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Kurze Geschichte des Antisemitismus E-Book

Peter Schäfer

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Beschreibung

Antisemitismus ist wieder sichtbar, teils offen, teils versteckt hinter «unbedachten » Äußerungen und Israelkritik. Doch wo beginnt der Antisemitismus, und wie neu ist, was wir heute erleben? Peter Schäfer beschreibt klar und konzise, wie sich seit der Antike antisemitische Stereotype verbreiteten, zu Verfolgung und Vernichtung führten und auch nach der Shoah virulent sind. Sein umfassender, souveräner Überblick macht eindringlich deutlich, warum der Antisemitismus so alt und zugleich so aktuell ist.

Schon in der vorchristlichen Antike gab es Judenhass, Ghettos und Pogrome, doch erst die neutestamentlichen Schriften schufen mit ihrer Gegnerschaft zum Judentum die Voraussetzungen für Ritualmordlegenden und Verfolgungen im christlichen Mittelalter. Luther rief zur Auslöschung der «Teufelskinder» auf, die Aufklärer fanden das Judentum unvernünftig, Wissenschaftler begründeten den Judenhass rassistisch, und allzu viele waren bereit, sich an der «Endlösung der Judenfrage» zu beteiligen oder schauten lieber weg. Man könnte meinen, dass der Schock des Massenmordes heilsam war, doch Antizionismus und rechte Ideologien dringen seit Jahren mit antisemitischem Gepäck in die Mitte der Gesellschaft vor und bereiten den Boden für neue Gewalt. Peter Schäfers erhellendes Buch ist Pflichtlektüre für alle, die besser verstehen wollen, warum der Antisemitismus so alt und zugleich so aktuell ist und was er für Juden in der Nachbarschaft, in Israel und überall auf der Welt bedeutet.

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Peter Schäfer

KURZE GESCHICHTEDES ANTISEMITISMUS

C.H.Beck

ZUM BUCH

Antisemitismus ist wieder sichtbar, teils offen, teils versteckt hinter «unbedachten» Äußerungen und Israelkritik. Doch wo beginnt der Antisemitismus, und wie neu ist, was wir heute erleben? Der international renommierte Judaist Peter Schäfer beschreibt klar und konzise, wie sich seit der Antike antisemitische Stereotype verbreiteten, zu Verfolgung und Vernichtung führten und auch nach der Schoah virulent sind. Sein umfassender, souveräner Überblick macht eindringlich deutlich, warum der Antisemitismus so alt und zugleich so aktuell ist.

Schon in der vorchristlichen Antike gab es Judenhass, Ghettos und Pogrome, doch erst die neutestamentlichen Schriften schufen mit ihrer Gegnerschaft zum Judentum die Voraussetzungen für Ritualmordlegenden und Verfolgungen im christlichen Mittelalter. Luther rief zur Auslöschung der «Teufelskinder» auf, die Aufklärer fanden das Judentum unvernünftig, Wissenschaftler begründeten den Judenhass rassistisch, und allzu viele waren bereit, sich an der «Endlösung der Judenfrage» zu beteiligen oder wegzuschauen. Man hätte meinen können, dass der Schock des Massenmordes heilsam war, doch rechte wie linke Ideologien und Antizionismus dringen seit Jahren mit antisemitischem Gepäck in die Mitte der Gesellschaft vor und bereiten den Boden für neue Gewalt. Peter Schäfers erhellendes Buch ist Pflichtlektüre für alle, die besser verstehen wollen, warum der Antisemitismus so alt und zugleich so aktuell ist und was er für Juden in der Nachbarschaft, in Israel und überall auf der Welt bedeutet.

ÜBER DEN AUTOR

Peter Schäfer, Professor em. für Judaistik, hat an der Freien Universität Berlin (1983–2008) und der Princeton University gelehrt (1998–2013) und war bis 2019 Direktor des Jüdischen Museums Berlin. Er wurde u.a. mit dem Leibnizpreis der DFG, dem amerikanischen Mellon Distinguished Achievement Award, dem Dr. Leopold Lucas-Preis der Universität Tübingen und dem Reuchlinpreis der Stadt Pforzheim ausgezeichnet. Bei C.H.Beck erschien von ihm bereits «Zwei Götter im Himmel» (2017).

INHALT

VORBEMERKUNG

1: GRIECHISCH-RÖMISCHE ANTIKE – Die Diffamierung der Juden als Menschen- und Fremdenfeinde

Identitätsstiftende Merkmale des jüdischen Ethnos

Persien und das Buch Esther: Ein Plan zur Ausrottung aller Juden

Ägypten: Eine Gegenerzählung vom Exodus

Syrien-Palästina: Eselskult und Menschenopfer

Rom: Hass und widerwillige Bewunderung

Alexandria: Das erste Pogrom der Geschichte

Tacitus: Die Summe des antiken Judenhasses

2: DAS NEUE TESTAMENT – Von innerjüdischer Polemik zu christlichem Antisemitismus

Paulus: Angriff auf das traditionelle Judentum

Das Matthäusevangelium: Die Schuld des ganzen jüdischen Volkes

Das Johannesevangelium: Die Juden als Söhne der Finsternis

3: DIE CHRISTLICHE SPÄTANTIKE – Der jüdische Stachel im Fleische des Christentums

Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels und die Folgen

«Adversus Judaeos»: Die christliche Umdeutung der Hebräischen Bibel

Justin: Dialog mit dem Juden Trypho

Die Göttlichkeit Jesu und seine Menschwerdung

Jüdische Polemik gegen das Christentum

Arius und das Nizänische Glaubensbekenntnis

Chrysostomus: Hasspredigten gegen die Juden

Ambrosius: Die Kirche im Kampf gegen die Juden

Augustinus: Die Juden als «Rest Israels»

Die antijüdische Gesetzgebung der Spätantike

4: DER ISLAM – Juden und Christen als Schutzbefohlene

Muhammad und die Juden: Allianzen und Kriege

Der Koran: Die Religion Abrahams und ihre Entstellungen

Die Ausbreitung des Islam: Jerusalem

Die rechtliche Stellung der Juden

5: DAS CHRISTLICHE MITTELALTER – Schutz, Ausbeutung und Verfolgung

Kirchliche Judengesetzgebung: Vom Schutz zur Unterdrückung

Weltliches Recht: Die Juden als Besitz des Herrschers

Angst vor selbstbewussten Juden

Kreuzzüge und Judenverfolgungen

Die Legende vom jüdischen Ritualmord

Die Pariser Talmudverbrennung von 1242

Der Vorwurf des Hostienfrevels

Das Motiv der Judensau

Pest und Pogrome

Vertreibungen aus West- und Mitteleuropa

6: FRÜHE NEUZEIT – Zwischen Hebraismus und Antisemitismus

Johannes Reuchlin: Die neue Wissenschaft und das Recht der Juden

Martin Luther: Das wahre christliche und das teuflische Judentum

Der späte Luther: Hass und Aufruf zur Vernichtung

Christlicher Hebraismus und Philosemitismus

7: DAS ZEITALTER VON AUFKLÄRUNG, EMANZIPATION UND NATIONALISMUS – Gesellschaftlich akzeptierter Antisemitismus

Aufklärung: Das Judentum als Inbegriff der Intoleranz

Anfänge der Emanzipation

Emanzipation und Nationalismus

Das Kaiserreich als antisemitische Konsensgesellschaft

Juden in Wirtschaft und Gesellschaft des Kaiserreichs

Rassentheorie als Leitdisziplin

Politische Parteien und Verbände im Deutschen Reich

Das antisemitische Europa: Von der Dreyfus-Affäre zu den «Protokollen der Weisen von Zion»

8: VON DEN WELTKRIEGEN BIS ZUR GEGENWART – Vernichtungsantisemitismus und die Wiederkehr des Verdrängten

Weimarer Republik: Im Vorhof zur Hölle

NSDAP: Der Kampf gegen die Juden als Programm

Das «Dritte Reich»: Vom «Judenboykott» bis zur «Kristallnacht»

Krieg und Schoah

Nach der Schoah: Kontinuität und Verdrängung

Aufklärung über die Schoah und die Wiederkehr alter Muster

Kritik an Israel – und wo sie antisemitisch wird

Zurück in die Mitte der Gesellschaft

Islamischer Antisemitismus

Israelboykott: Die Diskussion um den BDS

AUSBLICK

ANHANG

ANMERKUNGEN

Vorbemerkung

1 Griechisch-römische Antike

2 Das Neue Testament

3 Die christliche Spätantike

4 Der Islam

5 Das christliche Mittelalter

6 Frühe Neuzeit

7 Das Zeitalter von Aufklärung, Emanzipation und Nationalismus

8 Von den Weltkriegen bis zur Gegenwart

LITERATUR

PERSONEN- UND ORTSREGISTER

VORBEMERKUNG

Eine kurze Geschichte des Antisemitismus zu schreiben, ist ein kühnes Unterfangen, denn der Antisemitismus hat eine überaus lange Geschichte: Er beginnt in der vorchristlichen Antike und reicht bis in die allerneueste Gegenwart. Er ist, um ein berühmtes Diktum des Historikers Theodor Mommsen abzuwandeln, so alt wie die jüdische Diaspora selbst, das heißt wie die Begegnung von Juden und Nichtjuden in den verschiedenen kulturellen Zentren des antiken Vorderen Orients. Mit anderen Worten: Antisemitismus beginnt in dem Augenblick, in dem die Juden als eine ethnische Gruppe mit eigenen religiösen und kulturellen Gewohnheiten, Ansprüchen, Gebräuchen wahrgenommen werden.

Mit dieser Aussage treffe ich mehrere weitreichende Festlegungen für das Konzept dieses Buches, die ich als bewusste Vorentscheidungen nur kurz begründen werde. Die wichtigste davon ist die Verwendung des Terminus «Antisemitismus». Ich benutze den Begriff für alle ausgeprägten Formen von Judenhass und Judenfeindschaft von den Anfängen bis zur Gegenwart und im vollen Bewusstsein der Tatsache, dass er anachronistisch ist und erst im 19. Jahrhundert geprägt wurde, um die rassistische Theorie von einem «ewigen Kampf» zwischen der «arischen» und der «semitischen Rasse» zu untermauern. Indem ich ihn für alle Formen des Antisemitismus durch die Geschichte hindurch verwende, gehe ich davon aus, dass diese zwar keineswegs identisch sind, dass sie aber Elemente enthalten, die es erlauben, sie unter einem gemeinsamen Begriff zu fassen. Ihre sowohl unterschiedlichen wie auch verbindenden Aspekte herauszuarbeiten, wird eine wesentliche Aufgabe dieses Buches sein.

Damit entscheide ich mich auch gegen eine Trennung von «Antijudaismus» als der spezifisch christlichen Ausprägung des Antisemitismus und «Antisemitismus» als seiner völkisch-rassistischen modernen Spielart. Weder glaube ich, dass diese beiden Aspekte säuberlich zu trennen sind – ganz im Gegenteil, sie überschneiden und überlappen sich ständig –, noch teile ich die Auffassung, dass das eine (Antijudaismus) irgendwann von dem anderen (Antisemitismus) abgelöst wird. Diese Unterscheidung verbietet sich schon deswegen, weil sie den vorchristlichen Antisemitismus komplett ausblendet. Ich werde beide Termini gleichberechtigt nebeneinander verwenden, allenfalls mit einer stärker religiösen Akzentuierung beim Antijudaismus und einer stärker gesellschaftlichen beim Antisemitismus. Manchmal verwende ich auch beide Begriffe gleichzeitig, wenn ich über den quellenbezogenen Befund (Antijudaismus) hinaus den Blick auch auf das Gesamtbild (Antisemitismus) lenken möchte.

Ich verzichte auch darauf, einen eigenen Begriff zu erfinden. Anhänger einer puristischen Terminologie mögen bei der Lektüre des Buches das Wort «Antisemitismus» durchgehend mit Anführungszeichen versehen. Und schließlich halte ich nichts davon, wie dies heute manchmal gefordert wird, den Begriff Antisemitismus aus der wissenschaftlichen Diskussion zu verbannen: Probleme, die ein Begriff zu erfassen sucht, erledigen sich nicht dadurch, dass man den Begriff verbietet. Dies ist zwar ein bekannter Kunstgriff in umstrittenen Bereichen der Forschung (ein anderes Beispiel ist der Begriff «Magie»), aber letztlich ein unfruchtbares Glasperlenspiel.

Dies bedeutet konkret: Mit dem Beginn des Antisemitismus in der vorchristlichen Antike lehne ich ausdrücklich die These ab, dass es das Christentum mit seinem Vorwurf des Messias- und Gottesmordes war, das den Antisemitismus in die Welt gebracht hat. Ich halte diese These für eine Verkürzung des historischen Sachverhalts, die weder dem Christentum noch dem Antisemitismus gerecht wird. Ebenso wenig schließe ich mich den Forschern an, die den «eigentlichen» Antisemitismus erst im Mittelalter mit der Dämonisierung der Juden und den Anklagen der Blutschuld, der Hostienschändung, des Ritualmords und der Brunnenvergiftung beginnen lassen wollen. Noch viel weniger bin ich der Auffassung, dass es erst die rassistische Variante der Neuzeit war, die es erlaubt, von Antisemitismus zu sprechen. Antisemitismus ist dies alles – und vieles mehr. Deshalb sind auch alle Versuche von vorneherein zum Scheitern verurteilt, das Phänomen des Antisemitismus in die Zwangsjacke einer allgemeingültigen Definition zu zwingen; die seriöse wissenschaftliche Erforschung des Antisemitismus hat gut daran getan, eine solche nicht zu forcieren.

Wie problematisch derartige Versuche sind, zeigt die im Mai 2016 verabschiedete Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), die im September 2017 von der deutschen Bundesregierung übernommen wurde:[1]

Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die im Hass auf Juden Ausdruck finden kann. Rhetorische und physische Manifestationen von Antisemitismus richten sich gegen jüdische oder nicht-jüdische Individuen und/oder ihr Eigentum, gegen Institutionen jüdischer Gemeinden und religiöse Einrichtungen.

Diese ausdrücklich als Arbeitsdefinition bezeichnete Definition ist merkwürdig blass und unbestimmt. Was heißt hier «kann»? Gibt es noch andere Wahrnehmungen von Juden, die unter die Kategorie Antisemitismus fallen, sich aber nicht im Hass auf Juden ausdrücken? Ebenso wird nicht genauer erläutert, was mit der Einbeziehung «nichtjüdische[r] Individuen» in die Definition gemeint ist. Hilfreicher ist die an die Arbeitsdefinition angehängte Liste von Beispielen, die eklatante Manifestationen des Antisemitismus illustrieren sollen (wobei aber auch wichtige fehlen oder unterbewertet werden).

Ich möchte daher festhalten, gegen alle Versuche einer vereinheitlichenden Definition: Antisemitismus ist ein variables, vielschichtiges und offenes System, das sich im Laufe seiner Geschichte ständig mit neuen Facetten anreichert und in unterschiedlichen gesellschaftlichen Konstellationen immer wieder neu erfindet. «Bewährte» ältere Elemente bleiben dabei als Konstante erhalten und werden durch neu hinzukommende Elemente nicht etwa relativiert, sondern im Gegenteil intensiviert. Das ideologische System des Antisemitismus entwickelt sich dadurch zu einer potenten Kraftmaschine, deren Effizienz und Gefährlichkeit im Laufe der Zeit selten ab- und meistens zunimmt. Diese Entwicklung vollzieht sich nicht in kleinen und kontinuierlichen Schritten, sondern meist in dramatischen Sprüngen. Der Betrachter des Phänomens Antisemitismus braucht umfassende historische Kenntnisse über lange Zeiträume sowie die Fähigkeit, einen multiperspektivischen und nüchternen Blick auf ein emotional hochaufgeladenes Thema zu werfen.

Mit diesem breitgefächerten Ansatz, der historische Veränderungen und Anreicherungen berücksichtigt, votiere ich schließlich gegen die beiden vorherrschenden Erklärungsmodelle des Antisemitismus, die man als «substantialistisch» oder «essentialistisch» und «funktionalistisch» bezeichnet hat. Das substantialistische/essentialistische Modell deutet Antisemitismus gewissermaßen als ein «natürliches» und konstantes Phänomen der Gesellschaften, in denen Juden lebten, weitgehend unabhängig von den jeweils unterschiedlichen historischen Kontexten. Es ist ein Modell, das auf ein im Kern immer identisches «Wesen des Judentums» rekurriert, dem ein monolithischer, in seinem Wesen immer identischer Antisemitismus gegenübersteht. Das funktionalistische Modell stellt dagegen die sich ständig wandelnden historischen Umstände in den Mittelpunkt, aus denen heraus sich variable und immer wieder neue Merkmale des Antisemitismus ergeben.

Beide Modelle hat es in ihrer reinen Form wohl nie gegeben, und beide sind auch methodisch hochproblematisch. Ein ausschließlich funktionalistischer Ansatz läuft Gefahr, seinen Gegenstand in sich ständig ändernde politische und soziale Relationen aufzulösen und ihn damit letztendlich wegzuerklären. Es ist daher auch kein Zufall, dass die Vertreter des funktionalistischen Modells lieber über Politik als über Religion sprechen. Ein exklusiv substantialistischer Ansatz dagegen, der die Ursache des Antisemitismus im innersten Wesen des Judentums sieht, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, letztlich den Juden selbst die Schuld für das zu geben, was ihnen widerfahren ist. Da «Funktion» und «Wesen» nicht säuberlich voneinander zu trennen sind, sondern immer nur in ihrem Bezug aufeinander greifbar werden, kann nur eine Kombination beider Modelle zu historisch abgesicherten Ergebnissen führen.

Dabei liegt es mir aber völlig fern, diese beiden Modelle bzw. die Möglichkeiten ihrer Kombination anhand der geschichtlichen Entwicklung des Antisemitismus zu verifizieren und zu überprüfen, um dann zu einer Theorie des Antisemitismus zu gelangen. Sie sind nichts weiter als theoretische Hilfskonstruktionen, die dazu beitragen, den Blick für historische Prozesse zu schärfen, und in ihrem spannungsreichen Verhältnis zueinander uns davor bewahren (können), einseitig die eine oder andere Richtung zu favorisieren.

Mein Hauptanliegen bei der Planung und Strukturierung des Buches war, so weit wie eben möglich die zur Verfügung stehenden Quellen sprechen zu lassen. Dabei bin ich mir selbstverständlich bewusst, dass immer ich als Autor derjenige bin, der die Quellen ausgewählt und dadurch die entscheidenden Akzente gesetzt hat – Quellen sprechen nie für sich, sondern wirken durch ihre Auswahl und ihre Interpretation. Diese methodische Banalität sei durch den ebenso selbstverständlichen Hinweis ergänzt, dass die Quellenlage sich für die einzelnen behandelten Epochen sehr unterschiedlich gestaltet: Während für die Antike und Spätantike die Quellen spärlich sind, sprudeln sie im Mittelalter und vor allem dann in der Neuzeit in einer Quantität, die die Auswahl immer schwieriger werden lässt. Hier mussten oft aus der Fülle des Materials Entscheidungen getroffen werden, über die man im Einzelfall sicher diskutieren kann.

Das größte Problem neben der Bewältigung der schier unermesslichen Materialfülle war die Eingrenzung des Themas, und zwar sowohl inhaltlich als auch geographisch. Das Buch erhebt den Anspruch, einen Gesamtüberblick über die Entstehung und Entwicklung des Antisemitismus in seinen wichtigsten Manifestationen und Formen von den Anfängen bis zur Gegenwart zu geben. Dabei wird ein besonderer Akzent auf die Grundlegung des Antisemitismus in der Antike gelegt, und zwar sowohl in der klassischen vorchristlichen Antike als auch in der christlichen Theologie des Neuen Testaments und der frühen Kirche in der Spätantike. In dieser Schwerpunktsetzung unterscheidet sich meine Darstellung von den meisten vergleichbaren Unternehmungen, in denen die griechisch-römische Antike oft nur am Rande vorkommt und die christlich-theologische Spielart eher als Sonderfall behandelt wird. Dies bedeutet auch, dass der Religion bzw. christlichen Theologie insgesamt ein viel größeres Gewicht eingeräumt wird, als sowohl christliche Theologen wie auch Neuzeithistoriker – in einer bemerkenswerten Allianz, aber aus unterschiedlichen Gründen – ihr zugestehen wollen. Während den Theologen immer noch und allzu oft daran gelegen ist, die Bedeutung der christlichen Manifestationen des Antisemitismus herunterzuspielen und die Kirchen damit zu exkulpieren, ziehen sich die Neuzeithistoriker gerne auf das Argument zurück, dass der Einfluss der Religion seit der Aufklärung immer weiter zurückgegangen sei und heute so gut wie keine Rolle mehr spiele. Dabei übersehen sie, dass für die Bewertung des religiösen Elements im Antisemitismus nicht der bewusste Rekurs auf die Religion entscheidend ist, sondern das Weiterwirken – bewusst oder unbewusst – der religiösen Stereotype und Vorurteile, die sich im Laufe der Zeit im Christentum herausgebildet hatten. Dieses Weiterwirken ist völlig unabhängig davon, wie christlich oder säkular sich eine Gesellschaft versteht. Mit dieser Hervorhebung des Anteils, den das Christentum an der Entwicklung des Antisemitismus hatte und hat, geht es mir nicht darum, das Christentum an den Pranger zu stellen, sondern deutlich zu machen, dass in der kumulierten Präsenz aller Facetten des Antisemitismus gerade auch seine christlich-religiöse Manifestation bis heute weiterwirkt und nie überwunden wurde.

Zu den schwierigsten Überlegungen bei umfassenden historischen Überblicken, die sich nicht als erschöpfende Information, sondern als Diskussionsbeiträge verstehen, gehört die Entscheidung, was der Autor weglässt. Diese Entscheidung muss ständig getroffen werden und kann niemals alle Leser in gleicher Weise zufriedenstellen. Ohne darauf im Einzelnen einzugehen, sei hier nur hervorgehoben, dass ich die jüdische Auseinandersetzung mit dem Christentum im Mittelalter und insbesondere auch die jüdische Antwort auf den Antisemitismus in der Neuzeit weitgehend ausgeklammert habe. Eine wichtige Ausnahme ist die jüdische polemische Streitschrift Toledot Jeschu («Lebensgeschichte Jesu»), und dies aus folgendem Grunde: Die Toledot Jeschu entstanden in der Spätantike nicht als Antwort auf antisemitische christliche Polemik, sondern sind Teil der direkten Auseinandersetzung zwischen dem entstehenden Christentum und dem sich neu formierenden rabbinischen Judentum. Sie wurden im Laufe der Jahrhunderte immer weiter «angereichert» und dann im Mittelalter, als sie durch Übersetzungen ins Lateinische und später auch Deutsche im Christentum bekannt wurden, zu einem wichtigen Stichwortgeber für christliche antisemitische Angriffe auf das Judentum.

Was die geographische Eingrenzung betrifft, verbot die Schwerpunktsetzung in der Antike und auch die Einbeziehung des klassischen Islam jede Begrenzung des Themas auf Europa oder gar nur auf Deutschland. Der Islam ist aus zwei Gründen ein integraler Bestandteil meines Überblicks: Einmal ist er in seinen Anfängen ohnehin in der Welt der christlichen und jüdischen Spätantike verwurzelt, und zum anderen spielt er in der gegenwärtigen Diskussion des Antisemitismus eine so herausragende Rolle, dass er gerade auch in seiner klassischen Form keinesfalls übergangen werden kann. Ich beginne also mit einem geographisch sehr weit gefassten Raum, begrenze diesen aber zunehmend auf Europa und dann, vor allem in der Neuzeit, auf Deutschland im Sinne der Staaten des Deutschen Bundes, des Kaiserreichs, der Weimarer Republik und schließlich des NS-Staates. Dabei versuche ich aber, die benachbarten Staaten (Frankreich, Österreich-Ungarn, Polen, Russland) so weit wie möglich einzubeziehen, zumal dort ähnliche Prozesse, aber mit unterschiedlichen Akzentuierungen, zu beobachten sind. Die extremste Manifestation des Antisemitismus, der industriell organisierte Massenmord als Staatsdoktrin, findet sich nur in Deutschland.

Das Buch ist als Sachbuch für ein breiteres Publikum konzipiert und erhebt nicht den Anspruch, ein neuer und eigenständiger Forschungsbeitrag zu sein; meine eigene Forschung zum Thema konzentriert sich auf die Antike/Spätantike und das Mittelalter. Es ging mir ausschließlich darum, eine pointierte – und das bedeutet auch: meine – Sicht des Antisemitismus in seiner geschichtlichen Entfaltung vorzulegen. Die Notwendigkeit und Aktualität eines solchen Buches bedarf in der gegenwärtigen Situation – ich schreibe dies am 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz – keiner besonderen Begründung. Eine Auseinandersetzung mit der inzwischen uferlosen Sekundärliteratur findet grundsätzlich nicht statt; Kenner der Literatur werden aber in Einzelfällen bemerken, dass ich mich für oder gegen eine bestimmte Position in der Forschung äußere. Die Anmerkungen beschränken sich daher im Wesentlichen auf Quellennachweise; im Literaturverzeichnis wird darüber hinaus ausgewählte Sekundärliteratur aufgeführt, die das Weiterstudium erleichtern kann. Diese Auswahl ist ausdrücklich subjektiv und verfolgt nicht das Ziel, repräsentativ oder gar umfassend zu sein. Ich hebe aber gerne einige Forschungsbeiträge und Autoren hervor (genaue Angaben im Literaturverzeichnis), auf die ich mich besonders gestützt habe: David Nirenbergs umfassende Zusammenschau in seinem Opus magnum Anti-Judaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens, vor allem in den Kapiteln über das Neue Testament, die Alte Kirche und das Mittelalter; Glen Bowersock für die historische Einordnung des Islam; Angelika Neuwirth für den Koran; Mark Cohen für den Vergleich des Antisemitismus im Islam und im Christentum; Thomas Kaufmann für Luthers Antisemitismus; Hermann Greive für den modernen Antisemitismus in Deutschland; Friedrich Battenberg als unerschöpfliche Quelle für die Geschichte der Juden Europas im Mittelalter und in der Neuzeit; und Stefanie Schüler-Springorum, die mir die Einsichtnahme in mehrere ihrer noch unveröffentlichten Arbeiten zum modernen Antisemitismus ermöglicht hat.

Mehrere Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Fachgebieten haben das Manuskript des Buches in Teilen oder sogar ganz gelesen und mit ihrer Kritik, ihren Einwänden, ihren hilfreichen Verbesserungen, aber auch mit ihrer Ermunterung nicht gespart. Diese Erfahrung war für mich in einer nicht leichten Zeit eine große Hilfe. Klaus Haacker, Klaus Herrmann, Christoph Markschies, Jürgen Richert und Stefanie Schüler-Springorum haben mir erlaubt, ihre Namen zu nennen, und ich danke ihnen von ganzem Herzen für ihre freundschaftliche und großzügige Unterstützung. Meine kritischste Leserin und Diskussionspartnerin war, gerade bei diesem Thema, meine Frau; vieles von dem, was ich hier formuliert habe, geht auf unsere langen und intensiven Diskussionen zurück. Da sie sich aber das Ritual einer öffentlichen Danksagung verbittet – mit dem schwer zu widerlegenden Argument, dass wir in unserem Alter auch dieses Stadium hinter uns gelassen haben –, belasse ich es bei dieser Bemerkung. Danken möchte ich aber ausdrücklich noch Ulrich Nolte vom Verlag C.H.Beck, der mich ermuntert hat, dieses Buch zu schreiben, und dessen sorgfältige Lektorierung des Manuskriptes eine große Hilfe war.

1

GRIECHISCH-RÖMISCHE ANTIKE

Die Diffamierung der Juden als Menschen- und Fremdenfeinde

Es besteht heute weitgehend Einigkeit darüber, dass das Judentum, so wir wie es kennen, erst im Babylonischen Exil im 6. Jahrhundert v. Chr. und in der unmittelbar folgenden nachexilischen Zeit seine bis heute gültige Gestalt gewonnen hat. Der persische König Kyros erlaubte 538 v. Chr. den verbannten Israeliten die Rückkehr aus dem Exil. Die Zeit der persischen Oberherrschaft über die kleine jüdische Provinz Judäa (Jahud) am äußersten westlichen Rande des persischen Großreiches endete mit dem Sieg Alexanders des Großen über Darius III. im Jahr 333 v. Chr. Mit Alexander begann die lange Zeit der griechischen und dann der römischen Oberhoheit über das jüdische Territorium, die das Judentum der Antike über weite Strecken geprägt hat. Durch die Reichsteilung nach Alexanders Tod kam Judäa zunächst unter die Herrschaft der Ptolemäer in Ägypten, dann der Seleukiden in Syrien-Palästina. Die Makkabäeraufstände ab ca. 168/67 v. Chr. führten zur schrittweisen Loslösung der jüdischen Provinz aus dem seleukidischen Staatsverbund, die schließlich in der Errichtung eines selbständigen jüdischen Staates unter der Dynastie der Hasmonäer gipfelte. Als die Römer ihren Einfluss auf den Vorderen Orient ausdehnten und dem Seleukidenreich ein Ende bereiteten (64 v. Chr.), war es auch mit der relativen Selbständigkeit des jüdischen Staates vorbei. Die Römer installierten Herodes den Großen als ihren Vasallenkönig (37–4 v. Chr.) und gliederten Judäa bald nach dem Tod des Herodes als Provinz in das Römische Reich ein. Der erste jüdische Krieg besiegelte mit der Eroberung Jerusalems und der Zerstörung des Tempels durch den späteren Kaiser Titus (70 n. Chr.) das Schicksal des jüdischen Staates und des sich auf den Tempelkult gründenden Judentums. Mit dem Entstehen des Christentums und seiner rasanten Ausbreitung in der griechisch-römischen Antike betrat ein neuer Mitspieler die politische Bühne, der das Ende des römischen Imperiums einläuten und die weitere Entwicklung des Judentums in dramatischer Weise beeinflussen sollte.

Der Siegeszug des jungen Alexander eröffnete ein ganz neues Kapitel in der Geschichte des Vorderen Orients. Zwar waren die westlichen Gebiete des persischen Großreiches – darunter auch die Küstenebene des später «Palästina» genannten fruchtbaren Landstrichs zwischen Syrien im Norden und Ägypten im Süden – wirtschaftlich und kulturell schon lange nach Griechenland hin orientiert, doch wurden sie nun auch militärisch und politisch in die umfassende Ökumene des neuen hellenistischen Großreiches integriert. Auch das kleine und politisch unbedeutende Judäa wurde Teil dieser Ökumene, die sich als Zentrum und Speerspitze der zivilisierten Welt verstand. Wer außerhalb dieser Zivilisation stand, die durch einen einheitlichen Wirtschaftsraum, gemeinsame Werte, gemeinsame religiöse Grundüberzeugungen und gemeinsame kulturelle Errungenschaften geprägt war, und ihr auch nicht durch Eroberung und Unterwerfung eingegliedert werden konnte, war ein verachteter Barbar.

Identitätsstiftende Merkmale des jüdischen Ethnos

Das Judentum, das durch die Eroberung Alexanders in diese weltumspannende hellenistische Ökumene eintrat, war – wie auch die anderen Völker des Vorderen Orients – ein Ethnos, also eine Stammes- und Volksgemeinschaft mit besonderen kulturellen, sprachlichen und religiösen Eigenheiten. Seine identitätsstiftenden Merkmale, die sich nach dem Babylonischen Exil herausgebildet hatten und als solche auch von der griechisch-römischen Umwelt wahrgenommen wurden, lassen sich kurz zusammenfassen:

Im Zentrum des jüdischen Selbstverständnisses steht seit der Rückkehr aus dem Exil die Torah – im engeren Sinne, die Fünf Bücher Mose der Hebräischen Bibel –, die Moses nach jüdischer Tradition auf dem Berg Sinai von Gott offenbart wurde. Die Torah ist das Religions- und Staatsgesetz, das alle Belange des jüdischen Volkes regelt. Es ist der normative, das heißt für alle Juden gültige Ausdruck der jüdischen Lebensweise in ihren religiösen und politischen Komponenten, das Gesetz des in Judäa lebenden Volkes, das ihm von Gott gegeben wurde und das es freiwillig angenommen hat. Die jüdischen Schriften der hellenistischen Zeit nennen die Torah daher auch «die väterlichen Gesetze» (ta patria nomima). Jeder Eingriff in diese väterlichen Gesetze gilt als ein Angriff auf den Kern und das Wesen des Judentums.

Eng verbunden mit der Torah als identitätsstiftendem Merkmal des Judentums ist die jüdische Gottesvorstellung. Die Zehn Gebote verkünden Gott als den Gott, der Israel aus Ägypten geführt hat und neben dem sie keine anderen Götter haben dürfen.[1] Das «Höre Israel» (Schema‘ Jisrael), das feierliche Gottesbekenntnis des Judentums, preist Gott als Israels einen und einzigen Gott, den Israel mit seinem ganzen Herzen, seiner ganzen Seele und seiner ganzen Kraft lieben soll.[2] Dieser Gott wird von seinem Volk in seinem einzigen Tempel in Jerusalem durch kultische Handlungen (Tieropfer) und Gebete verehrt. Er ist unsichtbar und braucht keinen Namen, der ihn von anderen Göttern unterscheidet; auch Abbilder von ihm gibt es nicht. Für die religiöse Kultur der Griechen und Römer war dieser Gott befremdlich. So vertraut der Tempelkult mit seinen Tieropfern ihnen war, so wenig konnten sie mit der Vorstellung eines einzigen, bild- und namenlosen und in seinem Wesen unbekannten Gottes anfangen. Ihr Götterpantheon kannte zwar die Idee eines obersten Gottes, aber es war gerade darauf angelegt, sich zu erweitern und auch die Götter anderer Völker zu integrieren. Dass die Juden sich dieser harmonisierenden Tendenz widersetzten, war von Anfang an ein Stein des Anstoßes.

Weitere Identitätsmerkmale, die seit der nachexilischen Zeit immer prominenter hervortraten, waren die Beschneidung, der Sabbat und das Verbot, Schweinefleisch zu essen. Von diesen dreien war die Beschneidung das folgenreichste ethnische Identitätsmerkmal, weil es physisch sichtbar und nur schwer rückgängig zu machen ist. Die Bibel verlangt von jedem männlichen Juden, beschnitten zu werden: «Ein Unbeschnittener, eine männliche Person, die am Fleisch ihrer Vorhaut nicht beschnitten ist, soll aus ihrem Stammesverband abgeschnitten/ausgemerzt werden (karet). Er hat meinen Bund gebrochen» (Genesis 17,14). Aber da die Beschneidung den Bund Gottes mit Abraham und dem aus ihm entstehenden Volke besiegelt, ist sie gleichzeitig auch ein religiöser Akt. Die Griechen (und später auch die Römer) missbilligten die Beschneidung, und es war eines der erklärten Ziele der jüdischen Hellenisten in Jerusalem, sie abzuschaffen. Da die athletischen Wettkämpfe im Stadion, eines der wichtigsten Symbole der griechischen Lebensweise, nackt ausgetragen wurden, propagierten die jüdischen Hellenisten sogar eine operative Prozedur, die darauf abzielte, die Vorhaut wiederherzustellen (in den griechischen Quellen epispasmos genannt). Zu den berüchtigten Gesetzen, die der seleukidische König Antiochus IV. gegen das traditionelle Judentum erließ, gehört daher auch an ganz prominenter Stelle das Verbot der Beschneidung (1. Makkabäer 1,48). Frauen, die ihre Söhne hatten beschneiden lassen, wurden öffentlich in der Stadt herumgeführt und dann mit ihren Kindern von der Stadtmauer gestürzt (2. Makkabäer 6,10). Im Gegenzug ließen die makkabäischen Rebellen, die sich gegen die Seleukiden und ihre «aufgeklärten» jüdischen Parteigänger erhoben, unbeschnittene Jungen zwangsweise beschneiden (1. Makkabäer 1,46).

Der Sabbat als Tag der Ruhe von jeder Arbeit geht nach der Hebräischen Bibel auf den göttlichen Schöpfungsakt zurück. Als Gott die Erschaffung des Himmels und der Erde abgeschlossen hatte, ruhte er am siebten Tag: «Am siebten Tag vollendete Gott das Werk, das er gemacht hatte, und er ruhte am siebten Tag von dem ganzen Werk, das er gemacht hatte» (Genesis 2,2). Israel soll dem Beispiel seines Gottes folgen und ebenfalls am siebten Tag ruhen (Exodus 20,8–11); gleichzeitig soll der Sabbat Israel auch an den Auszug aus Ägypten erinnern (Deuteronomium 5,15). Und auch der Sabbat erreichte seinen vorläufigen Höhepunkt als ethnisches Identitätsmerkmal des Judentums in hellenistischer Zeit. Genau deswegen verbot Antiochus IV. auch die Feier des Sabbats und der anderen jüdischen Festtage (1. Makkabäer 1,45). Die makkabäischen Rebellen weigerten sich zunächst, am Sabbat zu kämpfen. Als die seleukidische Armee sich diesen taktischen Vorteil zunutze machte, lernten die Rebellen ihre Lektion und verzichteten auf den religiösen Grundsatz der Sabbatheiligung in Zeiten der Gefahr für Leib und Leben (1. Makkabäer 2,41).

Auch das Verbot, Schweinefleisch zu essen, ist biblisch verankert: Die Bibel erlaubt, nur die Großtiere zu essen, die sowohl gespaltene Hufe haben als auch Wiederkäuer sind. Da das Schwein zwar gespaltene Hufe hat, aber kein Wiederkäuer ist, gilt es als unrein (Deuteronomium 14,8; Levitikus 11,7). Auch das Tabu des Schweinefleischs wurde seit der hellenistischen Zeit verstärkt als jüdisches Identitätsmerkmal wahrgenommen. Folgerichtig verlangte Antiochus IV. zur konsequenten Durchsetzung seiner Hellenisierungspolitik von den Juden seines Reiches, dass sie nicht nur die Beschneidung und die Feier des Sabbats aufgaben, sondern in ihrem Tempel auch Schweine und andere unreine Tiere opferten (1. Makkabäer 1,47).

Mit diesen ihren Besonderheiten stellten die Juden sich in den Augen ihrer griechischen und römischen Zeitgenossen gegen den umfassenden Anspruch des Hellenismus, mit seiner Zivilisation – seinen kulturellen, wirtschaftlichen und religiösen Errungenschaften – die gesamte Welt (soweit sie durch Alexander erschlossen war) zu vertreten. Die Juden waren keine Barbaren an den Rändern und außerhalb der hellenistischen Ökumene, sondern sie lebten mittendrin – aber sie waren «anders», pochten auf dieses Anderssein und ließen sich nicht in den allgemein akzeptierten hellenistischen Lebens- und Wertekanon einbinden, ja sie behaupteten sogar, dass dieser dem ihrigen unterlegen sei. Damit stoßen zwei unterschiedliche Weltanschauungen aufeinander und treten in Konkurrenz zueinander, aber dies ist für sich genommen weder historisch ungewöhnlich noch ethisch verwerflich. Was an diesem Zusammentreffen erlaubt uns also, die Reaktion der einen (der Griechen und Römer) auf das Verhalten der anderen (der Juden) nicht nur als xenophobisch, sondern als antisemitisch zu bezeichnen?

Persien und das Buch Esther: Ein Plan zur Ausrottung aller Juden

Die Quellenlage[3] führt uns bis ins Ende der persischen Zeit zurück, unmittelbar zum Übergang in die von Alexander dem Großen ausgelöste Hellenisierung des Vorderen Orients. Das biblische Buch Esther, das in seiner ältesten hebräischen Fassung zwar in der Perserzeit spielt, wahrscheinlich aber erst um 300 v. Chr. verfasst wurde und daher schon den neuen hellenistischen Zeitgeist erkennen lässt, ist das älteste Dokument, das über das Thema Antisemitismus Aufschluss gibt. Es erzählt die Geschichte vom persischen König Artaxerxes und seiner jüdischen Gemahlin Esther, die ihr Volk vor dem Untergang rettet: Haman, der königliche Großwesir und Erzfeind der Juden, überredet seinen König zu einem Dekret, mit dem die Vernichtung aller Juden des Reiches verhängt werden soll. Nur die kluge Intervention Esthers und ihres Vertrauten Mordechai vereitelt den ruchlosen Plan Hamans.

In der Beschreibung der Juden, die Haman dem König vorträgt und mit der er das Edikt begründet, wird zum ersten Mal in unseren Quellen der Ton angeschlagen, mit dem die dünne und schwer fassbare Linie überschritten wird, die Judenfeindschaft in einem weiteren und diffusen Sinne von Antisemitismus trennt und der sich als Cantus firmus durch die ganze weitere Geschichte ziehen wird. In der hebräischen Fassung des Estherbuches heißt es noch relativ gemäßigt: «Es gibt ein einziges Volk, das über alle Provinzen deines Reiches verstreut lebt, aber sich von den anderen Völkern absondert. Seine Gesetze sind von denen aller anderen Völker verschieden; auch die Gesetze des Königs befolgen sie nicht» (Esther 3,8). Danach befolgen die Juden als einziges Volk im persischen Vielvölkerstaat nicht die Gesetze des Königs, sondern nur ihre eigenen Gesetze. Deswegen solle der König ein Dekret erlassen, wonach alle Juden in seinem Reich auszurotten sind (Esther 3,9: Das verwendete hebräische Wort le-‘abbedam bedeutet genau dies: ausrotten, vernichten). Die jüngere griechische Fassung des Estherbuches, die aber wahrscheinlich auf ältere hebräische Vorlagen zurückgeht, formuliert deutlich schärfer: Ein «bestimmtes heimtückisches Volk» habe sich unter alle Nationen der Erde gemischt; es stehe durch seine Gesetze «zu jedem anderen Volk in Gegensatz» und missachte ständig die Anordnungen der persischen Könige (Esther 3,13d). Deswegen ist der König zu der Ansicht gelangt, «dass dieses Volk als Einziges sich gegen alle Menschen ohne Ausnahme feindselig verhält, nach absonderlichen und befremdlichen Gesetzen lebt und sich gegen die Interessen unseres Landes stellt und die schlimmsten Verbrechen begeht» (Esther 3,13e). Alle Juden im persischen Reich müssen «samt ihren Frauen und Kindern ohne Gnade und Erbarmen durch das Schwert ihrer Feinde radikal ausgerottet werden» (Esther 3,13 f.).

Hier wird zum ersten Mal in unmissverständlicher Deutlichkeit und Schärfe eine radikale antisemitische, über bloße Judenfeindschaft hinausgehende Vernichtungspraxis begründet: Die Juden unterscheiden sich demnach durch ihre als absonderlich gebrandmarkten Gesetze von allen anderen Völkern und stellen ihre Gesetze über die ihres Landes. Damit beanspruchen sie nicht nur, ein eigenes Volk in der sie umgebenden Volksgemeinschaft zu sein, sondern stellen sich auch gegen alle anderen Menschen, das heißt, sie verlassen den Konsens, den die Menschheit im Interesse eines zivilisierten Zusammenlebens eingegangen ist. Dies bedeute in letzter Konsequenz, dass sie sich eines Verbrechens gegen die Menschheit und Menschlichkeit schuldig machten, das nicht durch individuelle Strafen abgegolten werden könne. Die einzige angemessene Antwort sei die Vernichtung aller Juden, einschließlich ihrer Frauen und Kinder.

Es fällt schwer, in diesen noch in der vorchristlichen Antike einem persischen König in den Mund gelegten Worten nicht ein Modell der monströsen Einstellung zu sehen, die die Geschichte der Juden durch die Jahrhunderte hindurch bis zu ihrem bisherigen Höhepunkt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begleiten sollte. Auf jeden Fall gilt, dass die hier vorgetragenen «Argumente» in ihrem Kern eine zentrale Rolle in der Einstellung der Griechen und Römer zu den Juden spielen werden.

Ägypten: Eine Gegenerzählung vom Exodus

Die ersten historisch verifizierbaren Zeugnisse für Antisemitismus in der griechisch-römischen Welt finden sich im ptolemäischen Ägypten, wo sich Ptolemaios, der General und Freund Alexanders des Großen, in den Wirren nach dessen Tod als Herrscher Ägyptens durchgesetzt hatte. Der Historiker und Geograph Hekataios von Abdera (um 300 v. Chr.) erwähnt in seiner Geschichte Ägyptens beiläufig auch die Juden und berichtet erstmals von einer ägyptischen Gegenerzählung zur biblischen Exodusgeschichte.[4] Während einer schlimmen Pest hätten die Ägypter alle fremdstämmigen Bevölkerungsgruppen aus dem Lande vertrieben, und die meisten von ihnen seien schließlich in dem Gebiet gelandet, das heute «Judäa» genannt wird. Dort hätten sie unter ihrem Anführer Moses eine Kolonie (Jerusalem) gegründet, in der sie nach ihren eigenen Gesetzen leben konnten: «Er [Moses] setzte Opfer und eine Lebensweise fest, die sich von denjenigen der anderen Völker unterscheiden; aufgrund der am eigenen Leibe erfahrenen Vertreibung führte er nämlich eine asoziale/menschenfeindliche (apanthrōpon) und fremdenfeindliche (misoxenon) Lebensweise ein.»[5] Hier wird das fundamentale Anderssein der Juden mit ihrer tief verwurzelten «Menschenfeindlichkeit» (apanthrōpia) und «Fremdenfeindlichkeit» (misoxenia) begründet; beide, zusammen mit dem Vorwurf der «Gottlosigkeit», sollten den weiteren Diskurs in der hellenistischen Zeit und dann auch weit darüber hinaus maßgeblich bestimmen.

Der ägyptische Priester Manetho, der etwas jüngere Zeitgenosse des Hekataios, überliefert in seinen verloren gegangenen Aegyptiaca sogar zwei Versionen der ägyptischen Exodusgeschichte, die nur noch in Zitaten bei dem jüdischen Historiker Flavius Josephus erhalten sind.[6] Die historischen Hintergründe dieser Erzählung sind kompliziert und teilweise auch rätselhaft, aber ihr Kern lässt sich einigermaßen sicher bestimmen: Nach der längeren Fassung wollte ein ägyptischer Pharao mit Namen Amenophis (welcher, ist unklar; manche vermuten Amenophis III., der aber auch mit Amenophis IV. = Echnaton verwechselt wurde) das Land von allen Aussätzigen und anderen «unreinen» Menschen befreien. Er internierte 80.000 von ihnen in einer verlassenen ägyptischen Stadt. Ihr Anführer war ein ägyptischer Priester mit Namen Osarseph, von dem wir später erfahren, dass er niemand anderes ist als Moses. Dieser Osarseph/Moses erließ Gesetze für die Ausgestoßenen, darunter «als erstes das Gesetz, weder die (ägyptischen) Götter anzubeten noch auf eines der in Ägypten am meisten verehrten heiligen Tiere zu verzichten, sondern alle als Opfer darzubringen und zu vernichten; ferner dass sie mit niemandem in Verbindung treten sollten außer mit ihren eigenen Bundesgenossen».[7] Nachdem er viele andere Gesetze erlassen hatte, «die den ägyptischen Bräuchen völlig entgegengesetzt waren»,[8] verbündete Osarseph/Moses sich mit den Bewohnern Jerusalems – die nach Hekataios aus Ägypten vertrieben worden waren – und brachte ganz Ägypten in seine Gewalt. Seine Truppen zerstörten Städte und Dörfer, vernichteten die Götterbilder in den Tempeln und zwangen die Priester, ihre heiligen Tiere zu schlachten und zu braten.[9] Die unheilige Allianz der unreinen Ägypter mit den Juden aus Jerusalem führte zu einer dreizehn Jahre währenden Fremdherrschaft, bis die rechtmäßige Herrschaft des Pharao wiederhergestellt werden konnte.

Eine spätere Version der Erzählung von der Vertreibung der Juden aus Ägypten, die der griechische Historiker Diodorus Siculus wiedergibt, weist deutliche Parallelen mit Manetho und Hekataios auf. Danach seien die Vorfahren der Juden als unreine Aussätzige und «gottlose, den Göttern verhasste Menschen» aus Ägypten vertrieben worden. Sie hätten dann die «Gegend um Jerusalem» besetzt und das «Volk der Juden» begründet. Dieses Volk der Juden zeichne sich durch seinen «Hass gegen die Menschen» (to misos to pros tous anthrōpous) aus, den es an seine Nachkommen vererbt habe. Deswegen hätten sie auch «ganz ausgefallene Bräuche» eingeführt: Sie lehnten die Tischgemeinschaft mit jedem anderen Volke ab und würden anderen Menschen keinerlei Wohlwollen entgegenbringen.[10]

Im Mittelpunkt aller ägyptischen Exodus-Traditionen steht das Thema der Menschen- und Fremdenfeindlichkeit: Die Juden seien gottlos und den Göttern verhasst, und sie hassten alle anderen Menschen. Dieser Hass schlage sich in ihren eigenen Gesetzen nieder, die sie von allen anderen Menschen und Völkern unterschieden und die darauf ausgerichtet seien, die kulturelle und religiöse Identität der anderen Völker zu unterminieren. Die uralte Angst der Ägypter vor der Eroberung durch fremde Völker und Fremdherrschaft wird hier auf die Juden projiziert. Die Juden verkehrten nur untereinander und vermieden den Umgang mit anderen Menschen (wie sich vor allem an ihren Essgewohnheiten zeige). In Wirklichkeit seien sie unrein und verbreiteten schreckliche Krankheiten wie den Aussatz (dieses Motiv sollte im Mittelalter während der Pestwelle von 1348 in Form der jüdischen Brunnenvergiftung wiederkehren).

In der Kombination der Motive der Gottlosigkeit und der Fremden- und Menschenfeindlichkeit entstand im hellenistischen Ägypten ein bis dahin unbekanntes und in seiner propagandistischen Wirkung kaum zu überschätzendes antijüdisches Potential, das sich in dieser schlagkräftigen Form erst unter den Bedingungen des Hellenismus entwickeln konnte. Die Wiege des Phänomens, das wir als Antisemitismus bezeichnen, stand im hellenistischen Ägypten.

Syrien-Palästina: Eselskult und Menschenopfer

Die Motive der Gottlosigkeit der Juden und ihres Hasses auf alle anderen Menschen ziehen sich wie ein roter Faden durch die griechische und römische Literatur der Antike. Sie lassen sich bei zahlreichen Autoren nachweisen und wurden mit weiteren Motiven aus dem Fundus der die Juden charakterisierenden Besonderheiten (Beschneidung, Feier des Sabbat, Verbot von Schweinefleisch) angereichert. Vom ptolemäischen Ägypten wanderten sie in das seleukidische Syrien-Palästina und verlangten immer deutlicher nach Konsequenzen. Der unsichtbare und namenlose jüdische Gott war den Griechen und Römern von jeher suspekt, und sie reagierten darauf sehr unterschiedlich. Neben nachdenklichen und wohlmeinenden, später (vor allem in Rom) auch bewundernden Stellungnahmen häuften sich unter den Seleukiden negative und abschätzige Reaktionen. Ein früher Versuch, das jüdische Gottesbild lächerlich zu machen, ist die Behauptung, dass die Juden in ihrem Tempel in Wirklichkeit einen Esel oder auch nur einen Eselskopf verehrten – den sie aber aus guten Gründen im Allerheiligsten des Tempels versteckten, das nur ihr Hohepriester betreten durfte. Diese angebliche Eselsverehrung sollte später den Christen zugeschrieben werden.

Interessanterweise wurde im seleukidischen Herrschaftsbereich zwar der Vorwurf des Eselskults übernommen, aber im Mittelpunkt der Vorwürfe gegen die Juden stand wieder deren angebliche grundsätzliche Menschenfeindlichkeit. Danach drang der Erzfeind der Juden, Antiochus IV. Epiphanes – der mit seinen antijüdischen Dekreten den Kampf gegen das traditionelle Judentum eröffnet hatte –, in das Allerheiligste des jüdischen Tempels ein und fand dort zu seiner Überraschung «das steinerne Bild eines Mannes mit langem Barte», der auf einem Esel saß und ein Buch in seinen Händen hielt. Der König vermutete sogleich, dass es sich dabei um Moses mit dem Buch der Torah handelte. Und es ist weniger der Esel, der Antiochus verstörte, als vielmehr das Bild des Moses mit der Torah, enthalte die Torah doch genau die «menschenfeindlichen und unsittlichen Bräuche», die Moses den Juden zum Gesetz gegeben habe. Schockiert über den Hass der Juden auf die gesamte Menschheit, beschloss der König, die traditionellen Bräuche der Juden abzuschaffen:[11]

Und da Epiphanes die menschenfeindliche Ablehnung aller Völker durch die Juden abscheulich fand, machte er es zu seinem ehrgeizigen Ziel, die jüdischen Sitten abzuschaffen. Deswegen opferte er vor dem Bild des Gründers [Moses] und dem unter offenem Himmel aufgestellten Altar des Gottes eine große Sau und schüttete das Blut über das Standbild und den Altar. Das Fleisch ließ er zubereiten und befahl, mit dessen Brühe die heiligen Bücher der Juden, die die fremdenfeindlichen Gesetze enthielten, zu übergießen. Weiter befahl er, den angeblich unsterblichen Leuchter, der ohne Unterlass im Tempel brannte, auszulöschen und den Hohepriester sowie die anderen Juden zu zwingen, von dem Fleisch zu kosten.

Hier wird die angeblich fundamentale jüdische Menschenfeindlichkeit mit dem Verbot aller jüdischen Gesetze und Gebräuche beantwortet. Und was wäre besser für einen solchen Kahlschlag geeignet, als von den Juden zu verlangen, genau das zu tun, was sie am meisten verabscheuen und fürchten: Schweine in ihrem Tempel zu opfern und das Opferfleisch zu essen. Eine extremere Pervertierung der jüdischen Lebensweise und Religion als das Opfer eines Schweins im Tempel und das anschließende Essen des Schweinefleisches ist kaum denkbar. Die nichtjüdische Obsession mit dem jüdischen Schweinetabu sollte im christlichen Mittelalter mit dem Bildmotiv der Judensau in Steinreliefs christlicher Kirchen ihre obszöne Wiederauferstehung feiern.

Mit seinen Maßnahmen traf Antiochus IV. den Lebensnerv des Judentums. Dabei ist es unerheblich, ob der König diese wirklich genau so erlassen und dann auch durchgesetzt hat. Im historischen Kontext betrachtet geht es ja um eine sehr komplexe politische Gemengelage, die sich nicht einfach im Kampf der Seleukiden gegen die Juden und der Juden gegen ihre seleukidischen Unterdrücker erschöpft. Weder waren die Seleukiden untereinander in allem einig, noch, sehr viel weniger, waren alle Juden vereint in ihrer Ablehnung der seleukidischen Maßnahmen – ganz im Gegenteil; auch auf jüdischer Seite fand die Politik des Königs bei den jüdischen Hellenisten, die sich aus der Oberschicht bis hin zum Hohepriester rekrutierten, begeisterte Anhänger. Im Übrigen darf man nicht vergessen, dass der Kampf um das Verständnis dessen, was in einer modernen hellenistisch geprägten Gesellschaft unter «Judentum» zu verstehen war, nicht nur mit aktiven Maßnahmen, sondern auch als Propagandaschlacht ausgetragen wurde, in der beide Seiten mit harten Bandagen um die Deutungshoheit kämpften. Dennoch können die komplexen historischen Umstände nicht darüber hinwegtäuschen, dass insbesondere unter der seleukidischen Herrschaft über Judäa ein antijüdisches Potential freigesetzt wurde, das unabhängig von seinen realpolitischen Bedingungen durch die weitere Geschichte hindurch – und weit über die Antike hinaus – eine dramatische und in der Folge für die Juden tödliche Wirkung entfalten sollte.

Die schlimmste denkbare Konsequenz der angeblich tief im Judentum verankerten Menschenfeindlichkeit ist der Vorwurf, Menschen – genauer: Menschen fremder Herkunft – in einem kultischen Ritual zu opfern und zu verspeisen. Genau dieser Vorwurf wurde den Juden in der hellenistischen Antike gemacht, und es ist gewiss kein Zufall, dass ausgerechnet wieder Antiochus IV. der Held dieser Geschichte ist. Danach habe der König, als er den Jerusalemer Tempel betrat, in einem abgesperrten Raum einen Menschen auf einem Ruhebett gefunden, vor dem ein Tisch mit allen erdenklichen Speisen und Getränken stand. Dieser Mensch sei dem König zu Füßen gefallen und habe ihn angefleht, ihn zu befreien. Auf Geheiß des erstaunten Königs habe er diesem dann sein Schicksal erzählt:[12]

Er sei ein Grieche, und während er, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, die Provinz [Judäa] durchzogen habe, sei er plötzlich von fremdstämmigen Menschen ergriffen, in einen Tempel geschleppt und hier eingesperrt worden. Dort wurde er von niemandem erblickt, aber dauernd mit Speisen gemästet. Anfangs hätten ihm diese unerwarteten Wohltaten Freude verursacht, darauf aber Verdacht, dann Erstaunen. Zuletzt habe er einen der Diener gefragt und von ihm erfahren, dass es ein geheimes Gesetz der Juden gebe, dem zuliebe er genährt werde. Sie täten dies jährlich zu einer festgelegten Zeit. Sie fingen nämlich einen durchreisenden Griechen, mästeten ihn ein Jahr lang, führten ihn dann in einen Wald, schlachteten ihn, opferten seinen Leib nach ihrem Brauche, kosteten von seinen Eingeweiden und schwüren bei der Opferung des Griechen, Feindschaft gegen die Griechen zu hegen. Dann würfen sie die Überreste des Geopferten in eine Grube.

Der Bericht des Griechen endet damit, dass er nur noch wenige Tage zu leben habe und den König inständig bitte, ihn aus Ehrfurcht gegenüber den Göttern der Griechen aus dieser schrecklichen Lage zu befreien und durch seine Rettung dieses Komplott der Juden zunichtezumachen.

Das Motiv der kannibalistischen Verschwörung (coniuratio) ist in der klassischen Literatur gut bezeugt und wird hier erstmals auf die Juden angewandt. Die Verschwörung besteht aus einem Eid in Kombination mit einem Menschenopfer und dem Berühren oder dem Verzehr der Überreste des Opfers (meistens der Eingeweide, manchmal aber auch von Fleisch oder Blut). Ein bekanntes Beispiel ist die Legende von der Verschwörung des römischen Politikers Catilina (coniuratio Catilinae), wonach Catilina einen Knaben opferte und seine Mitverschworenen einen Eid bei den Eingeweiden des Knaben schwören ließ. Anschließend verzehrten er und seine Freunde die Eingeweide bei einem Opfermahl. Dieser Vorwurf konnte gegen alle möglichen Rivalen und Feinde in unterschiedlichen politischen Zusammenhängen erhoben werden, und es ist gewiss kein Zufall, dass er später auch den Christen gemacht wurde.

Der Schwerpunkt der judenfeindlichen Version liegt ganz offensichtlich auf dem Eid der Feindschaft gegenüber den Griechen, die zum Hassgegner der Juden stilisiert werden. Dies ist das alte Motiv des Menschen- und Fremdenhasses, wie es uns zuerst im ptolemäischen Ägypten begegnete, hier auf den Fremdenhass zugespitzt. Indem es mit einem kultischen Ritual verbunden wird, verwandelt es sich in ein schlagkräftiges Argument gegen die geheimnisvolle jüdische Religion: Der unsichtbare jüdische Gott sei in Wirklichkeit ein grausamer Gott, der in einem jährlich erneuerten Ritual Menschenopfer verlangt. Indem die Erzählung betont, dass der Hass der Juden vorwiegend den Griechen gelte, stellt sie klar, dass der jüdische Tempelkult sich gegen die allgemein akzeptierten Werte der zivilisierten, das heißt griechischen Welt richte. Letztlich geht es also um den unüberbrückbaren Gegensatz zwischen der universalen, von allen anderen Menschen und Völkern anerkannten Religion der Griechen und der barbarischen und menschenverachtenden Religion der Juden.

Rom: Hass und widerwillige Bewunderung

Die zentralen Motive der antiken Judenfeindschaft sind im kollektiven Gedächtnis unseres – eng mit dem Vorderen Orient verbundenen – europäischen Kulturkreises fest verankert und wanderten mit der schrittweisen Eroberung des Vorderen Orients durch Rom von den Griechen zu den Römern. Zwar gab es schon seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. eine jüdische Gemeinde in Rom, aber die Verhältnisse dort waren relativ friedlich und unbelastet, auch als nach der Eroberung Jerusalems durch Pompejus (63 v. Chr.) und nach den jüdisch-römischen Kriegen (68–74 und 132–135 n. Chr.) unter Vespasian/Titus und Hadrian viele Juden vor allem als Gefangene und Sklaven nach Rom kamen. Die Juden Judäas und die kleinasiatischen, nordafrikanischen und ägyptischen Diasporajuden lernten die Römer im Zuge ihrer expansiven Politik gegen die hellenistischen Königreiche des Vorderen Orients kennen; nach dem Aufstand der traditionellen Juden gegen Antiochus IV. und mit den zunehmenden Erfolgen der Makkabäer gegen die verhassten Seleukiden wurden die Juden Judäas willkommene Bundesgenossen Roms gegen die Seleukiden und entsandten in dieser Funktion auch Delegationen nach Rom. Die Vermutung liegt nahe, dass die Römer im Zuge dieser politischen Kontakte mit den Juden Judäas bzw. ihrer Gegner auch mit den antijüdischen Stereotypen der hellenistischen Welt bekannt wurden.

Die römische Literatur steht der Literatur der Griechen in ihren Klischees und Vorurteilen in nichts nach; vieles in den römischen Quellen ist nachweislich von ihren hellenistischen Vorläufern abgeschrieben. Die Gewichtung der einzelnen Motive ist allerdings unterschiedlich; vor allem kam im römischen Kontext ein Aspekt hinzu, der bei den Griechen so gut wie gar keine Rolle spielte: die Furcht vor der Attraktivität des Judentums gerade auch unter gebildeten Schichten der römischen Gesellschaft. Die Überzeugung von der allumfassenden und alle Völker befriedenden geistigen Überlegenheit der griechischen Kultur wich im Römischen Reich einer pragmatischeren Einstellung, die sich mehr auf die militärische als auf die geistige Überlegenheit gründete. Die alten und wirksamen Instrumente der Judenfeindschaft blieben zwar erhalten und wurden, je nach persönlicher Einstellung des Autors und den spezifischen historischen Gegebenheiten, auch verschärft, aber jetzt konnte man den ethischen und moralischen Besonderheiten der jüdischen Religion zunehmend positive Seiten abgewinnen. Anders als oft behauptet wird, hat das antike Judentum nicht aktiv missioniert, aber gebildete römische Kreise entdeckten die Vorzüge der jüdischen Gottesvorstellung und der jüdischen Lebensweise. Echte Übertritte mit allen Konsequenzen (inklusive der Beschneidung) waren zunächst zwar selten, aber es bildete sich eine nicht unbeträchtliche Gruppe von «Gottesfürchtigen» heraus, die sich vom Judentum angezogen fühlten, den Gottesdienst am Sabbat und an den Festtagen besuchten und auch Geld für Wohltätigkeit oder sogar für den Ausbau von Synagogen spendeten. (Diese «Gottesfürchtigen» hießen auf Griechisch sebomenoi oder phoboumenoi und auf Lateinisch metuentes.)

Verstreute Hinweise in der Literatur, die auf sporadische Ausweisungen von Juden aus Rom hindeuten, haben sehr wahrscheinlich mit diesem Interesse nichtjüdischer Römer an jüdischen Sitten und Gebräuchen zu tun. Schon das erste Zeugnis für die Anwesenheit einer jüdischen Gemeinde in Rom erwähnt eine solche befristete Vertreibung (139 v. Chr.) wegen angeblicher Sympathie einflussreicher Römer für die Juden. Dasselbe gilt für die Vertreibung der Juden aus Rom durch Kaiser Tiberius im Jahre 19 n. Chr., die angesichts der wiederholten Zusicherungen jüdischer Religionsfreiheit überraschend ist (anders als die im selben Edikt verfügte Vertreibung der Ägypter, deren Kult den Römern besonders fremd war).[13] Auch hier richteten sich die Maßnahmen weniger gegen die Ausübung der jüdischen Religion als vielmehr gegen die Attraktivität dieser Religion für Römer, die jetzt auch zunehmend formell und mit allen Konsequenzen zum Judentum übertraten. Eine dieser Konsequenzen war, dass ein zum Judentum übergetretener Römer nun auch den fiscus Iudaicus bezahlen musste, die nach der Eroberung Jerusalems und des Tempels eingeführte Sondersteuer für Juden. Vom römischen Kaiser Domitian wird berichtet, dass er systematisch nach übergetretenen Römern suchen ließ, die diese Steuer vermeiden wollten, indem sie ihren Übertritt vor den römischen Autoritäten verheimlichten. So erinnert sich der römische Schriftsteller Sueton in seinen Kaiserviten, dass er als junger Mann mitansehen musste, wie der Prokurator bei einem neunzigjährigen Greis öffentlich nachprüfen ließ, ob dieser beschnitten sei.[14] Wenn diese Geschichte zutrifft, muss die Anzahl der Proselyten in Rom immerhin so groß gewesen sein, dass sich solche rigorosen und demütigenden Maßnahmen für die Staatskasse lohnten.

Eine Summe aller jüdischen Eigenarten, die den Römern unverständlich waren und die sie verachteten, findet sich in ironischer Zuspitzung bei den lateinischen Satirikern des ersten und zweiten nachchristlichen Jahrhunderts. Der erste ist Petronius, ein Höfling am Hof Neros, der für seinen satirischen Roman Satyricon bekannt ist. Von ihm ist folgendes Gedichtfragment erhalten:[15]

Der Jude, mag er auch seine Schweinegottheit (porcinum numen)anbeten

und die höchsten Himmelshöhen anrufen,

wenn er nicht doch auch mit dem Messer den Saum seines Penis abschneidet

und knotenförmig die Eichel freilegt,

so soll er, vom Volk verjagt, in die griechischen Städte auswandern

und soll nicht zittern beim vom Gesetz auferlegten Sabbatfasten.

In diesem kurzen, aber pointierten Text sind die wichtigsten Charakteristika der Juden aus griechisch-römischer Sicht angesprochen: das Tabu des Schweinefleischs, das zur Verehrung eines Schweinegottes persifliert wird, das Gebet zu dem in den höchsten Himmelshöhen verborgenen Himmelsgott, die Beschneidung und die Feier des Sabbat. Die Unterscheidung zwischen einer schweinegestaltigen Gottheit und dem höchsten Himmelsgott ist singulär; nirgendwo sonst wird die Abneigung der Juden gegen das Opfern und Verspeisen von Schweinefleisch in dieser geradezu perversen Weise zur angeblichen Verehrung einer Schweinegottheit verdichtet. Das Sabbatfasten als Besonderheit des Sabbat findet sich nur in lateinischen Quellen und ist vermutlich aus einer Übertragung des Fastens am jüdischen Versöhnungstag auf den Sabbat entstanden.

Besonderen Wert legt Petronius auf die Beschneidung: Wer sich nicht beschneiden lässt, ist kein Jude im vollen Sinne, kann der Volksgemeinschaft nicht angehören und darf auch den Sabbat nicht feiern. Da die Beschneidung im Judentum selbst – mit ganz wenigen Ausnahmen[16] – nicht umstritten war, hat Petronius es hier offensichtlich auf die «Gottesfürchtigen» abgesehen, die römischen Möchtegern-Juden, die (noch) vor dem letzten und unumkehrbaren Schritt zurückschreckten. Diese Stoßrichtung zeigt sich deutlich bei Juvenal, Petronius’ etwas jüngerem Zeitgenossen:[17]

Manche, denen ein den Sabbat ehrender Vater zuteilwurde,

beten nichts an außer den Wolken und der Gottheit des Himmels

und sehen keinen Unterschied zwischen menschlichem Fleisch und dem eines Schweines,

dessen sich der Vater enthielt,

und lassen bald auch ihre Vorhaut beschneiden.

Daran gewöhnt, die römischen Gesetze geringzuschätzen,

lernen, praktizieren und verehren sie das jüdische Gesetz,

wie Moses es ihnen in geheimer Buchrolle überlieferte:

niemandem die Wege zu zeigen außer den Anhängern desselben Kults

und allein die Beschnittenen zur begehrten Quelle zu führen.

An all dem war allein der Vater schuld,

der jeden siebten Tag der Trägheit widmete

und fernhielt von allen Belangen des Lebens.