Gotland - Michael Stavarič - E-Book

Gotland E-Book

Michael Stavaric

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Beschreibung

Eine streng katholische Mutter – Zahnärztin mit eigener Praxis neben einer Stiftskirche in Wien und einem fanatischen Glauben, der die Bibel gefährlich wörtlich nimmt. Was macht das mit dem Sohn? Mit einem jungen Mann, der sich nach einem Vater sehnt und allerlei Begierden entwickelt, je älter er wird? Er wird zu einem Suchenden, vor allem nach dem Tod der Mutter. Zu einem Fahrenden in Sachen Gott, den er in Gotland zu finden hofft, jenem fernen Sehnsuchtsort der Mutter, die immer behauptete, dort hätte sie seinen Vater kennengelernt. Ein unheimlicher, heiliger, jedoch auch wahnsinniger Ort…

Es gibt ihn, diesen Gott, der im Wasser schwimmt, der auf dem Wasser treibt und niemals untergeht, der allen, die am Ufer verharren, nachsieht und zuwinkt, es muss ihn einfach geben. Er scheint nah und zugleich fern, ein Schatten am Plafond, wie dunkel doch heut der Himmel ist, viel dunkler noch als die gekräuselte See, stumm die Fische darin und schwer sind ihre Bäuche.

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Seitenzahl: 419

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MICHAEL STAVARIČ

GOTLAND

Roman

Luchterhand

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Quellenangaben:Das Musikstück (siehe hier) stammt von Dead Man’s Bones, Songs of the Mothership, Imagem Music BV, Imagem Music GmbH.Das englischsprachige Musikstück (siehe hier) stammtvon Nirvana »Smells Like Teen Spirit«
Die Melodie »Wien, Wien, nur du allein« (siehe hier)von Fritz Wunderlich
Copyright © 2017Luchterhand Literaturverlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenSchutzumschlaggestaltung: buxdesign, München Satz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-20894-3V002
www.luchterhand-literaturverlag.deBitte besuchen Sie unseren LiteraturBlogwww.transatlantik.de

I can’t fit in this skinIt’s worn and useless thinThe size of the eyes and the flies in the skyMake it hard to see, to the end

(»My body’s a zombie for you« – Dead Man’s Bones)

Vorwort

Ich wurde später gefragt, was genau passiert war, ich meine, alles nahm zunächst einen guten Lauf … ich hatte von meiner Recherchereise nach Gotland einiges mitgebracht, unter anderem gotländische Tinte und eine neue Füllfeder, die Sätze flossen und trieben fortan nur so dahin, fein säuberlich in meiner Handschrift ins Papier eingestanzt.

Am Telefon hatte ich sogar mit meiner Agentin darüber gescherzt, dass sich der neue Roman offensichtlich fast von allein schriebe, ich hätte vor Begeisterung fast die Wände vollgekritzelt. Die Tinte roch wie ein Morgenspaziergang um einen Vulkan, nach echten, wahren Abenteuern, sie glitzerte seidig-matt, wie das verflüssigte Gestein einer Kohlegrube, sie war wie der pechschwarze Himmel, unmittelbar vor einem vernichtenden Gewitter, eine Urgewalt, die alle belanglosen Sätze hinwegzufegen vermochte und nur das Wesentliche überleben ließ.

Ich hatte damit begonnen, einen Roman über zwei gotländische Bergsteiger zu verfassen, die einen mystischen Berg besteigen, dessen Gipfel im Nebel und Wolkentreiben noch nie zu erkennen gewesen war; sie klettern, und die Wände nehmen kein Ende, es geht immer weiter hinauf, im diffusen, dämmrigen Licht, es scheint ein Berg, dessen Gipfel unendlich fern, ja nahezu unerreichbar ist, keinesfalls nur im metaphorischen Sinne; er kennt nur gescheiterte Besteigungen und verschollene Expeditionen. Die ansässigen Einwohner sprechen ehrfürchtig davon, dass der Berg bis ans Ende aller Zeiten und Sterne reicht, ein von Göttern geschaffener Maßstab, um die Unendlichkeit des Universums einigermaßen glaubhaft darzustellen.

Der angedachte Roman schrieb sich gut, ich war motiviert bis in die Haarspitzen und wann immer ich zu arbeiten begann, konnte ich kaum noch aufhören, zwei, drei Monate intensiver Schreibarbeit, so schien mir, und schon läge ein 500-seitiger Roman vor einem, das wäre doch phänomenal. Es war unfassbar schwer, die Feder aus der Hand zu legen, kurz zu verschnaufen, etwas zu essen, mit den Eltern zu telefonieren, einzukaufen, irgendeiner sonstigen alltäglichen Beschäftigung nachzugehen.

Es schien diesmal vor allem ein Problem zu sein, an ein Ende zu kommen: Bekanntlich weist der Roman an sich kein echtes Ende auf, dieses ist lediglich ein vom Autor angenommenes Konstrukt, doch selbst Konstrukte entzogen sich in diesem Fall all meinen Bemühungen. Die Besteigung des Berges ging also weiter voran, die Protagonisten erlebten zahlreiche waghalsige Abenteuer, sie hatten Visionen, Träume, Erscheinungen und weiß Gott was, sie hielten langwierige Monologe und beschrieben in einer nahezu manischen Weise die sich kaum verändernde Umgebung (na ja, immer nur Felsen und dergleichen), mir wurde selbst schon angst und bange, dass der Roman wohl gewisse Längen aufweisen könnte, doch wollte ich den Schreibfluss nicht unterbrechen, eine kleine Hoffnung bestand nach wie vor, dass mein Erzählen neuerdings diesen Raum benötigte.

Ich konnte zudem nicht davon lassen, mir immer wieder vorzustellen, wie erstaunt und freudig erregt meine Agentin sein würde, die mir zwar hervorragende Bücher zutraute, doch alles in einem überschaubaren, 200-, 300-seitigen Rahmen; ein gut 1000 Seiten umfassendes Manuskript wäre zweifelsohne in der Kategorie »Lebenswerk« zu verbuchen, verfasst von irgendwelchen altehrwürdigen, mit allen Wassern gewaschenen Romanciers. Oder es handelte sich um eingebildete Spinner, lachte sie, autistisch veranlagte Egomanen, zwanghafte Persönlichkeiten, deren einziger, identitätsstiftender Lebensinhalt das Schreiben wäre. Ich war immer froh gewesen, eine verständnisvolle Agentin gehabt zu haben, die mich tatkräftig unterstützte, in meinem Weg bestärkte und meine Manuskripte selbst skeptischen Verlegern schmackhaft zu machen wusste.

Ich war, alles in allem, ein sehr zufriedener Schriftsteller gewesen, bevor ich dieses Schreibprojekt einleitete, bevor ich die Füllfeder samt zugehöriger Tinte nahezu obsessiv verehrte, bevor ich mich selbst plötzlich als einen wahrhaft mächtigen Gipfel in der Textlandschaft der Gegenwartsliteratur erachtete. Ab Seite 2000 war ich mir sicher, ich sei zweifelsohne besser in dem, was ich tue, als die meisten Schriftsteller meiner Generation; ab Seite 2500 war ich überzeugt davon, ich sei besser als die meisten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts; ab Seite 3500 kam ich zu dem Schluss, dass ich wohl das Wissen und die Fähigkeiten von Schriftstellern der letzten 200–300 Jahre locker überträfe; ab Seite 4500 hielt ich mich für einen der ganz Großen unserer Zeitrechnung, ab Seite 6000 war ich allein auf weiter Flur, jenseits aller Kategorisierung, es gab schlichtweg niemanden mehr, der sich auch nur im Ansatz mit mir vergleichen durfte; ab Seite 8000 war ich mir dieser letzten Behauptung auch absolut gewiss.

Nachdem ich die zehntausendste Seite erreicht hatte, bekam ich ein Problem mit der vielschichtigen Handlung des Werkes; ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, was in meiner Geschichte 400 Seiten zuvor passiert war, geschweige denn vor 4000. Jetzt könnte man meinen, es sei etwas Natürliches, sich in seiner Handlung zu verlieren, man bräuchte sich doch nur die Dinge noch einmal zu vergegenwärtigen, und alles wäre wieder im Lot. Ich versuchte das auch, las intensiv das eigene Manuskript, ein großartiges Buch würde das werden, wohlgemerkt, ich konnte kaum damit aufhören, darin zu blättern; was das »Handlungsproblem« betraf, brachte mich das Lesen allerdings nicht weiter. Ich hatte offenbar als erster Schriftsteller in der Geschichte der Menschheit den Punkt erreicht, von dem aus es unmöglich war, das eigene Manuskript zu überblicken; es war schlichtweg ein Zuviel an Informationen, es war ein eigenes Universum, das zu betrachten einen zutiefst erfreute, dessen Bedeutung man allerdings weder einzuschätzen noch zu begreifen wusste.

Während ich las und weiterlas, bekam ich zugleich das Problem, dass ich nicht mehr an meinem Buch weiterschreiben konnte; dabei war mein Kopf voller weiterer köstlicher Ideen und der besagte, ja doch, heilige Berg gewissermaßen noch lange nicht bestiegen. Und so kam es dann, dass ich nach zwei weiteren, überaus intensiven Wochen einen vorläufigen Gesamtumfang von 20000 Seiten erreichte.

Das war dann auch der Tag, an dem mich erneut die Agentin anrief, um nachzufragen, wie ich mit dem Roman vorangekommen sei; als ich ihr sagte, dass ich ihr noch heute 300 Seiten schicken könne, hielt sie erstaunt inne: Du hast wohl einen richtigen Schub. Gut gemacht!

Ich überlegte kurz, ob ich die übrigen 19700 Seiten erwähnen sollte, ließ es dann aber lieber bleiben, ganz abgesehen davon, dass sie mir vermutlich kein Wort geglaubt hätte; ich begriff selbst nicht, was da geschah, fand es aber wunderbar, ja kolossalst. Ich übermittelte ihr noch am selben Tag die besagten 300 Seiten, also das erste Kapitel, genauer gesagt, den Prolog zum ersten Kapitel, wobei ich diese Informationen nicht explizit ausführte. Sie meldete sich schon am nächsten Morgen, schrie mich förmlich durch das Telefon an, wie fabelhaft das alles sei, sie habe es in einem Zug durchgelesen, habe kein Auge von der Geschichte lassen können, dass zwei gotländische Bergsteiger (was sie an sich schon für absurd hielte, da auf Gotland keinerlei Gebirge existieren) und ein Berg überhaupt so viel hergäben. Sie wollte wissen, wann wir in Druck gehen könnten, sprach über Vorschüsse und mögliche Coverbilder, den Titel müssten wir auch noch einmal diskutieren, mir wurde ob der Konkretheit ganz flau im Magen. Ich bin allerdings noch nicht ganz fertig damit, da kommen schon noch ein paar Seiten, stotterte ich ins Telefon, das Jauchzen am anderen Ende der Leitung war keinesfalls zu überhören. Es folgt noch mehr davon? Das wäre ja noch viel besser, und ob sie der Verlegerin vielleicht 400–500 Seiten zusichern könne? Also den erwähnten Umfang kann ich ausnahmsweise zu 100 % garantieren, stammelte ich, und ich werde dir schon bald den Rest schicken, versprochen. Sie war hochzufrieden und verabschiedete sich in bester Laune, es war schön, wenigstens eine Frau glücklich gemacht zu haben.

Ich schrieb also weiter, schließlich würde mich dieses Buch für immer und ewig unsterblich machen, man würde mich »the great one« nennen, das oberste Ende einer literarischen Nahrungskette. Nach einer weiteren Woche schickte ich meiner Agentin entschlossen weitere 1000 Seiten; nach drei Tagen hörte ich endlich erneut von ihr: Das sei eine absolute Offenbarung, ein jeder Satz eine Notwendigkeit, eine Forderung, sich und sein Leben zu hinterfragen … es war scheinbar immer noch ein herausragendes, bestechendes, beglückendes Manuskript. Sie schlug mir vor, den Titel, in Anbetracht der Fülle, welche auf die Leser bei der Lektüre zukam, kurz zu fassen, eindringlich und prägnant, sie sagte: »Gotland«. So nennen wir es.

Mir fiel ein, dass sich schon einmal einer an der Besteigung eines Berges versucht hatte, Francesco Petrarca, dessen Schilderung damals so revolutionär gewesen war, dass sie das Mittelalter endgültig für beendet erklärte, ja pulverisierte; dieser Dichter markierte den Beginn der Neuzeit: »Den höchsten Berg dieser Gegend, den man nicht unverdient Ventosus, den Windumbrausten, nennt, habe ich am heutigen Tage bestiegen, einzig von der Begierde getrieben, diese ungewöhnliche Höhenregion mit eigenen Augen zu sehen. Jener Berg, weit und breit sichtbar, stand mir fast allzeit vor Augen, allmählich ward mein Verlangen ungestüm, und ich schritt zur Ausführung.« Oh ja, auch ich musste meinen Roman noch weiter ausführen, schließlich sollte dieser alle Epochen der Geschichte verwerfen und den Fels einer neuen Zeitrechnung bilden.

Ich schrieb und schrieb, die gotländischen Bergsteiger schwitzen und mühten sich, die am Fuße des Berges ansässigen Einwohner jaulten und stimmten archaische Gesänge an, sie priesen ihren unendlich großen, allmächtigen und einzig wahren Gotlandgott, die Felswände wurden stetig steiler, das Wetter unwirtlicher, die Übernachtungen der im Roman agierenden Akteure glichen wahren Himmelfahrtskommandos, sie schrien ihre Gedanken verzweifelt in den Fels, in die nackten, rissigen, eiskalten Steine.

Ich rief die Agentin nach ein paar Wochen erneut an, ob ich ihr weitere Seiten schicken dürfe, sie bejahte das ausdrücklich; also schickte ich ihr weitere 10000 Seiten zu, damit käme sie insgesamt auf 11300 Seiten. Sie meldete sich nach gut eineinhalb Wochen, klang heiser und erschöpft, ich befürchtete schon, sie wäre krank. Es ist so was von gut, ich kann’s noch immer nicht fassen, flüsterte sie, dein Buch fesselt, es lässt einen weder einschlafen noch vor Erschöpfung ohnmächtig werden, du kannst mir glauben, ich bin unendlich müde, doch vor allem bin ich gigantisch beglückt. Dafür werden wir den Nobelpreis einfahren, so viel ist sicher, zweifelsohne wird dein Werk in alle Sprachen der Welt übersetzt werden, behauptete sie. Sie müsse jetzt ein paar Tage schlafen, doch würde sie unverzüglich die Verlegerin in Kenntnis setzen, ihr weitere Vorablektüre schicken, damit auch sie sich von der Genialität überzeugen könne.

Nach einer Woche rief mich eine erschöpfte, doch hingerissene Verlegerin an, »Gotland« sei mit Abstand das Gewaltigste, was sie je gelesen (und sie hätte schließlich ziemlich alles Relevante gelesen); die Menschen würden vor den Buchhandlungen Schlange stehen, es würde einschlagen wie ein Komet, es verinnerliche ein ganzes Universum, sagte sie, man würde mir Denkmäler bauen, noch zu Lebzeiten.

Ich schrieb hocherfreut weiter und schickte meiner Agentin die nächsten 20000 Seiten zu; als ich ein paar Tage lang nichts von ihr hörte, schickte ich ihr weitere 20000 Seiten und danach noch einmal circa 20000, wobei, eigentlich war ich mir gar nicht mehr sicher, wie viele Seiten ich ihr insgesamt übermittelt hatte, denn so, wie sich mir bereits die Handlung entzog, so entzogen sich mir nunmehr auch die Seitenzahlen, ich konnte beides nur noch äußerst vage beschreiben. Es ging, glaube ich, um irgendeine Bergbesteigung … und irgendwas war da wohl noch, jedenfalls, ein wirklich gutes Buch lässt sich schließlich nicht beschreiben, man muss es lesen und seine poetische Kraft am eigenen Leibe erfahren.

Von meiner Agentin hörte ich in der Tat nichts mehr; ich rief sie immer wieder an, doch nahm sie nicht ab, ich schrieb ihr elendlange E-Mails, die sie unbeantwortet ließ, ich schickte ihr täglich ein Fax und hinterließ Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter, sprich, ich machte mir ernsthafte Sorgen. Nach ein paar weiteren Tagen erhielt ich endlich einen Anruf von ihrer Sekretärin; sie entschuldige sich, dass im Büro keiner reagiert habe, ich müsse das verstehen, es herrsche Trauer und Chaos, jetzt, wo die Chefin tot sei.

Ich legte den Hörer auf, einigermaßen geschockt, ich wusste zwar nicht, was genau mit der Agentin passiert war, doch fühlte ich mich plötzlich an ihrem Tod mitverantwortlich. Ein paar Tage später erhielt ich einen Anruf aus dem Verlag, der für mich zuständige Lektor war am Apparat, dass die werte Frau Verlegerin überraschend verschieden sei, sie sei ja schließlich nicht mehr die Jüngste gewesen. Und sie hätte mein Manuskript auf ihrem Nachtkästchen liegen gehabt, sich sogar vergnügliche, beipflichtende Notizen dazu gemacht.

Er versicherte mir noch, wie sehr er sich, selbst in Anbetracht der schweren Stunden, die das Haus nun bewältigen müsse, darauf freue, dass mein Meisterwerk bei ihnen erscheine. Und man sei sich auch über den gewaltigen Umfang des Manuskriptes im Klaren, welches alles bislang Dagewesene in der Literatur in den Schatten stelle. Die Stimme des Lektors überschlug sich aufgeregt: Wir schicken Ihnen das fertige Buch bald zu! Auf Wiederhören!

Ich legte den Hörer auf und war erschüttert, meine Agentin war tot, meine Verlegerin war verstorben und der Roman ging demnächst schon in Druck, ich meine, keine Ahnung, wie viele Seiten des eigentlichen Manuskriptes abgedruckt würden, ich selbst konnte nicht einmal schätzen, wie viele Seiten meines Romans im Verlag kursierten. Faktum war allerdings, dass ich immer noch schrieb und sich weitere abertausende Seiten in meiner Wohnung auftürmten.

Und was würde erst passieren, wenn »Gotland« überall verfügbar war? Unabhängig davon, dass es sich um ein unvollendetes, nicht vollständiges Werk handelte; was würde mit den Menschen passieren, die »Gotland« lasen? Was, wenn ihnen ein ähnliches Schicksal drohte wie meiner Agentin und der Frau Verlegerin? Was, wenn ich nicht als größter Autor aller Zeiten in die Geschichte einginge, sondern als perfider, teuflischer Massenmörder mein Dasein fristen müsste? An diesem Punkt angelangt, ließ ich die Füllfeder fallen, sie blieb wie ein Messer im Parkettboden des Arbeitszimmers stecken, wippte dort ein paar Mal vergnügt hin und her, ich wusste nicht mehr genau, was ich da sah, eine Füllfeder war es ganz und gar nicht; die Situation lähmte mich zutiefst, denn ein jeglicher Fluchtweg blieb versperrt.

Ich erinnerte mich daran, wie mir einst im Zoo ein Pfau den Weg blockiert hatte: Er schlug hierfür sein berühmtes Rad, ein beängstigender Federkranz füllte daraufhin die Welt, es war unmöglich geworden, sich an diesem vorbeizuschleichen. Der Vogel fixierte mich mit seinen stechenden Blicken, ließ beängstigende Rufe erklingen, er schüttelte jede einzelne seiner Federn und die Pfauenaugen rasten von allen Seiten auf mich zu, schillernde, kreisrunde Monstermäuler, die mir zweifelsohne die Seele zu rauben gedachten. Ich sah mein Sein plötzlich durch einen Pfau gefährdet, ich meine, das konnte doch kein Zufall sein?

Fast schien es mir, als wäre dieses weiterhin im Boden hin und her wippende Federding eine Inkarnation des Pfauenvogels, der sich manifestierte, um mich erneut zu verhöhnen. Ich öffnete panisch die Fenster, warf entschlossen das sich überall aufstapelnde Werk nach draußen, ich wollte unter allen Umständen mein Leben zurückgewinnen, frei und gelöst sein von diesem mich belauernden Wahnsinn.

Es regnete abertausende beschriebene Seiten in den Hof, sie häuften und türmten sich dort auf, der Wind ließ es sich tatsächlich nicht nehmen, diese erneut zu einem Berg zusammenzusetzen. Schlussendlich lief ich entschlossen mit einem Feuerzeug nach unten, alles, einfach alles wollte ich verbrennen, bevor es mich erneut zu fassen bekam. Bald schon loderten die ersten Seiten, ein Lauffeuer erfasste den papierenen Berg, er pulsierte, wankte, glühte, schwarzer Rauch verdeckte und verhüllte mich. Ich schloss die Augen und ließ den Dingen ihren Lauf, bald schon war überall nur noch trudelnde Asche zu erkennen, der Wind verteilte sie in alle Himmelsrichtungen. Nur an der Feuerstelle selbst, gewissermaßen am Sockel des Berges, blieb ein verdichteter Klumpen übrig, ich traute meinen Augen nicht, was ich da sah: Die einzigen noch lesbaren Worte des gesamten Manuskriptes lauteten »Gott« und »Land«, ich kniff die Augen zusammen und murmelte »Gottland«, beinahe schon ehrfürchtig, als hätte das verbrannte Werk hier sein eigenes Vermächtnis geschaffen.

Ich fühlte mit einem Male tatsächlich diesen Gott, ich spürte jenes Land, beide schnitten mit irgendwelchen Skalpellen in meine Schultern, sie zogen diese förmlich durch meinen Körper und mich nach unten. Sie versanken in einer bedrückenden, beengenden Unendlichkeit, die sich, früher oder später, aller Götter und Länder bemächtigt; sie stürzten sich von oben auf mich, rissen und schleiften mich mit, denn so gehört sich das wohl, es entspricht den ewig geltenden Gesetzen: Die Existenzen müssen fallen, die Weltenberge werden stürzen, nichts bleibt im Verborgenen, keine Kraft, kein Übel ist unsterblich, allen und allem wird schwarz vor Augen, als ob sie in dunkle Mäntel gewickelt würden.

Ich ließ mich mitschleifen, »Gotland« und all das, was ich ursprünglich zu schreiben gedachte, war nur noch Erinnerung, ein entschwindender, wahnwitziger Traum. Pfauenfedern legten sich auf mein Gesicht, sie bedeckten die Augen und wuchsen aus meiner Nase, ich begann mit der Arbeit an einem neuen Buch, es erzählt eine gänzlich andere Geschichte, schließlich und endlich war die vorherige das Ende meiner selbst …

Prolog

Gotland

Niemand kann sicher sein, niemand, kein Einziger kann jemals behaupten, es gäbe ihn, diesen Gott, unseren Heiland, der hier in Gotland lebt, der sich im Wasser zeigt, in den Bäumen, Möwen und Menschen, es wäre doch lächerlich, das zu glauben. Natürlich gibt es ihn, diesen Gott, der im Wasser schwimmt, der auf dem Wasser treibt und niemals untergeht, der allen, die am Ufer verharren, nachsieht und zuwinkt, es kann nicht bloß Einbildung sein. Er scheint allgegenwärtig und zugleich nichtig, ein Schatten am Plafond, Schemen in der Dämmerung, wie diesig doch heut der Himmel ist, viel trüber noch als die gekräuselte See, stumm die Fische darin, und schwer sind ihre Bäuche.

Es gibt einen Gott, der in den Bäumen sitzt, an den Ästen nagt und diese schüttelt, bis das Laub abfällt, bis aus herabfallenden Samen neue, wild wuchernde Bäume wachsen. Unser Gott schüttelt sich gern, das Wasser perlt von ihm ab, seine Federn sind dicht, er vermag es, alles von sich fernzuhalten, das Land, den Himmel, die See, die armseligen, verängstigten Menschen. Und Bäume und Häuser, und wenn Tiere aus den Kronen fallen und zu Boden stürzen, sich die Knochen brechen und vermodern, dann ist auch dies unvermeidlich und von Ihm gewollt.

Es gibt einen Gott, der zur Gänze aus Feuer ist, hier oben in Gotland, Gott brennt wie Zunder, wie trockenes Stroh, wie das Haar der Mägde und Knechte, alle strecken und recken ihre Hände zur Wärme, zum Licht, weil es so verdammt kalt werden kann. Und selbst diejenigen, die an gar nichts glauben, wissen nur zu gut, dass sie ohne Wärme umkommen, sie werden allmählich langsamer in ihren Bewegungen und erstarren bald vollends, ein jedes Jahr dasselbe Spiel, der Winter zieht auf, es lässt sie erschaudern.

Es gibt keinen Gott, niemand kann sicher sein, niemand, kein Einziger kann jemals behaupten, dass die Natur hier oben nicht schön sei, dass sie nicht prächtig gedeiht und selbst abgebrühte Urlauber in ihren Bann zieht, sie in den Norden lockt nach Gotland, hierher zu uns. Die Natur und das Wasser und die schroffen, unwegsamen Felsen und dichten Wälder, wie es sie andernorts nicht mehr gibt, sie sind der Blickfang, sie sind der Grund, warum wir hier sind, weil es uns – wie auch Gott – nirgendwo sonst so gefällt. Nur in Gotland gibt es einen Heiland, der in den Bäumen sitzt und Vögel frisst, der im Wasser schwimmt und Fischen nachstellt, der Nebel aufziehen lässt und alle Häuser verschleiert. In Gotland werden noch Menschen geboren, die sich sehen lassen können, die schon als Kinder in kalten Teichen tauchen, die in der Brandung des Meeres waten, ohne zu murren, ohne sich gar zu beklagen. Die Menschen von Gotland sind unermüdlich, sie schreiten weiter, und manchmal stolpern sie im Kreis, weil ihnen die Insel keine andere Wahl lässt, doch niemals erlahmen sie, sie streichen kein Segel, denn ihr Glaube ist fest und unerschütterlich.

Viele, die auf der Suche sind, kommen nach Gotland, sie versuchen sich selbst und Gott zu finden, sich irgendwo einzureihen, sie schwimmen und treiben durch die eisige Brandung, die Lippen trotzig aufeinandergepresst, zitternd vor Kälte, mit bleicher Haut und zerzaustem Haar. In Gotland glauben viele, ohne zu fragen, in Gotland brauchen wir keine Beweise für die Existenz Gottes, wir wissen, was wir sehen, wir fühlen, wer er ist, wir sind die besseren, die auserwählten Menschen. In Gotland findet man, man findet zu Ihm, man erkennt Ihn, man hasst Ihn, denn auch dafür findet man Gründe.

Niemand kann sicher sein, niemand, kein Einziger kann jemals behaupten, er hätte seinen Gott gefunden, weil es – außerhalb Gotlands – keine anderen Götter gibt, die Christen irren und die Moslems täuschen sich, oder wie auch immer sie sich nennen mögen, sie sind die wahren Irrlichter der Welt, die Verlorenen unserer Zeit, eines Tages werden auch sie es erkennen und am eigenen Leib erfahren. Die Gotländer sind an lange Winter gewöhnt, Schnee fällt und noch mehr Schnee, die Bäume biegen sich und manche brechen, die Wälder sind voller Spuren, unser Gott hinterlässt seine Fährten, und wir folgen ihnen, retten einander dabei manchmal vor dem Erfrieren.

Wie sich in Gotland Frost anfühlt, wurde ich einmal gefragt, wie sich überhaupt alles anfühlt, und ich habe geantwortet: Der Frost fühlt sich immer wieder ganz anders an. Der Frost ist der leere Magen einer hungrigen Ziege, der Frost ist der pralle Bauch einer toten Dohle, der Frost ist das Anhalten des Atems und das Aufplatzen der Lippen und stechender Kopfschmerz und stetiger Schwindel. Der Frost ist ein Kammerflimmern, der Frost ist schlicht der Faustschlag des Windes.

Und betrachtet man Gotland von oben, dann sieht man eine Insel, die schmerzt, wenn man sie anfasst, ihr Umriss ist gespickt mit spitzen Felsen, Buchten, Steinsplittern und Landzungen. Man erkennt einen Fisch, Finnen und Flossen, die durchs Wasser pflügen, ein Schlachtschiff, das aus allen Rohren feuert; man erkennt das Antlitz Gottes, Seinen Kopf im Profil, den Hals, die Nase, das Auge, und ja doch, die alte Stadt Visby liegt dort, wo dieser eine Gott sein Auge hat. Ein jeder sieht etwas anderes in Gotland, man nimmt die Landkarte zur Hand und vertieft sich, Gotland spiegelt wider, was man ist, was in einem steckt, was man verloren hat, was man begehrt und verdammt.

Als man mir zum ersten Mal eine Karte von Gotland zeigte, sah ich einen Spalt im Meer, es war, als würde sich das Wasser teilen und zurückziehen, auseinanderklaffen, ein Riss in der Erdkruste, eine dem Planeten zugefügte offene Wunde. Ich sah genauer hin und erkannte eine ovale, klaffende Ritze, dachte an das Geschlecht einer Frau, mit ausgefransten Schamlippen und einem angedeuteten Anus. Ich weiß, es hört sich abstrus an, doch nahm ich mein Glied aus der Hose und masturbierte vor der Landkarte Gotlands, meine Augen glitten über die Topographie der Insel, ich masturbierte, wand mich und stöhnte, kam allerdings nicht.

Ich wurde später gefragt, wer oder was in Gotland die meisten Menschen tötet, und meine Antwort war: Der Frost tötet einige, das Meer nimmt viele, die Brandung, die alle Unachtsamen mit sich reißt, wenn sie Muscheln sammeln und an weiche Leiber denken oder beten oder irgendwas gedankenverloren in den Sand kritzeln, jedoch, die allermeisten sterben an Organversagen. Oder – falls das einleuchtender klingt – an gebrochenem, eiskaltem Herzen. Wie ich das bloß wieder meine, wurde ich daraufhin gefragt, doch meine Antwort war: Und dennoch entfernt man die Herzen der Toten und schneidet sie entzwei, weil Gott sie sonst auferstehen, erneut herumirren lässt. Und wer mag sich Gotland schon mit all den Erfrorenen, Ertrunkenen und Unglücklichen teilen, die einem, früher oder später, ohnedies nach dem Leben trachten.

Die Erfrorenen lehnen reglos an Bäumen, lungern herum und warten und erkennen einen nicht mehr, selbst wenn sie früher mit einem unter demselben Dach lebten und man alles miteinander teilte. Die Ertrunkenen, die zieht es zu den Stränden und Küsten, sie stellen Krabben nach und riechen streng aus dem Mund, manchmal knien sie tagelang am Strand und trinken Meerwasser, immer noch mehr Meerwasser, bis sie sich übergeben und ihre Körper wild zucken; wenn die Krämpfe nachlassen, dann fangen sie wieder von vorne an. Das will man nicht sehen, man will das ganze Elend nicht, das einem Gott immer wieder vor Augen führt, wie zerbrechlich, einfältig und widerlich ein menschliches Wesen doch ist. Manche sind der Meinung, Gott zeige uns das alles, damit wir nicht aufhören zu beten, damit wir nicht aufhören, Ihn beim Namen zu nennen, unseren allmächtigen und allgegenwärtigen Gott von Gotland, der uns errettet und ins Himmelreich führt.

Immer dann, wenn sich die Menschen von Gotland vermählen, schneiden sie ihr Haar ganz kurz und danach nie wieder, das ist hier Brauch, bei Männern und Frauen gleichermaßen. Die Männer suchen sich Frauen aus, die wohl auch dem Heiland gefallen würden, die weichen und gut riechenden, mit rosigen Lippen und wohlgeformten Brüsten. Die Frauen wiederum halten nach Männern Ausschau, die in langen Wintern wärmen, die sich nicht beklagen, die einfach nur den Mund halten.

Und immer dann, wenn die Menschen von Gotland in langen Wintern um ihre Vergangenheit trauern, dann tun sie es stumm wie die Fische, wie all das Getier, das sie zum Trocknen in ihre Schuppen hängen, das dort baumelt und einen unverkennbaren, stechenden Gestank verbreitet. Es riecht nach fauligem Fisch, Seetang, Salz, fasrigem Fleisch, Kalkfelsen und der allgegenwärtigen, über der ganzen Insel wabernden Verwesung. Manchmal schleichen die hungrigen Menschen heimlich in die Schuppen, um Fische anzuknabbern, man erkennt noch Jahre später all die Zahnabdrücke und Bissspuren, die sich deutlich von jenen der Ratten und Marder unterscheiden.

Einige Schuppen haben Keller, sie sind voller Luken und schmaler Treppen, die in die Dunkelheit führen, in die im nackten Erdreich angelegten Gewölbe, wo weitere Fische, Körper und Vorräte auf ihren Verzehr warten. Was immer man auch glaubt, Fisch- und Verwesungsgeruch sinkt nach unten, ganz nach unten, in den Kellern und Gängen atmet man Kiemen, Gräten, Flossen und Spinnenhaar; ab und an hört man sogar das Meer rauschen oder jemanden um sein Leben betteln, man dürfte das alles gar nicht erzählen. Die Schuppen und Verschläge sind aus Fichtenholz gezimmert, unbehauene Stämme über und aufeinandergeschlichtet, sie ragen in die Höhe, sie stützen das bröckelnde, nicht zur Ruhe kommende Erdreich. Manchmal fragen sich Neuankömmlinge, wie das alles zusammenhält, warum es nicht sofort in sich zusammenfällt, es gibt hierfür keine einzige halbwegs plausible Erklärung.

Die Menschen von Gotland seien wie Fichten, heißt es, stramm und gradlinig, niemand weiß, was sie sonst noch ausmacht, zusammenhält. Überall liegen abgestorbene Bäume, tote Gedanken, die nicht mehr Wurzeln schlagen, die besser nie gedacht worden wären, niemals hätten wachsen sollen. Man erzählt sich davon, dass Gott hohle Gefäße lieber wären, dass der Mensch zur Welt käme, um sich vor Ort mit Glauben füllen zu lassen, wie ein Truthahn, eine Stopfgans oder Pekingente.

In Gotland sind sich Tage und Nächte recht ähnlich, vor allem dann, wenn der Wind nachlässt, wenn es windstill wird auf der Insel, dann weiß man plötzlich nicht mehr, ob noch Tag oder schon Nacht ist. Die Nächte sind stiller und die Tage lauter, doch wenn kein Wind bläst und überall Ruhe herrscht, dann kann man unmöglich sagen, wie spät es ist, dann spielt das alles keine Rolle mehr. Und wenn der Wind wieder Fahrt aufnimmt, dann gehen die Wellen des Meeres in den Sand der Dünen, lebende Menschen in Tote über, der Wind wirbelt alles durcheinander und rüttelt an der Insel. Gott spricht so zu uns, und man weiß nie genau, was man zu hören bekommt, man weiß nie, wen man vor sich hat, mit wem man gerade isst oder schweigt, ob es sich überhaupt lohnt, ihm zuzuhören, ihn zu umarmen oder zu töten.

Ich wurde später gefragt, was denn die Macht und Existenz des einzig wahren Gottes beweist, und meine Antwort war: Unser Gott schlägt mit flachen Händen ins Meer, immer wieder, und die Fische sterben, sie verenden und werden von der Strömung an die steinigen Küsten gespült, die Ufer Gotlands sind voll verquollener Grätenleiber. Die Fische liegen in der Sonne und stinken, das Wasser in ihrer Nähe (und sie sind überall) verfärbt sich in allen Schattierungen, vor allem jedoch in Braun und Gelb und Schwarz. Unser Gott herrscht über das Wasser, unser Heiland kann mit einem Fingerschnippen alles Trinkwasser in eine Brühe verwandeln, nicht einmal Tiere kosten danach noch davon. Die Gotländer trinken dann den in den Kellern gelagerten Schnaps, sie trinken das Blut ihrer Lämmer, sie trinken, was immer sie noch zu trinken ergattern, die Gotländer wissen sich schon zu helfen.

Und es könnte noch schlimmer kommen: Gotlands Gott gebietet den Molchen, den Lurchen, den Fröschen, allen Geschöpfen, die das Wasser bewohnen, und allen Geschöpfen, die es verlassen oder zu verlassen gedenken. Auf der Insel kann es im Sommer vor Molchen nur so wimmeln; plötzlich kriechen sie hervor, dringen in jedes Haus, sie erscheinen einem im Schlaf, sie kommen in die Betten und Häuser der Nachbarn, in die Backstuben, Bäder und Werkstätten. Wenn es Gott gefällt, lässt er sie in der Glut seiner Sonne sterben, er lässt sie einsammeln und zu riesigen Haufen auftürmen, er fordert die Menschen auf, sie ins Feuer zu werfen, bis irgendwann die ganze Insel nach verbrannten Molchen stinkt.

Wann immer es Gotlands Gott gefällt, wirbelt er Staub auf mit seinen Händen, er streicht über die Insel, viel schneller noch als der Wind, er schlägt mit seinen Fäusten in die Senken der Steinbrüche. Als würde er jemandem einen Schlag versetzen, einen Tritt in die Magengrube, als wäre er ein böses, übellauniges und zu allem bereites Geschöpf. Der Staub wirbelt durch die Luft, die Staubpartikel schmerzen, sie schleifen das Land und die Häuser wie Schmirgelpapier, auf Mensch und Vieh setzen sie sich ab, als wären sie lebendig, als wären sie Schwärme von Bremsen und Stechmücken. Ein befremdlicher Schleier liegt an manchen Tagen über Gotland, staubiges Ungeziefer zieht seine Kreise, hinterlässt seine Spuren, nagt sich voran, es dringt ein in die Keller und bricht durch die Wände, als wären diese aus Pappmaschee.

Wann immer es Gotlands Gott gefällt, setzt er dem Vieh auf den Feldern zu, die Schafe, Rinder, Pferde und Esel werden gehetzt und gejagt, bis sie vor Erschöpfung zusammenbrechen. Sie liegen mit geweiteten Augen auf den Weiden, sie strampeln und schlagen um sich und lassen ihre Zungen im Staub kreisen, sie übergeben sich und ersticken an ihrem Erbrochenen. Dem Gras, dem Getreide, dem Fischmehl, den Brotresten, den Salzlaken, den Strohballen, den Wiesenkräutern, an all dem verenden sie gleichzeitig. Und der aufgewirbelte Staub hinterlässt Wunden auf ihren Körpern, er verätzt sie selbst im Tode, er verätzt sie wie die Menschen, die sorglos genug waren, an solchen Tagen vor die Tür zu treten. Mensch und Vieh sind mit Geschwüren übersät, mit sich von der Haut abhebenden, aufplatzenden und bis auf die Knochen schmerzenden Blasen, mit Striemen und eitrigen Stichen.

Ich wurde gefragt, ob ich mir sicher sei, ob ich mir nicht alles nur eingebildet hätte, und ich antwortete: Es könnte sogar noch schlimmer kommen. Gotlands Gott gebietet dem Wetter, er jongliert mit Blitz und Donner, mit Sturmtiefs und Hagelkörnern, mit Sturmfluten und Landflüchtigen, er findet immer einen Weg zu den Menschen. Und der Hagel erschlägt Mensch und Vieh, er plättet Felder und Feldpflanzen, er vernichtet Ernten und bricht die knorrigsten Bäume, so weit das Auge reicht.

Und an manchen Tagen lässt Gott Wasser und Staub zueinanderfinden, er treibt fliegende Fische in Scharen aus dem Meer, er füllt sie mit Staub, Gefäße, die an gar nichts glauben, er vereint sie zu Heeren, er schleudert sie durch Lüfte, und sie bedecken schon bald die Oberfläche der Insel, so dass man den Erdboden nicht mehr erkennen kann. Sie verzehren, was bislang verschont blieb, sie fressen Knochen und Baumkronen kahl, sie verschlingen ein ganzes Land und alle Früchte, sie schlagen ein mit der Wucht eines von Katapulten abgeschossenen Steines, sie zertrümmern Knochen und Schädel, lassen kein einziges Fenster heil.

Und wenn sie alle gemeinsam auffliegen, verdunkeln sie den Lauf der Sonne, sie lassen einen Tag zur Nacht werden, stockdunkel ist es dann, und man erkennt die Hand vor den Augen nicht. Man sieht kein Unheil kommen, hört das Schlagen der Flügel, die Luft vibriert und zuckt, es regnet Fischschuppen vom Himmel, die alle Dächer, Felder und Wälder bedecken, sie begraben die Insel unter sich, als wären sie der zu früh gefallene, in strengen Wintern gleichfalls tödliche, breiige Schnee.

Genesis

I.

Die Schöpfung

Es heißt, Gott schuf Himmel und Erde; zunächst war alles noch ein unscheinbarer Klumpen in seinen Händen, er rollte und bearbeitete diesen mit seinen Handflächen, es war keine große Sache, selbst Kinder vermögen das schließlich, mit etwas Lehm oder Plastilin. Ich hatte einmal selbst eine ganze Reihe Planeten mit meinen Händen geformt, aus lehmiger, schlammiger, nasskalter Erde, in der sich Grashalme und trockenes Laub verfangen hatten; ich reihte sie vor Mutter auf, der Größe nach absteigend, und verlautbarte: Ich habe ein ganzes Sonnensystem erschaffen! Dies hier sei die Sonne, ich stupste die größte der Kugeln an, sie rollte zu Mutter hin, etwas schwerfällig, einer schiefen, unkalkulierbaren Umlaufbahn folgend, sie kullerte dann aber doch vor ihre Füße. Mutter hob die Sonne auf, hielt sie interessiert vor ihr Gesicht, und ich dachte nur: Alles wird fortan leichter werden, die Sonne ist aufgegangen.

Gottes Erde war wüst und leer, meine Planeten waren es auch, so konnte ich das nicht belassen. Ich überarbeitete also die Sonne, steckte fein säuberlich einen lichten Strohhalm nach dem anderen in die dunkle Masse, ich spickte sie mit angedachten Sonnenstrahlen, und siehe da, es ward Licht. Ich legte die Sonne, die wie ein seltsamer Igel aussah, erneut ab, wodurch ich einige der Strohhalme abknickte, doch davon ließ ich mich nicht beirren. Ich nahm die Erde zur Hand, fügte ihr weitere Masse hinzu, noch mehr Lehm und noch mehr Erdreich, ich rollte sie wie einen Ball über den Boden, sie war nun wesentlich größer als die Sonne, doch störte mich der falsche Maßstab als Kind keineswegs.

Und Gott sprach: Es lasse die Erde aufgehen Gras und Kraut, das sich besame, und fruchtbare Bäume, da ein jeglicher nach seiner Art Frucht trage. Und die Erde ließ aufgehen Gras und Kraut, das sich besamte, ein jegliches nach seiner Art, und Bäume, die Frucht trugen. Ich pikste weitere Halme in den Erdklumpen, streute ein paar Gänseblümchen ein, holte mir aus dem Kühlschrank ein paar Himbeeren und Weintrauben (ich meine sogar ein Stück Wurst), die ich mit Nadeln aufspießte und danach auf der Oberfläche der Kugel fixierte.

Und Gott sprach: Es errege sich das Wasser mit webenden und lebendigen Tieren, und Gevögel fliege auf Erden unter der Feste des Himmels. Und Gott schuf große Walfische und allerlei Getier, ein jegliches nach seiner Art. Ich holte mein Plastikspielzeug, sortierte die vorhandenen, mir vertrauten Tiere und gruppierte diese im Kreis, in die Mitte dieser Versammlung legte ich die lehmige, nach Gänseblümchen duftende Erde. Es standen dort ehrfürchtig: eine Antilope, ein Wolf, eine übergroße Elster, eine Ziege, eine Giraffe, ein Pferd, ein Krake und ein Krokodil; das war schon gut so.

Der Krake selbst war etwas Besonderes, er bestand aus Weichgummi und war mit einer dauerhaft klebrigen Substanz überzogen, die ihm besondere Fähigkeiten verlieh. Man konnte ihn gegen jede beliebige Wand werfen, an der er zunächst haften blieb; nach einer halben Minute löste er sich, glitt langsam, sich dabei um die eigene Achse drehend, die Wand nach unten, er fand schließlich mit den klebrigen Tentakeln überall Halt. Wer immer ihn erfunden hat, muss ein Genie sein, dachte ich mir des Öfteren, wiewohl das Tier auch erhebliche Nachteile aufwies: An der klebrigen Oberfläche des Kraken lagerten sich Staub und allerlei Schmutz ab, alles, einfach alles blieb an ihm kleben, Wandverputz, Fasern, bestimmt auch Viren, Bakterien und Kleinstlebewesen.

Ich schrubbte und reinigte ihn nach einem jeden seiner Einsätze sorgfältig, sang ihm, weil er das Meer gewiss schrecklich vermisste, im Badezimmer ein paar fröhliche Lieder vor, es sollte ihm möglichst gut gehen, schließlich war er mein ganzer Stolz. Ich stellte mir vor, dass er auch im Meer, von ganz oben, von der Oberfläche, nach unten stieg, in die Tiefe schwebte, als würde er eine blaue dunkle Wand entlangklettern, seine Saugnäpfe sorgten dafür, dass er nicht unkontrolliert in die Tiefe taumelte. Mit der Zeit und in Anbetracht der ständigen Reinigung seiner Hautoberfläche verloren sich seine Fähigkeiten, er blieb kaum noch irgendwo kleben und fiel sofort wie Pudding nach unten, seine Tage als Kletterkünstler waren offenbar gezählt. Meine Erde im Auge behalten, das konnte er allerdings nach wie vor, und wer weiß, seine dehnbaren Arme würden sie vielleicht sogar festhalten, sollte sie irgendwohin wegrollen oder gar entfliehen wollen.

Mutter sah mir zu, sie strahlte bis über beide Ohren und brachte mir einen spitzen, dunklen Stein aus einer ihrer Kommoden im Wohnzimmer. Den hier habe ich aus Gotland mitgebracht, sagte sie. Ich steckte ihn entschlossen in die oberste Wölbung der Erde und verkündete: Das ist der höchste Berg, den es auf Erden gibt. Und während ich es verlautbarte, fiel tatsächlich die Giraffe um, das höchste Tier auf Erden bezeugte dem höchsten Berg auf Erden seine immerwährende Ehrfurcht.

Und Gott sprach: Lasst uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Gewürm. Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, einen Mann und ein Weib. Ich leerte meine Cowboy-&-Indianer-Schachtel, sortierte die Waffen und Krieger, eine Frau war bei bestem Willen nicht zu finden, da konnten selbst die langen, matt schimmernden Haare des Häuptlings nichts daran ändern; und auch die Kriegsbemalung, ich meine, das sah doch bei Frauen wirklich anders aus. Mutter war wohl gespannt, wie ich dieses Problem lösen würde, denn sie setzte sich zu mir, wir saßen gemeinsam auf dem Fußboden, ich und sie und neben uns die junge Erde, mit all den Gräsern, Blumen und Tieren. Ich packte meine Plastikmännchen wieder in ihre Schachtel, lief ins Wohnzimmer und holte ein Bild von mir und Mutter, das sie unlängst hatte rahmen lassen. Es zeigte uns, wie wir inmitten einer Wiese lagen, über uns die makellose Sonne und um uns herum buntes, im Wind wippendes Grasvolk. Ich stellte das Bild neben meine Erde, ein Mann und ein Weib, die beide in die Kamera lächelten, es konnte keine Besseren geben.

Mutter schaute etwas nachdenklich, sie schien sich über irgendetwas Wichtiges klar werden zu wollen, doch lächelte sie, es konnte also nur etwas Wunderbares sein. Sie kochte mir an diesem Tag mein Lieblingsgericht, Grießbrei mit Butterstücken (die darin steckten), darüber verstreute sie pulvrigen, fein gemahlenen Kakao. Ich löffelte mich durch den Brei, zunächst entfernte ich ihn sachte am Tellerrand, ich kreiste ihn mit meinem Löffel ein, während die Butterstücke in der Mitte des Tellers schmolzen. Kleine, goldene Butterseen hatten sich schon bald gebildet, die ich noch etwas vertiefte; ich löffelte mich emsig durch den Brei, bis ich schließlich Verbindungen zwischen den einzelnen »Seen« geschaffen hatte, Kanäle und Bäche und Flussläufe. Zuletzt aß ich alles auf, was diese noch trennte, so dass ein einziger gewaltiger Buttersee entstand, umrandet von einem Damm aus Grießbrei. Ich löffelte nunmehr die flüssige Butter aus, sie rann mir übers Kinn, und ich strahlte; danach war der verbliebene Brei an der Reihe, die letzten mit Butter durchtränkten Grießklumpen verschwanden in meinem Kindermund. Während ich aß, hatte die Mutter ihre Bibel geholt und diese zu meiner Erde gelegt, unmittelbar vor unser Bild, alles war licht und vollkommen.

Erinnerst du dich noch an das Gleichnis vom Elsternkönig? Wollte die Mutter plötzlich von mir wissen, die Frage kam völlig unvermittelt und hallte noch lange nach. Ich wusste um ihre Lieblingspredigten, die alte Bibel war schließlich voller markierter Stellen, der Elsternkönig musste dort irgendwo zu finden sein. Ich versuchte mich krampfhaft zu erinnern, ein König und sein Volk, ja doch, da war einst ein gefiederter König gewesen, dessen Volk sich von ihm abgewandt hatte. Irgendeine seltsame Krankheit hatte ihn befallen, alle weißen Federn hatten sich schwarz verfärbt, und die Untertanen mieden ihn. In seiner Verzweiflung erließ dieser Gesetze, die alles Weiße in seinem Königreich verboten, ich hörte nunmehr ganz deutlich Mutters Stimme: Und er befahl, dass alle weißen Räume und Vorhänge schwarz eingefärbt würden, er ließ alle weißen Blumen und Blüten im gesamten Elsternreich auszupfen und -reißen, dem Salz und Mehl wurde Asche beigemengt, der Milch ebenso. Und wenn weiße Wolken über sein Reich zogen, mussten alle Elstern auffliegen, sie zischten und pfiffen durch die Wolkenformationen, so lange, bis diese in alle Winde zerteilt wurden. Und wenn es im Winter in seinem Reich schneite, befahl er allen Elstern, den Schnee mit ihren Flügeln auf einen großen Haufen zu rechen, ganz egal, wie kalt und unwirtlich es draußen auch sein mochte. Danach wurden Holzscheite am Fuße des Berges aufgestapelt, fein säuberlich in Pech getränkt, der Elsternkönig ließ diese in Brand setzen, und schwarzer Rauch umhüllte den eisigen Berg, er waberte durch sein gesamtes Reich, und sein Volk hustete sich jegliche Seele aus dem Leib …

Es heißt, die Anfänge unserer Erinnerung sind Momente, die uns maßgeblich prägen; die Anfänge meiner Erinnerungen waren allesamt in der Wohnung der Mutter angesiedelt; ich erinnere mich an ihre Geschichten, die Farben, an den Grundriss der Wohnung, an Fenster, an Möbel und ein allererstes Haustier (einen Hamster); ich erinnere mich, dass die vorherrschende Farbe im Schlafzimmer meiner Mutter gelb war; ich erinnere mich, dass unser Bad Fliesen hatte und die Füße dort schnell kalt wurden; ich erinnere mich, dass ich gern auf allen vieren durch die Wohnung kroch; ich erinnere mich an den weißen Arztkittel der Mutter und einen ihrer »Mundversperrer«, ein Gerät aus der Zahnarztpraxis, das sie vor spontan zubeißenden Patienten schützte (damals war mir nicht klar, warum überhaupt jemand Mutter hätte beißen wollen!); ich erinnere mich, dass ich einmal einen ihrer Kronenentferner (mit irgendeiner Chemikalie dran) in meinen Mund steckte und es höllisch brannte; eine Viper schien in meinem Mund zu schaukeln, es war der erste Schmerz, den ich vergegenwärtigte. Er befiel meinen Rachen, meine Zunge, meine Lippen, die Zunge schwoll an, kein klares Wort war mehr in mir, nur noch Gestammel.

Ich erinnere mich an das Grammophon meiner Mutter, das Knistern der Platten (um genau zu sein: an den Song »Angel Baby« von Rosie and the Originals), ich erinnere mich an das Auto der Mutter (irgendetwas Türkises) und dass der Hamster gern aus seinem Käfig floh, um die herabhängenden Vorhänge anzuknabbern. Ich erinnere mich, dass ich den Hamster als etwas echt »Großes« ansah, was sich im Nachhinein nur dadurch erklären lässt, dass ich offenbar noch ziemlich klein war; und ja doch, er hat mich tatsächlich gebissen, daran erinnere ich mich ganz genau.

Und Gott sprach: In mir war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen; das Leben schien mir wiederum etwas zu sein, worin man sich erst behaupten musste, es galt, auf die Beine zu kommen, sich nicht von der Angst überwältigen zu lassen, niemals aufzugeben, doch wovor sollte ich mich schon fürchten, Mutter würde mich niemals im Stich lassen. »It’s just like heaven being here with you, you’re like an angel too good to be true, but after all, I love you, I do, Angel Baby, my Angel Baby«, Mutters Lieblingsschallplatte lief immer weiter, ich krabbelte dabei durch die Wohnung, Hamster, Blitze, Licht, das Leben war vielleicht doch etwas zutiefst Halsbrecherisches und Gefährliches.

Und Gott sprach: Darum erinnere ich dich an meine Gabe, die du empfangen hast, als ich dir die Hände auflegte: Entfache sie neu in dir! Ich spürte jene Gabe, ob sie nun von Gott stammte oder der Mutter, sie war ein greller Lichtblitz, der mich und mein Denken aus- und erleuchtete; es war schließlich der Moment, an den überhaupt Erinnerungen anknüpfen konnten; es war der Moment, in dem mein Leben wirklich begonnen hat: Ich lag im Bett, bei mir irgendwelche Plüschtiere und Kleinkindrasseln (ich muss sehr klein gewesen sein), ich konnte nicht einschlafen und starrte teilnahmslos zur Decke. Immer dann, wenn ein Auto draußen einen bestimmten Weg nahm, huschten die Scheinwerfer über die Zimmerdecke, sie drangen durchs Fenster und zogen in unterschiedlichen Tempi vorüber, sie erhellten einen Moment lang die Dunkelheit und stimulierten meine Netzhaut. Das war es, was Gott und Mutter in mir entfacht, was sie in Gang gesetzt hatten; ich verinnerlichte diese Lichtblitze, ich sehe in ihnen die allerersten, mir bis heute bekannten Erinnerungen. Sie verdeutlichen den Unterschied zwischen Licht und Dunkelheit, zwischen Bewegung und Stillstand, zwischen Stille und Klang (denn ich konnte auch den Motor des jeweiligen Autos vernehmen).

Das Licht stand am Beginn meiner Erinnerung, schon mit dem Verlassen des Mutterleibs und dem Zur-Welt-Kommen, im grellen Scheinwerferlicht unterschiedlichster Spitalleuchtkörper; irgendwelche Hände krallten sich danach meinen Körper, der erste Atemzug, mein erster Schrei und nunmehr also diese Welt. Ich erinnere mich, wie fasziniert ich später war, als ich mir dessen bewusst wurde, dass die Sterne, die ich am Nachthimmel sah, möglicherweise gar nicht mehr existierten; dass nur noch ihr Licht durch den Kosmos raste, Jahrmillionen lang, um irgendwann auf unsere Netzhaut zu treffen.

Du hast Augen wie ein Luchs, sagte die Mutter einst zu mir (da trug ich auch noch keine Brille); ich fand jedenfalls die Vorstellung, dass ein Luchs (wie kaum ein anderes Lebewesen) selbst in den dunkelsten Nächten das Licht verstärken und es scheinbar aus dem Nichts schöpfen konnte, ungemein faszinierend. Ich wünschte mir sehnlichst einen solchen, den ich meinem Tierkreis und der darin ruhenden Erde hinzufügen konnte. Mutter brachte mir schon bald einen mit, er war aus Plastik und hatte gelb-funkelnde, wache Augen. Das Wort »Luchs« bedeute auch »der Funkler«, erklärte mir die Mutter.

Früher legte sie mir noch funkelnde Knöpfe ins Bett, solche, die nächtens glänzten und glitzerten, ein bisschen vielleicht an Raubtieraugen erinnerten, meine Augen, betonte sie und kraulte mich dabei am Hinterkopf. Was ist mit meinen Augen, Mutter? Sie sind voller Rauch, sagte sie. Rauch und Staub? Ja, etwas Staub kann ich auch erkennen, sie lachte. Die Fußabdrücke des Sandmännleins. Mutter, was ist ein Sandmännlein?, wollte ich wissen. Das Sandmännlein lässt dich tief und fest schlafen, wusste sie. Und wenn ich gar nicht schlafen will? Mit dem Sandmännlein kann man nicht diskutieren … es kommt und bringt dir schöne Träume. Und wenn ich nicht schlafen will, Mutter? Dann wird es böse, meinte sie. Und wenn es böse wird, Mutter? Dann streut es dir so viel Sand in die Augen, dass sich diese erst am nächsten Morgen wieder öffnen lassen. Ich bin also für eine Weile blind? Nein, du wirst nur unendlich müde, dein Kopf wird schwer, und bald schon schläfst du. Streut es mir auch Sand in den Mund? Nein, das tut es nicht, es will ja nicht, dass du hustest und mich aufweckst. Und jetzt, gute Nacht!

Eine ganze Weile ließ mich dieses Sandmännlein nicht mehr los, jeden Morgen die gleichen Fragen: Warum träume ich, was ich träume? Warum will Gott überhaupt, dass wir träumen? Warum träumen Menschen oft von Monstern? Und träumen Monster dann eigentlich von Menschen? Und wenn ich zu oft von Menschen träume, macht mich das zu einem Monster? Aber das Sandmännlein streute nur fleißig Sand, es antwortete nicht, mit ihm konnte man wahrlich nichts diskutieren.

Das von mir geschaffene Sonnensystem lag noch eine ganze Weile bei uns herum, die Blumen und Früchte verdorrten, der Lehm wurde hart, alle Sonnenstrahlen brachen ab und die Planeten verloren nach und nach ihre Wichtigkeit. Die Tiere zogen weiter, mit ihnen spielte ich noch viele Jahre lang (zumeist kämpften sie gegen die Cowboys & Indianer), die Fotografie wanderte wieder zurück ins Wohnzimmer, die Bibel kam aufs Nachtkästchen der Mutter, der gotländische Stein wurde der bröckelnden Erde entrissen, Mutter wusch ihn ab und legte ihn wieder in ihre Kommode. Als ich endgültig von den trostlosen Erdklumpen die Nase voll hatte, zertrat ich sie, warf alles in den Müll, die Planeten verschwanden und ich habe sie nie wiedergesehen. Ich stellte mir sogar die Frage, ob sich Gott nicht ähnlich gefühlt haben muss, irgendwann später, ob er uns und die Erde und überhaupt das meiste nicht als entbehrlichen Müll betrachtete, denn alles hatte seine Zeit und nichts war von Dauer.

II.

Noah und die Flut

Mutter hatte darauf bestanden, dass ich eine katholische Grundschule besuche, so wie sie einst, ich wandelte ganz auf ihren Spuren, sogar meine Lehrerinnen und Lehrer konnten sich noch gut an sie erinnern; du bist also tatsächlich ihr Sohn? Sie war immer so ein braves Mädchen gewesen, klug und spitzfindig, und eine gute Schülerin, da wirst du dich ranhalten müssen, dies und das musste ich mir von der Klassenlehrerin anhören. Wir trugen züchtige Uniformen; jene der Mädchen erinnerten an altehrwürdige Nonnen, jene der Burschen glich der eines ordentlich gekämmten Matrosen, nun ja, vermutlich eher Chorknaben. Wir hatten einen großen Garten zum Herumtoben, es gab eine Ziege, vor der sich alle fürchteten, weil es hieß, sie habe den Teufel im Leib, es gab darüber hinaus lichte, freundliche Klassenzimmer und leckere Schulmilch.

Wir lernten dort alles, was man fürs Leben braucht, Lesen, Rechnen, Schreiben und biblische Geschichten; ein jeder von uns bekam am ersten Schultag seine eigene Bibel, ich staunte, wie umfangreich das Werk Gottes war (die Bibel der Mutter war wesentlich kleiner); lesen konnten wir darin zwar noch nicht (oder nur sehr unbeholfen), doch blätterten wir uns sofort fleißig durch alle 1456 Seiten, das Rascheln der dünnen Blätter erfüllte den ganzen Klassenraum. Einigen von uns kam die Idee, ein pompöses Daumenkino zu entwickeln; kaum ein anderes Buch schien dafür so geeignet zu sein wie die Heilige Schrift. In meine Bibel kritzelte ich einen stilisierten Bogenschützen, der einen Pfeil abfeuerte, dieser flog und flog immer weiter und durchschlug auf seinem Weg allerlei Gegenstände, Tiere und sogar Personen (später konkretisierte ich diese sogar und überarbeitete das Bibeldaumenkino von Grund auf).