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In einer Welt, in der Erinnerungen manipuliert und Identitäten fragmentiert wurden, erwachen einzelne Menschen mit dem Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Helena, Karim, Liora und andere, scheinbar Fremde, folgen einer inneren Spur – einer Erinnerung, die nie ganz gelöscht wurde. Auf allen Kontinenten entdecken sie mysteriöse Punkte: Orte voller Geschichte, Energie und Wahrheit. Was als persönliche Suche beginnt, wird zu einer kollektiven Bewegung – gegen ein unsichtbares Netz aus Kontrolle und Vergessen. Mit jeder aktivierten Erinnerung wächst eine neue Verbindung zwischen den Menschen. Doch je mehr Fragmente sich verbinden, desto stärker schlägt das alte System zurück. „Die Schatten der Anderen“ ist ein spannender, emotionaler Roman über Identität, Erinnerung und die Kraft der Menschlichkeit in einer digitalen Welt.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24 – Der letzte Knoten
Impressum
Kapitel 1: Das Haus
Der Regen fiel wie in Fäden, dicht und gleichmäßig, als Helena das erste Mal vor dem Haus in der Lindenstraße 46 stand. Ein dunkles, schmales Gebäude mit verwitterter Fassade, einem Türbogen aus Stein und bleiverglasten Fenstern, die aussahen, als hätten sie nie Sonne gesehen. Es war nichts Besonderes. Und genau das war es, was sie gesucht hatte.
Ein Ort, an dem niemand Fragen stellte.
Mit zitternden Fingern schob sie den Schlüssel ins Schloss. Ein dumpfer Klick. Die Tür öffnete sich schwerfällig, als hätte sie sich lange dagegen gewehrt, bewegt zu werden. Der Flur roch nach altem Holz, Staub und etwas anderem, undefinierbarem – wie feuchte Erde oder vergilbte Fotos.
„Willkommen zu Hause“, flüsterte sie in die Dunkelheit und trat ein.
Die Wohnung im dritten Stock war leer. Kein Möbelstück, kein Vorhang. Nur ein einzelner, rostiger Haken an der Wand im Schlafzimmer und ein zerbrochener Spiegel im Bad, der in der Ecke lag, als hätte jemand ihn mit Wucht heruntergeschlagen. Sie hatte nicht viel mitgebracht. Drei Kartons, ein Koffer, eine Thermoskanne mit schwarzem Tee und ein eingerahmtes Foto: Lukas, ihr Sohn, mit Zahnlücke und Schokoflecken im Gesicht. Daneben ihr Mann, Thomas, mit müdem Lächeln.
Zwei Monate war es her. Der Unfall. Der Aufprall. Die Sirenen. Das Krankenhaus. Die Leere.
Helena hatte nicht geschrien. Nicht geweint. Sie hatte einfach funktioniert. Bis jetzt.
Sie stellte das Bild auf das Fensterbrett. Hier beginnt ein neues Kapitel, sagte sie sich. Neue Umgebung, neue Namen auf den Klingelschildern, neue Geräusche in der Nacht. Alles besser als das Haus, in dem noch die Stimmen ihrer Familie durch die Wände hallten.
Am Abend hatte sie es sich auf der Matratze im Wohnzimmer bequem gemacht. Nur eine Stehlampe leuchtete. Draußen heulte der Wind, und irgendwo schlug ein Fenster. Das Haus schien zu atmen – knarrte, seufzte, knackte in den Wänden. Alte Häuser tun das, sagte sie sich.
Doch als sie gegen Mitternacht aufwachte, war es nicht das Knarren, das sie gestört hatte.
Es war eine Stimme.
Ganz leise. Fast wie ein Flüstern.
Sie hielt den Atem an. Lauschte.
Stille.
Dann wieder – ein Kratzen. Nein, ein Wispern. Es kam aus der Wand.
„Hallo?“, rief sie. Ihre Stimme klang brüchig, fremd.
Nichts.
Vielleicht das Nachbarzimmer? Vielleicht der Fernseher?
Sie legte sich wieder hin. Schob das Geräusch in die Schublade „Eingebildet“.
Doch in der Wand hinter ihr pochte es. Einmal. Zweimal.
Dann war wieder Ruhe.
Morgens, im Hausflur, begegnete sie zum ersten Mal den Nachbarn. Eine alte Dame im zweiten Stock, Frau Rüther, mit pelziger Stimme und einer Katze im Arm. Sie trug einen Morgenmantel mit Rosenmuster und musterte Helena von Kopf bis Fuß.
„Neu hier?“, fragte sie, ohne Lächeln.
„Ja. Helena Sommer.“
„Hm. Die Wohnung oben stand lang leer. Hat niemand gehalten. Kommen und gehen – so ist das. Wollen Sie Tee?“
Helena schüttelte den Kopf. „Danke, vielleicht ein andermal.“
„Wie Sie wollen.“ Frau Rüther drehte sich um. Die Katze starrte Helena an, als hätte sie etwas erkannt.
Im Erdgeschoss hörte sie Kinderlachen. Doch sie hatte keine Kinder gesehen.
Am zweiten Abend schloss sie alle Fenster, schaltete das Radio an. Der Regen war stärker geworden. Und wieder – in der Nacht – das Geräusch.
Diesmal war es nicht nur ein Wispern. Es war eine Stimme, die ihren Namen sagte.
Ganz klar.
„Helena.“
Sie fuhr hoch. Kalter Schweiß auf der Stirn.
„Wer ist da?!“
Keine Antwort.
Sie riss die Tür zum Flur auf. Dunkelheit. Leere.
Nur die Stehlampe im Wohnzimmer glomm matt.
Dann fiel ihr Blick auf den Spiegel im Bad. Der zerbrochene.
Er war aufgerichtet. Unberührt. Nicht mehr zersplittert.
Helena trat näher. Ihr Spiegelbild sah sie an – und lächelte.
Doch sie selbst lächelte nicht.
Kapitel 2: Die Stimmen
Der dritte Morgen begann grau. Der Regen hatte aufgehört, doch eine schwere, bleigraue Decke lag über der Stadt. Helena stand am Fenster und sah hinab auf den Innenhof. Ein kleiner, umzäunter Platz, mit vermoosten Pflastersteinen, einem alten Fahrrad und einem leeren Sandkasten. Nichts rührte sich.
Sie fror, obwohl die Heizung lief. Seit der letzten Nacht hatte sich etwas verändert. Die Stimme – ihr Name – hallte noch in ihr nach. Es war nicht wie ein Traum gewesen. Es war real. Zu klar, zu deutlich.
Und der Spiegel?
Sie ging ins Bad. Der Spiegel war wieder zerbrochen. Die Scherben lagen am Boden wie am ersten Tag.
Helena atmete flach. Vielleicht hatte sie das Bild aus der Nacht nur geträumt. Vielleicht war sie tatsächlich dabei, den Verstand zu verlieren. Sie war Psychologin – ehemalige –, sie kannte Symptome. Halluzinationen. Schlafparalyse. Posttraumatische Reaktionen.
Aber dieses Gefühl… es war mehr.
Sie beschloss, das Haus besser kennenzulernen. Vielleicht half ihr das, sich zu erden.
Im Treppenhaus roch es nach Bohnerwachs. Der Boden glänzte unnatürlich. Auf halber Höhe kam ihr ein junger Mann entgegen – groß, kantiges Gesicht, mit Kopfhörern im Ohr. Er nickte kurz, blieb aber nicht stehen.
„Hallo“, sagte Helena.
Er nahm einen der Stöpsel aus dem Ohr. „Hi. Neue Nachbarin?“
„Ja. Helena Sommer. Dritter Stock.“
„Marc. Erster. Willkommen im Wahnsinn.“
„Wie bitte?“
Er grinste. „War nur ein Witz. Das Haus ist alt. Und seltsam. Wenn du Geräusche hörst, gewöhn dich besser dran.“
„Ich habe letzte Nacht meinen Namen gehört.“
Marc runzelte die Stirn. „Tja. Dann bist du angekommen.“
Bevor sie weiter fragen konnte, setzte er den Kopfhörer wieder ein und ging.
Im Hausflur hing ein schwarzes Brett. Ein paar vergilbte Zettel: ein längst vergangener Hausputzplan, ein Angebot für Klavierunterricht, ein Foto eines vermissten Katers – Loki, seit März 2022 vermisst. Helena sah sich das Tier genauer an. Schwarzes Fell, ein weißer Fleck auf der Stirn. Es sah aus wie die Katze von Frau Rüther.
Seltsam.
Sie ging in den Keller.
Die Tür war nicht abgeschlossen, aber schwergängig. Der Gang war dunkel, nur eine einzige nackte Glühbirne flackerte. Der Boden war feucht, der Putz bröckelte. Links und rechts standen die Kellerverschläge der Bewohner – vergittert, mit Vorhängeschlössern.
Ein Verschlag war nicht abgeschlossen.
Helena sah sich um, trat näher.
Innen standen alte Möbel, ein Kinderwagen, ein Koffer. Auf dem Koffer klebte ein Etikett: „Sommer, H.“
Ihr Atem stockte.
Das war nicht ihr Koffer.
Sie hatte keinen im Keller deponiert. Und doch stand da ihr Name.
Helena öffnete den Koffer mit zitternden Fingern.
Darin lagen:
– Ein altes Fotoalbum.
– Ein Kinderschuh.
– Ein Teddybär mit abgerissenem Ohr.
– Und ein weiteres Bild – das Foto ihrer Familie.
Genau das gleiche, das bei ihr auf dem Fensterbrett stand.
Sie taumelte zurück. Irgendjemand spielte mit ihr. Oder…
Ein metallisches Geräusch ließ sie herumfahren. Schritte. Irgendwo im Gang.
„Hallo?“
Kein Antwort.
Die Glühbirne flackerte einmal, dann ging sie aus.
Helena rannte die Treppe hinauf, stolperte fast.
Oben angekommen, stieß sie mit Frau Rüther zusammen, die gerade ihre Tür öffnete.