Die Schattenfängerin - Michael Stavarič - E-Book

Die Schattenfängerin E-Book

Michael Stavaric

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Beschreibung

Wie verkraftet man den viel zu frühen Verlust des Vaters? Eine Vater-Tochter-Geschichte, in der die Sehnsucht lange Schatten wirft und die Erinnerung in allen Farben des Lichts funkelt.

Jedes Jahr eine Reise zur nächsten Sonnenfinsternis. So führt Stellas Vater sein Leben. Immer kommt er zurück mit Fotos von der funkelnden Sonnenkorona und Geschichten von den abgelegensten Orten der Erde. Mitnehmen kann er Stella nicht – viel zu gefährlich –, aber die eigentümlichen Spezialbrillen und die glitzernden Teleskope gehören auch zu ihrem Alltag. Bis der Vater eines Morgens nicht mehr aufsteht. Von nun an ist Stella auf sich allein gestellt, ein Sonderling in dem kleinen Ort. Als sie volljährig wird, beschließt sie, endlich herauszufinden, warum ihr Vater so fasziniert war von der totalen Eklipse. Sie bucht eine Reise in den Kongo, wo die Sonne bald im Verborgenen liegen wird. Dort begreift Stella, dass der Mondschatten die dunkelsten Geheimnisse ihres Vaters hütet...

Ein modernes Märchen: Voll Wärme und Empathie erzählt Michael Stavarič von einer jungen Frau, die sich in der auflauernden Dunkelheit auf die Suche nach ihrer Familiengeschichte macht.

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Seitenzahl: 331

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt:

Jedes Jahr eine Reise zur nächsten Sonnenfinsternis. So führt Stellas Vater sein Leben. Immer kommt er zurück mit Fotos von der funkelnden Sonnenkorona und Geschichten von den abgelegensten Orten der Erde. Mitnehmen kann er Stella nicht – viel zu gefährlich –, aber die eigentümlichen Spezialbrillen und die glitzernden Teleskope gehören auch zu ihrem Alltag. Bis der Vater eines Morgens nicht mehr aufsteht. Von nun an ist Stella auf sich allein gestellt, ein Sonderling in dem kleinen Ort. Als sie volljährig wird, beschließt sie, endlich herauszufinden, warum ihr Vater so fasziniert war von der totalen Eklipse. Sie bucht eine Reise in den Kongo, wo die Sonne bald im Verborgenen liegen wird. Dort begreift Stella, dass der Mondschatten die dunkelsten Geheimnisse ihres Vaters hütet …

Ein modernes Märchen: Voll Wärme und Empathie erzählt Michael Stavarič von einer jungen Frau, die sich in der auflauernden Dunkelheit auf die Suche nach ihrer Familiengeschichte macht.

Autor:

Michael Stavarič wurde 1972 in Brno (Tschechoslowakei) geboren. Er lebt als freier Schriftsteller, Übersetzer und Dozent in Wien. Studierte an der Universität Wien Bohemistik und Publizistik/Kommunikationswissenschaften. Über 10 Jahre lang tätig an der Sportuniversität Wien – als Lehrbeauftragter fürs Inline-Skating. Zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen, darunter: Adelbert-Chamisso-Preis, Österreichischer Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur. Zuletzt erschien bei Luchterhand der Roman »Das Phantom«.

Michael Stavarič

Die Schattenfängerin

Roman

Luchterhand

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Copyright © 2025 Luchterhand Literaturverlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich

Pflichtinformationen nach GPSR.)

Umschlaggestaltung: buxdesign | München

Unter Verwendung einer Illustration von © Ruth Botzenhardt

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-27817-5V001

www.luchterhand-literaturverlag.de

facebook.com/luchterhandverlag

Und endlich sank die Sonne in einem krummen und nicht wahrnehmbaren Sturz zum Horizont hinunter und war nun nicht mehr gleißend weiß …

(Joseph Conrad, Herz der Finsternis)

Will be wonderful to meet you in NYC and play Mensch ärgere dich nicht.

(Anne Carson, aus persönlicher Korrespondenz)

There’s nothin’ that a hundred men or more could ever do.I bless the rains down in Africa.

(Toto)

Prolog

Ich erinnere mich daran, wie mir Vater erzählte, dass es in den Ozeanen der Erde fliegende Fische gab, die sich in die Lüfte erheben konnten. Sie flogen bis in den Weltraum, und ihre Schuppen reflektierten das Sonnenlicht; sie glitzerten, funkelten, erstrahlten und waren nicht mehr von Sternen zu unterscheiden. Er erzählte mir, dass tief unter uns im Boden eine Sonne wohnte, mitten im Erdkern, wo es fast so heiß war wie auf der Oberfläche des Sterns über uns. Und wenn diese Sonne unter uns mit der Sonne über uns sprechen wollte, dann brach sie als Vulkan aus. Er erzählte mir, dass das Wasser, das sich auf der Erde befand, von Kometen stammte, die es aus dem All zu uns gebracht hatten. Ich solle ruhig daran denken, wenn ich mal schwimmen gehe, dass ich gleichsam in den Kosmos eintauche, dass ich mich mit Kometen wasche und Kometen trinke.

Ich erinnere mich daran, wie mir Vater erzählte, dass der Mond durch eine Kollision der Erde mit einem anderen Himmelskörper entstanden war, und dass er sich aus Bruchstücken unseres Planeten und etwas völlig Fremden zusammenfügte; er stieg in den Himmel auf, um der Sonne ein kleines Stück näher zu sein. Er erzählte mir, dass sich der Boden unter uns ständig in Bewegung befand, dass wir auf Inseln über die Welt trieben, die über eine solche Größe verfügten, dass wir sie Kontinente nannten. Wenn ich nur lange genug warte, sagte Vater, dann käme ich praktisch überall auf der Erde hin, ohne mich auch nur einen Millimeter rühren zu müssen. Er erzählte mir, dass alle Bausteine des Lebens aus den Tiefen des Alls zur Erde kamen, wo sie sich zu dem vereinigten, was wir sind, und dass diese Stoffe von längst vergangenen Sternen stammten. Wir waren gerade dabei gewesen, etwas zu kochen, und warfen daraufhin alle Zutaten, die wir im Haus hatten, in einem Topf zusammen, um uns die Entstehung des Lebens besser vorstellen zu können (geschmacklich war das nicht die beste Idee).

Ich erinnere mich daran, wie mir Vater erzählte, dass ich mir Schmerz wie hellstes Licht vorstellen könne, wie bei einer Supernova, und dass die Lichtstrahlen alles in ihrer Nähe durchdringen und verknüpfen. Genau, Stella, wie Schmerzensschreie! Und dass man nicht alles am eigenen Körper verspüren müsse, um zu wissen, dass es existiert. Er erzählte mir, dass man auf einem Hügel den Sternen ein Stück näher kam, und ich wollte daraufhin von ihm wissen, warum wir nicht auf einem Berg wohnten. Er erzählte mir, dass der Wind die Sprache der Pflanzen und Bäume war, dass sie sich wie wir Geschichten darüber erzählten, wer ihnen begegnete, was sie erlebten und worüber sie grübelten. Mich überkam daraufhin der Gedanke, dass ich nie wieder einen Zweig im Garten würde abschneiden können, weil ich mich nicht daran schuldig machen wollte, die Sprache der Pflanzen und Bäume verstümmelt zu haben.

Ich erinnere mich daran, wie mir Vater erzählte, dass sogar Steine über eine eigene Sprache verfügten, dass er aber nur ein Wort daraus kannte, weil dieses »Kauderwelsch« zu schwer für uns Menschen war. Wie das Wort lautete, wollte ich daraufhin wissen, und er antwortete: »Dschblunjgk«. Das heiße »Danke schön«, und man könne es hören, wenn man einen Stein in einen Fluss werfe; Steine kämen gerne herum, und die Flüsse brächten sie an Orte, die sie immer schon hatten sehen wollen. Er erzählte mir, dass die Zeit ein Fluss war, der sich wie eine Schlange durchs bekannte und unbekannte Universum wand, manchmal schneller und dann wieder langsamer, und dass unsere Erinnerungen ebenso Steine repräsentierten, die selbst den Lauf gewaltigster Flüsse zu ändern vermochten. Er erzählte mir, dass Galaxien ihre Lieder hatten, dass sie sangen und man ihnen zuhören konnte, wenn man in den Weltraum flog. Und worüber sie sangen, wollte ich wissen, und er antwortete: Über Gravitationskräfte. Wenn sich etwas im Universum anzieht, dann ist das wie bei uns die Liebe.

Ich erinnere mich, wie mir Vater erzählte, dass Wolken nur dann entstanden, wenn die Erde träumte, und dass sie dann aufstiegen und überall zu sehen waren, weil unser Planet seine Träume bis in die entferntesten Gegenden tragen wollte. Und warum das alles?, wollte ich wissen. Und er darauf: Damit niemand von uns das Träumen verlernt! Und dass Wolken sogar miteinander wetteiferten, wer die schönsten Träume enthielt, und sobald mir wo ungewöhnliche Wolkenformationen begegneten, sollte ich nicht vergessen zu würdigen, dass sie gerade ihr Bestes gaben. Er erzählte mir, dass einiges von dem Baumaterial für das Haus auf dem Hügel von einem Vogelschwarm herbeigeflogen worden war, so hatte es ihm sein Vater erzählt. Wir zeichneten daraufhin einen Greif, der ein ganzes Haus anhob und mit ihm durch die Gegend flog; wir lachten und waren uns einig, dass der Vater meines Vaters ein ausgesprochener Lügner war. Er erzählte mir, dass seine Mutter, als sie mit ihm schwanger war, an dermaßen heftigem Schluckauf litt, dass er schließlich geboren wurde; echten SCHLUCKAUF bekomme man übrigens nur dann, wenn jemand innigst an einen denke.

Ich erinnere mich, wie mir Vater erzählte, dass es, wenn es nur lang genug regnen würde, kein Haus auf dem Hügel mehr gäbe, aber wir es dann in ein »Haus am Grund des Sees« umbenennen könnten. Ich sah uns schon mit Schwimmhäuten und Kiemen um die Wette schwimmen, ein unverzichtbarer Vorteil der Evolution. Er erzählte mir, dass in unserer Gegend früher eine Einsiedlerin lebte, und dass ihn die Mutter zu ihr brachte, um einen hartnäckigen Hautausschlag loszuwerden; er könne sich nicht mehr an ihr Gesicht erinnern, doch habe es gewirkt. Noch Jahre später hat man nach ihren sterblichen Überresten im Wald gesucht, doch blieb sie einfach verschwunden. Er erzählte mir, dass es Spinnen gab, die beim Abtauchen ins Wasser eine Luftblase um ihren Körper formten, die sie in Wasserlebewesen verwandelte; er nannte sie Astronauten, weil sie mit ihren »Luftblasenhelmen« beinahe wie solche aussahen.

Ich erinnere mich, wie mir Vater erzählte, dass für den Bau der Heilanstalt ein ganzes Sumpfgebiet trockengelegt werden musste, und dass man dort früher die prächtigsten Frösche und Salamander fand, die man sich nur vorstellen konnte. Er erzählte mir, dass es in der hiesigen Schule mal brannte und etliche Schüler mit einer Rauchgasvergiftung ins nächste Krankenhaus mussten; er hatte später im Keller des Gebäudes etwas gesehen, das ihn stark daran zweifeln ließ, dass alles ein Unfall war. Was hast du gesehen?, wollte ich wissen. Und er antwortete: Etwas Böses. Er schwor sich, dass niemand, den er liebte, jemals wieder einen Fuß in dieses Haus setzen würde. Er erzählte mir, dass er gerne im Inneren einer Glühbirne gewohnt hätte, denn das müsse sich anfühlen, als sei man der Sonne ganz nah – und in Sicherheit; ich hielt allerdings nicht viel davon, schließlich konnte einem dann jeder locker das Licht ausknipsen.

Ich erinnere mich, wie mir Vater erzählte, dass der Tod nur ein Punkt war, am Ende eines langen und nicht immer verständlichen Satzes; aber dass ich damit nichts am Hut habe, beeilte er sich zu versichern, weil ich ein perfekter und vollkommener Beistrich sei, für den sich das Universum ewig weiterdrehe, bis ans Ende aller Tage.

Ich musste lachen.

Ich erinnerte mich plötzlich, eine Eskapade auf der Oberfläche der Sonne gewesen zu sein.

1. Der Tod

In den Morgenstunden eines mit Wolken verhangenen Himmels entschlief der Vater allen weiteren Begebenheiten.

Ich war an sein Bett gekommen, um ihn in die Küche zu scheuchen, das gemeinsame Frühstück stand schließlich an, getoastetes Brot mit Rühreiern und frischen Gartenkräutern. Schnittlauch und Dille, daran würde ich mich niemals satt essen können, und es war mir unbegreiflich, dass manche Menschen »Schnittlauchdillgeschmack« nicht mochten. Gleich würde ich mit dem Vater geröstete Schnittlauchdillbrote schmausen, die Zeitung durchblättern, den Sportseiten hierbei mehr Beachtung schenken als eigentlich nötig. Ich wedelte wie eine Besessene mit einem druckfrischen Blatt vor seiner Nase herum, der Geruch von Druckerschwärze würde ihn schon wecken und in die Küche locken.

Wenn es etwas gab, das müde Menschen zum Aufstehen bewegen konnte, dann war das unzweifelhaft Druckerschwärze, deren Duft mich nahezu magisch anzog. Ich liebte es, eingeschweißte Bücher oder frische Zeitschriften auszupacken, meine Nase in sie zu stecken, ihren unverkennbaren Geruch einzuatmen, mit dem ich alles Mögliche assoziierte, bestimmt roch auch der Weltraum danach; ich meine, wie sollte Weltallschwärze sonst riechen? Möglicherweise dufteten finstere Moore recht ähnlich, oder der Atem von Krähenvögeln, oder die Tränen der Berggorillas, mir würde eine hübsche Liste1 einfallen. Die Hemden der Schornsteinfeger sollten dort beispielsweise vermerkt werden, die zwar um Nuancen anders riechen, zweifellos jedoch artverwandt sind. Düfte waren für mich wie Spielgefährten, sie machten einem Lust auf die Welt, man konnte mit ihnen abheben und schweben, andere wiederum stellten einem auch schon mal das Bein.

Einen Moment lang stand ich unentschlossen beim Bett herum, legte die Zeitung auf dem Gesicht des Vaters ab, als müsste die Druckerschwärze spätestens jetzt aber ihren unwiderstehlichen Zauber entfalten, um ihn zu einem allerletzten Küchenausflug zu bewegen. Die Bemühungen blieben vergeblich. Ich nahm die Zeitung wieder an mich, schüttelte sie wie verrückt aus, als könnte ich auf diesem Weg ihre Magie hervorholen, das gesamte Weltall darin wie Bettfedern aufschütteln und durch den Raum schweben lassen. Meine Arme brannten bald wie Feuer, die Muskeln verkrampften, und ich knüllte das Zeitungspapier schlussendlich zornig zu einem unförmigen Ballen zusammen. Ich versuchte, alles so klein wie nur irgendwie möglich ineinander zu pressen, zu diesem einen winzigen Punkt im Raum, von dem aus sich ein Kosmos neu würde entfalten können; so hatte es mir Vater doch beigebracht.

Alles musste, bevor es zum Leben erweckt werden konnte, zu einem unendlich kleinen Punkt gebündelt werden, von wo aus es sich mit einem lauten Knall im Universum würde ausbreiten dürfen, alle Kräfte und Sterne und Lebewesen. Ich wiederholte den Vorgang zur Sicherheit mehrmals, faltete die Zeitung auseinander, glättete sie, so gut es ging, nur um die Seiten erneut zu einem möglichst winzigen Punkt zusammenzuknüllen, ein Papierknäuel zwischen den krampfhaft ineinander verschränkten und allmählich tauber werdenden Fingern.

Ich dachte daran, dass Gott möglicherweise vor einem ähnlichen Problem gestanden haben musste, demnach hatte auch er den Kosmos zu einer unendlichen Winzigkeit zusammengedrückt (der Vater nannte es Singularität), um danach alles ordentlich auszufalten und auszubreiten, einen Neubeginn herbeizuführen, damit Materie miteinander vermengt und dieser dabei Leben eingehaucht werden konnte. Vielleicht hat ihn sogar jemand dabei beobachtet (was absurd erscheint), wie er konzentriert ans Werk ging, mit seinen gefalteten und kraftvoll zupackenden Händen. Vermutlich hätte sich ein naiver Betrachter gedacht, er würde beten, was etliche Ungereimtheiten in der gesamten Glaubenslehre erklären würde. Der Glaube sei ein einziges großes Missverständnis, hatte Vater mal zu mir gesagt, womit er keinesfalls die Existenz einer höheren Ordnung anzweifeln wollte.

Fühlte ich mich in jenem Moment wie eine kleine Göttin, die alles in ihrer Umgebung wieder zum Leben erwecken wollte? O ja! Aber es wollte nicht klappen, was möglicherweise an meinen Mädchenfäusten lag. Ich ließ bald das Zeitungsknäuel entkräftet zu Boden fallen. Das »Knüllding« lag zu meinen Füßen, als hätte jemand hastig ein Weizenfeld abgeerntet, schlampigste Heuballen geformt und diese für imaginäre (noch schlampigere) Viehherden zurückgelassen. In Wahrheit hatte ich vielleicht gerade mal die Buchstabenreihen durcheinandergebracht, die zwar eine Welt erklären können, es aber nur selten tun. Die Druckerschwärze klebte mir an den Fingern und Handflächen, was schön anzuschauen war, doch ließ sich mit dem Ergebnis nichts anfangen.

Bücher, Zeitungen und Magazine verhalfen mir schon als Kind zu einer Sprachfertigkeit, die sich durchaus sehen lassen konnte, als würde der Kopf durch das Gelesene förmlich »aufmagaziniert« werden. In mir kreisten ständig Wortstakkati, die ich jederzeit abrufen konnte, selten ohne zu wissen, was ich da von mir gab. Ich verstand nicht, warum viele Menschen in unserer Gegend kaum mehr etwas lasen, und falls doch, dann nur irgendeinen Mist in Revolverblättern oder peinliche Ratgeberliteratur nach dem Muster: Wie bringe ich ihn dazu, mich zu lieben, in 5 Tagen. Schon als Kind waren mir kurze Sätze und stark vereinfachte Inhalte zuwider, die üblicherweise das aussparten, was mich interessierte, und die auch den Zweck hatten, mich (und andere) für dumm verkaufen zu wollen.

»Du klingst schon wie der Duden, Stella! Sprich nicht wie eine ältere Dame um 1900.«

»Hm!«

»Was hast du heute bloß wieder gelesen? Kant? Das Journal für Kosmologie und Astropartikel?«

»Gar nicht!!«

»Aber so was von!«

Doch vollkommen egal, was ich wann las, die Schriften erhellten jede finstere Ecke meines Kopfes, sie machten mich endgültig sichtbar, als würde förmlich hellstes Licht aus meinem Mund strömen, jedenfalls empfand ich es damals so. Manchmal brannten mir die Lippen vom vielen Geplapper, und ich trank frische Milch, um sie abzukühlen, während Vater im Badezimmer mit seinem Rasierapparat hantierte.

»Der hat schon wieder Ladehemmung, Stella, was für ein Mistding.«

»Bart steht dir aber.«

»Meinst du?«

»Der Bart ist ein phylogenetischer Restbestand der Vollbehaarung und signalisiert Sexualdimorphismus.«

»Ernsthaft, Stella? Mach nur so weiter, und ich werd das Fachzeitschriften-Abo wirklich abbestellen.«

Er lachte.

»Vater, Bart macht dich einzigartig und attraktiv, das werde ich ja wohl noch sagen dürfen als deine Tochter. Und du solltest endlich mal wieder ausgehen!«

Er lachte noch lauter.

Und bald brummte sein Rasierapparat wieder, und alles war gut.

Ihm zuliebe behauptete ich öfters, ich habe schon wieder die Milch verschüttet (und sie sorgfältig aufgewischt), weil ich zu viel davon trank, schließlich sei ich – seiner Meinung nach – längst zu alt für Milchgetränke, aber leider noch zu jung für einen ordentlichen Kaffee; es war alles andere als einfach, es ihm recht zu machen. Manchmal dachte ich, ich lebe in einer mir als Prüfung auferlegten Zwischenwelt, und nur das richtige Alter könne mich aus dieser befreien.

Der Vater lag weiter tot im Bett, während ich im angrenzenden Raum (meinem Kinderzimmer) die Kopfkissen aufschüttelte und die Decken zusammenlegte, einfache Routinehandlungen, die einem in Ausnahmesituationen durchaus Halt boten. Anschließend aß ich ein Schnittlauchdillbrot, widmete mich dem Abwasch, hörte laut Radio, man spielte gerade einen Song von Depeche Mode, was mir in Anbetracht der Umstände passend schien. My little girl, drive anywhere, do what you want, I don’t care. Ich summte die Melodie mit, das Mädchen in mir war wohl endgültig erwachsen geworden, es würde überall hinfahren können und tun, was ihm beliebt, niemand würde es aufhalten. Das Schicksal hatte mir an diesem Tag die Zukunft auf einem vermeintlichen Silbertablett präsentiert … und endlich weinte ich bitterlich.

Danach kam mir der Gedanke, Vater dadurch zu erwecken, dass ich ihn weiterhin wie einen Lebenden behandelte und sein Schweigen generell als Zustimmung dafür wertete. Ich ließ ihn im Bett liegen, damit er sich ordentlich ausruhen konnte, brachte ihm Kaffee und etwas zum Essen ans Nachtkästchen, erzählte etwas davon, dass draußen ein schöner Tag sei und ich einen Spaziergang machen würde (die Vorhänge zog ich lieber zu, denn das war glatt gelogen; dunkle Wolken überall). Später reinigte ich penibel die Küche, schrubbte an irgendwelchen hartnäckigen Verfärbungen der Fliesen herum, bis mir die Knie schmerzten. Ich lud Vaters Rasierapparat auf, rasierte ihn überaus sorgfältig, was sich als schwierige Sache entpuppte, da ich nie wusste, wie stark oder sanft man das klobige Ding auf die Haut drücken musste; es surrte und vibrierte, feine Bartstoppelchen schwebten durch die Luft. In weiterer Folge konnte ich mich nicht entscheiden, welches Rasierwasser ich auftragen sollte, dummerweise besaß Vater zwei Markenfläschchen, und ich ärgerte mich darüber, nie bemerkt zu haben, welches von ihnen er bevorzugte. Ich wünschte ihm eine Gute Nacht, die meinerseits voller Unruhe war, doch setzte ich meine Hoffnung auf den nächsten Morgen, die Sonne würde wieder scheinen, und alles könnte sich in Wohlgefallen auflösen.

Erneut stand ich (diesmal schon um 5 Uhr früh) an seinem Bett und war richtig traurig, als ich sah, dass Vater sein Essen nicht angerührt hatte. Ich stürzte in die Küche, um die besten und perfektesten Spiegeleier der Welt zu machen, rund und strahlend wie eine Sonne, doch wollten sie mir nicht gelingen. Ich verbrauchte alle Packungen, die im Haus waren, doch jedes Ei geriet missratener als das andere, ständig nur diese ausgefransten und disproportionalen Klumpen. Es schien wie verhext, ich lief wütend vors Haus und brüllte den Himmel an, so schrill, dass alle Vögel im Garten aufflogen.

Bald klopfte ich bei den Nachbarn an, die ein paar Minuten entfernt wohnten, unsere Gärten grenzten aneinander, und es existierte nicht einmal ein richtiger Zaun, bloß zwei Felsbrocken. Einige Sträucher begannen, dort zu wuchern, sie markierten die Grenze zwischen unseren Grundstücken. Ich weckte sie, die noch fest geschlafen hatten, versuchte, ihnen mitzuteilen, dass Vater nicht mehr war, und es schien mir, als spräche ich zu mir selbst, um mich der eigenen seelischen Gesundheit zu vergewissern. Ich sprach leise, jedoch eindringlich. Die Nachbarn gaben sich gefasst, keine Tränchen wurden verdrückt, sie zogen sich an und folgten mir ans Bett des Vaters. Dieser schien sich weiter auszuruhen, kurz hatte ich noch gehofft, er wäre unterdessen endlich aufgestanden, säße mit der Zeitung in der Küche und staunte über die angebrannten Spiegeleier. »Und warum ist die Zeitung dermaßen zerknüllt, Stella? Stella??«

Bei Vater war man nie sicher, was als Nächstes passieren, was er sagen, wohin er aufbrechen oder welchen Dingen er sich widmen würde. Warum sollte das im Tod anders sein? Erst danach fiel mir auf, dass sein Teleskop verhüllt, jedoch vollständig ausgefahren (und in Position gebracht) am Fenster stand. Es war nicht unüblich gewesen, dass Vater, wenn er nachts wach wurde, den Sternenhimmel beobachtete. Mir gegenüber behauptete er, danach könne er besser einschlafen. Ich konnte zwar nicht wissen, um welche Uhrzeit er verstorben war, doch stellte ich mir vor, dass er vielleicht noch einen Blick auf den nächtlichen Himmel geworfen hatte. Vielleicht war er bereits dabei gewesen, sich einen Weg auszuspähen, für die Reise, die er bald antreten würde.

Mir gegenüber hatte sich Vater gerne als »Schattenfänger« bezeichnet, die Formulierung komme schließlich seiner wahren Leidenschaft am nächsten. Wenn es nämlich die zeitlichen (und finanziellen) Mittel erlaubten, hatte er sich regelmäßig auf Reisen begeben, um der nächsten Sonnenfinsternis hinterherzujagen; mich überließ er während dieser »Ausflüge« der Obhut der Nachbarn. Früher, allerdings kann ich mich daran nicht wirklich erinnern, war kurzfristig Grete für mein persönliches Wohl verantwortlich gewesen, wobei sich diese als »äußerst wankelmütig« erwies. Der Vater erzählte mir, als ich alt genug war, dass seine Frau Grete (er sagte niemals »deine Mutter«) in eine spezielle Klinik hatte gebracht werden müssen, es wäre nicht mehr anders möglich gewesen. Warum sie von uns wegmusste, da war ich mir lange Zeit unsicher, allerdings führte das zu wilden Spekulationen2.

Ich stellte mir vor, wie Vater in jener Nacht, vielleicht noch dem Mond nachblickend, bedauerte, sich seiner Sonne nie mehr zuwenden zu können, die zwar den Erdtrabanten schön ausleuchtete, doch sich bekanntlich erst in den frühen Morgenstunden am Himmel zu zeigen pflegte. Vielleicht hatte er krampfhaft versucht, noch bis zum ersten Sonnenstrahl durchzuhalten, also bis exakt sechs Uhr zweiunddreißig, wie ich später einer Tabelle entnahm. Ich selbst hatte da noch tief geschlafen und von allem rein gar nichts mitbekommen.

Die Nachbarn beugten sich schwerfällig über den Körper des Vaters, als würden zwei gewichtige Kommoden insgeheim nach einem Platz in einem fremden Haus suchen, sie benahmen sich wie Menschen, die nicht wussten, wann man jemanden für tot erklären konnte. Zweifelsohne überlegten sie, ihre Brillengläser zu Vaters Mund zu führen, um festzustellen, ob diese noch beschlugen, und erst nach dem obligatorischen Besuch des Doktors waren sie wohl gewillt, sich endgültig meiner Meinung anzuschließen. Die Nachbarn nickten mir zu. Sie seien zu einem ähnlichen Ergebnis wie ich gelangt, der Vater sei definitiv äußerst krank, murmelte die Nachbarin. Ihr Mann wählte eine Telefonnummer, sie verharrten anschließend mit mir vor dem Haus, um den Krankenwagen in Empfang zu nehmen.

Dieser fuhr bald ohne das obligatorische Sirenengeheul vor, nicht einmal das blaue Drehblinklicht hatte man in Betrieb genommen; die Stimme des Nachbarn musste am Telefon dann doch überzeugend gewesen sein. Allmählich bestand am Tod des Vaters nicht der geringste Zweifel, man trug ihn auf einer metallenen Bahre aus dem Haus, und ich hatte darauf bestanden, ihn nicht mit einem Leichentuch abzudecken. Die Sonne sollte auf sein Gesicht scheinen, der Vater hätte sich nichts anderes gewünscht.

Vor seiner endgültigen Abreise wurde mir der Durchschlag des Totenscheins überlassen, dieser sei wichtig für Behörden und Versicherungen, die Nachbarn versprachen dem Arzt außerdem, ein Auge auf mich zu haben, Verwandte zu verständigen, mir beim Begräbnis zur Seite zu stehen und so fort. Und bevor der Krankenwagen abfuhr, lief ich noch schnell in mein Zimmer, um die Spezialbrille zu holen, die man bei Sonnenfinsternissen trug, um nicht zu erblinden. Der Vater besaß einige davon, manchmal hatte er auch günstigere (aber absolut funktionstüchtige) Modelle an Kinder verteilt. Ich wusste das von Fotografien, die ihn mit anderen Personen während diversen Sonnenfinsternissen zeigten, etlichen Erwachsenen und einigen Kindergestalten, welche wohl gekommen waren, um dem Ereignis ebenfalls beizuwohnen.

Astronomische Phänomene hielten sich allerdings selten genug an die Wünsche des Vaters, der solche Ereignisse lieber irgendwo bei uns um die Ecke, aber nicht unbedingt immer auf anderen Kontinenten verortet hätte. Fest stand allerdings, dass er ihnen selbst in entlegenste Gegenden nachfuhr, in der Regel brach er einmal im Jahr auf, es sei denn, die Sonnenfinsternis war tatsächlich unerreichbar (mitten im Ozean!). Oder es mangelte ihm an finanziellen Mitteln, was vor allem früher oft ein Grund gewesen war, als Vater noch jung und nicht immer flüssig war.

Ich bestand darauf, ihm die Brille aufzusetzen, was der Arzt befremdlich fand, doch klärten ihn die Nachbarn darüber auf, wer der Mann auf der Bahre gewesen war (ein passionierter Sonnenbeobachter), dass es also durchaus Sinn ergab und mir, seiner Tochter, vielleicht den Abschied erleichtern würde. Man hatte die Augen des Vaters kurz geöffnet und danach wieder geschlossen, ich hörte den Arzt etwas darüber murmeln, dass sich Laien kaum ausmalen konnten, wie schnell einige Insektenarten ihre Eier in wehrlosen Augenhöhlen abzulegen imstande waren und wie rasch ein neues Geschöpf, nachdem es sich als Larve an den Augenflüssigkeiten gelabt hatte, aus diesen hervorkroch. Nicht auszudenken, das würde etwa bei der Totenwache, sprich Aufbahrung des Körpers, in der Friedhofskapelle passieren, einem Trauernden sollte ein solcher Anblick erspart bleiben. Die Schutzbrille stand ihm wirklich gut, und ich stellte mir vor, dass er darunter einmal noch (und von allen unbemerkt) seine toten Augen öffnen und dem Lauf der Sonne folgen würde. Eine Sonnenfinsternis, die mit seinem Tod zusammenfällt, das war ihm freilich nicht vergönnt gewesen, sosehr ich mir das auch für ihn gewünscht hätte. Das wäre ein schier unglaublicher Zufall gewesen, ein Lottogewinn und Blitzeinschlag zusammen blieben wahrscheinlicher, doch hätte Vater es sich mehr als verdient. Er wäre dann bei der Ausübung seiner Leidenschaft verstorben, hätte vielleicht noch sein Teleskop mitgerissen, hätte sich den Kopf auf einem Stein oder Ähnlichem blutig geschlagen, doch wäre er gewiss seliger denn je gewesen. Der majestätische Anblick der abgedunkelten und vom Mond vollständig verdeckten Sonne, die mit ihrem Strahlenkranz lockt, es hätte sich im Augenblick des Todes für immer in seinem Kopf eingenistet und wäre das letzte Bild gewesen, das er von der Erde mitnahm. Ich war mir ziemlich sicher, dass er im Sterben noch an die Sonne dachte, an die dunkle Sonnenscheibe während einer jeden Finsternis (die eigentlich der Mond ist), als wäre dieser ferne Kreis ein geheimnisvolles Portal, durch das er nun schreiten musste. Ob er auch für mich einen Gedanken über hatte?

»Denkst du überhaupt an mich, wenn du unterwegs bist?«, wollte ich mal von ihm wissen.

»Natürlich, wie kannst du das fragen.«

»Und denkst du lieber an mich oder die Sonne?«

Er schmunzelte.

»Ich denke, dass du jetzt ins Bett musst.«

»Ich oder die Sonne, vorher geh ich nicht.«

Sein Blick wurde ernster.

»An die Sonne.«

Das saß.

»Wirklich, Vater?«

Er grinste.

»Du bist doch meine Sonne, Stella.«

»Du nennst deine Sonne also Stella?«

Jetzt mussten wir beide grinsen.

»Ab ins Bett!«

»Husch, husch«, flötete ich.

Die erste Nacht ganz ohne Vater war eine ohne Sternenhimmel, pechschwarze Dunkelheit, wohin man sah, nur bei den Nachbarn blieb die ganze Nacht lang das Licht an. Sie hatten mir angeboten, in einem ihrer Gästezimmer zu übernachten, etwas Abstand zum (leeren) Haus zu gewinnen, das wäre jetzt doch das Richtige, so ihr gut gemeinter Vortrag. Ich bestand darauf, zu Hause zu bleiben, lehnte weitere, gewiss wohlwollende Angebote ab, dass etwa die Nachbarsfrau bei mir übernachten, mir ein Abendessen zubereiten, dass ihr Mann morgen vielleicht mit mir in den Zoo der ferneren Hauptstadt fahren könne (zwecks Ablenkung), aber ich verneinte das entschieden. Um ihnen entgegenzukommen, schlug ich vor, das Licht bei sich anzulassen, damit ich, wenn ich aus dem Fenster blickte, draußen einen hellen Punkt in der Finsternis erkennen konnte. Ich lag lange Zeit wach in meinem Bett, hatte überall die Fenster geöffnet, ungeachtet der aufkommenden Brise, um den modrigen Geruch aus dem Haus zu treiben, den ich zu bemerken meinte. Bestimmt würde ich am Morgen einige Nachtfalter und andere Insekten in der Küche oder im Bad vorfinden, sie allerdings friedlich schlummernd in ihren Ecken belassen. Es war schließlich nunmehr mein Haus (und Grundstück auf dem Hügel), daran hatte der Vater keinen Zweifel gelassen, seine Ex-Frau hätte längst keinerlei Ansprüche mehr zu stellen, das war schon lange zuvor mit Anwälten und Notaren3 geregelt worden.

Ich fragte mich während dieser Stunden auch, wie wohl der Vater seine erste Nacht als amtlich bestätigter Toter verbringen würde, vielleicht ja noch in der Pathologie des nächstliegenden Krankenhauses oder in irgendeinem Kellergewölbe der Polizeiwache, bis alle Papiere und dergleichen abgesegnet und ordnungsgemäß ausgestellt werden würden. Vielleicht hatte man seinen Körper auch bereits dem Bestatter/Totengräber »geliefert«, der ihn, abhängig von der gegenwärtigen Auftragslage, unverzüglich oder in den nächsten Tagen für ein Begräbnis zurechtmachen müsste.

Der Nachbar hatte versprochen, sich um alles Organisatorische zu kümmern, schließlich besaß ich keinen Führerschein. Das Auto des Vaters blieb vorerst wohl in der Garage, doch hatte ich darauf bestanden, es abzudecken. Ich fand es passend, dass es nunmehr einen Trauerflor tragen musste. Außerdem entfernte ich für eine Weile alle Sachen aus dem Haus, die zu sehr glänzten, weil ich ihren Anblick nicht ertragen konnte; sogar die Alufolie musste die Küche verlassen.

Jedenfalls würde mich schon irgendwer zum Friedhof fahren, mich in die erste Reihe setzen, später in die erste Reihe stellen, und noch später damit betrauen, als erste (und vermeintlich wichtigste) Trauernde etwas lose Erde auf den Sarg des Vaters herabrieseln zu lassen. Ich würde reichlich feuchte Hände schütteln, mir forschende Blicke gefallen lassen müssen, Beileidsbekundungen entgegennehmen, vielleicht würde sogar gesungen werden, und warum auch nicht. Vater war in der Gegend, trotz seiner Vorliebe für Sonnenfinsternisse, durchaus beliebt gewesen, nicht alle hielten ihn ernsthaft für einen schrulligen Sonderling.

Ich war noch nie bei einem Begräbnis gewesen, doch hatte ich einige in bekannten Fernsehfilmen4 gesehen, wo einem Schauspieler schließlich vorführten, wie man sich zu verhalten hatte und worauf es ankäme. Ich hatte außerdem schon echte Begräbniszeremonien im Fernsehen verfolgt, manchmal wurden diese übertragen, wenn ein prominenter Mensch verstarb, zuletzt jene von Aretha Franklin (das irgendwo als »historische« Wiederholung lief), die offenbar darauf bestanden und es dementsprechend verfügt hatte, drei Tage lang im offenen Sarg zu ruhen, während ihr halb Detroit ergebenst zu kondolieren hatte. Eines ihrer Beine ragte dabei keck über die Umrandung des Sarges hinaus, ihre Kleider mussten täglich gewechselt werden, ein jedes Mal erwartete sie ihre Gäste folglich in einem neuen, umwerfenden Outfit, sodass viele Menschen zweimal oder gar dreimal hintereinander kamen, sich in eine schier unendliche Warteschlange einreihten, um ihr (erneut) die letzte Ehre zu erweisen. Ich weiß noch, dass dabei ordentlich gesungen wurde (und sehr laut!) und draußen vor der Kirche eine Flotte pinker Cadillacs um das Gebäude kreiste und später überall in der Stadt parkte. Mir war schon klar, dass Begräbnisse, die im Fernsehen übertragen wurden, gewiss anders abliefen als solche in einem normalen Leben (und bei weniger prominenten Verstorbenen), und dennoch sprach nichts dagegen, bei Vaters Bestattung ein Kondolenzbuch auszulegen, einige Gassenhauer zu spielen, die den Leuten gefallen und sie zum Mitsummen animieren würden. Vielleicht könnten die Friedhofsgäste sogar (und passenderweise!) Sonnenblumen mitbringen, die sie dem Vater ins Grab nachwerfen würden, jedenfalls war ich guter Dinge, seinen Abschied würdig zu gestalten.

Dass es anders ablaufen würde als gedacht, damit hätte ich selbstverständlich rechnen müssen. Bei meinem Vater lief vieles im Leben nicht nach Plan, warum hätte es im Tod anders sein sollen. Ich wüsste in diesem Zusammenhang nicht einmal, was man als Beweis hätte anführen müssen, um diese Behauptung zu untermauern. Vielleicht Folgendes: Ich war definitiv kein Wunschkind gewesen, der Vater wäre da mit seiner Frau in etwas »hineingestolpert«, und dass man ihm später das alleinige Sorgerecht überlassen würde, auch das war in der Gegend unüblich, andererseits, in Anbetracht der Erkrankung seiner Ehegattin, keinesfalls verwunderlich. Ich weiß noch, wie intensiv ich über dieses »Hineinstolpern« nachdachte, und was das wohl genau meinte, als Kind malt man sich einiges aus, schließlich stolpert man selbst unentwegt irgendwo in der Gegend herum und fällt und fängt sich wieder und fällt und verknackst sich den Fuß oder zerrt sich die Bänder im Knie, dass dabei aber Kinder entstehen, erschien mir schon damals recht unglaubwürdig.

Der Vater entwarf für nahezu alles im Leben exakte Pläne, spätestens aber seit meiner »Ankunft« (er vermied das Wort »Geburt«) war das auf der Strecke geblieben. Einzig und allein seine alljährliche Reise zur nächsten Sonnenfinsternis hielt ihn auf Kurs. Ich will keineswegs den Eindruck erwecken, dass er es an Zuneigung mangeln ließ, wir waren ein Herz und eine Seele, doch wurden beispielsweise meine Geburtstage niemals gefeiert. Freilich auch die des Vaters nicht, soweit ich weiß, und jene seiner Ex-Frau erst recht nicht. Als Kind vermisste ich die Geburtstage auch gar nicht, irgendeinen süßen Kuchen fand man schließlich stets in der Küche vor.

Vermutlich hätte man mich auch niemals zu einer richtigen Geburtstagsfeier gehen lassen sollen, einer echten und ausschweifenden Feierlichkeit einer beliebten Gleichaltrigen, die in einem gänzlich anderen Familiengefüge aufwuchs. Ihre Eltern waren seit Ewigkeiten verheiratet, und überall im Haus befanden sich gerahmte Fotografien der Familie, auf denen alle einander fröhlich zulächelten. Im gepflegten Garten blühten die Rosen, und man schwamm regelmäßig im türkisenen Swimmingpool, sogar der Hund kam brav angelaufen, wenn man ihn rief, ich weiß noch, er hieß irgendetwas mit »F«, Fido oder Frodo oder Flutsch.

Nach diesem Ereignis wusste ich, wie ungleich anders mein eigenes Leben verlief (und wohl weiter verlaufen würde), die Wünsche eines Kindes leiten sich davon ab, was es sieht und begehrt. Andere Menschen schienen eine »zwingende Gemeinsamkeit«, eine »unbedingte Koexistenz« (Liebe?) nach außen zu tragen, was es bei uns in dieser Form nicht gab, und was immer es konkret war, wir besaßen möglicherweise nur einen Schatten davon. Viele Menschen sonnten sich augenscheinlich in ihren Leben, heirateten, waren glücklich, bekamen Kinder und Kindeskinder, und für uns blieb etwas weniger Menschliches über; jedenfalls gab es eine Zeit, in der ich es so empfand. Es war insofern nicht verwunderlich, dass die Sonne die wahre Leidenschaft meines Vaters blieb, von der er nicht lassen wollte (und konnte), und dass ein jeder in seiner Nähe davon irgendwann mitgerissen wurde. Die Sonne verehrte und begehrte er in einer Weise, wie ein Mann normalerweise zu seiner Frau steht, die Tochter hatte da wohl schlechtere Karten.

1Dinge, die wie Druckerschwärze riechen: Menschen bei Begräbnissen? Definitiv Amselfedern aus dem Garten. Die Luft nach einem Blitzeinschlag. Reine Lakritzstangen, die immer schwarz sein müssen. Bremsspuren auf der Straße, wenn man die Nase nah genug ranhält. Streichholzschachteln. Rauchglas. Haare, die ins Feuer fallen. Schwarze Mambas (theoretisch). Ungewaschene Füße, wobei diese eher wie abgelaufene Druckerschwärze riechen (Haltbarkeit!). Alles, was lange genug der Sonne ausgesetzt war. Alles vor meiner Geburt.

2Theorien, warum eine Frau wie Grete fortmuss: Verfolgung aufgrund ethnischer Zugehörigkeit. Vertreibung aufgrund umweltbedingter Einflüsse (etwa Schimmelpilze). Psychische Stresssymptome (Überforderung mit sich selbst oder der Wohnsituation). Waschechte Geisteserkrankung (Schizophrenie, Epilepsie). Suchterkrankung (Drogen). Zweckentfremdung von Räumlichkeiten (etwa die Küche ins Badezimmer zu verlegen). Ein wiederholt auftretendes, unsachgemäßes Hantieren mit Geräten aller Art, die das Kindeswohl gefährden. Eine andere Frau (Rivalin). Eine Erbschaft in Amerika.

3Sehr geehrter Herr Dr. Soundso, wie besprochen ersuche ich höflichst, alle erforderlichen Schritte in die Wege zu leiten, um meine Tochter Stella als Alleinerbin der Liegenschaft (samt anhängigem Vermögen) einzutragen. Wie sie den beiliegenden Unterlagen entnehmen können, wird es hinsichtlich meiner Ehefrau keinerlei Komplikationen mehr geben – wir konnten uns gütlich einigen. Mit vorzüglicher Hochachtung, und eine überaus erfolgreiche Entenjagd wünscht …

4Beispielsweise My Girl von Howard Zieff: Die 11-jährige Vada ist darin überzeugt, an immer neuen und tödlichen Krankheiten zu leiden (wie sie diese aus dem Bestattungsunternehmen ihres Vaters kennt). Als ihr bester Freund Thomas nach Bienenstichen stirbt, besteht sie weinend darauf, ihm im Sarg seine Brille aufzusetzen, weil er doch Akrobat werden wollte. Ich würde Vater niemals ohne seine Schutzbrille unter die Erde lassen, so viel war sicher.

2. Das Haus auf dem Hügel

Bald schon fiel mir auf, dass sich mit dem Ableben des Vaters das Haus zu verändern begann, viel schneller noch, als ich es mir je ausgemalt hätte. Bereits nach wenigen Monaten wucherte Unkraut im Garten, wohin man auch sah, überall irgendwelche Ranken und Stacheln, buschiges, sich in alle Richtungen ausbreitendes Gestrüpp. Der Vater musste es regelmäßig gezupft, geschnitten oder mit Chemikalien behandelt haben, nur war mir nie etwas davon aufgefallen. Erst nach dem Ableben eines Menschen bemerkt man einige Dinge, die man zuvor schlicht übersah, oder gar wissentlich ignorierte.

Ich ließ es mir nicht nehmen, sogar ein »Geräuschmerkblatt« zusammenzustellen, wo ich festhielt, welche Geräusche seit dem Ableben des Vaters fehlten, wo also Handlungsbedarf bestünde und ich gefordert wäre: beim Klappern von Küchengeschirr, beim Ausklopfen der Betten, beim Kartoffelschälen und Teekochen und so weiter, wobei es (wohlgemerkt) nicht um die Tätigkeiten an sich ging, sondern um die Geräusche, die diese verursachten. Ich erstellte auch ein »Düftemerkblatt«, da es in einem Haus, wo man allein lebte, anders roch als zuvor, und das müsse schließlich nicht sein. Ich pflückte Blumen, die Vater gemocht hatte, und verteilte sie in allen Zimmern, streute Waschpulver in eine jede Ecke im Keller, um den Moder auszutreiben, legte regelmäßig frischen Lavendel in die Kästen, und manchmal versprühte ich im Haus Vaters Lieblingsparfüm, um die Erinnerung an ihn zu bewahren.

Wäre ich dabei von den Nachbarn beobachtet worden, sie hätten mein Verhalten gewiss als komisch oder unangebracht empfunden, man solle die Toten schließlich ruhen lassen und sich lieber den Lebenden widmen. Wir sind die Lebenden, und sie sind die Toten, wir sind das Licht, und sie sind der Schatten, ich konnte mit ihren Einteilungen allerdings nie wirklich viel anfangen. Zufälligerweise belauschte ich sie mal hinter einer Hecke sitzend, wie sie sich darüber austauschten, ob ich nicht doch in Behandlung müsste. Zumindest zu einem auf kindliche Traumata spezialisierten Therapeuten.

»Erinner dich doch an seine Frau, die mussten sie auch eines Tages holen.«

»Na, und wenn schon, das war was anderes.«

»Warum was anderes, die hatte schließlich einen richtigen Knall! Und das Mädchen ist auf dem besten Weg dorthin, wenn du mich fragst.«

»Damals war doch alles nur zu viel für die Frau, und kann man es ihr verdenken?«

»Die wäre sowieso in der Psychiatrie gelandet. Erinnerst du dich, wie sie uns mal diesen Kuchen brachte?«

»Du meinst den Rahmgugelhupf?«

»Ja, das Ding mit dem Zahn drin!«

»Das war bestimmt nur ein Versehen, der Zahn könnte sonst wie ins Mehl gelangt sein. Der war vermutlich nicht von ihr.«

»Und ob der von ihr war. Ich hab sie lachen gesehen, und da war eine frische Lücke.«

»Und warum sollte sie uns absichtlich einen Zahn in den Kuchen backen? Eine Art Hilfeschrei?«

»Und ist das so abwegig?«

Ich schlich davon, meine Zähne hatte ich allemal noch beisammen, und es würde mir nicht im Traum einfallen, den Nachbarn einen Kuchen zu backen. Die erste Woche nach Vaters Tod verbrachte ich damit, die für mich im Garten allmählich sichtbarer werdenden (und für gewöhnlich unerwünschten) Pflanzen in dicken Lexika nachzuschlagen, und sie zu klassifizieren, so gut ich das vermochte; ich wollte mir über das Ausmaß des »Unkrautbefalls« klar werden. Das Sonnenlicht schien seit der Abwesenheit des Vaters alle Gewächse förmlich zu befeuern, als würde es sie eigenhändig aus dem Boden und in die Höhe zerren, dicke Blätter und Stängel, die einem bald alle Sicht auf die Welt versperrten.

Man differenzierte in den Fachbüchern einkeimblättrige Unkräuter von Zweikeimblättrigen, man konnte sie in diesem Frühstadium außerdem deutlich voneinander unterscheiden. Zu den Einkeimblättrigen zählten etwa der Windhalm, der Flughafer, die Trespe, die Quecke, das Hundszahngras und der Ackerfuchsschwanz, die Zweikeimblättrigen hörten auf Namen wie Gauchheil, Ochsenzunge, Giersch, Schmalwand, Reiherschnabel, Wolfsmilch, Erdrauch, Nachtschatten und Ehrenpreis. Viele davon fand ich unmittelbar vor der Haustür. Von eingeschleppten Arten gar nicht zu reden, dem Japanischen Knöterich, der Aufrechten Ambrosia, der Kanadischen Goldrute, dem Drüsigen Springkraut oder dem Riesenbärenklau.

Je intensiver ich mich in die Pflanzenlexika vertiefte, umso zauberhafter wurde ihre Welt für mich, allein schon die Namen waren einige Überlegungen5 wert.

Mit der wuchernden Vegetation kamen allmählich auch mehr Mäuse in den Garten, die wiederum vermehrt streunende Katzen und weiteres Getier (Füchse etwa) anlockten, alles in allem wurde es um das Haus in der Nacht lebhafter, während es drinnen stiller war. Die Nachbarn boten mir an, den Garten professionell bestellen (ja behandeln) zu lassen, sie hätten da einen Gärtner an der Hand, der wahre Wunder vollbringen könne, doch verneinte ich ihr Angebot trotzig. Umso penibler wurde daraufhin der Garten der Nachbarn gepflegt, die Grundstücksgrenzen waren bald für alle offensichtlich. Die Vegetation am Nachbargrundstück folgte den Regeln eines klassischen Gartenparks, während bei mir Dschungel und Chaos einzogen.