt und an den Erfahrungen anderer teilhaben darf, begreift schneller und mehr. Der Homo sapiens wurde dadurch nicht stärker und intelligenter, aber er war besser gerüstet, die letzte Eiszeit, die vor etwa hunderttausend Jahren begann, in geselliger Gemeinschaft zu überleben, während der Neandertaler in seinen kalten Höhlen einsam das Zeitliche segnete.

Der deutsche Philosoph und Soziologe Georg Simmel hielt den Kompromiss für »eine der größten Erfindungen der Menschheit« und vermutete, dass dieser eine »lange historische Entwicklung zur Voraussetzung hatte«. Ich dagegen bin überzeugt, dass er vom ersten Augenblick der Menschwerdung zur Stelle war – so wie die Luft zum Atmen und die Libido zur Fortpflanzung. Ohne ihn wäre Homo sapiens nicht sehr weit gekommen, denn der Kompromiss hielt ihm viele der Bedrohungen, die nicht lange auf sich warten ließen, vom Leib. Sein gefährlichster Feind war unmittelbar er selbst. Im Gegensatz zu allen anderen Lebewesen war er imstande, sich auszurotten, wäre ihm der Kompromiss nicht immer wieder in den Arm gefallen.

Von der ersten Stunde an war die Not eine ständige Begleiterin der Neuankömmlinge in den weiten Savannen Ostafrikas. Es fehlte täglich an allem: Wildbret, Holz und Früchten des Feldes. Kompromisse im Vollzug gemeinsamer Praxis waren die Voraussetzung für das Überleben bei stets bedrohlich knappen Mitteln in einer feindlich gesinnten Umwelt.

Wir dürfen vermuten, dass die frühen Menschen sich freizügig an ihrer Umwelt bedienten und jeder gleichen Zugang zu den Ressourcen hatte. Niemand indes misst einer Allmende, einem Gut, das allen zur freien Verfügung steht, einen Wert bei. Im Gegenteil, durch Verschwendung und Achtlosigkeit kann Gemeindeeigentum die »Ursache allen Übels« sein, fasst der amerikanische Ökologe Garrett Hardin eine lebenslange Beschäftigung mit dem Thema zusammen. Und der kanadische Ökonom Scott Gordon ergänzt den Gedanken: »Weil jeder, der so tollkühn ist zu warten, bis er an die Reihe kommt, schließlich feststellen muss, dass andere seinen Teil bereits weggenommen haben.« Unter dieser Voraussetzung drohen Vorräte rasch zur Neige zu gehen. Ohne den Kompromiss als geeignetem Werkzeug, die gefährliche Selbstbedienung einzuhegen, wären unsere Vorfahren unversehens in eine überlebensbedrohliche Situation geraten und hätten die Allmende der frühen Tage kaum überstanden.

Seither gehört der Kompromiss zu uns wie der Sonnenaufgang zum Tagesanfang. Über die Zeiten wurden zahlreiche, verbindliche Regeln entwickelt und diese beständig verfeinert. Homo sapiens lernte, auf soziale Entwicklungen zu reagieren und sich geschmeidig kulturellen Eigenarten anzupassen. Bis der Kompromiss schließlich zum »Anfang aller kultivierten Wirtschaft und des höheren Güterverkehrs« wurde, wie Simmel beeindruckt notiert.

Freilich, die Geschichte lässt ihre Mitarbeiter selten allein ziehen und ungestört ihren Bestimmungen nachgehen, sondern stellt ihnen in der Regel einen Widerpart als Korrektiv zur Seite. Die »zwei Seelen in einer Brust« sind die Ursache jener Zwiespältigkeit, die dem Menschen im Gegensatz zu allen anderen Lebewesen eigen ist: Liebe und Hass, Jubel und Verzweiflung, Fleiß und Faulheit. Die Spannungen und Gefahren, die aus diesen Gegensätzen entstehen, sind die Ursache der unerschöpflichen Vielfalt und Dynamik menschlichen Handelns. Ohne sie hätte es ein baldiges Ende mit dem Zuzug aus Ostafrika genommen. Der Homo sapiens hat jedoch überlebt – und mehr als das.

Gegenspielerin zum Kompromiss sollte die »Tat« werden, die entschlossene Entscheidung zu handeln. Ihr ist eigen, was ihm fehlt: Tempo, Mumm und Kühnheit.

Ihren wohl nachhaltigsten Auftritt hatte die Tat im Jahre 333 vor Christi Geburt, als Alexander der Große den gordischen Knoten kurzerhand mit dem Schwert durchschlug, um sich anschließend siegreich auf den Weg nach Persien zu machen. Die Botschaft war unmissverständlich: Entschlossenheit lohnt, Fäden entknoten indes weniger.

Seitdem hat die Tat den fabelhaften Ruf, vertrackte Probleme schnell und ohne Federlesen zu lösen. Während der Kompromiss sich seinen beschwerlichen Weg durch das Gestrüpp von Fakten und feindseligen Interessen sucht, ist der Tat der verführerische Elan des Augenblicks zu eigen. Sie erspart dem Publikum die Zumutungen der Vielfalt und beschränkt diese auf die Wahl zwischen zwei Alternativen. Entweder man zieht das Schwert, oder man lässt es in der Scheide.

Zudem fehlt dem Kompromiss jene Zutat, die dem entschlossenen Zugriff Glanz verleiht: die Leidenschaft. Man mag einen Kompromiss »leidenschaftlich« herbeisehnen, er bleibt trotzdem die trockene Krume im Brotkorb der Entscheidungen. Er zielt seiner Natur nach auf Verlässlichkeit und Ausgleich. Tatkraft dagegen ernährt sich von Umtrieb und Gefahren.

Ist ein mutiger Streich indes erfolglos oder verlustreich gewesen, erinnert man sich gerne des glanzlosen Gegensatzes und fordert den Kompromiss auf, den Abraum des Tatendrangs wieder beiseitezuräumen. Jetzt wird er für begrenzte Zeit auf die Bühne gebeten und darf seine Beständigkeit und Robustheit beweisen, um sich nach erledigter Arbeit wieder in den Hintergrund zurückzuziehen. Sein Metier, die tägliche Arbeit am Überleben, dient Historikern selten als Stoff, der Bibliotheken füllt, und taugt ebenso wenig als Vorlage für Mythen oder Märchen vom glücklichen Ausgang einer Geschichte.

Eine ergiebige Quelle für den sozialen Status eines Begriffs und seiner Bedeutung für den Alltag ist der Volksmund mit seinen über lange Zeit angesammelten und bewährten Verdichtungen komplexer Sachverhalte. Wer dem »Volk aufs Maul« schaut, findet dort zuweilen mehr Weisheit, als »ein Philosoph in einem ganzen Leben zustande bringt«. Da der Kompromiss weltweit verbreitet ist, dürfen wir vermuten, dass der Volksmund sich seiner unzählige Male angenommen hat. Aber das Volk, häufig von anregender Geschwätzigkeit, verhält sich verdächtig still zum Thema. Man muss sich weit umschauen, um passgenauen Weitblick und kluge Einlassungen zu entdecken.

»Spinnen und Fliegen können keine Kompromisse schließen«, heißt es in Jamaika. Die pragmatischen Briten sind überzeugt: »Der Kompromiss ist stets nur ein vorläufiger Erfolg«, während ein altes deutsches Sprichwort fordert: »Laß dich in keinen Kompromiss, du verlierst die Sach’, das ist gewiss!« Aus der Feder weltläufiger Zeitgenossen stammen ähnliche Ansichten: Ein Kompromiss sei »zwei Niederlagen auf einmal«, behauptet der Würzburger Stadtphilosoph Elmar Kupke. Weiter östlich in Moskau bemerkt Fjodor Dostojewski streng: »Gehen Sie geraden Weges ohne Kompromisse durch Ihr Leben.« Ein Vorschlag, der, würde er befolgt, geradewegs ins Verderben führen muss. Das ist, weltweit gesehen, eine klägliche Ausbeute an Einwürfen zu einem Thema, das unverzichtbarer Bestandteil jeder Form von Gesellung ist.

Unter denjenigen, die als Politiker oder Interessensvertreter beruflich über den Kompromiss nachdenken, hat er häufig schlechten Leumund. Er wird nicht als Sieger über verworrene Umstände, sondern in unmittelbarem Zusammenhang mit Niederlagen und Hasenfüßen betrachtet. Eine der wichtigsten kollektiven Sozialtechniken erfreut sich unverkennbar geringer Wertschätzung. Wir werden noch sehen, was das für unsere Gegenwart und Zukunft bedeutet.

Man möchte nach den vorausgegangenen Bemerkungen vermuten, dass der allgegenwärtige Kompromiss als Objekt beruflicher Neugierde auf der Themenliste der Sozialwissenschaften an vorderster Stelle steht. Tut er aber nicht! Im Gegenteil, er spielt als Begriff und Bestandteil von Theorien oder Spezialgebieten kaum eine Rolle. Recht besehen, kommt er in den Veröffentlichungen oder laufenden Forschungsprojekten kaum vor. Er sei in der »Literatur stiefmütterlich behandelt«[3] worden, gesteht Veronique Zanetti ein, die an der Universität Bielefeld Philosophie lehrt. Wissenschaftliche Einzeluntersuchungen liegen denn auch – bis auf eine Handvoll älterer, die zudem wenig hilfreich sind – kaum vor.

Zwei schmale Texte zum Thema sind jüngst erschienen. Sie werden schwerlich Spuren hinterlassen. Das erleichterte mir zwar die Arbeit, weil ich die trockene Luft von öffentlichen Bibliotheken meiden durfte, ließ mich jedoch befürchten, ein brotloses Thema gewählt zu haben. Ein zweiter und dem folgend dritter Blick bezeugten indes, wie ergiebig das Sujet sein kann, wenn man es kompromisslos angeht.

Trotzdem meiden die Sozialwissenschaften den Kompromiss wie den verarmten Vetter vom Land. Sie verweigern ihm den Zutritt zu den Seminaren und damit zu den Futtertrögen der Forschungsprojekte. Er lohnt nicht, so scheint man zu befürchten, die zeitaufwendige Mühe einer näheren Beschäftigung. Die aktuellen Gesellschaftstheorien konzentrieren sich auf Begriffe und Megatrends wie »Komplexitätsreduktion«, »Singularität« oder »Unübersichtlichkeit«, »Melancholie« nicht zu vergessen. Das sind prächtige Gesellen mit deren Hilfe sich vom Bestseller bis zur akademischen Karriere einiges bewirken lässt – mit einer Ausnahme vielleicht: So gewinnt man trotz ihrer dröhnenden Bedeutsamkeit wenig Einsichten in die Wirkweise unserer Gegenwart.

Mit dem »Strukturwandel der Öffentlichkeit«[4] von Jürgen Habermas wird die Sprache zudem unzugänglicher. Sie zieht sich aus dem Diskurs mit einem interessierten Laienpublikum zurück und wird in einem eigenen, hochartifiziellen »Jargon der Teilhabe« zu einer Wissenschaft für Fachleute.

Wer sich mit dem Kompromiss beschäftigt, betreibt keine Hochglanzsoziologie für internationale Tagungen, sondern »Dirt Sociology«, also schmutziges Handwerk. Denn dem Kompromiss ist unvermeidlich der Beigeschmack der Niederlage und der Preisgabe eigen. Wer sich ihm nähert, wird nicht umhinkönnen, sich mit den Untiefen menschlichen Verhaltens zu beschäftigen. Er wird sich dort umschauen müssen, wo Getümmel die Regel ist und soziale Konventionen ihre Bindekraft verlieren. Kurz: Er gerät in gefahrvolles Handgemenge mit der täglichen Anarchie, die noch keine Sozialwissenschaft je zu bändigen gewusst hat.

Es gibt im Umfeld des Kompromisses zu viel von allem: ungezählte Bedürfnisse, freie, ungebundene Leidenschaften, die Lust am Fehlschlag ebenso wie die Verlockungen der Macht. Hinzu kommen spontane Einsichten, die jeder von uns ohne Unterlass in das soziale Gewühl einbringt. Und schließlich das unübersehbare Arsenal von Befindlichkeiten wie Rechthaberei und Unduldsamkeit oder deren Gegenteile Besonnenheit und Weitsicht, die zwangsläufig in allen sozialen Verkehrsform eine entscheidende Rolle spielen.

Die unübersehbare Vielfalt von Faktoren erschwert die Suche nach eindeutigen Ursachen und sauberen Begriffen, trotzdem lohnt der Blick auf den Kompromiss, denn ohne ihn wäre alles nichts, zumindest keine menschliche Gemeinschaft.

Erstes Indiz seiner Unzugänglichkeit ist die große Zahl an Verben ähnlicher Bedeutung, die er um sich versammelt hat: verständigen, versöhnen, bereinigen, einigen, vereinbaren, übereinkommen, handelseinig werden, aushandeln, vergleichen, um nur einige wenige zu nennen. Jeder dieser Vorgänge kann einen Kompromiss zum Ziel haben. Und jeder erreicht dieses Ziel unter eigenen Voraussetzungen und Regeln. Was zu Beginn überschaubar erschien, wird im Handumdrehen vielschichtig und rätselhaft. Wer sich mit dem Kompromiss beschäftigt, hat schnell die ganze Gesellschaft am Hals.

Man bekommt es zwangsläufig mit allem zu tun, von internationalen Beziehungen über Lohnstreiks bis hin zum Ehekrach. »Die Gesellschaft als Ganzes entzieht sich dem Zugriff«, erklärt der Soziologe Armin Nassehi knapp. Den Gedanken hat er nicht als Erster. Im ersten Brief an die Korinther (13,9) heißt es: Denn »unser Wissen ist Stückwerk«.

Auch den deutschen Romantikern war das undurchdringliche Dickicht menschlicher Verhaltensweisen aufgefallen. Sie wählten deshalb das »Fragment« als die dem Gegenstand angemessene Darstellungsform, um den »Geist herauszufordern, Dinge anzustoßen und Ideen anzureißen. Es hat wohl Anfang, hat ein Ende. Allein ein Ganzes ist es nicht«, begründet Goethe das Fragmentarische.

Zwanzig Jahrhunderte nach dem Brief an die Korinther ist man immer noch nicht sehr viel weiter, wie Marcel Proust bekümmert feststellt. »Wir besitzen von der Welt nur formlose fragmentarische Vorstellungen, die wir durch willkürliche Ideenassoziationen vervollständigen.«[5] Susan Sonntag, New Yorker Stilikone, hatte schließlich ein Einsehen und forderte resolut: »Das Fragment scheint die angemessene Kunstform unserer Zeit zu sein.«

Ihr will ich mich gerne anschließen und nicht der Versuchung erliegen, den Kompromiss im Sinne positiver Wissenschaft einzukreisen. Stattdessen beschränke ich mich auf eine lockere Abfolge von Einwürfen unterschiedlicher Länge zum Thema. Wir bewegen uns gemeinsam querfeldein und denken nach Art der Phänomenologie munter drauflos. Was vor uns gedacht wurde, sammeln wir neugierig auf und fügen es – bedenkenlos – in unseren Text ein. Freilich, wir tun das nach Art der Freibeuter, ohne, von wenigen, verdienstvollen Ausnahmen abgesehen, Herkunftsort und ursprünglichen Besitzer des Raubgutes zu benennen. Die dürfen dafür bei mir naschen, und am Ende gleicht sich’s hoffentlich aus. Zudem signalisiert diese Form der Piraterie, recht besehen, stets Wertschätzung und Respekt für die Arbeit des oder der Beraubten. Qualität wird berücksichtigt. Das Unkraut bleibt am Wegrand zurück.

Dieser Umgang mit vorliegenden Texten aus fremden Federn scheint sich inzwischen in der sozialwissenschaftlichen Literatur eingebürgert zu haben, wie der Herausgeber des American Sociologist Andrew Abbott in einer empirischen Untersuchung zum Publikationsverhalten des wissenschaftlichen Nachwuchses herausgefunden hat. Demnach sind die sorgfältigen Listen der Belesenheit eines Autors ebenso aus der Mode gekommen wie zeilenintensive Anmerkungen, stattdessen wird ein flüssiger Stil gepflegt, der sich eher an schöngeistiger Literatur als an der trockenen Schreibweise wissenschaftlicher Abhandlungen orientiert. So soll es auch hier zugehen.

Bücher werden entweder geschrieben, um studiert, oder, um gelesen zu werden. Die folgenden Seiten sind hoffentlich vor allem zum Lesen geeignet.

2   Der Kompromiss im sozialen Tumult – Ein Rundgang

»Wer sagt denn, dass die Welt entdeckt ist?«

Peter Handke

Wir hätten »bemerkenswerte Fortschritte bei der Enträtselung des Universums gemacht«, liest man. Dasselbe wird man von den Wundern und Geheimnissen des zwischenmenschlichen Getümmels nicht behaupten wollen. Es ist so rätselhaft als »wie am ersten Tag«. Nirgends geht es unerklärlicher zu als in der geselligen Welt. Wir kommen dort mit unseren Einsichten – wenn überhaupt – nur in winzigen Schritten voran. Die Weiten des Weltraums sind einfache Mechanik im Vergleich zu den sozialen Universen der Menschen, die wir zudem, seit der Erfindung des Bewusstseins, mit jedem Blick und jedem Gedanken neu erschaffen können. Vermutlich soll uns die Entschlüsselung der gesellschaftlichen Betriebssysteme aus gutem Grund rätselhaft bleiben, und wir werden, wie die Hühner im Hinterhof, für immer an der Oberfläche kratzen müssen. Andernfalls käme das gemeinschaftliche Leben zum Erliegen. Denn dessen unbezähmbare Vitalität hat ihre Ursachen – neben anderen – in unserer Ahnungslosigkeit gegenüber den nächsten Ereignissen.

Wir bleiben notwendig Laien im Geschäft menschlicher Verhaltensweisen. Wir waren uns »auf Jahrtausende unbegreiflich« und werden uns weiterhin vergeblich am »komplexesten aller Gegenstände« abarbeiten. Da wir selbst »Zweck und Ziel« unserer Neugierde sind, führt jede neue Erkenntnis zu Veränderungen, die ihrerseits erkannt werden wollen. Das findet kein Ende – und wir endgültig keinen sicheren Boden.

Die Zukunft – und um die geht es bei den folgenden Bemühungen – bleibt uns als Objekt verlässlicher Erkenntnisse mit wenigen Ausnahmen verschlossen und belässt die Menschheit für immer in Abhängigkeit von dem mächtigsten Gebieter über unser Schicksal, dem Zufall, dem Gott der Neuzeit.

Den Autoren des Alten Testaments war diese tatkräftige Hilflosigkeit im Angesicht der Zukunft sehr bewusst. Im Römerbrief heißt es: Wie »unergründlich sind Gottes Gerichte und unaufspürbar seine Wege«. Eine Gewissheit indes hat der Gläubige. Er weiß den Weltenlauf zwar sicher in den Händen seines Gottes aufgehoben. Trotzdem hat auch er keine Ahnung, wohin die Reise gehen wird.

Wir erreichen im besten Fall einen niedrigen Prozentsatz auf der vierten Stelle hinter dem Komma der für uns wichtigen Erkenntnisse. Nicht eben viel. Aber die tägliche Lebenspraxis bezeugt: Es reicht fürs Überleben. Mehr wird nicht sein! Mehr muss auch nicht sein. Wir sind trotz unzureichender, oft mangelhafter Daten und Erkenntnisse in der Lage, unzählige, brauchbare Entscheidungen zu treffen, für die wir nur in seltener Ausnahme verlässliche Informationen haben.

Das Wunder des menschlichen Zusammenlebens beruht augenscheinlich nicht auf der Anzahl von Einsichten und Informationen, die uns zur Verfügung stehen, sondern im Gegenteil auf deren Mangel. Die »heilige Einfalt« lässt uns handeln, während die Vielfalt häufig stört.

Im Mittelpunkt der täglichen Betriebsamkeit und deren Tatendrang steht und wirkt, neben zahlreichen anderen sozialen Verhaltensweisen unaufhörlich der Kompromiss. Jeder einzelne von ihnen würde, als Objekt wissenschaftlicher Neugierde bis in die letzten Zusammenhänge und Kausalitäten verfolgt, ein Forscherleben in Anspruch nehmen.

Wie die meisten sozialen Tatsachen von Gewicht ist er von einfacher Machart. Auf den ersten Blick haben wir es mit einem robusten Burschen zu tun, für den, ebenso wie für eine Vielzahl anderer sozialer Phänomene, das Nahblickparadox gilt: »Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück«, bemerkt Karl Kraus.

Man möchte vermuten, je ausführlicher man sich mit einer Sache beschäftigt, desto genauer wird die Einsicht in deren Natur. In der Regel gilt das Gegenteil. Mit zunehmender Annäherung an einen Gegenstand geht der Überblick verloren und damit häufig auch der Durchblick, bis er sich völlig in Unverständnis auflöst.