Fremdes Licht - Michael Stavarič - E-Book

Fremdes Licht E-Book

Michael Stavaric

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Beschreibung

Sie ist an einem unbekannten Ort und in einer eisigen, unwirtlichen Umgebung. Erst nach und nach kehrt die Erinnerung zurück, und Elaine begreift, was passiert ist: dass ihr Großvater einst bei den Inuit in Grönland lebte und er sie mit dem Überleben in Eis und Schnee vertraut machte. Dass sie zuletzt für einen Konzern im Schweizer Ort Winterthur tätig war und sich dort als Genforscherin mit der Rekonstruktion von Leben beschäftigte. Dass die Erde während eines Kometeneinschlages zugrunde ging und sie die letzte Überlebende zu sein scheint. Was das alles mit ihrer Urgroßmutter aus Grönland zu tun hat, ahnt sie nicht.

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Buch

Sie ist an einem unbekannten Ort und in einer eisigen, unwirtlichen Umgebung. Erst nach und nach kehrt die Erinnerung zurück, und Elaine begreift, was passiert ist: dass ihr Großvater einst bei den Inuit in Grönland lebte und er sie mit dem Überleben in Eis und Schnee vertraut machte. Dass sie zuletzt für einen Konzern im Schweizer Ort Winterthur tätig war und sich dort als Genforscherin mit der Rekonstruktion von Leben beschäftigte. Dass die Erde während eines Kometeneinschlages zugrunde ging und sie die letzte Überlebende zu sein scheint. Was das alles mit ihrer Urgroßmutter aus Grönland zu tun hat, ahnt sie nicht.

Autor

Geboren 1972 in Brno, lebt als freier Schriftsteller in Wien.

Zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen, unter anderem: LeseLenz-Preis für junge Literatur, Adelbert-von-Chamisso-Preis, Österreichischer Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur. Lehraufträge unter anderem: Stefan-Zweig-Poetikdozentur an der Universität Salzburg, Literaturseminare an den Universitäten Bamberg, Wien, München und an der Rutgers University New York.

Michael Stavarič

FREMDES LICHT

Roman

Luchterhand

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Copyright © 2020 Luchterhand Literaturverlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Covergestaltung: Buxdesign

Covermotive: Schrift by Casey Horner on Unsplash

Schiff: ©Bridgeman Images/ T859 Critical Position of H. M. S. Investigator on the North Coast of Baring Island, August 20th 1851, drawn by Lieu. S. Gurney Cresswell, pub. 1854 by Day & Son and Ackermann & Co. (colour lithograph)

Satz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-20895-0V001www.luchterhand-literaturverlag.de

◊ ◊ ◊

Der Großvater erzählte mir einst, wenn ich träume, gehöre mir die ganze Welt, dass ich alles sein und bedenken könne, das gesamte Universum läge mir schließlich zu Füßen. Ganz egal, was du dir vorstellst, Elaine, irgendwo ist es längst Realität oder könnte ganz leicht zu dieser werden, behauptete er zuversichtlich. Ich stellte mir schon als Kind die unmöglichsten Dinge in meinen Träumen vor, um möglichst weit durch den Kosmos zu reisen, ich wollte etwas über das große Ganze erfahren, in welches die Erde und die Menschheit gebettet lagen.

Oft konnte ich es gar nicht erwarten, mich hinzulegen, die Augen zu schließen und aufzubrechen, an den unterschiedlichsten Planeten vorbeizuzischen, mir das eiskalte Vakuum um die Ohren wehen zu lassen, was streng genommen natürlich unmöglich ist, allerlei Abenteuer zu erleben, die etwas darüber aussagten, wer ich wirklich sein und was ich in der Welt bewegen wollte. Manchmal saß ich auf den Reisen durch meine Traumwelten auf einem Walross, einem Moschusochsen oder Eisbären, Tiere, von denen mir der Großvater ausführlich zu berichten wusste, schließlich begegneten sie ihm in Grönland beinahe jeden Tag.

Diese strampelten mit ihren Beinflossen durch das unendlich scheinende Nichts, ich krallte mich in ihren Nacken fest, wir waren schneller als das Licht, vor mir blitzte und funkelte es unentwegt. Wir flogen an Feuer- und Eisplaneten vorbei, ein jeder Ort war realisierbar, nichts und niemand konnte schließlich die Fantasie eines Kindes begrenzen, selbst die abwegigsten und unglaublichsten Gedankengänge blieben wie eine Achterbahn befahrbar, ein wildes Auf und Nieder. Ich setzte auf einem Planeten auf, dessen Oberfläche aus tastenden und zustechenden Eisstelen bestand, als wären diese mit einem Male lebendig geworden, als hätten sie sich mit Dolchen und Speeren bewaffnet, und doch blieb ihr Treiben ein zaghafter Versuch, etwas über das dort Draußen in Erfahrung zu bringen. Einem Raubfisch nicht unähnlich, der sachte zubeißt, weil es ihm an geeigneteren Gliedmaßen fehlt, um sein Visavis besser einschätzen zu können.

Der Vater wusste mit meinen Träumen weniger anzufangen, er hörte kaum hin, wenn ich sie ihm beim Frühstück erzählte, also blieb mir nichts anderes übrig, als den nächsten Besuch des Großvaters abzuwarten, der sich in meiner Kindheit zum Glück öfter in der Schweiz blicken ließ. Um keinen der galaktischen Träume zu vergessen, führte ich akribisch Tagebuch, ich kartografierte dort die Welt und den Kosmos mit meinen Augen und erschuf dabei fast zwangsläufig neue Tiere, Landschaften, Sterne und allerlei Begebenheiten. Und wäre die Mutter nicht früh gestorben, ich hätte sie wohl jeden Tag mit meinen imaginierten Geschichten überhäuft, gewiss hätte sie gelächelt und sich diese geduldig angehört, mich auf ihren Schoß genommen, und alles wäre auf ewig gut gewesen.

Dabei fiel es mir selbst in den kühnsten Träumen schwer, mir meine Mutter vorzustellen, was gewiss auch daran lag, dass der Vater keinerlei Abbildungen von ihr besaß, in Anbetracht der technischen Möglichkeiten unserer Zeit ein Affront sondergleichen. Immerhin war die Mutter insofern in unserem Haushalt präsent, da sie der Vater in einer mit Blütenranken reich verzierten Urne auf einer Anrichte gelagert hatte, es wäre dies der ausdrückliche Wunsch der Mutter gewesen, versicherte er mir, nach ihrem Tode verbrannt und in einem entsprechenden Gefäß auf der Kommode verwahrt zu werden. Darüber hinaus wusste er mir nichts zu erzählen, und ich konnte es lange Zeit nicht fassen, dass Mutter keine Nachrichten für mich hinterlassen hatte, kein Vermächtnis, keine Anleitung, kein einziges freundliches Wort. Bald schon dachte ich gar nicht mehr an sie, die Mutter war mir schließlich einer dieser pulverisierten Sterne im Universum, die dieses zwar weiter bedingten, doch ihm nicht mehr angehörten.

Der Großvater blieb die einzige mir vertraute Bezugsperson, die ich an mich heranließ, und wären er und Dallas nicht gewesen, ich hätte wohl gar keine sozialen Kontakte gehabt, wäre ein noch eigensinnigeres Kind gewesen, auf immer und ewig verloren in den kosmischen Weiten. Mit Dallas war ich aufgewachsen, er lebte mit seiner Familie in der Nähe des Vaters und stellte, neben Großvater, den einzigen echten Freund dar, den ich jemals gekannt hatte. Als Kinder gingen wir gemeinsam durch dick und dünn, als Jugendliche waren wir ineinander verliebt, ohne dass einer von uns den entscheidenden Schritt gewagt hätte, also trennten sich unsere Wege bisweilen. Dallas zog es in die Welt (er machte Karriere beim Militär), mich wiederum trieb es, abgesehen von der Arbeit, nach Grönland, zu Großvater und seinen Inuit.

Wir saßen dann vor Großvaters Hütte und blickten zu den Sternen empor, zu unseren Füßen lagen die halb im Schnee eingegrabenen Hunde, ab und an winselte einer von ihnen, er träumte wohl von beschwerlichen Pfaden. Wohin ich auch blickte, ich konnte mich nicht sattsehen an den Rillen und Furchen, die in manchen Nächten überdeutlich im Eis hervortraten, es war ein lebendiger, uns gewogener Organismus.

Einmal nahm Großvater meine Hand und sprach, dass man niemals aufgeben dürfe, dass es einen Grund dafür gäbe, warum wir hier seien. Und er erzählte mir in seiner unnachahmlichen Art davon, dass wir unsterbliche Seelen hätten, dass es alle Inuit längst wüssten und dass sich diese noch vor dem Tod ihres Körpers entschieden, welchen Weg sie weiter einschlagen wollten. Sollte man im ewigen Eis bestattet werden, so würde die Seele zu den Sternen emporfahren, und entschiede man sich für die Tiefen des Eismeeres, so würde diese durch eine friedliche Unterwelt wandeln, wo es reichlich zu essen gab. Und wollte man gar einen neuen Körper und eine nächste Existenz, so wäre auch dieses Unterfangen möglich, ich könne in einer jeden Gestalt im Eis erscheinen, die mir nur vorschwebte.

Seine Nasenspitze berührte dann sachte die meine, eine Geste namens kunik (), die unter den Inuit seit jeher als Zeichen der Zuneigung galt, wobei weniger die Berührung selbst im Vordergrund stand, vielmehr roch man einander dezent an Wangen und Haaren, ein intimer, einem lange im Gedächtnis verbleibender Moment, der irdische Wesen für immer zu verknüpfen vermochte. Du bist eine ganze Vergangenheit und eine ganze Zukunft, Elaine, lass es dir niemals nehmen, deine Geschichte so zu erzählen, wie sie wirklich passiert ist …

TEIL I Winterthur und das Ende der Welt

Our world is constantly speeding, the stars are still intriguing, the tears in our eyes, feed happiness for the next miles.

These visions make us desperate, give us hope, the end is always the start of a new episode. Feel free to interact with the plot, the choice can really mean a lot, just try to translate this secret code.

(Hooverphonic – »Visions«)

1.

ALLMÄHLICH BIN ICH KAUM MEHR in der Lage, die bittere Kälte zu ertragen.

Ich kann kaum die Augen öffnen, mich bewegen, geschweige fliehen, gar frei atmen, keine Ziele nirgendwo, überall Gedankenkreisel. Möge ich erfrieren, lasst mich endlich sein, innerlich verstarb ich oft genug, doch lässt der Tod weiter auf sich warten.

Ich will mich festhalten, fasse mehrmals nach dem Stiegengeländer, klamm sind die Hände, taub bis in die Fingerspitzen, der Frost und die Kälte lassen mich taumeln. Einst konnte es mir gar nicht kalt genug sein, ich tauchte selig ab, ließ mich fallen in jedwedes Eis, zwängte die Hände hinein, so tief es nur ging, wie in übergroße Backformen. Ich nahm gern ein Bad in kribbligem Schnee, der einem alles Blut aus den Fingern trieb, der dieses wie rote Eiswürfel in einem schmalen Glas zu stapeln schien, es fühlte sich ungemein lebendig an. Und später, wenn das Blut erneut in die Finger floss, wenn sich dieses wie ein Sturzbach innerhalb der Adern seinen Weg bahnte, wenn man die noch unterkühlten Hände an die halbwarmen Lippen hielt, sie mit etwas Atem anzuwärmen suchte, wenn man die Handflächen trotzig aneinanderrieb und diese wagemutig in den Nacken oder an den eigenen Hals legte, ließ mich all das erst frohlocken.

Die Kälte spornte den Körper an, aufzuwachen, sich zu bewegen, durch den Schnee zu laufen, lauthals und gellend zu schreien, sich in der Welt bemerkbar zu machen. Sie war wie ein Hund, dem ich nicht einmal einen Namen zu geben brauchte, lief mir treu hinterher, wir tollten gemeinsam durch eine verwunschene Winterlandschaft, das Bellen der Kälte war mein heiserer Atem, ihr zuliebe lief ich manchmal sogar auf allen vieren.

Nunmehr ertrage ich die Kälte nicht mehr, es ist undenkbar geworden, ohne Handschuhe und Wollmütze ins Freie zu gehen, meistens verkrieche ich mich und verlasse das Stiegenhaus nur noch dann, wenn es unvermeidbar ist. Vier, fünf Paar Socken streife ich mir über, Thermounterwäsche, zwei, drei Pullover, einen dicken Schal, doch friere ich dennoch, es existiert eine widernatürliche Kälte, die sich allmählich in meinem Körper breitmacht, die diesen unterwirft, meinen Kopf, meinen Rumpf und alle Gliedmaßen. Fast ist es so, als würde mir der Winter eine Kriegserklärung unterbreiten, das Leben versickert in tauben Fingerspitzen, kalten Unterarmen und eisigen Lippen, es ist mir vollkommen unmöglich geworden, mich aufzuwärmen, ganz egal, wie sehr ich auch die Hände balle oder wie nah ich an die mich umgebenden Wände rücke.

Ich schließe die Augen und verbringe gedanklich ein paar Stunden in der Badewanne, versuche mir vorzustellen, ich wäre noch im Mutterleib, wo es auf immer wohlig warm bleibt. Ich aale mich im viel zu heißen Wasser, das meine Haut rötet und reizt, das zwar die obersten Hautschichten aufzutauen vermag, doch ist die Kälte nach wie vor in mir, als wäre ich irgendeine den Elementen und ihren Widrigkeiten ausgelieferte Erdschicht. Eine Art Permafrost hält mich an diesem Ort gefangen, meine Hautoberfläche wird bestenfalls matschig, wenn sie wärmer wird, allfällige Druckstellen halten sich darin eine ganze Woche. Doch unter dem Matsch, unter der in meinen Träumen vom heißen Wasser verbrühten Haut, liegt blankes Eis, ich bin wie eine gefrorene, von Eiskristallen in Schach gehaltene Erde, jener Staub, aus dem sich der Mensch einst erhob, der nunmehr verklumpt, versteinert und zu gar nichts mehr taugt.

Der weißgraue Himmel draußen vor dem Stiegenhaus und die angrenzenden Hügel bleiben ununterscheidbar, die darin gefangenen sogenannten Anzeichen von Zivilisation bestehen aus ein paar aufgeplatzten Modulen, diversen Verschlägen, fast schon Baracken, ein paar zugespitzten Metallarmen und allerlei Bruchwerk. Sechs oder sieben Masten, wohl eher verdrehte, in sich verschraubte Antennen und Auslegerreste, recken sich in die Höhe, alles ist restlos und unwiederbringlich eingeschneit, weithin in der Ebene verstreut. Wie ein unwirtlicher, in einer lebensfeindlichen Umgebung gelegener Ort, so fühlt es sich an, das Allein-Sein, wund und zusammengepfercht mit den eigenen Erinnerungen. Man müht sich weiter, versucht irgendwelchen Aufgaben und Ordern nachzukommen, ab und an erkenne ich einen milchig-hellen Fleck am Himmel, es muss die Sonne sein, irgendein mir längst fremd gewordener Himmelskörper, doch ist es nicht weiter wichtig, sie strahlt keinerlei Wärme ab, davor ist immerzu Winter.

Wenn ich durch das Stiegenhaus gehe und vor die Türe trete, fühle ich mich immerzu am Abgrund, ich blicke in einen Eiskrater hinab, aus dem sich vereistes Metall schält, Luken und Lüftungsschlitze sind zu erkennen, alles wölbt und verschränkt sich, franst zugleich aus. Die Zivilisation, ganz egal, wie hoch entwickelt sie einst gewesen sein mag, sie scheint nur noch ein ausgeschlachtetes Wrack zu sein, irgendein verloren gegangenes Ding in dieser bedrohlichen Landschaft.

Meistens bin ich wie gelähmt, das Stiegenhaus liegt still und verloren da, ich strauchele, ziehe die Hände zurück, das eiskalte Metall des Geländers bleibt an meiner Haut haften, es scheint mich festsetzen zu wollen. Alles friert mittlerweile an mir fest, selbst Metallsplitter und Verstrebungen, die dann von sich aus immer weiter in den Raum wachsen. Bloß nicht zur Gänze daran festkleben, denke ich mir noch, einen Schritt nach dem anderen, auch wenn du es eigentlich besser weißt.

Das Stiegenhaus ist ein bläulich schimmernder Hohlraum, ich orientiere mich an dem fahlen, sich nicht weiter bemühenden Licht und taumele auf die hellste Stelle zu, selbst eine unförmig gewordene Silhouette, die sich nur zögerlich ins Freie wagt. Ich kann spüren, wie all meine Zellen verharren, sie scheinen plötzlich nur noch aneinandergereihte, in sich kollidierende Schneebälle zu sein, die von immer weiteren Eiskristallen befallen werden. Ihre rundliche, nach wie vor tröstliche Form löst sich endgültig auf, das verklumpte Eis ist schlussendlich überall, die Kälte überwindet alle Wälle und jede noch so gut konstruierte Zellwand, sie zieht ein, wohin sie will, und lässt mich erschaudern.

Eine Weile stelle ich mir vor, draußen sei Sommer, ganz egal, wie abwegig das sein mag, ich versuche Frost und Kälte, die meinen Körper umklammert halten, auszublenden. Ich spreche mir trotzig Mut zu, der Geist ist schließlich frei, und ich kann mir ausmalen, was immer ich will, vollkommen egal, wie die Realität auch beschaffen ist. Demnach gehe ich ein wenig spazieren, suche etwas Auslauf für die steifen Glieder, dick eingemummt stolpere ich durch die Ebene, sinke in den Schnee und denke beharrlich daran, dass Sommer sei, dass ich weiches Moos unter den Füßen habe, irgendeine von Gräsern und Kräutern überwucherte Wiese. Ich stapfe gedanklich durch schimmernden Sand, wate durch flüssiges Wasser, allein die Füße fühlen sich an, als gehörten sie jemand anderen. Bestimmt würden sich alle gehörig wundern, was mit mir los sei, mitten im Sommer in Daunenjacken, ja Thermoanzüge gewickelt, mit Handschuhen und Pelzkragen, ach, die Dame sei gewiss exzentrisch, wäre noch eine der höflicheren Formulierungen.

Die Menschen, die ich in der weißen Einöde zu erkennen glaube, tragen T-Shirts und kurze Hosen, die Frauen führen ihre Sommerkleider aus, unvorstellbar, wie warm ihnen sein muss. Sie werfen mir befremdliche Blicke zu, vielleicht halten sie mich für einen der Obdachlosen, die sich im Sommer in dicke Schichten hüllen; wer im Freien lebt, hat eine gänzlich andere Einstellung zu den Jahreszeiten. Jemand wirft mir plötzlich einen Ball zu, irgendein Kind, das in seiner eigenen, noch unverfälschten Welt lebt; einen Moment lang scheine ich nicht mehr befremdlich und verwahrlost. Ich versuche diesen aufzufangen, doch wie soll das schon gehen, wie kann ich noch Wunder vollbringen, mit diesen verfrorenen, mir nur gelegentlich gehorchenden Händen. Der Ball trifft meine Brust und prallt ab, er rollt und hüpft von dannen, das Kind läuft ihm verwundert hinterher, ganz offensichtlich bin ich keine geeignete Spielkameradin.

Augenblicklich verliere ich die Fassung, die sommerliche Umgebung löst sich im Nichts auf, sie verschwindet, und eine Windböe erfasst mich unversehens, der Winter hat sie mir nachgeworfen, um mich endgültig von den Beinen zu holen. Sollte ich heute fallen, würde ich nicht mehr die Kraft aufbringen, erneut aufzustehen, mich zurück zum Stiegenhaus zu schleppen, um mich in einem der Winkel zu verkriechen.

Ich blicke zum Himmel, einen Moment lang scheint dieser strahlend blau, im nächsten erneut weißgrau und fahl, Schneeflocken und Kälte rieseln herab, woraufhin ein paar Vögel durchs Bild zischen, ein paar Federn torkeln zu Boden, bestimmt brechen sie auf in den Süden. Ich schüttele heftig den Kopf, der blaue Sommerhimmel und die weithin sichtbaren, piepsenden Vögel werden erneut vom Winter weggewischt, der Schnee fällt nun noch dichter, als hätte jemand die Flocken fein säuberlich an langen Schnüren aufgefädelt, diese zunächst abermilliardenfach irgendwo am Himmel festgebunden und nunmehr mit glatten Schnitten alle Verbindungen gekappt. Die Schnüre rasen daraufhin unverzüglich auf den Boden zu, und dort, wo sie auftreffen, türmen sie sich in Windeseile auf, Seile und Netze und Sorgen aus Schnee. Fast scheint es, als wäre der Winter ein gewaltiges Schiff, die Matrosen sind damit beschäftigt, überall und endgültig Anker zu setzen, sie werfen eine Ankerkette nach der anderen über Bord, die Kettenglieder fallen nach unten, auf mich zu, der Winter wird sich wohl noch tiefer und unwiederbringlicher in die Erde bohren.

Insgeheim bekrittele ich, dass ich am bleichen Himmel noch kein Nordlicht gesehen habe, man sollte doch meinen, dass es sich irgendwann zeigen müsste, in den klareren und schneeloseren Nächten. Als Kind träumte ich davon, mich auf eine Expedition zum Nordpol zu begeben, wo sich irgendwann aus dem Kläffen der Schlittenhunde, aus klirrender Kälte und ewigem Eis langsam das Nordlicht hervorschälen würde, ich dürfte nur nicht die Geduld verlieren. Ich las etwas von starken Sonneneruptionen, dass die daraus resultierenden Sonnenwinde auf das Magnetfeld des Planeten einwirken, irgendwelche geladenen Teilchen (oder waren die doch ungeladen?) bringen schlussendlich den Himmel zum Leuchten, in allen nur denkbaren Schattierungen von Grün und Blau, mitunter auch Gelb und Rot.

Achromatopsie, die Farbenblindheit, es wäre mir tatsächlich unerträglich, kein Nordlicht wahrnehmen zu können, in manchen Kulturen käme allein das einem Fluch (oder Todesurteil) gleich. Alles nur noch in Kontrasten wahrzunehmen, hell und dunkel, weiß und schwarz, das wäre beinahe so, als wäre man auf ewig im Eis gefangen, als wären helle und dunkle Stellen die einzigen strukturgebenden Prinzipien, die allerletzten Bastionen der schwindenden Wahrnehmung. Kaum einer weiß, dass Farbenblindheit nichts mit einer Rot-Grün-Sehschwäche zu tun hat, eine solche Fehlsichtigkeit ist wirklich keinerlei Erwähnung wert. Erst die Achromatopsie macht Menschen zu Verlorenen und sich immer weiter Verlierenden in der Welt, die allmählich von den sie belagernden Graustufen überrannt und aufgesogen werden.

Obgleich sie über genügend Sehschärfe verfügen, kommt ihnen diese unmerklich abhanden, das grelle Weiß treibt sie unerbittlich vor sich her, die Lichtempfindlichkeit und Tagblindheit nimmt konstant zu, sie enden irgendwann in dunklen und verhangenen Räumen. Dabei liegt es nicht am Auge, das funktioniert vollkommen einwandfrei, es ist vielmehr die Verarbeitung der Sinne, die fortan zu wünschen übrig lässt, die Farben betreten den Kopf und verlieren sich im Nirgendwo, verpuffen im gräulichen Grau.

Für mich bleibt dies eine Krankheit des Winters, der nach und nach alle Farben erstickt, daran fand er seit jeher Gefallen; es hat auch nichts mit einer Schneeblindheit gemein, einer aktinischen Keratopathie, wie es die Ärzte unterscheiden würden, die allmählich das Auge schädigt, es lichtempfindlich und verwundbar macht. Die Keratopathie bleibt eine Strahlenerkrankung, das UV-Licht löst Stück um Stück die Netzhaut ab, geplatzte Äderchen röten die Augen, natürlich macht es ein Leben im Schnee nicht einfacher. Doch die Achromatopsie ist die wahre Geißel des Winters, als hätte man die Welt in ein permanentes Kontrastmittel getaucht, als wäre sie fortan nur noch ein Röntgenbild, um vermeintlich mehr zu sehen, jedoch immer weniger zu erkennen. Als Kind stellte ich mir noch vor, dass ich mich freiwillig von einem der Schlittenhunde beißen ließe (gewiss wären die immerzu hungrig), damit die Hand ordentlich blutet und so etwas Farbe in die eintönige Landschaft kommt.

Doch wie weit man vom Stiegenhaus aus auch gelangen mag, vermutlich ist nirgendwo ein Nordlicht zu erkennen, als wäre man irgendwo falsch abgebogen, auf einem fremden Planeten gelandet, auf dem es schlicht keine Aurora borealis gibt. Vielleicht existiert hier keine eigentliche Sonne mehr, kein Magnetfeld, nur noch schädliche, glimmende Strahlung und Winterstürme, gefrorenes, spitzes, dolchiges Wasser.

In solchen Momenten bleibt mir nur meine Fantasie, ich male mir aus, mich in eine sommerliche Wiese zu betten, den Himmel zu fixieren, mich aufs Atmen zu konzentrieren, ich bin eins mit der Welt, und nichts anderes zählt schließlich. In wohliger Wärme strecke ich die Glieder, rieche die erdigen Noten, die grasigen Nuancen, Zitrusfrüchte und Blütenstängel, ich bin, was ich bin, fern aller Zweifel.

Ich träume davon, im nächstbesten Café zu sitzen, beobachte die emsig im Tag agierenden Menschen, allesamt schlängeln sie sich durch die belebten Straßen, die Kellnerin vor mir wischt ihre Tische ab, unermüdlich arbeitet sie sich eine längere Zeile entlang, platziert dort den Salz- und Pfefferstreuer, einen hellen und einen dunklen Glasbehälter, wie eine Schachgroßmeisterin schiebt sie diese Figuren in die Mitte der quadratischen Möbel, immerzu der gleiche Eröffnungszug.

Doch unweigerlich holt mich die Realität wieder ein, ich werde förmlich in sie hineingezogen, die Welt der Kontraste hat mich wieder, überall ein helles und dunkles Grau, schmutziger und noch schmutzigerer, kristalliner Schnee. Mein Kopf setzt erneut auf, rumpelt ein wenig die eisglatte Ebene entlang, ich weiß nach wie vor nicht genau, wo ich mich befinde, ich weiß nur, dass hier, dass in mir immerzu Winter ist.

Nach der Bruchlandung unseres Flugschiffes, kaum dass ich mich aus meinem Eiskokon befreit hatte und ins Freie gekrochen war, konnte ich es gar nicht fassen, frei und ungehindert atmen zu können. Dass es hier tatsächlich eine Atmosphäre gibt, vollkommen egal, wie unwirtlich einem der Ort auch erscheinen mag, es verwundert mich ungemein. Augenscheinlich ist überall reichlich Sauerstoff vorhanden, ich meine, wer hätte das zu hoffen gewagt, dass irgendwo im Universum ganz zufällig noch ein Planet existiert, auf dem irdische Organismen vorbehaltlos atmen können.

Atme, Elaine, atme und beklage dich nicht ständig über die Witterung, atme tief durch, mit dem Atmen kommt die Zuversicht, dein Herz schlägt ja wie wild, der Sauerstoff hält Geist und Zellen beisammen. Atme immer weiter und lege dich bloß nicht zu lange hin, egal, wie schwindelig dir auch ist, dein Knie schmerzt, das linke Knie ist es, es fühlt sich an wie Pappmaché, wird wohl noch viel schlechteres Wetter kommen. Ein neues Knie, das wäre schon etwas, das viele Treppensteigen in Stiegenhäusern, und all das Waten durch meterhohen Schnee, wer würde das nicht nachvollziehen können. Vielleicht könnte ich mir sogar das Knie eines Mannes wünschen, es ist kräftiger und praktischer, die Knie einer Frau sind vielleicht schöner, doch reicht das im All nicht.

Ich taumele zurück zur klaffenden Öffnung, greife nach dem Stiegengeländer, das sich gar nicht wie ein solches anfühlt, vielleicht ist es auch nur irgendein Leitsystem, eine Treppe, ein Traktorstrahl, der einen, so gut es geht, aus dem Wind zieht. Ich versuche den Schnee abzuschütteln, sinke auf die Knie und rolle mich wie ein wundes Tier, ich springe hoch und drehe mich um die eigene Achse, immer noch mehr Schnee wird dabei im Stiegenhaus verteilt, ich bin eine lebende Zentrifuge, und nichts soll mir anhaften.

Vorsichtig steige ich die Treppen hoch, es ist schon seltsam, wie schnell man übereinkommt, allem Schrecklichen einen freundlichen Überzug zu verpassen. Plötzlich gibt es wieder Wörter für einen wie Treppen, Türen, Stiegenhäuser, Badewannen und Co., die Kleidung ist winterfest, die Kälte ein alter Freund, mit dem man sich doch nur auszusöhnen braucht. Selbst Augenkrankheiten (und Gedanken an diese) stellen eine willkommene Abwechslung dar, sie bieten Erklärungen und somit Normalität, der menschliche Geist ist beinahe zu einer jedweden Täuschung fähig.

Ich denke über die alten Kulturen nach, die den Nordlichtern allerlei Dinge nachsagten: Die Wikinger glaubten, diese seien Vorboten und Verkünder geschlagener Schlachten, sie erkannten die sich am Himmel widerspiegelnden Rüstungen der Walküren, die im Auftrag Odins die gefallenen Helden nach Walhalla geleiteten. Die Inuit sahen eine große Seelenwanderung, tanzende Vorfahren, die, einer nach dem anderen, schließlich das Jenseits erreichten; die Nordlichter waren Pforten, durch welche man in ein nunaulluq (), ein Land des Tages treten konnte, ein Land ohne Mühsal und voller endloser Vergnügungen; Legenden nach spielen dort die Toten mit Walrossschädeln Fußball, wobei die Stoßzähne immer wieder im harten Schnee stecken bleiben. Als Kind hatte man mir tatsächlich Darstellungen davon gezeigt, Gruppen von Männern, die sich eifrig plagten und mühten, das selbst nach seinem Tode geschundene Walross tat mir leid.

Die Chinesen wiederum vermuteten in ihnen Drachen und mythische Wesen, die durch ein Pfeifen angelockt und durch ein Klatschen von der Erde ferngehalten werden konnten. Die Einwohner der Färöer-Inseln fürchteten um Leib und Leben, Kinder wurden seit jeher ermahnt, nicht ohne Mütze aus dem Haus zu treten, sonst käme das Nordlicht und schnitte ihnen die Haare (gar Köpfe) ab; unter Umständen wurde man sogar von diesem fremden Licht gelähmt, wenn man es ungebührlich lockte oder anlachte. Manchmal ging man auch unisono davon aus, dass das Nordlicht den Widerschein von großen Heringsschwärmen und Fischschulen im Meer darstellte, dass die Fische ganz knapp unter der Wasseroberfläche schwammen und dabei Lichtstrahlen gegen die Wolken warfen, die man vom Land aus beobachten konnte. Die Indianer Nordamerikas waren davon überzeugt, dass das Licht von Tiergeistern stammte, insbesondere Weiß- und Narwalen, Großen Tümmlern und Seehunden, um den Menschen Ehrfurcht einzuflößen.

Mir scheint, jedwede gedankliche Ablenkung ist mir willkommen, ja selbst die absurdesten Überlegungen versehe ich mittlerweile mit einem heiteren Überzug, einem weißen, freundlich anmutenden Laken, auf das ich mir allerlei notiere und zeichne, Bann- und Merksprüche, kleine Kritzeleien, ein paar krakelige Blumen. Während ich mich immer noch die Treppe entlangmühe, erinnere ich mich an die langen, fordernden Polarnächte, eine Zeit, die selbst von den standhaftesten Inuit als eine beschrieben worden war, in der man die Last des Lebens spürt, und qitujappuq (), sich unweigerlich unter dieser beugt. Ich kann mir plötzlich überdeutlich ihre gebückten Gestalten ausmalen, die sich irgendwie mit der Landschaft zu arrangieren suchen, mehr Tiere denn Menschen, sie kauern am Boden und lassen keinerlei Zweifel darüber aufkommen, wie sehr sie unter der Kälte leiden.

Mit einem Mal denke ich an die Abenteuer des Polarforschers Robert Scott, der, als er das Nordlicht zum ersten Mal sah, verlauten ließ, dass es unmöglich sei, Zeuge eines solchen Phänomens zu werden, ohne dabei Ehrfurcht zu empfinden. Mir selbst war nie klar gewesen, was ich beim Anblick eines Nordlichtes empfinden, woran ich denken, womit ich es assoziieren würde. Ich hoffte wohl, es wäre etwas Tröstliches, eine freundliche, wissende Erscheinung, die ich mit einem noch freundlicheren Überzug versehen könnte. Dort ließe sich auch das Wort Nordlicht in den mir bekannten Inuit-Sprachen aufnotieren, demnach atsanik () im Dialekt der Labrador oder aqhaq () im Wortlaut der Kivalliq oder gar auf Ostgrönländisch: arsarniq ().

Endlich gelange ich an das Treppenende, dorthin, wo das Stiegengeländer in eine Art Koje übergeht und ich mich zur Ruhe begebe; mir fällt noch ein, dass die alten Voyager-Sonden schon in den 1970ern zum ersten Mal spektakuläre Bilder von Jupiter und Saturn zur Erde funkten, die allerlei fremde Nordlichter auf diesen Planeten zeigten. Eigentlich ist dieses Phänomen überall im Universum möglich, wo es Magnetfelder und Sonnen gibt, das Nordlicht stellt somit alles andere als eine ausschließlich irdische Erscheinung dar.

Ich winkele die Beine an, umfasse sie mit den klammen Händen, versuche diese glatt zu streichen, Haut und Stoff zu begradigen, mich erneut aufzuwärmen. Ich streife mir einen der Pullover über den Kopf, liege nunmehr in meinem Bett, schon wieder eines dieser Wörter, die mir Normalität vorgaukeln, die einer mir einst vertrauten Sprache entstammen. Vielleicht hat es ja sogar sein Gutes, dass ich hier noch keinem Nordlicht begegnet bin, vielleicht sind die Reste meiner Zivilisation auf diesem Planeten nur ein weiterer Ansporn, es nunmehr besser zu machen, einmal noch das Chaos ordnen, eine letzte große Anstrengung zu unternehmen, bevor sich alles zum Guten wendet.

2.

ICH WOLLTE AUFWACHEN, mir die eiskalte Nasenspitze mit der Zunge ablecken, mir ein herrliches Frühstück zubereiten, weiches Ei, Käse, etwas Salami, doch geschah das alles nur im Kopf; sich alles leichtfertig vorzustellen, war eine der einfacheren Übungen. Irgendwann öffnete ich endlich die Augen, die Wimpern waren bereits ein wenig festgefroren, ein seltsames und keinesfalls beunruhigendes Gefühl machte sich in mir breit. Früher wurde ernsthaft behauptet, man trainiere auf diese Weise seine Augenmuskeln, alle Menschen im Norden bekämen so einen stechenden und klaren Blick; es war schon erstaunlich, was sich Menschen gemeinhin einzureden wussten.

Ich legte den Kopf in den Nacken, erstaunlicherweise fielen mir dabei keinerlei Gliedmaßen ab, kein Haupt, kein Bein, kein Arm, die Nase saß weiterhin fest in ihrem Sattel, möglicherweise ja nur, weil ich inzwischen restlos gefroren war. Ich winkelte die Beine an, streckte die Arme von mir, ganz weit nach hinten schienen sie zu reichen, in eine mir nicht mehr zugängliche Vergangenheit.

Ich griff mir erneut das Stiegengeländer, Kontaktschmerzen machten sich in meinen Unterarmen breit, welche sich langsam, jedoch unaufhaltsam bis zu den Schulterblättern ausweiteten. Vor allem nach dem Aufstehen vermied ich es, etwas anzufassen, versuchte achtsam aufzutreten und nur die allernötigsten Schritte zu wagen. Erstaunlicherweise wurde das allmählich besser, das Gehirn war bekanntlich ein gänzlich schmerzunempfindliches Organ, irgendwie übertrug es diese Gabe im Laufe von Stunden auf den gesamten Körper. Natürlich hielt dieser Zustand nicht an, die Kälte forderte nach wie vor ihren Tribut, und biologische Tatsachen ließen sich nicht vollständig aus der Welt halluzinieren, doch etwas Linderung war möglich.

Ich sah mich genauer im Stiegenhaus um, im Schiffsrumpf war alles durcheinandergewirbelt worden, je tiefer man kletterte und sich zu orientieren suchte, desto größer wurde das Chaos. Kam mir dabei etwas Brauchbares unter die Augen, versuchte ich es zur Seite zu schaffen, Nahrung hatte dabei absolute Priorität, ich freute mich allerdings auch über funktionierende Leuchtdioden oder Isoliermaterial.

Mir fielen ein paar Behälter auf, die als fragil gekennzeichnet waren, die dementsprechenden Symbole waren überdeutlich auf allen Seiten eingestanzt. Ich öffnete einen davon, um mich zu vergewissern, was sie enthielten, möglicherweise konnte dies noch zum Fund des Tages avancieren; die darin fein säuberlich gereihten Glasröhrchen ließen allerdings Anderweitiges vermuten. Ich nahm einen dem Behälter beiliegenden Scanner zur Hand, erstaunlicherweise funktionierte dieser anstandslos, Samenspende informierte das Gerät, ein wohlklingender Piepton ertönte. Ich navigierte mich kurz durch das übersichtlich gestaltete Menü, alles war ordnungsgemäß gelistet, Herkunft, Alter, Ausbildung etc. Jedes Flugschiff hatte solche Behältnisse an Bord gehabt, sie zählten zur Standardausrüstung, nur für den Fall der Fälle, nun, davon konnte man bei mir ja wohl ausgehen. Ich ließ es mir nicht nehmen, kurz aufzulachen, die Vorstellung, mich selbst mithilfe eines Glasröhrchens zu befruchten, wie soll ich es ausdrücken, es entbehrte nicht einer gewissen Komik.

Ich war ganz offensichtlich die einzige Überlebende des einzigen jemals auf den Weg gebrachten und tatsächlich in den Orbit gelangten Schiffes, ich erinnerte mich vorerst nur lückenhaft an den eigentlichen, überhasteten Aufbruch. Überall waren Schreie und Getrampel zu vernehmen gewesen, das Sirenengeheul ließ beinahe die Trommelfelle platzen, alle waren irgendwie auf dem falschen Fuß erwischt worden.

Es hieß, der Komet wäre aus dem Nichts aufgetaucht, zunächst ein winziges Etwas irgendwo in unsäglicher Ferne (und nur mit den allerbesten Teleskopen zu erahnen), in der verbleibenden Zeit hatte man selbstverständlich nichts unversucht gelassen. Der technische Fortschritt der Menschheit war weit gediehen, die führenden Konzerne verfügten über beträchtliche Mittel und Möglichkeiten, doch waren schließlich die Gräben zu tief, das Misstrauen zu groß, und eine Zeitlang hielt man den Kometen sogar für eine Finte, ein Ablenkungsmanöver der jeweiligen Gegenseite, einzig und allein ausgeklügelt, sein Visavis zu übertölpeln.

Mancherorts kam es zu seltsamen Vorfällen, diverse Menschen und Gruppierungen suchten nach Lösungen, der nahenden Katastrophe zu begegnen, allerdings waren die Bemühungen allesamt Sackgassen, welche schlussendlich in Massenselbstmorden mündeten. Auf der Insel Hawaii warfen sich die Menschen in Vulkankrater, um mit ihrem Opfer kosmische Mächte zu besänftigen, nahezu die gesamte Bevölkerung starb so noch vor dem Einschlag in einem Flammenmeer. Von der Insel Gotland aus versuchte man die Welt zu bekehren, ein neuer Glaube sollte das Unglück abwenden, alte Systeme und Strukturen hätten doch erst den Untergang heraufbeschworen, und nur die Abkehr von der Vergangenheit ermögliche eine Zukunft und besänftige selbst unverrückbar scheinende Kometen. Man sprach von einer neuen Herrlichkeit, die sich allmählich einstellen, die wie der Komet das bisherige Dasein pulverisieren würde, denn kein Mensch könne in dieser Herrlichkeit verharren, ohne dem alten Leben restlos zu entsagen.

Unser Unternehmen hatte fieberhaft an einer Flotte gearbeitet, mit deren Hilfe man entfernte Exoplaneten erreichen konnte, es gelangen dabei ein paar nennenswerte Durchbrüche, damit will ich sagen, der Bau der Schiffe war kein ausschließliches Himmelfahrtskommando. Schlussendlich reichte jedoch die Zeit nicht, der Komet, der immer näher kam und beinahe die Größe Madagaskars aufwies, beschleunigte zusehends (was physikalisch angeblich unmöglich war, doch so war es), das anfängliche Misstrauen wich einer sich immer weiter ausbreitenden Apathie, und wir brachten es lediglich hin, einige vielversprechende Prototypen zu bauen. Im finalen Chaos ging schließlich jedwede Ordnung verloren, nur wir schafften es in den Orbit (und darüber hinaus).

Ich sah dabei zu, wie der Schatten des Kometen die Erde verfinsterte, wie sich eine undurchdringliche Finsternis unaufhaltsam ausbreitete, und ich beschloss, mich nicht mehr umzublicken. Ich fühlte förmlich, wie wir über die Köpfe der zurückgebliebenen Menschen hinwegrasten, die unserem Flugschiff verzweifelt nachriefen, gewiss standen überall alle Fenster und Türen offen, wie es in Häusern, die auf ein großes Unglück warten, zu sein pflegt. Unser Flugschiff machte sich auf in die kalten Weiten, und ich schwebte nunmehr in eine neue Einöde davon, in der sich schwarzer Kosmos und dunkles Chaos ununterscheidbar vereinigten.

Ich denke nicht mehr viel über das Ende der Erde nach, manchmal glaube ich, es war unvermeidbar, die Menschheit (und die Summe ihrer Handlungen) hatte es nicht anders verdient. Allerdings geschieht es nach wie vor, dass ich davon träume, mir ausmale, was genau ich gesehen, sofern ich mich umgedreht und es bis zum Ende mitverfolgt hätte: all das Chaos und den Schmerz, die sich aufspaltenden Lichter, die verglühende Materie, die schreckensgeweiteten Augen allerorten. Ich wusste es bewusst zu vermeiden, habe nicht geklagt oder geweint wie all die anderen, die sich vom Inferno gefangen nehmen ließen, von den riesigen, wuchernden, zerfallenden Feuer- und Gesteinsbällen. Dennoch sehe auch ich diese Feuerbälle in meinen Träumen, ich spüre die quälende Hitze, die Schockwellen und den brüchig gewordenen Raum, das lautlose Bersten der Erdkruste lähmt mich, schlussendlich ist die Fantasie das größte Monster von allen.

Dabei waren erst Jahrhunderte voller Lichtkriege und Zwistigkeiten zu Ende gegangen, es hieß noch, von nun an würde es besser werden, man würde den technischen Fortschritt ausschließlich zum Wohle aller einsetzen. Der Erste Lichtkrieg beeinträchtigte in der Tat die gesamte Welt, alles geriet aus den Fugen, und der Himmel stand drei volle Jahre in Flammen. Man benötigte Spezialbrillen, um hinaufsehen zu können, viele Menschen verloren schlussendlich ihr Augenlicht oder hatten sonstige Beeinträchtigungen, Achromatopsie hieß nur eine davon. Den Kindern wurde erzählt, dass sie sich nicht weiter fürchten müssten, nur ein paar neue Regeln galt es zu befolgen, Spezialbrillen tragen und sich nicht übermäßig lange im Freien aufhalten, kein Regenwasser trinken. Man erfand allerlei Märchen über Leuchtkäfer und Elfenwesen, die am Himmel miteinander spielten, viele verniedlichende Erklärungen kursierten, warum es für eine ganze Weile keine Sterne mehr zu sehen gab.

Natürlich stand der Himmel nicht wirklich in Flammen, es war die schiere Menge an Energiegeschossen, die diesen grell erleuchtete, unablässig blitzte und flackerte es dort, der Erste Lichtkrieg fand schließlich in den Lüften statt, wo sich alle Kriegsparteien in Stellung gebracht hatten. Selbstverständlich wurde auch am Boden einiges zerstört, doch im Vergleich zu noch weiter zurückliegenden kriegerischen Auseinandersetzungen hielt es sich in Grenzen, man mutmaßte, es starben lediglich fünfzehn Millionen Menschen.

Im Zweiten Lichtkrieg kam es schlimmer, neue, fortschrittlichere Waffen wurden eingesetzt, der Himmel selbst war allerdings nicht mehr hell erleuchtet, dafür blieb es brütend heiß, man bekämpfte einander mit Plasma und Blitzen, ein für alle Mal sollten die Dinge geklärt werden, die Vorherrschaft manchen Regierungskonzerns stand auf dem Prüfstand. Die Hitze selbst ließ sich nicht so gut in Geschichten verpacken, die Luft kochte förmlich in etlichen Gegenden, und viele Eisgebiete der Erde schmolzen ab, es war allerdings nichts im Vergleich zum ohnedies vorangeschrittenen Klimawandel. Das Leben spielte sich während dieser Jahre vorwiegend unter der Erde ab, man hatte riesige unterirdische Städte entworfen und diese mit der Zeit ausgebaut, es mangelte dort keinesfalls an Komfort und Zeitvertreib. Überall wurde weiter geforscht und analysiert, visionären Gedanken standen allerlei Türen offen, alles in allem musste man anmerken, dass die Lichtkriege die Menschheit in technischer Hinsicht keinesfalls zurückwarfen, die hundert Millionen Toten wurden dafür in Kauf genommen.

Danach folgte eine unglaublich prosperierende Ära, es war verblüffend, was alles möglich wurde, vieles davon hätte man früher noch für Magie oder Science-Fiction gehalten. Und dann tauchte plötzlich wie aus dem Nichts dieser Komet auf, mit etwas Glück hätte er auch an der Erde vorbeifliegen können (was er nicht tat), nur ein halbes Jahr mehr Zeit hätte man gebraucht (so die führenden Wissenschaftler). Er hätte angeblich trotz seiner gigantischen Ausmaße von seiner Bahn abgebracht werden können, am Ende war wohl tatsächlich etwas Pech dabei.

Unser Flugschiff sollte nach dem Einschlag durch Zeit und Raum rasen, wir waren schließlich theoretisch schneller als das Licht (was doch auch alle ewig für unmöglich gehalten hatten), die Technologie krümmte den Raum, und allerlei Distanzen schrumpften, man beschloss schon in der Planungsphase, zu dem aussichtsreichsten Kandidaten zu fliegen, einem angeblich erdähnlichen Exoplaneten. Dort müssten wir anschließend von vorne beginnen, alles, was dazu vonnöten war, befand sich an Bord, nicht zuletzt auch eine umfangreiche Gendatenbank der Fauna und Flora. Genome würden von den mitgeführten Maschinen zu neuem Leben erweckt werden, und was soll ich noch sagen, alles würde gut. Unser Flugschiff war eine Arche, Saatgut und vollständige Gensequenzen aller nur denkbaren Arten waren vorrätig, die stilisierte Darstellung der Doppelhelix fand sich sogar als Emblem auf unseren Uniformen wieder, nur hatte die kaum einer getragen, unser Start war wahrlich eine überstürzte Flucht gewesen und kein geordneter Rückzug vom Heimatplaneten.

Ich weiß noch, wie ich die Rampe zum Schiff entlanglief, zur eigentlichen Besatzung sollten so viele Menschen wie möglich an Bord gebracht werden, doch war ihre Anzahl streng limitiert, vorgegeben durch die zur Verfügung stehenden Schlafkokons. Keiner wusste, wie lang die Reise dauern und wie weit sie gehen würde, die Kokons selbst waren formschöne Prototypen einer gänzlich neuen Generation von kryonischen Maschinen. Es war uns tatsächlich gelungen, Lösungen und Flüssigkeiten zu entwickeln, in denen kaum ein Körper mehr Schaden nahm, theoretisch könnte man so wohl sogar ewig durchs All treiben. Einzig und allein das Flugschiff (das mit den Zieldaten programmiert worden war) müsste rechtzeitig die Erweckungssequenz initialisieren und alle Kokoninsassen ins Leben zurückholen.

Einst hatte man diesbezüglich erste Erfolge erzielt, der Fall Dr. Anna Bågenholm galt im Nachhinein als historischer Meilenstein, man diskutierte diesen ausführlich in allen Forschungseinrichtungen. Die Datenbanken verzeichneten demnach einen tragischen Skiunfall besagter schwedischer Ärztin, die während einer Tour im Eis einbrach, sich zwischen Eisblöcken verkeilte und mithilfe einer Luftblase noch gut zwanzig Minuten unter Wasser weiteratmen konnte. Nachdem man sie geborgen hatte, war sie klinisch tot, die Kerntemperatur des Körpers selbst auf 13,7 Grad Celsius gesunken, doch gelang es den damaligen Ärzten, ihr kaltes Blut über einen speziellen Wärmetauscher zu führen und dieses mit frischem Sauerstoff anzureichern, summa summarum: Sie erwachte ohne bleibende Schäden, obgleich sie mehr als drei Stunden keinerlei Herz- und Körperfunktionen aufgewiesen hatte.

Schlussendlich hatte die Forschung ein hehres Ziel formuliert, nichts Geringeres als die potenzielle Unsterblichkeit wollte man erlangen, es anderen irdischen Organismen gleichtun, die keinen Alterungsprozess aufwiesen und bei günstigen Bedingungen nahezu für immer ihren Stoffwechsel aufrechterhalten konnten. Man erforschte intensiv einige Quallenarten, die es seit jeher beherrschten, ihre alten, verbrauchten Zellen in junges Gewebe umzuwandeln, beliebig oft und unbegrenzt, eine Art Perpetuum mobile, das ihnen ewiges Leben sicherte. Schließlich entstand auch der Forschungszweig der Transdifferenzierung, der sich allerlei Zellumwandlungsprozessen verschrieben hatte, die Ansätze waren von Anfang an vielversprechend. Und obgleich es später nicht gelang, einen Durchbruch zu erzielen, sprich, dieses Quallenprinzip restlos auf den Menschen zu übertragen, war man in Kombination mit der sich rasant entwickelnden Kryonik in der Lage, Schlafkokons zu konstruieren, in denen man (theoretisch) ewig in jenem (klinisch toten) Zustand verharren konnte. Allerdings ließen sich der Kälteschlaf (man vermied das Wort Kältetod) und die anhängige Erweckung nur einmal durchführen, der Erfolg der Transdifferenzkryonik basierte auf der Entscheidung, wann Körper eingefroren und wieder ins Leben zurückgeholt werden sollten, einen zweiten Versuch, beziehungsweise ein nochmaliges Einfrieren, gab es nicht, das hatte unweigerlich den Tod zur Folge.

Ich weiß noch, dass es mich in der Jugend gewundert hatte, dass die Inuit überhaupt ein Wort für Quallen kannten, wo sie diese doch normalerweise nie zu Gesicht bekamen, vielleicht ja mal als Beifang in kleinen Netzen. Als itqujaq () wurden diese bezeichnet, was sich noch am ehesten mit lose im Meer umher irrende Schneeflocken übersetzen ließ.

Unter uns Wissenschaftlern wurde augenzwinkernd behauptet, dass wohl denjenigen, die Kälte gewohnt waren, eine recht entspannte Reise blühte. Was mich persönlich betraf, so glichen die frostigen Schlafkokons zunächst altbekannten Unterschlüpfen, die von den Inuit-Jägern schon vor Jahrtausenden ins Eis gegraben worden waren. Ich galt stets als eines der Winterkinder, schließlich war ich mit Kälte groß geworden, viele Generationen lang hatte es in meiner Familie Inuit-Vorfahren gegeben. Ihr Wissen hatte mir natürlich der Großvater vermittelt: in Eis und Schnee über die Runden zu kommen, nicht in Panik zu geraten, den Frost als lebendiges Wesen zu erachten, mich auf ihn einzulassen. Sinnaliuqpuq (),versuch zu schlafen, ganz egal, was der Frost auch im Schilde führt, der Großvater lächelte, schließlich konnte diese Formulierung auch als ein es ist ziemlich hart zu schlafen übersetzt werden. Und wie hart es doch im Eis werden konnte, wenn selbst kleinste Handgriffe zur Mühsal gerieten, wenn einem der Wind mit tausend Nadelstichen die Haut perforierte und die kalte Luft in der Lunge zu implodieren schien.

Ich war eine der letzten Personen gewesen, die ins Schiff vordringen konnten (was vielen Besatzungsmitgliedern verwehrt blieb), dieses war schlichtweg (wie auch die anderen Prototypen) gestürmt worden; schlussendlich kamen (trotz initiierter Startsequenz) zu viele Menschen an Bord, die Schlafkokons würden keinesfalls ausreichen, und ein Drittel der eigentlichen (und qualifizierten) Besatzung blieb tragischerweise auf der Erde zurück.

Ich selbst hatte die Leitung der Forschungsabteilung unseres Flugschiffes inne und war unter anderem mit der Rekonstruktion diverser Säugetierarten vertraut. Nach unserer Ankunft auf dem neuen Planeten, sofern es die Bedingungen erlaubten, sollte ich mich unverzüglich der Schaffung neuer und überlebensfähiger Populationen widmen, Tiere und Tierstämme galt es, aufzubauen und in Freiheit zu entlassen, die mit den vorherrschenden Bedingungen zurechtkämen. Stets hieß es dabei (vor dem Abflug), der neue Planet sei vielversprechend, alles wäre machbar, und wir würden unser Bestes geben, uns schon irgendwie einleben und überleben.

Spätestens nach dem überhasteten Abflug, wohl wissend, es als einziges Flugschiff in den Orbit geschafft zu haben, dämmerte vielen, dass die Schwierigkeiten erst begannen. Wir hatten unseren angestammten Planeten verloren und für immer zurückgelassen, einen glühenden, brennenden Klumpen, auf dem die gesamte Menschheit (und ihr technischer Fortschritt) mit einem Schlag ausgelöscht worden war. Vielleicht überwog bei dem einen oder anderen die Erleichterung, es bis hierher geschafft zu haben, manche sogar mit ihren gesamten Familien, doch lag nunmehr eine Reise vor uns, deren Ausgang mehr als ungewiss war.

Es sollte sich schon bald als unleugbare Tatsache erweisen, dass es schwer werden würde, die fehlende Besatzung zu ersetzen, dass die Vorräte keinesfalls so lange ausreichen würden wie geplant. Dass die vielen, zusammengewürfelten Menschen miteinander konkurrieren und in Konflikt geraten würden, dass vor allem jedoch der Mangel an Schlafkokons rund der Hälfte der Passagiere das Überleben schlicht unmöglich machte, es gab einfach nur eingeschränkte Ressourcen. Einem beträchtlichen Teil der Reisenden würde demnach die Transdifferenzkryonik nicht zur Verfügung stehen: Wie würden die Betreffenden reagieren, wie könnte man überhaupt eine (faire) Auswahl treffen, und was geschähe mit den Verbliebenen? Würde man ihnen gestatten, während die Übrigen in ihren Schlafkokons konserviert und auf die Ankunft auf dem neuen Planeten vorbereitet werden würden, ein Borddasein zu fristen, dieses zu Ende zu leben? Würden sie über die Eingefrorenen wachen? Oder würden sie schon dafür Sorge tragen, dass diese mit ihnen untergingen? Würden sie irgendwann gar die Wehrlosen aus den Kokons zerren, um ihren Platz einzunehmen? Wer konnte das wissen, die Reise mochte, ganz gleich wie fortschrittlich die Technik war, Jahrhunderte dauern, am Ende blieben wir alle als Tote im All gefangen.

Während ich zur Kommandozentrale hochlief (jedes Besatzungsmitglied musste sich regelmäßig auf der Brücke melden), schossen mir diese und ähnliche Gedanken durch den Kopf, überall in den Gängen saßen verängstigte, finster dreinblickende Menschen, einige halbwegs bei Sinnen, mit allerlei Hab und Gut, andere wirkten verwahrlost. Kinder liefen umher und weinten, einige der Männer, an denen ich mich vorbeizwängte, trugen Waffen, frei baumelnde Messer und Laserpistolen. Andere waren augenscheinlich verletzt, hastig angelegte Verbände sah man praktisch überall, viele lagen auch nur apathisch am Boden, überall dazwischen verteilte sich die Besatzung so gut es ging, alle waren heillos überfordert.

Ich betrat die Zentrale, es hatten es nicht alle, die ich zu sehen erwartet hatte, geschafft, doch stand der Kapitän unverrückbar auf der Brücke, er warf mir einen zuversichtlichen Blick zu, und ich fühlte an jenem infernalen Tag zum ersten Mal Ruhe in mich einkehren, Dallas hatte es schon immer verstanden, Zuversicht auszustrahlen. Mit ihm als Kapitän hatten wir immerhin eine Chance, schließlich hatte nur er es vermocht, das Flugschiff bis in den Orbit zu manövrieren. Allen versprengten Projektilen, Gesteinsbrocken und Feuersäulen waren wir ausgewichen, wir allein würden bald weiterfliegen, das Sonnensystem für immer verlassen.

Ich blickte aus einer der Fensterluken, ich sah die schimmernde Sonne, diesen vertrauten, unbeirrbar strahlenden Angelpunkt unserer Existenz, nichts in ihrem Antlitz wies auf eine Katastrophe hin, alles war wie immer, ja fast schien sie mir zuzuflüstern, die Erde soll sich mal nicht so wichtig nehmen. In unserem Sonnensystem würden die Dinge weiterhin ihren Lauf nehmen, Planeten kamen eben und gingen, die normalste Sache der Welt. Und solange die Sonne schien, würde das System weiter existieren, ihr seid nun auf euch allein gestellt, hörte ich sie in meinem Kopf prasseln, als wäre es eine Aufforderung: alles Sein, die Kultur und Natur, vielleicht ja den besseren Teil seiner selbst zurückzulassen. Als wären wir einfach nur Kinder, die das Haus verließen, um sich andernorts zu beweisen; als hätten wir ohnedies viel zu lange gezaudert und gezögert, wider besseres Wissen alle Warnungen außer Acht gelassen, unser Ende war nur eine Frage der Zeit gewesen.

Der erste Offizier nahm meine Anwesenheit ebenfalls zur Kenntnis, ich solle mich in die Forschungsabteilung begeben, dort meinen Platz einnehmen und eine erste Bestandsaufnahme durchführen. Ob die Rekonstruktoren und all die unerlässlichen Maschinen noch funktionstüchtig waren, ob das genetische Archiv irgendwelche Schäden davongetragen hatte, es galt Checklisten abzuarbeiten und sich auf seine ureigensten Aufgaben zu konzentrieren. Der Kapitän teilte uns unterdessen über die Bordlautsprecher mit, dass das Schiff intakt sei, dass, bis auf Weiteres, keine unmittelbare Gefahr drohe, er bat um Ruhe und Geduld, appellierte an die Vernunft der Menschen: Alle sollten sich in den nächsten Tagen bei der Besatzung registrieren lassen, nicht auf gut Glück und orientierungslos im Schiff umherirren, man könne ruhig bleiben, wo man sei und weitere Anweisungen der Crew abwarten. Selbstverständlich würde man Versorgung und Schlafplätze sicherstellen, er, der Kapitän, würde persönlich jeden Einzelnen schon demnächst darüber informieren, wie es weitergehe. Vordringlich blieben, so Dallas, die Inspektion des Flugschiffes und alle damit verbundenen Instandsetzungsarbeiten, man müsse sicherstellen, dass das Antriebssystem reibungslos funktioniere, bevor die eigentliche Reise angetreten werden könne. Er versprach für alle, die an Bord waren, zu sorgen, und forderte ein letztes Mal Besonnenheit und Verständnis ein, er bat darum, die Besatzung ihre Arbeit tun zu lassen, sich ruhig zu verhalten und abzuwarten.

Bevor ich mich auf den Weg machte und die Brücke verließ, kam Dallas kurz zu mir gelaufen, er schüttelte meine Hand und umarmte mich, schon unsere Väter waren schließlich miteinander befreundet gewesen. Dallas kam mit Kälte fast so gut zurecht wie ich; als Kinder hatten wir gemeinsam unzählige Schneemänner und eisige Unterschlüpfe gebaut, in den Bergen aufeinander geachtet. Ich bin so froh, dass du es geschafft hast, Elaine, sagte er, ich nickte und versuchte zu lächeln.

Ich denke nicht, dass es sonderlich gut gelang, schließlich war es einer dieser Tage, die von den Inuit als qungatujuittuq ()bezeichnet werden, man war außer sich zu lächeln, glich einem Sorgenkloß, war eine kiinarlutuq (), eine Frau, die ihrTrauergesichtwie ein Mahnmal vor sich herträgt. Natürlich entging Dallas mein Ausdruck nicht, er beugte sich zu mir (als stattlicher Kerl überragte er mich deutlich) und flüsterte leise: Ich brauch dich hier, Helena, wir sind nach wie vor in den Bergen und es bleibt keine Zeit zu trauern.

Dallas war der einzige Mensch, der mich ab und zu Helena nannte, immer dann, wenn es ihm ernst war und ich mich zu konzentrieren hatte. Elaine, keinen Schritt weiter, dort ist es gefährlich, Gletscherspalte, brüllte etwa der Vater, wenn ich einer unübersichtlichen Stelle zu nahe kam, Dallas rief nur: Helena! Ich war ja nie sonderlich zufrieden mit meinem Namen gewesen, Elaine, der Glanz, der Sonnenstrahl, die Strahlende, nichts darin verwies auf meine Vorfahren aus dem Norden, als Kind hatte ich stets gedacht, der Vater hätte mich so benannt, um irgendwem eins auszuwischen.

Ich selbst hätte mich als Kind gern Inuksuk () genannt, ein männlicher Name zwar, doch bedeutete er bei den Inuit so viel wie einem Menschen gleich sein, beziehungsweise ein Gegenstand, der anstelle eines Menschen dessen Aufgabe übernimmt, für gewöhnlich war das Wort für Dinge wie Ampeln, Wegweiser und dergleichen in Verwendung. Ich war auch tatsächlich gut darin, Wege zu finden, nicht die ungefährlichsten wohlgemerkt, etwa in den Alpen oder auf Grönland, regelmäßig kam ich in den dichtesten Schneetreiben vom Weg ab, jedoch immer ans Ziel, du hast mehr Glück als Verstand, schimpfte der Vater des Öfteren. Oder ich hätte Anguta () für mich gewählt, die Totensammlerin, wie noch eine der Großmütter hieß, ein Name, der sich in allen Inuit-Mythen finden ließ, wo er doch ein göttliches Wesen pries, das die Toten behutsam in eine neue Welt führte. Oder Atiqtalaaq beziehungsweise Nannaqtaq (), einfach nur Eisbärenjunges. Es hätte so viele Möglichkeiten gegeben, Elaine, doch lag es nicht in deiner Hand, mach weiter und schau nicht zurück, der Schnee ist geschmolzen, die Berge sind eingeäschert und pulverisiert.

Dallas schob mich in den Gang hinaus, er wies mit der Hand in Richtung Forschungsabteilung, dort wäre ich jetzt vonnöten, und ich solle in fünf Stunden einen Bericht vorlegen, ob die waghalsigen Flugmanöver die Abteilung in Mitleidenschaft gezogen hätten. Geh mit dem verbliebenen Team alles durch, wir sehen uns dann in ein paar Stunden, danach wandte er sich ab und eilte zu seinem Platz zurück. Dass überhaupt jemand Dallas heißen konnte, ich musste tatsächlich ein wenig lächeln, wo mir doch das Faible für antike Serien in seiner Familie wohlbekannt war. Ich für meinen Teil sah die einzige Daseinsberechtigung von Dallas darin, dass sie meinem Dallas seinen Namen gab, dem Kapitän und Commander unseres Schiffes, meinem Kindheits- und Jugendfreund, dem letzten mir bekannten und noch lebenden Menschen, an dem mir lag.

3.

ICH MUSSTE MICH IRGENDWO FESTHALTEN, fasste zum wiederholten Male nach dem Stiegengeländer, doch fand ich diesmal kaum Halt, eiskalt waren die Hände, taub bis in die Fingerspitzen, der Frost ließ mich taumeln und müder werden. Wie warm es doch in Anbetracht dieses Ortes in der Schweiz gewesen war, selbst im kältesten Winter, selbst in den unwirtlichsten Bergtälern, bei den waghalsigsten Touren, war mir die Kälte ein angenehmer Begleiter gewesen.

Ich war davongeflogen, viel weiter zwar, als ich es mir jemals erträumt hatte, nur um mich in einer polaren Einöde wiederzufinden, einer mir gänzlich fremden und unvertrauten Landschaft. Ich schloss die Augen, und einen Moment lang war es wie früher, mit Dallas und den Vätern, wenn wir uns auf Expedition begaben, ins Ewige Eis, Grönland, Himalaja, Alpen, Nepal, die Liste nähme kein Ende. Während andere Familien irgendwo ans Meer fuhren, sich dort in die Sonne legten und entspannten (mit etwas Speiseeis), zog es uns an die kalten, schroffen Orte, es lag uns wohl allen im Blut, der Gefahr zu begegnen.

Die Väter waren bei der Schweizer Bergrettung unter Vertrag, sie setzten sich waghalsigsten Situationen aus, um Alpinurlauber, Tourengeher und Co. vor dem Schlimmsten zu bewahren. Dallas ging später zum Militär, das bot ihm reichlich Möglichkeiten, an die entlegensten Orte der Welt zu reisen, um sich zu beweisen – er nannte es bewähren. Er berichtete mir von allerlei Übungen und taktischen Manövern in schon damals vergessenen Landstrichen, der tiefsten Antarktis, nördlich des Polarkreises, im Packeis, allerlei Kampfeinsätze waren darunter. Selten ging es dabei um nationale Grenzen, vielmehr um Rohstoffe, Metalle und was sonst gerade angezeigt war, um die Vormachtstellung einiger Konzerne zu wahren, auch diese Liste nähme kein Ende.

Elaine Duval wurde unterdessen an eine Elite-Hochschule geschickt, sie schloss mehrere Studien mit Bravour ab und widmete sich künftig der Erforschung von Genomen. Ein Großkonzern übernahm die junge Doktorandin, finanzierte ihre Forschungsarbeiten und entsandte sie schlussendlich wieder nach Winterthur, um dort in einem der ausgelagerten Subunternehmen eine leitende Funktion einzunehmen. Man möchte meinen, wenn man das so liest, ich hätte eine Bilderbuchkarriere hingelegt, doch waren die vielen Labor- und Überstunden kein Honiglecken; nahezu alles fand unter Tage statt, in versenkten und gesicherten Laborräumen vertieften wir unsere Spezialgebiete, oft genug kam es mir vor, als sähe ich wochenlang nur Menschen in Schutzanzügen, bestenfalls da und dort ein Lächeln in der Unternehmenskantine, keinerlei Himmel weit und breit.

Ich vermisste schon bald unsere früheren Expeditionen, die Urlaube mit dem Großvater, der mit mir grönländische Küstenlinien abschritt, unablässig davon erzählend, wie man hier im Winter überleben, welche Tiere man wie erlegen oder sonst wie für sich nutzen könne. In unserer hochtechnisierten Welt klangen seine Erzählungen beinahe schon wie Märchen, ich lauschte seiner Stimme und wunderte mich über allerlei Fertigkeiten vergessener Naturvölker, die einer vergangenen, längst untergegangenen Welt angehörten. Wie man sich aus Robbenhaut wasserdichte Fellstiefel näht, wie man aus Knochen und Sehnen einen Schlitten zimmert, wie man ein Kanu fertigt, Speere, Seile, wie man sich im Labyrinth der Eisberge zurechtfindet, sogar, wie man Eisbären und Seeleoparden bezwingt. Der Großvater war darüber hinaus nicht nur in der Inuit-Kultur bewandert, da machte ihm ohnedies keiner etwas vor, er trug sein ganzes Leben lang Erkenntnisse und Denkansätze zusammen, die sich, ob in Grönland oder anderswo, als nützlich erweisen konnten. Er trachtete danach, altes, leichtfertig als unnützes Wissen Tituliertes zu bewahren, immerhin ging es ums Überleben, fortschrittliche Technik und Wissenschaft allein würden das, seiner Meinung nach, nicht bewerkstelligen können.

Ich erinnerte mich, dass er irgendwann (ich war noch ein Kind) endgültig nach Grönland übersiedelte, er kehrte dorthin zurück, wo einst seine Mutter und all unsere Vorfahren lebten, die wahrlich echten Inuit in unserem Familienstammbaum. Sie waren Tunumiit, Ostgrönländer, die, so gut es ging, den Einflüssen der modernen Welt widerstanden und sich einer äußerst traditionellen Lebensweise verschrieben hatten. Die Ostküste war schon immer von einem gigantischen Packeisgürtel umgeben gewesen, sie war eine der unzugänglichsten, unwirtlichsten und lebensfeindlichsten Gegenden der Erde. Ich hatte diese Familienmitglieder nie kennengelernt, sie waren vor langer Zeit gestorben, nur in den Erzählungen des Großvaters erwachten sie zu neuem Leben, und was soll ich sagen, die Großmütter in unserem Familienstammbaum waren wohl allesamt besondere Menschen gewesen.

Ittoqqortoormiit, ein Ort mit großen Häusern, so hießen Stadt und Siedlung, in der sie gelebt und die Großvater (auf seine alten Tage) zu seinem Lebensmittelpunkt erkoren hatte. Nur im Juli und August, wenn die Temperaturen etwas über den Gefrierpunkt stiegen, war es überhaupt denkbar, mit dem Schiff anzureisen; alle anderen Versuche, den entlegenen Ort zu erreichen, stellten ein beschwerliches und äußerst mühsames Unterfangen dar. Irgendwann wurde in der Nähe tatsächlich ein Hubschrauberlandeplatz eingerichtet, der von Geheimdiensten (Forschungsgruppen) und Militärs genutzt wurde; klassische Versorgungsflüge erfolgten über Nerlerit Inaat, eine Landebahn, die sich gut vierzig Kilometer nordwestlich von Ittoqqortoormiitbefand. Dallas hatte mich ein paarmal hingeflogen, immer dann, wenn die Sehnsucht nach dem Großvater (und seinem Packeis) ins Unermessliche gestiegen war.

Ich nahm mir einen längeren Urlaub, lief mit ihm über das Eis, kostete etwas vom nach Abenteuern schmeckenden, knisternden Schnee, die Kälte ließ mich wieder aufleben, ganz so wie früher, als wir noch irgendwo in den Alpen gemeinsam Schneemänner und Eishöhlen gebaut hatten. Die Schneemänner meines Großvaters sahen dabei stets wie waschechte Inuit aus, klobige, etwas unförmige Gesellen ohne Taille, wie in dicke Felle und Parkas gehüllt. Nur war es hier in Grönland noch viel kälter, die Durchschnittstemperatur lag im Winter bei etwa minus dreißig Grad; wenn der Wind blies (und das tat er oft) fühlte sich das an wie vierzig, fünfzig Grad unter null.

Wann immer es also nicht möglich war, mit dem Schiff anzureisen (ob nun aus zeitlichen oder wetterbedingten Gründen), setzte mich Dallas in Nerlerit Inaatab, wo mich zumeist der Großvater bereits erwartete. Dick eingemummt in seine Robbenfelle, mit den Langlaufskiern, einem Schlitten, Schlittenhunden und Trockenfleisch. Für den Fall der Fälle führte ich meine eigene Ausrüstung mit, Schneeschuhe und einen großen Rucksack samt allen nötigen Utensilien, ich konnte die dreißig Kilometer in einem Tagesmarsch zurücklegen, manchmal traf ich den Großvater auch auf halber Strecke. Ich sei schließlich kein kleines Mädchen mehr, und er müsse es mir nicht immer so einfach machen, mal abgesehen davon, dass es wichtig war, sich überall allein zurechtfinden zu können.

Es ist schon eigenartig, murmelte der Großvater, in Anbetracht seiner Größe leben in Grönland zwar die allerwenigsten Menschen, doch nennen wir es nach wie vor Kalaallit Nunaat (), das Land der Menschen. Da soll mir noch einer sagen, die Inuit hätten keinen Humor.Ich wusste, er würde nicht mehr lange leben, er hatte mir davon geschrieben, dass er krank sei, das Land der Menschen würde sich seiner bald annehmen, sich ihn Stück für Stück einverleiben. Die Tür zu einer mir langsam entgleitenden Welt würde sich schließen, ich würde die Anbindung an Grönland verlieren, fortan wirklich auf mich allein gestellt sein.

Ittoqqortoormiit,ich meine, was für ein halsbrecherischer Ortsname, ich konnte ihn nie wirklich gut aussprechen, nicht so wie der Großvater oder waschechte, hier ansässige Inuit; ich fand zudem, dass es ein Ort mit recht kleinen Häusern war, wahllos in die Landschaft gewürfelt, an einem gewaltigen Fjord gelegen, der im Sommer türkisfarbene Eisberge beherbergte, sie glitten gemächlich dahin. Es gab nichts Schöneres, als ihnen in ihrem entspannten Trott zuzuschauen, wie sie ihre Bahnen zogen, Planeten gleich in einem unendlichen Eismeer, die Sommertage in Grönland hatten tatsächlich etwas Magisches.

Großvater erzählte mir unterdessen von seinen ihm vertrauten Naturvölkern, selbst Grönländer können von denen noch das eine oder andere lernen, verkündete er im Brustton tiefster Überzeugung; den Aborigines in Pormpuraaw etwa, deren Sprache Kuuk Thaayorre keine Raumausdrücke für links und rechts benötige, vielmehr bediene man sich ausschließlich der Himmelsrichtungen Norden, Süden, Osten und Westen. Daher sage man tatsächlich, dass sich die Teetasse doch südöstlich vom Teller befände, oder auch, dass der nordwestlich von mir stehende Knabe mein kleiner Bruder sei, und dergleichen. Was eine solche Erziehung praktischerweise mit sich bringe, sei ein untrügliches Gefühl für jegliche Himmelsrichtung, es gebe weltweit keine anderen Menschen, die sich (ohne Kompass) so vortrefflich in der Welt (also im Raum) orientieren könnten.

Ich sah weiterhin den Eisbergen zu und stellte mir vor, wie es wohl wäre, selbst im dichtesten Schneesturm, selbst nach Tagen, in denen man irgendwo eingeschneit in einem Hohlraum lag, sofort alle Himmelsrichtungen aus dem Ärmel schütteln zu können, und welch eine Erleichterung ein untrüglicher Orientierungssinn doch mit sich brächte. Eigentlich hätte man schon viel früher, bei einer jeden Expedition ins Unbekannte, einen dieser Wissenden aus Pormpuraaw anheuern und auf die Reise mitnehmen sollen. Den Forschern, Kapitänen und Co. der alten Tage wäre gewiss manches Ungemach erspart geblieben. Wie die Pormpuraawer im Weltraum wohl zurechtgekommen wären, wie sie sich im unendlichen, nach allen Seiten hin offenen Raum angestellt hätten? Wer konnte das schon erahnen, doch war ich mir einer Sache gewiss: Ich für meinen Teil hätte mich an ihrer Seite viel wohler gefühlt.