Die Schlange war klug - Peter Schäfer - E-Book

Die Schlange war klug E-Book

Peter Schäfer

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Beschreibung

In antiken Erzählungen vom Ursprung verdichten sich Welt- und Menschenbilder, die das westliche Denken bis heute prägen. Der renommierte Judaist Peter Schäfer vergleicht biblische und altorientalische, platonische und epikureische, jüdische und christliche Vorstellungen von der Entstehung der Welt und des Menschen. Dabei zeigt sich, dass Sündenfall und Erbsünde christliche Erfindungen sind, während die jüdische Tradition im Sinne der Bibel zu der Erkenntnis kommt: Die Schlange war klug, der Mensch ist frei. - Eine fulminante Zusammenschau der wichtigsten antiken Schöpfungstheorien und ihrer Weltwirkung. Ein Kernanliegen antiker Gelehrsamkeit war die Spekulation über den Ursprung der Welt und die Stellung des Menschen in ihr. Peter Schäfer setzt auf faszinierende Weise unterschiedliche Entwürfe in Beziehung zueinander: biblische Erzählungen und altorientalische Mythen, Platons Weltentstehungsmythos und Philons platonische Bibeldeutung, Aristoteles' Lehre vom Unbewegten Beweger und Lukrez' materialistische Weltsicht, die erst in der Renaissance wiederentdeckt wurde. Christentum und Judentum haben diese Lehren aufgegriffen und umgeformt, doch dabei entstand, wie die meisterhafte Darstellung zeigt, keine «jüdisch-christliche» Tradition. Denn während für die Bibel und das rabbinische Judentum der Mensch durch die Klugheit der Schlange im Paradies überhaupt erst zum Menschen geworden ist, ist er nach christlicher Vorstellung durch die Verführung der teuflischen Schlange vom eigentlichen Menschsein abgefallen und muss mit der Erbsünde leben. Ein Ausblick zeigt, wie diese unterschiedlichen Menschenbilder in der Moderne weiterwirken, in der Aufklärung einerseits, in der antidemokratischen politischen Theologie Carl Schmitts andererseits.

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Peter Schäfer

DIE SCHLANGE WAR KLUG

Antike Schöpfungsmythen und die Grundlagen des westlichen Denkens

C.H.Beck

ZUM BUCH

In antiken Erzählungen vom Ursprung verdichten sich Welt- und Menschenbilder, die das westliche Denken bis heute prägen. Der renommierte Judaist Peter Schäfer vergleicht biblische und altorientalische, platonische und epikureische, jüdische und christliche Vorstellungen von der Entstehung der Welt und des Menschen. Dabei zeigt sich, dass Sündenfall und Erbsünde christliche Erfindungen sind, während die jüdische Tradition im Sinne der Bibel zu der Erkenntnis kommt: Die Schlange war klug, der Mensch ist frei. – Eine fulminante Zusammenschau der wichtigsten antiken Schöpfungstheorien und ihrer Weltwirkung.

ÜBER DEN AUTOR

Peter Schäfer, Professor em. für Judaistik, hat an der Freien Universität Berlin (1983–2008) und der Princeton University gelehrt (1998–2013) und war bis 2019 Direktor des Jüdischen Museums Berlin. Er wurde u.a. mit dem Leibnizpreis der DFG, dem amerikanischen Mellon Distinguished Achievement Award, dem Leopold Lucas Preis der Universität Tübingen und dem Reuchlin Preis der Stadt Pforzheim ausgezeichnet. Bei C. H.Beck erschienen von ihm «Zwei Götter im Himmel» (2017) sowie «Kurze Geschichte des Antisemitismus» (2. Aufl. 2020).

INHALT

EINLEITUNG

1. DIE HEBRÄISCHE BIBEL: ZWEI URGESCHICHTEN

Das Buch Genesis und seine beiden Schöpfungserzählungen

Genesis 1,1–2,3

Genesis 2,4–3,24

Der erste Schöpfungsbericht

Der zweite Schöpfungsbericht

Die Erzählung von der Sintflut

Die Rückkehr der altorientalischen Mythen

Der Babel-Bibel-Streit

2. ALTORIENTALISCHE EPEN: GRAUSAME UND GLEICHGÜLTIGE GÖTTER

Das Atrachasis-Epos

Der Sumerische Schöpfungsmythos

Das Gilgamesch-Epos

Das Enuma Elisch

Altorientalische Epen und Bibel: Ein Vergleich

3. PLATON: DIE VERGÖTTLICHUNG DES KOSMOS

Kosmogonische Philosophie: Der Timaios

Die philosophischen Voraussetzungen der Weltentstehung

Die Hervorbringung des Kosmos durch den Demiurgen

Weltkörper und Weltseele

Die Zeit

Die sichtbaren und entstandenen Götter

Die Erschaffung des Menschen

Die notwendig vorhandene Materie

Die Entstehung der Elemente und die Entfaltung der Sinneswahrnehmungen

Das aus Vernunft und Notwendigkeit zusammen Erzeugte: der Körper

Krankheiten des Körpers und der Seele

Platons Kosmotheologie

Biblische Schöpfungstheologie und platonische Kosmologie

4. ARISTOTELES: DIE ENTGÖTTLICHUNG DES KOSMOS

Wirkungen in der islamischen, christlichen und jüdischen Philosophie

Der Unbewegte Beweger in Aristoteles’ Kosmophilosophie

5. PHILON: DER JÜDISCHE PLATON

Ein hellenistisch-römischer Theologe

Philons Traktat über die Weltschöpfung

Einleitung

Der erste Schöpfungstag: Die Erschaffung der intelligiblen Welt der Ideen

Die weiteren Schöpfungstage: Die sinnlich wahrnehmbare irdische Welt

Der Mensch im irdischen Kosmos

Der Mensch als Ebenbild Gottes

Philon und Platon: Die Bibel gegen den Strich gebürstet

6. VON DEMOKRIT ZU LUKREZ: NATUR OHNE GÖTTER

Demokrit: Ewige Atome und unzählige Welten

Epikur: Seelenfriede durch Naturphilosophie

Lukrez: Materialistische Welterklärung

Der Philosoph und sein Lehrgedicht

Erstes Buch: Venus, Epikur und die Urelemente

Zweites Buch: Bewegung, Schlenker und Zusammenprall

Drittes Buch: Die Seele

Viertes Buch: Die sinnliche Wahrnehmung

Fünftes Buch: Unsere Welt und die vielen Welten

Sechstes Buch: Naturphänomene und die Attische Seuche

7. DAS RABBINISCHE JUDENTUM: VOM MYTHOS ZUR GESCHICHTE

Die Rabbinen und ihre Werke

Polemik und Vereinnahmung: Die christliche Rezeption

Die Schöpfungsgeschichte im rabbinischen Judentum

Die Torah als Bauplan der Welt

Präexistente Materie

Ziel und Stoff der Schöpfung

Gott der alleinige Schöpfer

Das Land Israel

Gott hatte keine Helfer

Schöpfung und Geschichte

Baumaterialien und die Torah

Keine präexistente Urmaterie

Kosmologie

Göttliche Vorsehung

Auch die zukünftige Welt ist Teil der Schöpfung

Gott der alleinige Schöpfer

Himmel und Erde

Rabbinische Schöpfungstheologie

8. O FELIX CULPA: FLUCH UND SEGEN DER VERTREIBUNG AUS DEM PARADIES

Die «Ursünde» im nachbiblischen Judentum

Jüdische Weisheit: Jesus Sirach und die Weisheit Salomos

Apokalyptik nach der Zerstörung des Tempels

Von der Sünde zur Erbsünde

Paulus: Der alte und der neue Adam

Kirchenlehrer des Ostens: Origenes und Johannes Chrysostomus

Augustinus und die Erfindung der Erbsünde

Felix Culpa im rabbinischen Judentum

EPILOG

Die Dogmatisierung der Erbsünde

Kant, Schiller, Fichte und die «Philosophierung» der Paradiesgeschichte

Immanuel Kant

Friedrich Schiller

Johann Gottlieb Fichte

Politische Theologie und Erbsündenlehre bei Carl Schmitt

ANHANG

DANK

ANMERKUNGEN

Einleitung

1. Die Hebräische Bibel: Zwei Urgeschichten

2. Altorientalische Epen: Grausame und gleichgültige Götter

3. Platon: Die Vergöttlichung des Kosmos

4. Aristoteles: Die Entgöttlichung des Kosmos

5. Philon: Der jüdische Platon

6. Von Demokrit zu Lukrez: Natur ohne Götter

7. Das rabbinische Judentum: Vom Mythos zur Geschichte

8. O Felix Culpa: Fluch und Segen der Vertreibung aus dem Paradies

Epilog

LITERATUR

BILDNACHWEIS

NAMENREGISTER

Der Schöpfungsbericht in der Sarajevo Haggadah, die um 1350 wahrscheinlich in Barcelona entstand. Die Seite zeigt die ersten drei Tage: Oben rechts: Der Geist Gottes schwebt über den Wassern. Oben links: Die Scheidung zwischen Licht und Finsternis am ersten Tag. Unten rechts: Am zweiten Tag schafft Gott, symbolisiert durch die Strahlen, das Firmament über den unteren Wassern. Unten links: Am dritten Tag erschafft Gott die Pflanzen.

Eine Mosaikenreihe aus dem späten 12. Jahrhundert (1180–1190) im Dom von Monreale auf Sizilien zeigt die Schöpfungsgeschichte, hier die Scheidung der oberen von den unteren Wassern am zweiten Tag: Gott erscheint mit Heiligenschein, also wohl als die zweite göttliche Person Jesus Christus. Er sitzt auf einer Sphäre und hält in der linken Hand eine Schriftrolle, möglicherweise das Buch Genesis.

Der vierte Schöpfungstag auf einem Mosaik in der Cappella Palatina in Palermo (1140–1170): Gott mit Heiligenschein, eine Schriftrolle in der linken Hand haltend, erschafft Sonne, Mond und Sterne.

Die Beseelung Adams nach Genesis 2,7 in der Cappella Palatina in Palermo: Gott bläst Adam den Lebensatem in die Nase ein. Der zitierte Vers oberhalb des Bildes ist aber Genesis 1, 27 (Vulgata).

Die Erschaffung Evas nach Genesis 2,21 in der Cappella Palatina in Palermo: Während Adam schläft, lässt Gott Eva seiner rechten Seite entsteigen.

Antike christliche Fresken aus der Mitte des 5. Jahrhunderts zeigten in San Paolo fuori le mura in Rom die Schöpfungsgeschichte. Die Fresken wurden 1823 durch einen Brand zerstört. Erhalten sind nur noch Aquarellkopien aus dem 17. Jahrhundert. Oben: Die Erschaffung Adams nach Genesis 2,7. Gott (mit Heiligenschein) sitzt auf einer Sphäre, Adam streckt seine Hand nach ihm aus. Die Erde ist noch kärglich bewachsen. Unten: Die Erschaffung Evas nach Genesis 2,21: Gott sitzt auf einer Sphäre, während Eva mit betend erhobenen Händen neben dem noch schlafenden Adam steht.

Zuführung Evas zu Adam durch Gottvater nach Genesis 2,22 f.: Adam nimmt seine «ebenbürtige Hilfe» begeistert in Empfang. Relief an der Bronzetür des Hildesheimer Doms, die Bischof Bernward im Jahr 1015 in Auftrag gab.

Seite aus der Sarajevo Haggadah (siehe Tafel 1) mit vier Szenen aus der Schöpfungsgeschichte: Oben rechts: Die Erschaffung Evas aus Adam. Oben links: Der Baum der Erkenntnis mit der Schlange. Unten rechts: Adam und Eva bedecken sich mit Feigenblättern. Unten links: Adam bearbeitet die Erde nach der Vertreibung, Eva spinnt; unten kriecht die Schlange auf ihrem Bauch.

Adam und Eva bedecken sich beschämt mit Feigenblättern, nachdem sie vom Baum der Erkenntnis gegessen haben. Fresko nach Genesis 3,7 in der Katakombe Santi Pietro e Marcellino, Rom, frühes 4. Jahrhundert.

Die Vertreibung aus dem Paradies nach Genesis 3,23–24: Adam und Eva wurden von Gott in Felle gekleidet. Der über ihnen schwebende Cherub ist nicht nur mit dem Schwert, sondern auch mit der Hacke ausgerüstet, die Adam bei der Bearbeitung der Erde benutzen soll und nach der dieser seine Hand ausstreckt. Relief an der Bronzetür des Doms von Monreale, die 1186 von Bonanus in Pisa geschaffen wurde.

Mosaik in der Vorhalle von San Marco in Venedig, 1215–1225. Die Bilder ähneln der Miniaturdarstellung in der Cotton-Genesis, einer weitgehend verbrannten Handschrift, die wahrscheinlich im 5. Jahrhundert in Alexandria entstand. Oben links: Sintflut mit der Regenwand der Wasser von oben und den in den Wassern der Urflut treibenden Leichen der Menschen und Tiere. Oben rechts: Aussendung des Raben und der Taube. Mitte links: Rückkehr der Taube mit dem Ölzweig im Schnabel. Mitte rechts: Noach mit seiner Familie und die Tiere verlassen die Arche. Unten links: Noach bringt das Brandopfer dar. Unten rechts: Die neu bevölkerte Erde.

Sintflut mit Arche Noach in der Wiener Genesis, einer illuminierten Handschrift, die wahrscheinlich in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts in Syrien entstand. Die auf dem Wasser treibende Arche ist von schwimmenden oder bereits ertrunkenen Menschen umgeben.

Sintflut und Arche Noach im Ashburnham Pentateuch, einer illuminierten Bibelhandschrift aus Nordafrika oder Spanien, frühes 7. Jahrhundert. Vor der hermetisch verschlossenen Arche treiben tote Menschen und Tiere auf dem Wasser.

Mesopotamisches Terrakotta Relief, ca. 2255–2219 v. Chr., mit einer Szene aus dem Gilgamesch-Epos (VI: 141–146): Ein emblematischer Held, der auch als Gilgamesch oder Gott der Unterwelt gedeutet wird, kämpft mit dem Himmelsstier. Möglicherweise handelt es sich auch um Enkidu, der den Himmelsstier zu Boden ringt, damit Gilgamesch ihn töten kann.

Szene aus dem Gilgamesch-Epos (V: 263–267) auf einem babylonischen Relief des 17./18. Jahrhunderts v. Chr.: Enkidu (links) zückt sein Schwert, Gilgamesch (rechts) durchbohrt den Nacken Humbabas, des mächtigen Wächters des Zedernwaldes.

Szene aus dem Gilgamesch-Epos (VI: 142–146) auf einem neuassyrischen Rollsiegel aus blauem Mondstein: Gilgamesch und Enkidu töten den Himmelsstier.

Szene aus dem Gilgamesch-Epos auf einem Neuassyrischen Rollsiegel: Der Kampf zwischen Marduk und Tiamat (Tiamtu).

Raffael, Die Schule von Athen, Fresko in der Stanza della Segnatura, Vatikan, 1510/11. In der Mitte stehen Platon (links) und Aristoteles (rechts). Platon hält unter dem linken Arm den Timaios, sein rechter Arm weist mit ausgestrecktem Zeigefinger nach oben. Aristoteles hält in der linken Hand seine Ethik, sein rechter Arm ist nach vorne ausgestreckt. Beide sind von den bedeutendsten Philosophen ihrer Schulen umgeben.

Anfang der für Papst Sixtus IV. 1483 geschriebenen Handschrift von Lukrez’ De rerum natura.

EINLEITUNG

Dieses Buch schlägt einen gewaltigen Bogen: von den Kosmogonien des Alten Orients in Sumer and Akkad bis hin zum Motiv des «Sündenfalls» und seiner Deutung als felix culpa, «gückliche Schuld», in der christlichen Rezeption des biblischen Schöpfungsmythos. Ausgangspunkt und ständige Begleitmelodie sind die beiden Schöpfungsberichte der Hebräischen Bibel bzw., in christlicher Terminologie, des Alten Testaments, die das kulturelle Gedächtnis dessen, was wir jüdisch-christliches Abendland nennen, nachhaltig geprägt haben.

Das weite thematische Spektrum dieses Buches verbindet die beiden Vorlieben meiner Studienzeit: die alte Liebe zur Philosophie und die neue Liebe zur Literatur, Kultur, Religion und Geschichte des Judentums, wobei letztere immer im Vordergrund stand und erstere allenfalls als Beiklang und Hintergrundmusik mitspielte. Deswegen ist ein nachdrückliches Caveat angebracht: Während ich mich mein Leben lang mit der hebräischen und aramäischen Literatur des Judentums beschäftigt habe, spreche ich da, wo es um die griechische und lateinische Literatur der Antike geht, als Laie, der zwar imstande ist, den Gedankengang der Quellen im Original nachzuvollziehen und sich auch bis zu einem gewissen Grad mit der entsprechenden wissenschaftlichen Diskussion vertraut zu machen, der aber weder die Kompetenz noch die Absicht hat, als gleichberechtigter Partner in einer innerfachlichen Diskussion aufzutreten. Dieser Einschränkung soll aber ausdrücklich nicht entgegenstehen, dass ich mir manchmal, aus dem umfassenden und befreienden Blick meiner Vogelperspektive, Urteile erlaube, die dem Spezialisten als kühn oder unangemessen oder schlicht naiv erscheinen mögen. Dieses Risiko nehme ich bewusst in Kauf. Die einzigen Texte schließlich, deren Sprachen ich auch nicht rudimentär nachvollziehen kann, sind die altorientalischen Schöpfungsmythen in Sumerisch und Akkadisch; hier bin ich auf Übersetzungen und Kommentare angewiesen.

Das Buch richtet sich an einen breiteren Kreis von Lesern, die mit der Thematik vertraut und bereit sind, sich auf die Analysen unterschiedlicher Textgattungen einzulassen. Wie in allen meinen Büchern vermeide ich es, auf aus anderen Disziplinen vorgegebene oder gerade «modische» theoretische Modelle zurückzugreifen, um sie an meinen Texten zu erproben. Vielmehr will ich die Leser durch die von mir ausgewählten Originalquellen führen – manche bieten sich als selbstverständlich an, bei anderen müssen die Leser meiner Auswahl vertrauen – und aus deren Interpretation meine Schlussfolgerungen ziehen. Soweit möglich, werde ich nicht nur ausgewählte Zitate vorstellen, sondern die jeweiligen Textkomplexe in ihrer Gesamtheit. Dabei lässt es sich nicht immer vermeiden, dass in den analysierten Quellen auch Aspekte angesprochen werden, die von meinem Thema im engeren Sinne wegführen, doch halte ich diesen Nachteil für geringer, als Kürzungen vorzunehmen, die den Zusammenhang der Texte in einer für die Leser nicht mehr nachvollziehbaren Weise ausblenden. Hinweise auf die einschlägige Sekundärliteratur sind auf ein Minimum reduziert.

Ausgehend von der Schilderung der Urgeschichte in der Hebräischen Bibel thematisiere und vergleiche ich Schöpfungsmythen im Alten Orient, in Griechenland und Rom, im nachbiblischen Judentum und im Christentum. Es geht mir ausdrücklich nicht um Vollständigkeit im Sinne eines Handbuchs, das alle denkbaren Mythen mit ihren Facetten und Spielarten behandelt, sondern um signifikante Beispiele in der Diskussion um die Entstehung der Welt und des Menschen, die durch das biblische Judentum ausgelöst, durch das antike Judentum zugespitzt und durch das Christentum neu auf den «Sündenfall», die «Vertreibung aus dem Paradies» und die Sintflut ausgerichtet wurde. Die griechischen Theogonien des Hesiod werden nicht in einem eigenen Kapitel thematisiert, sondern nur am Rande mitbedacht, weil sie fast ausschließlich auf die Entstehung und Ordnung der Götterwelt ausgerichtet sind und der Mensch in ihnen nur eine ganz untergeordnete Rolle spielt. Ganz anders steht es mit den reichen Schöpfungsmythen der Ägypter, die aber deswegen nicht berücksichtigt wurden, weil sie keinen prägenden Einfluss auf das «westliche» Denken ausgeübt haben, auch wenn manche dies anders sehen mögen. Ich strebe also keine enzyklopädische Gesamtschau an, sondern verfolge sehr gezielt ein fest umrissenes Thema. Der Bezugsrahmen ist dabei der durch das Judentum und das griechische und lateinische Christentum – bis zu einem gewissen Grade auch den Islam – determinierte kulturelle und geographische Raum.

Das erste Kapitel «Die Urgeschichte in der Hebräischen Bibel» beginnt mit den beiden Schöpfungsberichten im Buch Genesis (1,1–2,3 und 2,4–3,24), die ohne jede Erklärung der Doppelung die Erzählung von der Urgeschichte eröffnen. Die beiden Berichte stammen aus unterschiedlichen Epochen und unterscheiden sich inhaltlich deutlich voneinander. Während der jüngere erste Schöpfungsbericht, der frühestens in der ersten Hälfte des sechsten Jahrhunderts v. Chr. entstand, sich an der von den Priestern beherrschten Kultordnung orientiert, ist der zweite, ältere Bericht aus dem Anfang des ersten Jahrtausends v. Chr. ganz offensichtlich von den Schöpfungsmythen der altorientalischen Epen beeinflusst. Daher wird dieser zweite Schöpfungsbericht die Hauptrolle in meinem Buch spielen.

Der Schwerpunkt auf dem zweiten Schöpfungsbericht kommt auch im Haupttitel des Buches zum Ausdruck. Er spielt auf die Erzählung von der Vertreibung aus dem Paradies als einem der wirkmächtigsten Elemente des biblischen Schöpfungsmythos an, deren Auslegung aber umstritten ist. Nach dem üblichen Verständnis hat das erste Menschenpaar, von der Schlange verführt, entgegen dem göttlichen Verbot von der Frucht des Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse gegessen und damit den Tod in die Welt gebracht. Mit dem Titel «Die Schlange war klug» verweise ich auf eine andere als die im Christentum dominierende Deutungstradition von der Verführung der ersten Menschen durch eine hinterhältige böse Gegenkraft, die das Menschengeschlecht verderben wollte. Dieser anderen Tradition zufolge war die Übertretung des Verbots Teil des göttlichen Schöpfungsplans, so dass die Schlange gewissermaßen als göttliche Agentin handelte: Die Übertretung bewirkte nicht den angedrohten Tod, sondern im Gegenteil die Fähigkeit, zwischen gut und böse, richtig und falsch zu unterscheiden, und ermöglichte damit den entscheidenden Schritt des Menschenpaares von einem Geschöpf des Paradieses zum wirklichen und individuellen Menschen, der kraft dieses Unterscheidungsvermögens eigenverantwortliche Entscheidungen treffen kann und muss – mit der realen Möglichkeit, dass diese Entscheidungen auch falsch, schlecht und sogar böse sein können. Erst indem er kraft seiner ersten Entscheidung aus dem idealen Paradieszustand entlassen wird, kann der Mensch seine reale irdische Welt betreten.

Wie der Fortgang der Geschichte mit dem ersten Brüderpaar Kain und Abel und der Ermordung Abels durch Kain zeigt, trafen die Menschen auch auf der Erde immer wieder falsche Entscheidungen, bis Gott beschloss, seine misslungene erste Schöpfung durch die Sintflut zu vernichten, mit Noach und seiner Familie eine neue Welt zu begründen und diese durch einen Bund für immer zu besiegeln. Die (Wieder-)Entdeckung altorientalischer Erzählungen von einer schrecklichen, alles vernichtenden Flut in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts legte den Grundstein für die Wissenschaft vom Alten Orient und eröffnete eine Jagd nach Parallelen zur biblischen Urgeschichte. Da diese Parallelen mit Sicherheit viel älter sind als die biblischen Berichte, stellten sie nicht nur deren Originalität in Frage, sondern ließen Zweifel am Offenbarungscharakter des Alten Testaments als Teil des christlichen Kanons aufkommen. Dies führte zu einer kurzen, aber heftigen öffentlichen Diskussion, dem sogenannten Babel-Bibel-Streit, der bis in das deutsche Kaiserhaus hinein ausgetragen wurde. Ich werde diesen Streit nachzeichnen, weil er ein Schlaglicht auf den im Wilhelminischen Deutschland tief verankerten religiösen und völkischen Antisemitismus wirft.

Um es nicht bei einzelnen und subjektiv ausgesuchten Parallelen zu belassen, werde ich im zweiten Kapitel die wichtigsten altorientalischen Epen in ihrer Gesamtheit vorstellen. Ich beginne mit dem mutmaßlich ältesten bisher bekannten akkadischen Epos, das nach seinem Helden Atrachasis benannt ist, dem Vorbild des biblischen Noach, und spätestens um 1800 v. Chr. entstand. Diesem Mythos zufolge werden die Menschen erschaffen, um die Götter von der Kultivierung der Erde zu entlasten, die vor allem dem Zweck dient, den Unterhalt eben dieser Götter zu garantieren. Leider vermehren sich diese Menschen aber bald in einem Ausmaß, dass sie die himmlische Ruhe der Götter stören. Diese beschließen, die lästigen Menschen in einer gewaltigen Flut zu vernichten, vergessen dabei aber, dass sie sich damit auch ihrer eigenen Lebensgrundlage, der Versorgung mit Fleisch- und Trankopfern, berauben. Glücklicherweise war aber einer der Götter klug genug, Atrachasis und seine Familie überleben zu lassen und damit den Fortbestand der Menschheit und die Versorgung der Götter zu sichern.

Eine ganz ähnliche Geschichte erzählt der nur fragmentarisch erhaltene sumerische Schöpfungsmythos, der möglicherweise dem Atrachasis-Epos als Vorlage diente und vielleicht schon im dritten Jahrtausend v. Chr. entstand. Die bekannteste und umfassendste Version der Sintfluterzählung findet sich im Gilgamesch-Epos, das in verschiedenen assyrischen und altbabylonischen Fassungen erhalten ist, die sich ebenfalls auf sumerische Quellen bis in die Mitte des dritten Jahrtausends v. Chr. zurückverfolgen lassen. Das Epos handelt nicht von der Entstehung der Welt und der Götter, sondern von der Freundschaft des wilden Steppenmenschen Enkidu mit Gilgamesch, dem König von Uruk, der Uruk nach der Sintflut wieder aufgebaut hat. Es erzählt von ihren Heldentaten, dem Tod Enkidus, der vergeblichen Suche Gilgameschs nach dem ewigen Leben und ganz am Ende von der verheerenden Sintflut in einer Fassung, die eng mit dem Atrachasis-Epos verwandt ist.

Nur das jüngste der großen altorientalischen Epen, das nach seinen Anfangsworten «Enuma Elisch» genannt wird, ist ein Weltschöpfungsepos im eigentlichen Sinne, und zwar eine Theogonie, die von der Entstehung der Götter handelt, und zugleich eine Kosmogonie, in der es um die Entstehung der Welt und des Menschen geht. Die rezipierte Fassung wird um 1000/900 v. Chr. datiert und steht dem zweiten Schöpfungsbericht der Bibel zeitlich nahe. Das Epos beginnt mit der Erschaffung der jüngeren Götter aus dem Urgötterpaar Apsu und Tiamtu[1] und der Ermordung erst des Göttervaters Apsu und dann der Göttermutter Tiamtu durch die jüngeren Götter. Erst danach kommt es zur Erschaffung der Welt bzw. genauer des Himmels und der Erde aus dem Leib der ermordeten Göttermutter. Im letzten Schritt folgt die Erschaffung des Menschen, die wie im Atrachasis-Epos dem Zweck dient, die Versorgung der Götter mit Nahrung und ihre Verehrung in den Tempeln sicherzustellen.

Ein detaillierter Vergleich der Urgeschichte in den altorientalischen Epen und in der Hebräischen Bibel zum Abschluss des zweiten Kapitels weist zahlreiche Parallelen nach, sowohl in einzelnen Motiven als auch in dem großen Komplex der Sintfluterzählung. Angesichts dieser Überschneidungen kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Autoren der biblischen Schöpfungsberichte diese Epen in irgendeiner Form gekannt haben müssen. Aber ein Blick auf die zugrundeliegenden Weltbilder offenbart auch wesentliche Unterschiede und zeigt, dass die Hebräische Bibel das Weltbild der altorientalischen Epen in allen entscheidenden Punkten auf den Kopf stellt.

Im dritten Kapitel betreten wir eine ganz andere Welt, die Kosmologie der griechischen Philosophie. Der erste Denker ist zugleich der für unser Thema wichtigste. Platon (gest. 348/347 v. Chr.) hat in seinem Dialog Timaios – benannt nach dem Hauptakteur Timaios, der über die Entstehung der Welt vorträgt – eine überaus einflussreiche philosophische Kosmologie entworfen. Ich folge dem Gedankengang des Traktats in seiner Gesamtheit und fasse anschliessend das Ergebnis meiner Analysen zusammen.

Im Mittelpunkt von Platons Schöpfungsdrama steht der Demiurg, der Urheber unserer Welt der Natur und der Menschen, also des Kosmos. Dieser Demiurg erweist sich als eine schillernde Gestalt, deren Identität im Kontext der platonischen Ideenlehre niemals genau definiert wird bzw. bewusst in der Schwebe bleibt. Er steht zwischen dem unveränderlichen und ewigen Sein auf der einen Seite und dem Werden der veränderlichen Welt auf der anderen und bringt eben diese Welt hervor, das heißt, er wirkt als «Schöpfergott» – eine Kategorie, die es in der platonischen Ideenlehre eigentlich nicht geben kann. Er beginnt mit der Erschaffung des Weltkörpers, der aus der präkosmischen chaotischen Materie der vier Elemente besteht, die sich im ebenfalls bereits vorhandenen Raum bewegen. Diesem pflanzt er die Weltseele ein, bzw. er zwingt die vergängliche Materie und die unvergängliche Seele zusammen und verbindet so, was eigentlich nicht zusammengehört. Dasselbe gilt für die anschließende Erschaffung des Menschen, der ebenfalls aus Körper und Seele besteht. Allerdings ist die Komposition des Menschen komplizierter, denn anders als der Weltkörper muss der menschliche Körper eigens erschaffen werden, und die Seele des Menschen besteht nicht nur aus unsterblichen, sondern auch aus sterblichen Teilen. Körper und sterbliche Seelenteile des Menschen kann der vollkommene Demiurg aber nicht selbst hervorbringen, sondern muss ihre Erschaffung den sichtbaren und jungen Göttern überlassen, die er noch nebenbei erschaffen hat, im Unterschied zu den nur am Rande präsenten traditionellen Göttern des griechischen Götterpantheons. Aufgabe des Menschen ist es, im Einklang mit der Harmonie des Kosmos ein vernünftiges und gottgefälliges Leben zu führen, nach dem Guten und Schönen zu streben und so dafür zu sorgen, dass seine unsterbliche Seele an seinem Lebensende zu ihrem Ursprung in einem der Planeten zurückkehren kann. Wenn ihm dies nicht gelingt, muss seine Seele in einem anderen Körper wiedergeboren werden.

Platons Timaios ist der Versuch, gegen die griechische Naturphilosophie und vor allem gegenüber den Atomisten, Mythos und Philosophie miteinander zu versöhnen und einen göttlich durchwalteten Kosmos mit den Mitteln der Philosophie zu begründen. Man hat seine Kosmologie daher auch mit Recht eine Kosmotheologie genannt. Ich möchte behaupten, dass dieser Versuch letztlich misslungen ist, weil sich ontologische und mythologische Aussagen ständig überkreuzen und weil Platon sich allzu oft in Spannungen und Widersprüche zu seiner eigenen Philosophie verwickelt. Dies gilt nicht nur für das klassische Beispiel der platonischen Welt, die einerseits geworden, das heißt in der Zeit entstanden ist, der aber gleichwohl die Qualität der Ewigkeit zukommt – ein Axiom, über das sich schon Aristoteles, der kompromissloseste Vertreter der Ewigkeit der Welt, lustig gemacht hat. Ähnlich problematisch sind die vom Demiurgen erschaffenen sichtbaren und jungen Götter, denen aber dennoch, kraft der Autorität ihres Schöpfers, ewiges Leben zuteil wird. Unbeantwortet bleibt die Frage, woher die Materie kommt, die der Demiurg ebenso vorfindet wie den ewig vorhandenen Raum. Wenig plausibel sind auch das Zusammenzwingen von Weltkörper und Weltseele in einem «Mischkrug», der auch bei der Verbindung von Körper und Seele des Menschen zum Einsatz kommt, und die Kombination unsterblicher und sterblicher Seelenteile im Menschen. Völlig ungeklärt ist das Verhältnis der traditionellen Götter zu den erschaffenen und die Stellung des Demiurgen in der Hierarchie der Götter.

Ein Vergleich der biblischen Schöpfungstheologie mit der platonischen Kosmologie ergibt einige Gemeinsamkeiten, doch überwiegen die Unterschiede. Das Verhältnis von Mann und Frau ist radikal verschieden. Anders als im biblischen Schöpfungsbericht gehört die Frau bei Platon einer niederen Seinsstufe an. Der Mann, der sein Schöpfungsziel nicht erreicht hat, wird zunächst als Frau wiedergeboren und dann, in immer weiter nach unten abgestufter Reihenfolge, als Tier. Vor allem aber: Im Unterschied zur Hebräischen Bibel ist die göttliche Vor- und Fürsorge (pronoia) in Platons Timaios auf die Begabung des Menschen mit Vernunft beschränkt. Der Demiurg wie auch die ihm nachgeordneten Götter exkulpieren sich von jeder Verantwortung für das Schlechte und Böse im Menschen. Dennoch war Platons Kosmotheologie mit ihrem Festhalten an einem Schöpfergott und der Entstehung der Welt in der Zeit ein reiches Nachleben vergönnt, nicht zuletzt im Christentum.

Das kurze vierte Kapitel über Aristoteles dient nur als «Zwischenspiel», weil Aristoteles ja gerade keinen Schöpfungsmythos akzeptierte, sondern – viel konsequenter als Platon – das Primat der Philosophie gegenüber dem Mythos vertrat und den Kosmos entmythologisierte. Aus genau diesem Grunde tat sich Aristoteles im Christentum sehr viel schwerer als Platon, bis er sich dann, unter dem Einfluss der islamischen Theologie, im Mittelalter als Leitphilosoph durchsetzte. Da es bei Aristoteles keine Schöpfungserzählung gibt, behandle ich nur ausgewählte Stellen aus dem 12. Buch (Lambda) seiner Metaphysik, dem Höhepunkt von Aristoteles’ Überlegungen zum Kosmos und seiner Entstehung und Struktur. Ich konzentriere mich auf den Zielpunkt seiner Erörterung, «das unbewegt Bewegende», meist personal übersetzt mit «Unbewegter Beweger». Ohne sich selbst zu bewegen, hält er durch sein ewiges auf sich selbst bezogenes Denken den Kosmos auf ewig in Gang. Der Mensch als Teil dieses Kosmos kann durch seine Vernunft am Denken und der in sich ruhenden Glückseligkeit des Unbewegten Bewegers partizipieren, aber diese Teilhabe ist nirgendwo Zweck der ewigen Bewegung. Der selbstgenügsame «Gott» des Aristoteles zieht sich vollständig aus dem von ihm in Bewegung gehaltenen Kosmos zurück.

Im fünften Kapitel geht es um Philon, den Angehörigen der jüdischen Oberschicht in Alexandria, der im ersten Jahrhundert n. Chr. lebte. In seinem umfangreichen Werk versucht er, das Judentum mit dem griechisch-römischen Denken zu versöhnen und die Hebräische Bibel (in ihrer griechischen Übersetzung) im Lichte vor allem der platonischen Philosophie zu interpretieren. Philon hat sich ausführlich zum Thema der Weltschöpfung geäußert. Ich beschränke mich auf die Analyse des Traktats «Über die Weltschöpfung» (De opificio mundi), der sich zunächst auf den ersten biblischen Schöpfungsbericht konzentriert, dann aber auch den zweiten kursorisch mit einbezieht. Der Traktat gehört möglicherweise zur dritten und letzten Schaffensperiode des reifen Philon nach seiner Teilnahme an einer Gesandtschaft zu Caligula und seinem Aufenthalt in Rom vom Herbst 38 bis Anfang 40 n. Chr. und wendet sich an ein breiteres Publikum. Als einflussreichster Advokat eines hellenistischen Judentums in platonischem Gewande geriet Philon im Judentum sehr bald in Vergessenheit und überlebte, bis zu seiner Wiederentdeckung in der Renaissance und im Humanismus, nur im Christentum.

Philons Traktat von der Weltschöpfung ist durchgehend von Platons Timaios beeinflusst und deutet die biblische Schöpfungsgeschichte konsequent im Sinne der platonischen Philosophie. Er unterscheidet im Gefolge Platons zwischen der nur durch das Denken erfassbaren Welt der Ideen (dem kosmos noētos) und der sinnlich erfahrbaren irdischen Welt (dem kosmos aisthētos), wobei für ihn, ganz im biblischen Sinne und gegen Platon, auch die Ideenwelt selbstverständlich erschaffen ist. Seine Anwendung dieser generellen Unterscheidung auf den biblischen Text führt, wie zu zeigen sein wird, oft zu gewaltsamen Ergebnissen und inhaltlichen Ungereimtheiten.

Mit Platon und gegen Aristoteles lehnt Philon die Lehre von der Ewigkeit der Welt ab und glaubt wie dieser selbstverständlich an die Unvergänglichkeit der Seele und ihre Rückkehr zu Gott nach dem Tode des Körpers. Wie Platon überlässt er die Entstehung des Bösen der Schlechtigkeit des Menschen und exkulpiert den Schöpfergott und seine «Helfer» von jeder Verantwortung dafür. Obwohl die göttliche Fürsorge eine zentrale Rolle in der Bibel spielt, steht Philon auch hier, jedenfalls was die Weltschöpfung betrifft, Platon näher als manche Exegeten denken. Ähnliches gilt schließlich auch für die Frage der Willensfreiheit.

Das sechste Kapitel widmet sich den atomistischen Philosophen von Demokrit über Epikur bis hin zu Lukrez, der in seinem lateinischen Lehrgedicht «Über die Natur der Dinge» (De rerum natura) die Philosophie Epikurs in die lateinische Literatur einführte und gleichzeitig zu ihrem Höhepunkt brachte. Demokrit führt das, was wir Welt oder Kosmos nennen, am konsequentesten auf eine unendliche Anzahl von Atomen zurück, die sich ewig in einem leeren Raum bewegen, und verabschiedet sich damit radikal von der Vorstellung von einer Entstehung des Kosmos oder gar von einem Schöpfergott. Der Mensch ist wie alle anderen Phänomene der Natur eine entsprechend konfigurierte Zusammenballung der Atome und besteht somit aus purer Materie, die sich nach seinem Tod in neuen Zusammenballungen konkretisiert. Eine Unsterblichkeit der Seele ist daher undenkbar. Aufgabe des Menschen kann es nur sein, sich in dieses naturgegebene Schicksal zu fügen und für einen ausgeglichenen Seelenzustand zu sorgen.

Die atomistische Naturphilosophie Demokrits erreichte ihren ersten Höhepunkt mit Epikur (gest. 271/70 v. Chr.). Ich beschränke mich in meiner Rekonstruktion seiner Lehre vor allem auf seinen Brief an Herodotos, der seine Kosmologie zusammenfasst, und seinen Brief an Meneukeus, einer knappen Summe seiner Ethik. Die Anzahl auch von Epikurs Atomen oder Körpern ist unendlich, aber sie nehmen hinsichtlich ihrer Grösse, Gestalt und Schwere unterschiedliche und endliche Formen an, und auch sie bewegen sich im unendlichen leeren Raum. Die Lehre von der unvorhersehbaren «Abweichung» oder dem minimalen «Schlenker» (griechisch parenklisis) dieser Urelemente, die erst ihre Zusammenballung ermöglicht, ist bei Epikur nur rudimentär erhalten, für das Verständnis seiner Philosophie aber unabdingbar. Auch Epikurs Seele besteht aus feinsten, im ganzen Körper verstreuten Materieteilchen. Die traditionellen Götter sind verzichtbar; sie existieren zwar in ewiger Glückseligkeit, aber der aufgeklärte Mensch hat keine Angst vor ihnen. Allein die Einsicht in die Naturlehre Epikurs ermöglicht dem Menschen, die für seinen Seelenfrieden notwendige heitere Gelassenheit und innere Ruhe zu finden.

Das entstehende Christentum entwickelte sich sehr schnell zum Hauptgegner von Epikurs Philosophie. Seine Leugnung des Schöpfergottes, der Unsterblichkeit und der göttlichen Vorsehung im Zusammenspiel mit seiner auf einen angeblich ungehemmten Hedonismus reduzierten Ethik war für das Christentum unerträglich. So ist es denn auch der Sieg des Christentums, der Epikurs Philosophenschule ein schnelles Ende bereitete. Die Rezeption Epikurs im antiken Judentum war differenzierter: «Epikur» und «Epikureer» bezeichnet bei den Rabbinen den Inbegriff einer Häresie und eines Skeptizismus, der sich grundsätzlich gegen jede Form der Offenbarungsreligion richtet und gegen eine religiöse Praxis, die auf ein ewiges Leben zusammen mit Gott abzielt. Auch die Anerkennung der göttlichen Vorsehung, das heißt der fürsorglichen Anteilnahme Gottes am Fortgang und Erfolg des menschlichen Lebens, ist für das Judentum unverzichtbar. Die christlichen Verzerrungen der epikureischen Ethik sind dem rabbinischen Judentum jedoch fremd.

Über Lukrez (99/94–55/53 v. Chr.), den Autor des Lehrgedichts «Über die Natur der Dinge» (De rerum natura), ist nur wenig bekannt. Er erscheint wie ein Komet am lateinischen Philosophenhimmel, hinterlässt dieses in sprachlicher und inhaltlicher Hinsicht nahezu vollkommene Werk und verglüht so unversehens, wie er gekommen ist. Schon Cicero gestand ihm «geniale Züge» zu, und der Kirchenlehrer Hieronymus konnte ihm nur Wahnsinn attestieren und die verdiente Beendigung seines Lebens durch Selbstmord. In der Spätantike und im Mittelalter vergessen, offenbarte erst seine Neuentdeckung im Humanismus der Renaissance das Potenzial seines Gedichts für eine Philosophie und Naturwissenschaft, die sich von den christlichen Prämissen befreit.

Das umfangreiche Lehrgedicht ist in sechs Bücher gegliedert. Ich orientiere meine Analyse durchgängig an der Struktur des Werkes und vermeide jeden Versuch, dessen Inhalt nachträglich zu systematisieren. Konstitutiv für den Kosmos sind auch bei Lukrez die Urelemente und der leere Raum, in dem sie sich bewegen. Diese Urelemente sind massiv, das heißt unteilbar, unvergänglich, das heißt ewig, aber kombinierbar. Sie bewegen sich im gleichermaßen ewigen leeren Raum, aber diese ihre Bewegung vollzieht unvorhersehbare und nicht intendierte «Schlenker», also Abweichungen vom senkrechten Fall, die griechische parenklisis. Lukrez erfindet dafür das lateinische Wort clinamen. Die Urelemente nehmen aber unterschiedliche Gestalten und Formen an und können sich, dank des clinamen, miteinander mischen und zu immer neuen Gestalten konfigurieren oder aber auch sich im Zusammenprall gegenseitig abstoßen und voneinander trennen. Auf diese Weise entstehen alle Phänomene des Kosmos sowie zahllose Welten.

Die Seele des Menschen ist ebenso sterblich wie der Körper, und auch die Welten können vergehen und neu entstehen. Alle Menschen sind Teil einer unendlichen Reihe immer wieder neuer Konfigurationen der Materie, in der es kein ewiges Leben geben kann. Deswegen ist der Tod auch irrelevant. Die Erde liegt im Mittelpunkt unserer Welt und bewegt sich nicht, im Unterschied zu den sie umgebenden Himmelskörpern.

Aus der sich immer weiter verfeinernden Konfiguration der Materieteilchen entsteht im Laufe der Zeit auch die Natur- und Kulturgeschichte der Menschheit. Naturphänomene am Himmel und auf der Erde haben Lukrez zufolge rational zu erklärende Ursachen. Die verständliche Angst vor ihnen kann nicht durch den Glauben an die Götter und ihre «Versöhnung» überwunden werden, sondern nur durch die Einsicht in die physikalischen Mechanismen der Natur. Dazu gehört auch die Pest von Athen, mit deren Schilderung Lukrez das sechste Buch abschließt. Entgegen der Meinung mancher Exegeten bin ich überzeugt, dass dies der von Lukrez beabsichtigte Schluss seines Lehrgedichts ist. Wie Epikur überlässt auch Lukrez den Göttern ihren angestammten Platz, aber er entthront sie als Schöpfer und Erhalter der Welt und verbannt sie in irgendwelche «Zwischenwelten», wo sie in seliger Ruhe vor sich hinleben, aber die Menschen nicht mehr erschrecken können.

Auf die Atomisten folgt im siebten Kapitel als Gegenmodell das rabbinische Judentum, also das Judentum der ersten nachchristlichen Jahrhunderte, das sich gleichzeitig mit dem entstehenden Christentum herausbildete und das Judentum bis heute prägt. Ich verfolge zunächst die Rezeption der rabbinischen Literatur im christlichen Westen und analysiere dann einen zusammenhängenden Text aus der reichen Fülle des überlieferten Materials. Die Auswahl eines solchen Textes war besonders schwierig, denn die rabbinische Literatur ist ihrem Wesen nach eine nach inhaltlichen Gesichtspunkten strukturierte Sammlung religionsgesetzlicher Vorschriften (Mischna, Talmud) sowie eine umfangreiche Kommentarliteratur (Midrasch), die sich am Duktus des Bibeltextes orientiert und sich jeder Systematisierung verweigert. Vereinzelte Auslegungen zu den beiden biblischen Schöpfungsberichten gibt es an vielen Stellen, aber sie konzentrieren sich in dem Bereschit Rabba oder auch Genesis Rabba genannten Midrasch zum ersten Buch der Hebräischen Bibel. Aus diesem immer noch sehr umfangreichen Midrasch habe ich das erste Kapitel ausgewählt, weil es meiner Einschätzung nach so etwas wie eine Summa der rabbinischen Schöpfungstheologie bietet.

Die Rabbinen denken die biblischen Schöpfungserzählungen weiter und verwandeln den biblischen Mythos zielstrebig in den Beginn der Geschichte, den Schöpfergott in den Gott der Geschichte und das Volk Israel in Teilhaber Gottes im Verlauf der Geschichte. Die später am Sinai offenbarte Torah diente schon als Gottes Bauplan für die Erschaffung der Welt, und Gott war selbstverständlich der alleinige Schöpfer; jeder Versuch, ihm «Helfer» im platonischen oder philonischen Sinne beizugesellen, wird verworfen. Die Schöpfung war nicht Selbstzweck, sondern von Anfang an auf die nachfolgende Geschichte Gottes mit Israel und Israels mit Gott, die Gabe der Torah, die Erlösung am Ende der Geschichte und das Heil der zukünftigen Welt ausgerichtet, ja diese zukünftige Welt ist ebenfalls schon im Schöpfungsplan angelegt. Deswegen kümmert sich der jüdische Gott, anders als die Götter der Heidenvölker, auch von Anfang an um das Wohlergehen der Welt und seines Volkes, er ist ein Gott der Vorsehung.

Das antimythische und radikal heilsgeschichtliche Weltbild der Rabbinen ist auf den Menschen als Partner Gottes ausgerichtet und speist sich primär aus dem Text der Hebräischen Bibel in ihrer Gesamtheit. Damit wird die rabbinische Schöpfungstheologie zum markantesten Antipoden nicht nur der altorientalischen Mythen, sondern auch der klassischen griechisch-römischen Philosophie bis hin zu den Atomisten.

Im achten und letzten Kapitel kehre ich zu den Anfängen zurück und greife noch einmal das Thema der Paradiesgeschichte und des sogenannten Sündenfalls als des Dreh- und Angelpunktes der biblischen Schöpfungsgeschichte auf. Auch im nachbiblischen Judentum spielt die angebliche Ursünde keineswegs die Rolle, die christliche Exegeten ihr zugestehen wollen, ganz im Gegenteil: Sowohl die jüdische Weisheitsliteratur als auch die jüdische Apokalyptik führen die biblische Linie der von Gott gewollten und wesentlich zum Menschen gehörenden Wahlfreiheit zwischen gut und böse, richtig und falsch fort und betonen, dass auch die falsche Entscheidung Teil des Menschseins ist, ohne den die Menschen Engel wären, was weder Gott noch die Menschen für erstrebenswert halten. Von einer unverzeihlichen oder gar auf ewig fortwirkenden Schuld Adams ist in der Weisheitsliteratur (Jesus Sirach, Weisheit Salomos) nirgendwo die Rede. Die Sünde und der Tod gehören zwar seit Adam zum Menschen, aber jeder Mensch aller nachfolgenden Generationen bis zur Gegenwart ist für seine eigenen Sünden und seinen eigenen Tod verantwortlich.

Dieser zuversichtliche Ton ändert sich in den apokalyptischen Schriften (Viertes Buch Esra, Syrischer Baruch), die nach dem Schock der Tempelzerstörung im Jahr 70 entstanden. Hier wird die Frage nach dem Sinn des Lebens neu gestellt. Adams Übertretung des Verbots und dem deshalb verhängten Tod wird stärkeres Gewicht beigemessen, ja sogar die von Gott verhängte Wahlmöglichkeit kann als Quelle allen Übels ausgemacht werden, doch bedeutet dies keineswegs, dass Adam auch für die Fehler aller anderen Generationen verantwortlich gemacht wird. Wie in der Weisheitsliteratur sind auch in der Apokalyptik Sünde und Tod Folgen der frei verantworteten Entscheidung jedes einzelnen Menschen.

Mit dem entstehenden Christentum bahnt sich ein Paradigmenwechsel im Verständnis der Schuld Adams an. Der jüdische Theologe Paulus, der das Christentum entscheidend prägte, stand noch in der Tradition der jüdischen Apokalyptik und hielt wie diese an der individuellen Entscheidung des Menschen für oder gegen die Sünde fest. Zugleich aber deutete er den «Sündenfall» Adams mit dem Tod als Folge radikal um: So wie die Sünde des (alten) Menschen Adam die Sünde und den Tod in die Welt brachte, besiegte der Opfertod des (neuen) Menschen Jesus Christus ein für alle Mal die Sünde und den Tod (Röm. 5,12–19) und brachte allen Menschen aller Generationen, die sich zu ihm bekennen, Auferstehung und ewiges Leben. Diese Deutung des Paulus ging bald als «glückliche Schuld» in die christliche Liturgie ein. Von einem durch die Geburt erworbenen Zustand der Sünde, also einer «Erbsünde», kann bei Paulus noch keine Rede sein, aber seine Theologie des alten und neuen Adam ist völlig singulär im Judentum.

Dieses Verständnis der Schuld Adams verschob sich im Laufe der Zeit immer mehr in Richtung auf die Erbsünde. Während die Kirchenlehrer und -väter des Ostens noch an der ursprünglich jüdischen Betonung des freien Willens als des entscheidenden Merkmals des Menschseins festhielten, bereiteten die lateinischen Väter der Lehre von der Erbsünde den Weg. Der Höhepunkt dieser Denkrichtung war mit Augustinus (gest. 430 n. Chr.) erreicht, der die angebliche «Sünde» des ersten Menschenpaares in eine «Ur-» oder sogar «Erbsünde» umdeutete, eine Sünde also, die allen Menschen genetisch vererbt wird und die nur durch die Taufe aufgehoben werden kann. Augustinus, der Bischof von Hippo in Nordafrika, war geradezu besessen von seiner Erbsündenlehre und begann diese in zahlreichen Schriften zu verbreiten. Er war es, der den Begriff der «Erbsünde» (peccatum originale) einführte, das heißt der angeborenen Sünde jeder einzelnen menschlichen Seele bei der Geburt, die von den elterlichen Seelen vererbt wird und die ihrerseits auf Adam und Eva zurückgeht. Die einzige Rettung vor dieser verhängnisvollen und unausweichlichen Sündenlawine sah er in der Säuglingstaufe, die die neugeborenen Kinder von der ererbten Schuld Adams befreite und nur ihren eigenen Sünden überließ.

Augustinus’ Hauptgegner war der britische Mönch Pelagius, der 410 nach Nordafrika kam und dort in den «Bannkreis» des Augustinus geriet. Pelagius vertrat eine ausgeprägte Theologie der Willensfreiheit jedes einzelnen Menschen, der aufgrund seiner eigenen Entscheidung zum Gehorsam gegenüber den göttlichen Geboten gelangen könne und nicht von Natur aus von einer ewigen Sünde korrumpiert sei. Die Kirche enschied sich dafür, die Lehren des Pelagius und seiner Anhänger zu verurteilen, während Augustinus zum bedeutendsten Kirchenlehrer des westlichen Christentums aufstieg und bald als Heiliger verehrt wurde. Seine Erbsündenlehre wurde 1546 auf dem Konzil von Trient zum verbindlichen Dogma erhoben.

Zum Abschluss des Kapitels kehre ich noch einmal zum rabbinischen Judentum zurück. Wir werden sehen, dass die Rabbinen eine Welt entwerfen, in der der Mensch im Mittelpunkt steht und in der sich alles um das Verhältnis zwischen den Menschen – das heißt primär dem Volk Israel – und ihrem Gott dreht. Dies lässt sich am besten durch die Texte weiter verdeutlichen, in denen die Menschen mit den Engeln verglichen werden. Schaut man sich diese Midraschim genauer an, wird klar, dass die Engel in allen Bereichen den Kürzeren ziehen. Dies zeigt sich insbesondere an zwei zentralen Themen, bei der Erschaffung des Menschen und bei der Gabe der Torah. Was erstere betrifft, so kann der erste Schöpfungsbericht zwar so verstanden werden, dass Gott die Engel fragte, ob sie mit der Erschaffung des Menschen einverstanden sind (Gen. 1,26), aber die Rabbinen stellen sehr schnell klar, dass Gott die Meinung seiner Engel nicht im Geringsten interessiert. Er weiß, dass die Engel gegen den Menschen sind, weil er zur Sünde neigt und weil sie ihm Gottes Fürsorge und Liebe neiden. Sie halten sich viel auf ihre Sündenlosigkeit und Unsterblichkeit zugute, aber genau dieser Vorzug erweist sich als ihr entscheidender Nachteil: Da sie nicht sterben können, können sie auch nicht sündigen oder umgekehrt, weil sie nicht sündigen können, können sie auch nicht sterben. Und es ist genau diese Eigenschaft, die sie des höchsten Gutes beraubt, das Gott zu vergeben hat, der Torah, denn die Torah mit ihren Geboten und Verboten gilt den sündigen Menschen, um sie von der Sünde fernzuhalten und nicht den sündenlosen Engeln. Weil die armen Engel keinen freien Willen haben und deswegen auch nicht zwischen richtig und falsch, gut und böse, wählen können, sind sie in Wirklichkeit benachteiligt. Denn Gott will den Menschen gerade wegen der ihm gegebenen Wahlmöglichkeit, auch auf die Gefahr hin, dass er die Sünde wählt.

Das rabbinische Verständnis des «Sündenfalls» ist das genaue Gegenteil sowohl der von Paulus als auch der von Augustinus entworfenen Theologie und entwickelt weiter, was die Hebräische Bibel vorgegeben hat. Für die Rabbinen ist die «Sünde Adams» nicht deswegen eine felix culpa, weil sie die Erlösungstat Jesu Christi ermöglichte, sondern weil sie den Menschen zum Menschen und Partner Gottes in der Geschichte machte. Die freie Willensentscheidung gehört nach jüdischer Anschauung wesentlich zum Menschen, und diese Auffassung gilt im Judentum bis heute, während sich im Christentum die extrem pessimistische Sicht des Augustinus in allen christlichen Denominationen fortsetzte.

In einem Epilog wage ich einen Ausblick auf die weitere Entwicklung von der Dogmatisierung der Erbsünde auf dem Trienter Konzil über den aufgeklärt-philosophischen Befreiungsschlag gegen die christliche Deutungshoheit der Paradieserzählung bei Kant, Schiller und Fichte bis hin zum programmatischen Rückfall in die christlichen Denkmuster bei Carl Schmitt. Auf den Punkt gebracht, ist der entscheidende Impuls meines Buches der, die jüdische Sicht auf den biblischen Schöpfungsmythos – gegen die griechisch-lateinische Philosophie und vor allem gegen seine christliche Missdeutung – wieder in unser Bewusstsein zu holen. Wenn wir vom jüdisch-christlichen Abendland reden, meinen wir eigentlich immer das christliche Abendland und das jüdische allenfalls durch die Brille des Christentums.[2]

1.

DIE HEBRÄISCHE BIBEL: ZWEI URGESCHICHTEN

Das Buch Genesis und seine beiden Schöpfungserzählungen

Die Hebräische Bibel[1] ist der Sammelbegriff für drei große Teile von Schriften, die zu unterschiedlichen Zeiten kanonischen Rang erhielten. Der älteste und in seiner Bedeutung wichtigste Teil ist die «Torah» im engeren Sinne, in christlicher Terminologie die «fünf Bücher Moses»[2] (auch «Pentateuch»), gefolgt von dem zweiten umfangreichen Teil der «Propheten» (hebräisch Nevi’im). Der dritte jüngste Teil, von dem die letzten Bücher erst am Anfang des zweiten Jahrhunderts n. Chr. kanonisiert wurden, sind die «Schriften» (Ketuvim). Im weiteren Sinne kann aber auch die gesamte Bibel als «Torah» bezeichnet werden. Die Torah im engeren Sinne wird in fortlaufender Lesung (lectio continua) im Sabbatgottesdienst in der Synagoge vorgetragen. Der Lesezyklus dauert heute genau ein Jahr, so wie das in der Antike im babylonischen Judentum üblich war. Im Judentum Palästinas dauerte er rund dreieinhalb Jahre. An den Feiertagen wird aus der Torah und aus den Propheten vorgelesen, aber nicht in einer lectio continua, sondern mit zum Fest passenden Texten.