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Foulsham ist Londons größte Mülldeponie – und platzt aus allen Nähten. Die Mauern, die den Müll zusammenhalten, bröckeln vor sich hin, und der Müll quillt über – zurück in die Stadt, aus der er kam. In den Büroräumen der Iremongers kocht Großvater Umbitt vor Wut – und findet in seinem Zorn auf die Bewohner Londons einen ganz eigenen Weg, Alltagsgegenstände eine menschliche Gestalt annehmen zu lassen. Und andersherum Menschen in Gegenstände zu verwandeln. Währenddessen wird Lucy Pennant, zurückgelassen in den Tiefen der Müllberge der Heaps, von einer furchterregenden Kreatur gerettet: Binadit Iremonger – mehr Tier als Mensch. Nun, da sie kein Knopf mehr ist, ist sie entschlossen, Clod zu finden. Was sie nicht weiß: Auch Clod wurde in einen Gegenstand verwandelt. Er ist nun eine Münze; in Foulsham wird er von Hand zu Hand gereicht. Und Lucy ist nicht die Einzige, die verzweifelt nach ihm sucht. In der Zwischenzeit baut Umbitt eine Armee von Objekten auf, um seinen Widersacher Clod zu finden, und immer mehr gewöhnliche Gegenstände erwachen in der Stadt zum Leben. Zwar sind Clods Fähigkeiten gefürchtet, aber allein er besitzt die Kraft, den grausamen Umbitt zu stürzen. Kann Lucy ihn rechtzeitig finden und in seine menschliche Form zurückverwandeln?
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Seitenzahl: 323
Veröffentlichungsjahr: 2022
EDWARD CAREY
Die schmutzigen Geheimnisse von
Die Iremonger-Trilogie
Aus dem Englischen vonUlli und Herbert Günther
Titel der Originalausgabe: Foulsham: The Iremonger Trilogy 2
Erschienen bei Hot Key Books,
Northburgh House, 10 Northburgh Street, London
Copyright Text & Illustrationen © 2014 John Edward Carey Harvey
Deutsche Erstausgabe
Copyright © 2022 von dem Knesebeck GmbH & Co. Verlag KG, München
Ein Unternehmen der Média-Participations
Projektleitung und Lektorat: Elisabeth Leuthardt, Knesebeck Verlag
Übersetzung: Ulli und Herbert Günther, Friedland
Umschlagadaption: Leonore Höfer, Knesebeck Verlag
eISBN 978-3-95728-691-8
Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise.
www.knesebeck-verlag.de
Für Gus
Teil I DIE STRASSEN VON FOULSHAM
1 BEOBACHTUNGEN AUS EINEM KINDERZIMMER
2 TIEFUNTENGRUND
3 IRRWEGE EINES HALBEN SOVEREIGN
4 DER MANN IM MÜLL
5 GESTOHLEN: EIN HALBER SOVEREIGN
6 HAT JEMAND DIESEN JUNGEN GESEHEN?
7 DIE MÜLLBERGE RÜCKEN HERAN
8 WIEDER ATMEN
9 DURCH DEN EFFRA UND WEITER
10 DER SCHNEIDER VON FOULSHAM
11 AUF DEN STRASSEN VON FOULSHAM
12 EIN VERSPRECHEN WIRD GEGEBEN, UND ETWAS ZERFÄLLT
13 BIER UND BETT
14 BEVOR DIE SONNE AUFGEHT
Teil II DAS WOHNHEIM
15 WIEDER ZU HAUSE, WIEDER ZU HAUSE
16 SIE WIRD NICHT STANDHALTEN
17 MEIN ERBE
18 EINGESPERRT IM HERD
19 OH, MEIN ROT
20 BEFEHL ZUR AUFLÖSUNG
21 ZU DEN TOREN
Teil III FABRIK BAY LEAF HOUSE
22 VOR DEN TOREN
23 HINTER DEN TOREN
24 VORWÄRTS, SOLDATEN VON FOULSHAM
25 DICKES BLUT
26 BEOBACHTUNGEN AUS EINEM KINDERZIMMER
James Henry Hayward und seine Gouvernante Ada Cruickshanks
Die Geschichte von James Henry Hayward, in der Fabrik auf dem Anwesen Bay Leaf House, Forlichingham, London
Sie haben mir gesagt, ich sei das einzige Kind in dem großen Gebäude, aber das war ich nicht. Ich wusste, dass ich nicht das einzige war, denn ich hörte sie manchmal, die anderen Kinder. Ich hörte sie laut rufen, irgendwo weit unten.
Ich wohnte in einem vornehmen Zimmer zusammen mit meiner Gouvernante. Sie hieß Ada Cruickshanks. »Miss Cruickshanks« musste ich sie nennen. Sie verabreichte mir oft einen Löffel Medizin, die zwar merkwürdig roch, aber von innen heraus ordentlich wärmte, so als würde sie den Winter vertreiben. Zu essen bekam ich süße Sachen wie Rührkuchen und Rosinenbrötchen, auch Forlichingham-Kuchen, der aber ehrlich gesagt nicht gerade zu meinen Favoriten zählte: Seine oberste Lage war immer ein bisschen verbrannt, wie es die Tradition verlangte, und die Füllung erinnerte mehr an zusammengerührte Essensreste. Um den Geschmack zu übertönen, war das Ganze von schwarzem Rübensirup überzogen. Ich müsse alles aufessen, sagte Miss Cruickshanks stets, sonst würde sie böse werden. Also aß ich es.
Oft erzählte sie mir seltsame Geschichten, diese Miss Cruickshanks, aber nicht aus einem Buch, sondern aus dem Kopf. Dann setzte sie sich zu mir, sah mich ernst und eindringlich an und begann: »Nun hör zu, Kind, es hat in Wirklichkeit folgende Bewandtnis: Es gibt zwei Arten von Menschen, die einen, die Bescheid wissen über Gegenstände, und die anderen, die gar nichts darüber wissen. Ich gehöre zur ersten Gruppe und kann dir deshalb davon erzählen. Es gab da mal einen Ort, in dem die Gegenstände nicht mehr so funktionierten, wie sie sollten. In diesem Ort – ich wage es nicht, dir seinen Namen zu nennen – in diesem Ort also waren Menschen und Dinge so völlig durcheinandergeraten, dass Gegenstände wie Menschen erscheinen konnten und umgekehrt. Man musste sich dort bei allem, was man in die Hand nahm, sehr in Acht nehmen, denn obwohl man einen Gegenstand vielleicht für eine ganz normale Teetasse hielt, konnte es sein, dass es sich in Wirklichkeit um einen Menschen namens Frederick Smith handelte, der in eine Tasse verwandelt worden war. Mitten unter den Bewohnern dieses Ortes lebten die Hohen Herren der Gegenstände. Das waren grausame Amtspersonen, die einen Menschen ohne Weiteres in einen Gegenstand verwandeln konnten – wie findest du das?«
»Schwer zu sagen, was ich davon halten soll, Miss Cruickshanks.«
»Nun, dann denk darüber nach, bis du es weißt.«
Oft fragte sie mich: »Hast du ihn noch? Zeig mal her! Zeig her!« Dann holte ich den halben Gold-Sovereign aus meiner Tasche und zeigte ihn ihr. Die Münze gehörte mir allein, ich musste sie immer bei mir haben. Was machten sie alle für einen Wirbel um diese Münze! Wenn ich sie mal in der Öffentlichkeit herausnahm, staunten die Leute in dem großen alten Haus und schnappten nach Luft, Miss Cruickshanks aber kreischte: »Tu sie weg! Steck sie ein! Das ist zu unsicher! Zu unsicher! Man weiß nie, wer gerade herschaut!«
Ab und zu wurde ich aus dem Kinderzimmer gerufen, um den alten Mann zu besuchen. Dann wurde ich in sein herrschaftliches Zimmer mit all den Regalen gebracht, und er ließ mich die vielen Sachen in den Regalfächern anschauen – nur anfassen durfte ich nichts. Seltsame Dinge gab es da, manches davon nur Plunder: Teile von alten Pfeifen, ein Dachziegel oder ein alter Blechnapf. Andere dagegen glänzten und waren aus Silber oder Gold. Ich wusste nicht, warum er das alles aufbewahrte. Es war vermutlich seine ganz persönliche Sammlung. Und ich dachte, dass ich eines Tages auch gern so eine eigene Sammlung haben wollte.
Immer wenn ich den alten Mann besuchte, musste ich ihm zuallererst meine Münze zeigen. Ich hielt sie ihm hin und ließ sie in seine große runzlige Hand fallen. Er untersuchte sie, drehte sie hin und her. Damit konnte er sich eine ganze Weile beschäftigen. Am Ende gab er sie mir zurück und sah zu, wie ich sie tief in meiner Tasche verstaute.
»Ich bin zufrieden mit dir, junger James Henry. Du machst dich gut.«
»Danke, Sir. Ich würde gern mehr für Sie tun.«
»Der Eigentümer Umbitt ist ein äußerst beschäftigter Mann«, warf Miss Cruickshanks ein.
»Du darfst diesen Sovereign nie ausgeben, James Henry«, sagte der alte Mann zu mir.
»Ich weiß, Sir, ich weiß«, sagte ich, denn er erinnerte mich bei jedem Besuch von Neuem daran.
»Dann sag es mir, James Henry.« Er war jetzt sehr ernst.
»Ich darf meinen Sovereign nie ausgeben.«
Wo sollte ich ihn auch ausgeben? In der Fabrik war bestimmt keine Gelegenheit dazu und in die Stadt durfte ich nie. Wie sie ständig von meinem Sovereign redeten, wieder und wieder. Nicht ausgeben! Nie, nie ausgeben!
»Braves Kind«, sagte der alte Mann. »Mrs Groom wird dir etwas backen. Sie ist eine ganz ausgezeichnete Köchin, die beste in Forlichingham. Was haben wir für ein Glück, dass sie uns Speisen nach Bay Leaf House schickt.« Und dann musste ich jedes Mal eine kleine Verbeugung machen und wurde zurück ins Kinderzimmer gebracht.
Bay Leaf House, mein Zuhause, war das größte, stattlichste Gebäude im ganzen Bezirk. Es kam mir gewichtig vor wie ein Anker. Es war ein sicheres Haus, nichts würde es erschüttern können. Man schlief ruhig in einem solchen Haus, weil man wusste, dass es auch morgen noch stehen würde. Ja, was für ein Haus! Und all die guten Sachen zu essen – wie glücklich durfte ich mich schätzen!
Aber eigentlich waren es die anderen, die mir wieder und wieder erzählten, wie glücklich ich hier sein müsse. Ich war nicht sicher, ob ich wirklich so glücklich war. Bay Leaf House war eine Art Fabrik, wenn ich auch nicht sagen konnte, was genau hier hergestellt wurde. An manchen Stellen im Haus war es sehr heiß. Es gab Öfen und Schornsteine, die Rauch ausstießen und dadurch den ganzen Bezirk mit Ruß überzogen.
Überall im Haus waren Rohre, große Metallrohre, die sich zu Hunderten über die Decken hinzogen und wie Säulen vor den Wänden aufragten. Sie führten überall hin, diese Rohrleitungen. Ich glaube, es gab im ganzen Gebäude keinen einzigen Raum ohne solche Rohre. Manche fühlten sich kalt an, sehr kalt, und manche waren so schrecklich heiß, dass man sich daran verbrennen konnte.
Viele der Zimmer durfte ich nicht betreten.
»Du darfst da nicht reingehen, Junge, hörst du? Du hast in diesem Haus nichts verloren. Halte dich von der zweiten Etage fern, auch von der dritten.«
»Woher kommen die Glockentöne?«, fragte ich oft.
»Das geht dich nichts an«, sagten sie dann.
»Und was bedeutet das Pfeifen, das Tag und Nacht zu hören ist?«, fragte ich.
»Das braucht dich nicht zu bekümmern«, antworteten sie.
Alles in allem muss ich also zugeben, dass ich nur sehr wenig über Bay Leaf House wusste. Manchmal hörte ich, wenn im Haus gearbeitet wurde. Dann riefen Menschen – und diese Rufe klangen, als hätte sich jemand ganz in der Nähe wehgetan. Es waren Kinderstimmen, darauf hätte ich schwören können. Sobald ich diese Rufe hörte, wurde ich unruhig. Dann nahm Ada Cruickshanks einen Hammer und schlug damit gegen die Rohre. Kurz danach hörte das Rufen meistens auf.
»Ich habe sie gehört, Miss Cruickshanks! Ich habe Kinder gehört!«
»Nein, hast du nicht.«
»Ich weiß es aber genau.«
»Du weißt gar nichts.«
Tja, und das stimmte ja auch: Ich hatte keine Ahnung.
Ich wusste, dass ich James Henry Hayward hieß, dass ich im Londoner Bezirk Filching wohnte, direkt neben den großen Müllbergen. Ich wusste, dass ich hier geboren bin, hier in Filching. Diesen Ort habe ich im Blut. Allerdings war es Miss Cruickshanks, die mir das alles erzählt hatte, ich selbst erinnerte mich nicht. Ich sei in der Gosse geboren, so hatte sie sich ausgedrückt.
Ich gab mir große Mühe, mich an meine Familie zu erinnern, aber es gelang mir nicht. Wie sah meine Mutter aus? Mein Vater? Hatte ich Brüder oder Schwestern? Warum war ich nicht bei ihnen, sondern saß hier bei Miss Cruickshanks fest? Wie war ich in dieses große Haus gekommen? Warum wohnte ich überhaupt in einer Fabrik?
»Darf ich mal rausgehen?«, fragte ich sie. »Wohnt meine Familie noch in Filching? Ich kann mich gar nicht richtig an sie erinnern. Darf ich sie besuchen?«
»Nein, nein!«, fuhr sie mich an. »Dieser Schmutz! Du wirst nur dreckig da draußen. Du würdest dich verlaufen. Es ist nicht sicher dort, da gibt es schreckliche Leute, Diebe und Mörder. Komm weg vom Fenster! Wie oft muss ich dir das noch sagen?« Dann sah sie mich scharf an. »Hast du sie noch? Zeig! Zeig her!« Und ich zeigte ihr meine Münze.
Filching bestand hauptsächlich aus kleinen Siedlungshäusern. Ich konnte sie durchs Fenster sehen: ein wenig baufällig hier und da, Fensterscheiben zerbrochen, Löcher in den Dächern, manche Gebäude abgestützt – billig gebaut eben.
Ich sah auch die Mauer, die Filching vor den Müllmassen schützte. Eine zweite Mauer befand sich auf der gegenüberliegenden Seite des schmutzigen Stadtviertels, und die trennte Filching von London. Diese Mauer war höher und neuer als die Müllmauer und auf ihrer Oberkante mit Spitzen, Stacheln und Dornen versehen. Jenseits davon lag London, also das eigentliche London, so nah und doch so fern, denn dieses London durften wir nie betreten. Für uns aus Filching war London ein unerreichbarer Ort. Zutritt verboten.
Unterhalb meines Fensters, gleich hinter dem Fabrikzaun, lag der Teil von Filching, der sich unmittelbar an Bay Leaf House anschloss. Das erste Haus war ein hohes weißes Gebäude, Leute liefen ständig rein und raus. Ich sah ihnen gern zu. Wenn ich so durch die Fenster auf das verwinkelte Stadtviertel schaute, fühlte ich eine tiefe Verbundenheit. Ich spürte die Sehnsucht, durch diese krummen, dunklen Straßen zu laufen. Irgendwo da draußen war meine Familie.
Manchmal bekam ich schreckliche Kopfschmerzen, und mir brummte der Schädel vom vielen Grübeln. Dann brachte mir Miss Cruickshanks einen Löffel voll Medizin, und danach wurde mir von innen ganz warm. Das Kopfweh verschwand augenblicklich und alles schien wie verschleiert – auf sehr angenehme Art allerdings. Doch irgendwie stand ich mehr oder weniger immer im Nebel. Ich wusste so wenig, und so vieles wurde von mir ferngehalten, dass ich tatsächlich wie unter einer Dunstwolke lebte. Zu alldem trug Miss Cruickshanks auch noch eine schwarze Haube mit einem Schleier, sodass ich ihr Gesicht nicht erkennen konnte. Sogar das blieb mir verborgen. Ich sah es nur als Andeutung, als Schatten hinter dem Schleier. Wie sie in Wirklichkeit aussah, konnte ich nicht sagen.
Doch selbst nachdem ich die Medizin eingenommen hatte, konnte ich nicht aufhören, an meine Leute draußen in Filching zu denken.
»Wissen Sie, wo meine Eltern sind?«, fragte ich Miss Cruickshanks.
»Es geht um wichtigere Dinge.«
»Ich würde sie so gern besuchen, falls sie auf der anderen Seite des Fabriktors wohnen.«
»Nun, das geht nicht, Junge. Das darfst du nicht.«
»Warum darf ich nicht?«
»Fragen! Fragen! Nichts als Fragen. Deine Fragen hacken auf mir herum wie spitze Schnäbel, sie kratzen an mir, sie bringen mich noch zur Weißglut. Lass dir also von mir sagen, was andere dir aus Rücksicht verschweigen: Der Ort da draußen ist gefährlich und baufällig. Es herrschen Krankheiten und es geschehen grausame Verbrechen. Die Leute nennen es nicht mehr Filching, sie nennen es jetzt Foulsham, weil es ein stinkender, sumpfiger, fauliger Ort ist. Ein Mann, den sie den Schneider nennen, lauert in den engen Gassen und bringt Leute um – und die Leute dort gelten so wenig, dass sich keiner besonders darüber aufregt. Geh hinaus, James Henry Hayward, und du wirst keine Minute überleben. Du bist nicht sicher dort. Schon die Luft ist verpestet. Geh hinaus und du wirst sterben, geh hinaus und du wirst umkommen, geh hinaus und du wirst untergehen!«
»Aber da draußen sind doch Menschen. Ich habe sie in den dunklen Straßen gesehen.«
»Rattenvolk ist das. Kakerlaken, Kranke, Sterbende.«
Ich glaube, es war das Wort Rattenvolk, das etwas in meinem Gedächtnis angestoßen hat, denn mir fiel plötzlich etwas ein, an das ich lange nicht mehr gedacht hatte. Ich erinnerte mich an einen Raum in einem Haus mit Lehmboden. Da war ein Schrank mit einer Tür. Ich erinnerte mich, wie ich die Schranktür öffnete, und da saß ein kleines Mädchen und legte verschwörerisch den Finger an die Lippen. Ich erinnerte mich! Ich erinnerte mich an etwas! Ich wusste erst nicht, wer sie war oder woher dieses Fantasiebild gekommen war. Doch der Gedanke daran gefiel mir. Immer wieder versuchte ich, mir ihr Gesicht vor Augen zu führen, doch sobald ich in Gedanken zurückkehrte, sobald ich die Tür in meiner Vorstellung noch einmal öffnete, war das Mädchen nicht mehr da – und an ihrer Stelle saß eine Ratte.
In der Nacht nachdem ich mich an das Mädchen im Schrank erinnert hatte, hörte ich aus Miss Cruickshanks Zimmer nebenan Gemurmel. Ich überlegte, was der Grund sein mochte, dass sie so wütend vor sich hin brabbelte. Zweimal war sie schon auf Zehenspitzen hereingekommen, um nachzusehen, ob ich eingeschlafen war, und um sich zu vergewissern, dass der halbe Sovereign neben meinem Kopfkissen lag. Ich glaube, sie muss sicher gewesen sein, dass ich endlich schlief. Aber ich schlief nicht.
Leise, ganz leise stieg ich aus meinem Bett, tappte vorsichtig über den Boden und linste in ihr Zimmer: Sie saß mit einem Spiegel in der Hand auf der Bettkante und hob ihren Schleier an – und da sah ich ihr Gesicht. Oh, was für ein Schreck!
Ein Sprung, ein breiter Riss zog sich mitten hindurch! Als wäre sie ein Stück Keramik und nicht ein Mensch!
Sie fuhr herum. »Du böses Kind!«, schrie sie.
»Es tut mir leid, Miss Cruickshanks. Das wollte ich nicht.«
»Abscheulicher kleiner Dieb!«
»Tut es weh, Miss Cruickshanks? Ihr Schnitt, meine ich. Es tut mir leid, ich wusste nicht, dass Sie eine Verletzung haben. Entschuldigen Sie, Miss.«
»Ich hasse dich!«
»Ja, Miss Cruickshanks.«
»Von mir aus kannst du verrotten!«
»Ja, Miss Cruickshanks.«
»Nimm deine Medizin. Sofort!«
»Ja, Miss Cruickshanks.«
»Wir sitzen hier gemeinsam fest, Kind.«
»Ja, Miss Cruickshanks.«
»Geh zu Bett!«
Jetzt, wo ich ihr verwundetes Gesicht gesehen hatte, dachte ich anders über sie. Arme alte Cruickshanks! Ich beschloss, in Zukunft freundlicher zu ihr zu sein. Miss Cruickshanks war eine Person – eine Frau obendrein, mit all diesen Frauensachen um sich herum, all dem Krimskrams, der zu einem weiblichen Wesen gehört. Das war ein Gedanke, den ich meistens verdrängte.
Nach diesem Vorfall nahm ich meine Medizin nicht mehr so häufig ein, ich wollte nicht dauernd so umnebelt herumlaufen. Ich fing an vorzutäuschen, ich hätte sie genommen. Ich ließ sie in meiner Tasche verschwinden. Ich spuckte sie aus, wenn ich Gelegenheit dazu fand. Allmählich löste sich der dichte Nebelschleier auf und ich konnte mich wieder besser konzentrieren. Mein Kopf schmerzte zwar ununterbrochen, aber ich konnte mich an immer mehr erinnern. Dieses Mädchen im Schrank, ich sah es jetzt deutlicher vor mir.
Sie versteckte sich da, es war ihr geheimer Ort. Dort bewahrte sie ihre Stoffpuppe auf. Zuerst fragte ich mich, ob das Mädchen vielleicht meine Schwester sein konnte, aber bald wurde ich immer sicherer, dass sie es war. Und mit dieser Sicherheit kamen mehr und mehr Erinnerungen zurück als nur die an den Schrank. Ich sah einen ganzen Raum mit Menschen darin. Eine alte Frau, die immer hustete, eine jüngere Frau und einen Mann. Auch ein Junge war da, und sie alle waren mit irgendeiner Tätigkeit befasst. Zuerst wusste ich nicht, was es war. Ich stocherte so lange in meinen Erinnerungsfetzen, bis das Bild klarer wurde, bis ich ihnen sozusagen über die Schultern blicken konnte: Sie bauten kleine Käfige. Käfige? Aber wofür? Ich schaute zur Decke und sah zahllose Käfige da oben hängen. In einigen davon saßen Vögel, verwahrloste Möwen, staubverklebte Tauben.
Andere Käfige standen auf dem Boden. Diese hatten eine Art Klappe an einer Sprungfeder. Auf einmal wusste ich es! Fallen! Rattenfallen. Die Leute waren Rattenfänger! Meisterrattenfänger. Wie mein Herz pochte bei diesem Blick in die Vergangenheit. Ja, ja, ich kannte sie. Ich kannte und ich liebte sie. Es war meine Familie! Und alle aus meiner Familie waren große Rattenfänger in Filching.
Da war mein Vater, stark, kräftig, Gesicht und Hände zerkratzt – der beste Rattenfänger überhaupt. Dort meine Mutter, auch sie reichlich zerkratzt, unerschütterlich und liebevoll. Ja, ich kenne dich noch, Mutter. Dort mein Bruder, er lernte gerade, eine Mausefalle zu bauen. Meine Schwester und ihre Stoffpuppe. Eigentlich war es keine Puppe, sondern eine Stoffratte, eine angezogene Ratte. Meine Großmutter drüben in der Ecke, sie reparierte alte Fallen. Beim Rattenfangen in ihren früheren Tagen hatte sie zwei Finger verloren. Was hatte sie uns immer für Geschichten aus dieser Zeit erzählt, Geschichten von Großvater und den Ratten im Hafen! Und da war auch mein Großvater, gebeugt und doch mit einem Lachen im Gesicht. Oh, meine Familie, meine Familie! Die Erinnerungen an sie brachen wie eine Sturzflut über mich herein. Wie gern war ich mit ihnen zusammen gewesen.
Ich sah noch mehr. Ich sah mich selbst unter ihnen, sah mich mit Vater, der in seinem Lederzeug auf die Jagd ging und Fallen aufstellte. Und dann das Haus von außen, ein einstöckiges Gebäude, ziemlich baufällig, aber mit einem Ladenschild, das lustig im Wind hin und her schwang:
HAYWARD – LIZENZIERTE RATTENFÄNGER
IM AUFTRAG VON TUNCRID IREMONGER, GENT.
Mein Zuhause! Und was für ein Zuhause! Dort an der Mauer die aufgeklebten Plakate:
RATTEN ZU VERKAUFEN – MAUSEFALLEN – FLIEGENFÄNGER – MÖWENFALLEN - MÖWENFLEISCH – TIERPRÄPARATION (MIT GELENKVERBINDUNG!) – FEDERN (SACKWEISE) – HÄUTE!
Was für ein Ort! Das Rattenhaus! Dort gehörte ich hin, dort war meine Familie.
Ich musste es finden.
Das Rattenhaus.
Mein Zuhause.
So fing es an. Danach musste ich unbedingt mehr herausfinden. Miss Cruickshanks führte ein Tagebuch. Ich hatte sie oft genug beim Schreiben gesehen, hätte aber nie daran gedacht, darin zu lesen, jedenfalls nicht, bevor ich aufgehört hatte, die Medizin einzunehmen. Miss Cruickshanks ging jeden Tag aus, sperrte die Tür zu unserem Zimmer hinter sich ab und erstattete dem alten Mann Bericht. Bei der nächsten Gelegenheit holte ich mir also das Tagebuch und las die Gedanken meiner Gouvernante, doch was ich da las, stiftete noch mehr Verwirrung in meinem Kopf.
Ich platze auf. Werde rissig. Falle auseinander. Jeden Tag ein Stück mehr. Bald werde ich endgültig zersprungen sein.
Lasst mich nicht zerbrechen, bewahrt mich als Ganzes!Ich möchte so gern heil bleiben. Aber sie sagen, dass es nicht so kommen wird. Sie sagen, es gibt keine Hoffnung für mich. Sie sagen, dass ich das Müllfieber habe und dass ich früher oder später auseinanderfallen werde. Könnte das schon morgen sein, frage ich. Werde ich morgen schon kaputt sein? Sie sagen vielleicht, aber wahrscheinlich nicht. Es ist noch Zeit. Voraussichtlich.
Weiter unten las ich:
Nachts, wenn ich ganz still bin, höre ich manchmal das Splittern. Meine Haut macht ein Geräusch, wenn ich sie nur leicht antippe. Sie sollte aber keinen Laut von sich geben. Sie sollte nicht wie Porzellan klingen. Inzwischen betrachte ich Tassen und Untertassen, Teller und Schüsseln voller Abscheu. Bin ich denn auch nur so was? Ein Ding aus Porzellan?
In dem Moment hörte ich Miss Cruickshanks draußen und legte das Tagebuch schnell zurück. Doch bei der nächsten Gelegenheit, die sich mir bot, las ich weiter, und diesmal konnte ich länger dabeibleiben.
Meine Eltern stammen aus Neapel, Italien. Sie waren Komödianten von der einfachsten Sorte, die ein wenig sangen und tanzten. Sie besaßen einen Hund, der Kunststücke machen konnte, und außerdem hatten sie mich. Das Theater, in dem sie arbeiteten, das Heaving Heap in Filching, das schon immer abgestützt und nie ein stabiles Bauwerk gewesen war, brach eines Tages ganz in sich zusammen. Viele starben in dieser Nacht, es war die Nacht, in der ich allein zurückblieb. Ich war nicht zusammen mit meinen Eltern aufgetreten, sondern hatte mit der Reklametafel vor dem Theater gestanden und versucht, Leute für den Kauf von Eintrittskarten zu gewinnen. Ich war damals schon zehn Jahre, also alt genug, um selbst für mich zu sorgen. Mein Nachname war Crenzini, was viele Nachteile mit sich brachte, weil uns der Name als Ausländer und Fremde auswies. Nach dem Tod von Mama und Papa nannte ich mich deshalb Cruickshanks, was sich meiner Ansicht nach streng und würdevoll und englisch anhörte. Und nicht nach Komödie. Meinen Vornamen Ada habe ich beibehalten.
Ich fand Arbeit als Gehilfin einer Schullehrerin in Filching. Ich tat sehr streng und gab mir große Mühe, nicht italienisch zu klingen. Ich musste etwas von der theatralischen Begabung meiner Eltern geerbt haben, denn die Leute fanden mich tatsächlich scharfzüngig, geradlinig und glaubwürdig. »Du bist ja nun schon fast eine Frau, Ada. Ich glaube, du bist als Erwachsene geboren«, sagte die Lehrerin zu mir. Ich lernte von ihr und konnte schon bald selbst Englisch unterrichten. Eine große Tyrannin war sie, diese Mistress Winthrop, aber so voll mit Gin, dass sie fast mehr Alkohol als Mensch war, mehr Flasche als Körper. Es hätte gut sein können, dass statt Blut eine durchsichtige, scharfe Flüssigkeit durch ihre Venen strömte. Ich übernahm also mehr und mehr den Unterricht.
Vielleicht konnte man ihr nicht mal einen Vorwurf machen. Das Leben hatte sie zermürbt. Ihr Mann, der Schulmeister gewesen war, hatte sich aus dem Staub gemacht und war spurlos verschwunden. Die Lehrerin sprach oft von ihm und polierte dabei einen kleinen Gummiknüppel, den sie nie aus den Augen ließ. Heute habe ich das Gefühl, dass dieser Knüppel in Wirklichkeit ihr Mann gewesen ist – nur in verwandeltem Zustand.
Eines Morgens fehlten mehrere Kinder, genauer gesagt eine ganze Klasse – meine Klasse. Obwohl keins der Kinder gekommen war, herrschte ein solches Chaos an Gegenständen, wie ich es noch nie erlebt hatte: Messingzimbel, Milchkrug, Pferdepeitsche, Angelhaken. Man rief mich, und ich sagte, dass ich nichts über einen Zusammenhang dieser Vorgänge wisse. Ein Mann, der einen sehr freundlichen Eindruck machte, gab mir irgendetwas zu essen, und das ist das Letzte, woran ich mich erinnere.
Weiter ist nichts zu sagen. Es ist genug. Ich möchte nach vorn schauen und nicht zurück. Ich möchte Ada bleiben, möchte sie fester im Leben verankern als je zuvor. Meine Arbeit in der Schule von Filching war nur ein schwacher Halt gewesen. Ich würde so gern richtig leben.
Dies ist das Testament von Ada Cruickshanks. Ich bin Ada Cruickshanks.
Als ich zum letzten Mal im Tagebuch las, fand ich diese Stelle:
Jede Person aus dem Kreis der Familie Iremonger muss ihren Gegenstand, ihr Geburtsobjekt, immer bei sich haben. Ohne dieses Objekt lebt man nicht lange: Man wird von der Krankheit befallen. Ich aber habe meinen Gegenstand verloren. Ich darf gar nicht daran denken, dass ich meine kostbare Zeit mit diesem Kind verbringen muss! Mit einem Jungen, der sein Geburtsobjekt, diesen glänzenden Sovereign, poliert und damit herumspielt, ohne zu wissen, wie er mich damit verhöhnt! Wie er ihn umklammert und was für ein Wirbel darum gemacht wird! Sie haben mir gesagt, dass in diesem halben Sovereign ein Mensch gefangen sei, eine wichtige Person.
Der Mensch in diesem halben Sovereign besitze so viel Macht über die Gegenstände, dass er es leicht mit Umbitt aufnehmen könne. Man hat mir auch gesagt, dass er, als er noch ein Mensch war, auf irgendeine Weise alle Gegenstände in gewaltige Unruhe versetzt habe – weil er sich in ein gewöhnliches Dienstmädchen verliebt hatte. Und wenn er das bewerkstelligen konnte, wenn er alles aus dem Gleichgewicht bringen konnte, nur weil er verliebt war – dieses Gefühl hatte er nämlich in jenen Tagen –, was könnte er dann wohl noch alles zustande bringen? Er sei gefährlich, hat man mir gesagt, und ein Wunder. Vorerst müsse er in einem Sovereign unter Verschluss gehalten werden, wo er keinen Schaden anrichten könne. Möglicherweise wird er endgültig ausgeschaltet. Vielleicht bringt ihn Umbitt um, das steht noch nicht fest. Sie diskutieren darüber, ob sie ihn überhaupt jemals wieder befreien werden. Wie könnte ich dem Kind sagen, dass sie früher oder später entscheiden werden, ob es leben darf oder nicht?
Wenn ich mir den Sovereign ansehe, gerate ich manchmal ins Grübeln. Wäre er wieder ein Mensch – ob er mir dann wohl helfen könnte? Und was würde dann aus dem armen dummen Kind werden? Wie gern würde ich es warnen, aber was würde das nützen?
Wir sind zu freudloser Liebe verpflichtet. Wir sind das Gegenteil von Liebe, die Kehrseite davon. Wir unterdrücken sie, James Henry Hayward und ich. Wir haben sie abgetötet, diese verbotene Liebe. Mag sein, dass es nicht unsere eigene Entscheidung ist. Aber es ist so.
Und doch … und doch glaube ich, dass sich trotz all ihrer Anstrengungen bereits etwas ändert.
Sie, die hier leben, sehen es ja: Diese alte Leidenschaft kehrt langsam zurück. Das zeigt sich an meinem Zerfall. Ich breche auseinander.
Diesen Abschnitt verstand ich nicht ganz, aber gerade der war es, der mir Angst machte. Ich beschloss, bei der erstbesten Gelegenheit von hier zu fliehen und in die Straßen von Foulsham zu entwischen. Ich würde meine Familie suchen – und ich würde sie finden. Von da an waren meine Gedanken nur noch mit der Flucht und meiner Freiheit beschäftigt. Nichts anderes hatte ich mehr im Sinn, als die Luft jenseits von Bay Leaf House zu atmen. Ihre kostbare Münze würde ich mitnehmen müssen, denn ein halber Sovereign war eine Menge Geld, und das würde ich brauchen.
Ich wartete ab. Ich ging jeden Abend zu Bett, deckte mich zu und wartete. Ich wartete darauf, dass sie einen Fehler machen würden. Ich begegnete ihnen mit nichtssagender Miene, schwach und folgsam, doch in meinem Kopf raste und tobte es.
An einem frühen Morgen geschah es dann. Es war kurz vor Sonnenaufgang, als noch nicht viele Leute unterwegs waren, noch vor dem Medizinritual und den drängenden, forschenden Fragen nach der Münze.
Gewöhnlich fing jeder Morgen damit an, dass Miss Cruickshanks frisch und munter aus dem Nebenzimmer auftauchte und durch ihren Schleier hindurch mit mir sprach. Aber sie kam nicht. Nicht an diesem Morgen.
Da kroch ich unter meiner Decke hervor. Schaute mich um. Nichts. Ich stieg aus dem Bett. Ich schlich zu ihrer Tür hin, nahm meinen ganzen Mut zusammen, linste in ihr Zimmer – und sie war nicht da! Keine Cruickshanks, nicht die geringste Spur. Aber sie war da gewesen, ganz eindeutig. Ihr Bett war nicht gemacht. Das sah Miss Cruickshanks gar nicht ähnlich. Dann fiel mir auf, dass etwas in ihrem Bett lag, etwas anderes als Laken und Decken, etwas in der Mitte, wo normalerweise der Cruickshanks-Körper hätte sein müssen. Sehr deutlich konnte ich es nicht erkennen. Es war noch fast dunkel, aber langsam breitete sich ein grauer Lichtschein aus. Ich trat näher ans Bett, streckte sogar die Hand nach dem Ding aus. Es war eine Schachtel Streichhölzer, eine gewöhnliche Schachtel Streichhölzer. Wie kam die in das Bett? Vielleicht war sie vom Nachttisch gefallen, denn in einem Messingständer steckte eine Kerze, und daneben lag sogar ein Streichholz. Als ich die Schachtel dicht vor meine Augen hielt, sah ich darauf eine Schrift: VERSCHLOSSEN ZU DEINEM NUTZEN.
Ich brauchte mehr Licht, um mich besser zurechtzufinden, also riss ich die Schachtel auf und nahm ein Hölzchen heraus. Strich es an – nichts. Versuchte es noch einmal – und eine sonderbare, dürftige Flamme zischte auf! Ein schwaches, jämmerliches Flämmchen, das verpuffte, kaum dass es den Kerzendocht entzündet hatte.
»Miss Cruickshanks? Miss Cruickshanks?«, flüsterte ich.
Keine Spur von ihr, nur die Kleidung war da. Über dem Stuhl hing ordentlich und zum Anziehen bereit ihr schwarzes Kleid: eine in sich zusammengesunkene Miss Cruickshanks. Da war ihre schreckliche Haube mit dem schwarzen Schleier, und auch all die äußerlichen Cruickshanks-Kleinigkeiten lagen bereit. Die Sachen warteten nur darauf, dass Miss Cruickshanks sie anziehen und sich verhüllen würde. War sie denn im Nachthemd ausgegangen?
Und diese Vorstellung brachte mich auf die Idee.
Konnte ich das wirklich tun?
Die Sonne war noch nicht ganz erwacht. Noch war es fast dunkel. Am besten, ich handelte sofort. Meine Chance würde größer sein, wenn ich sofort aufbräche. Doch! Ich würde es tun! Ich würde Miss Cruickshanks’ Kleider anziehen. Ich würde Cruickshanks mit dem verschleierten Gesicht sein und auf diese Weise hier rauskommen. Was für ein Plan! Was für ein Leichtsinn! Mit all diesen Frauensachen am Leib! Ein Ruhmesblatt war das nicht. Aber es gab keinen anderen Ausweg. Entweder diesen oder keinen.
Zuerst zog ich meine eigenen Sachen an. Dann zerrte ich Cruickshanks’ Kleid darüber. Es war eng, sie war so eine schmale Person. Es fühlte sich scheußlich an, aber ich musste es tun. Weiter, weiter! Beeil dich, James Henry Hayward. Ob du nun Frauenkleider trägst oder nicht, du bist heute mehr denn je James Henry Hayward. Ich setzte die Haube auf, knüpfte die Bänder zu einer Schleife und zog den Schleier herunter. Dann betrachtete ich mich in Miss Cruickshanks’ Spiegel und sah ein schattenhaftes Gesicht hinter dem Schleier. Es glich nicht ganz dem ihren, aber im dämmrigen Licht würde ich vielleicht unbehelligt durchkommen.
Ich schlüpfte in ihre schwarzen Schnürstiefel, die mich immerhin ein wenig größer machten. Dann stand ich fix und fertig an der Tür. Der Schlüssel hing am Gürtel von Cruickshanks’ Kleid. Ich steckte ihn ins Schloss und war bereit zur Flucht. Doch halt! Warte! Ich ging noch einmal zu meinem Bett, hob das Kopfkissen an und nahm den halben Sovereign. So! Ich ließ ihn in Cruickshanks’ Tasche fallen und dann, erst dann drehte ich den Schlüssel im Schloss und sperrte die Tür auf.
Draußen stand ein Wächter. Das hatte ich erwartet. Er saß direkt neben der Tür auf einem hohen Schemel. Als er mich sah, erhob er sich schlaftrunken, anscheinend war er eingedöst. Aber nun regte er sich.
»Tut mir leid, Miss Cruickshanks«, sagte er. »Ich habe die ganze Zeit aufgepasst, ehrlich.«
Ich gab ein Cruickshanks-Schnauben von mir. Das war der Vorteil an meiner Rolle als strenge Person, die meistens nur vor sich hin brummelte: Ich musste nicht reden.
»Sie gehen schon aus, Miss Cruickshanks?«, fragte der Wächter.
Ich schloss die Tür zum Kinderzimmer ab und hängte den Schlüssel wieder an meinen Gürtel.
»Eigentlich ganz gegen Ihre Gewohnheit, Miss Cruickshanks. Sonst gehen Sie ja nicht so früh aus. Alles in Ordnung?«
Ich nickte kurz.
»Kann ich was für Sie tun?«, fragte er.
Ich machte eine knappe, verneinende Bewegung mit meinem haubenbedeckten Kopf und fügte zur Sicherheit ein Schnauben hinzu, um dem Wächter anzudeuten, dass er sich nicht solche Freiheiten erlauben solle. Dann ging ich davon und klackerte in diesem schrecklichen Schuhwerk die Treppe hinunter. Ich schwankte wohl ein wenig und wäre einmal sogar fast vornübergefallen.
»Sind Sie sicher, dass mit Ihnen alles in Ordnung ist, Miss Cruickshanks?«, rief der Wächter hinter mir her.
Meine Antwort war ein wütendes »Pssst!«.
Hoffentlich war es damit erledigt. Ich bog um die Ecke, ließ das Kinderzimmer hinter mir und ging weiter hinunter bis zum Erdgeschoss von Bay Leaf House. Bis dahin hatte mich niemand aufgehalten. Jeder meiner unsicheren Schritte brachte mich dem Erfolg näher. Endlich gelangte ich in eins der Dienstzimmer, in dem sich Menschen für ihr Tagewerk bereit machten. Überall standen Arbeitstische, verliefen Rohrleitungen, hasteten Menschen hin und her. Ich ging zwischen ihnen hindurch.
Manchmal blieben Leute stehen und verbeugten sich vor mir, aber ich ging unbeirrt weiter. Plötzlich ertönte ein ohrenbetäubendes Kreischen – und ich hätte beinahe aufgeschrien: Sie sind mir auf die Schliche gekommen! Sie haben mich entdeckt. Aber es war nur der Lärm der schwarzen Dampflokomotive, die aus den Müllbergen kommend hier einfuhr. Um die Zeit kam der alte Mann immer, um in Bay Leaf House seiner Arbeit nachzugehen. Früher hätte ich mich über dieses Geräusch gefreut, es hätte mich aufgemuntert. Aber jetzt nicht mehr. Ich ging weiter, Leute liefen an mir vorbei. Weiter, mahnte ich mich, zügig weitergehen. Und dort, direkt vor mir war der Haupteingang, der Ausweg aus diesem Haus. Ich ging tatsächlich darauf zu, und der Pförtner öffnete tatsächlich die Tür. Und da ging ich einfach durch, ich und kein anderer. Dann stöckelte ich schnurstracks auf das äußere Tor zu und räusperte mich.
»Lass mich hinaus«, sagte ich so energisch wie möglich.
»Sie wollen ausgehen, Miss? Nach Foulsham?«
»Ja, raus«, nuschelte ich.
»Jawohl, Miss, wenn Sie sicher sind.«
Ich nickte, das Tor wurde geöffnet, und ich war draußen. Ich eilte weiter die Straße hinunter. Die Straße! Ich kam an dem hohen weißen Gebäude vorbei, das ich aus meinem Fenster so oft beobachtet hatte. Jetzt konnte ich es von der anderen Seite sehen und mehr davon wahrnehmen als vorher. Auf der vorderen Mauer war ein Schriftzug, der sagte: MRS WHITINGS SAUBERES HAUS – ZIMMER ZU VERMIETEN.
Ein merkwürdiger kleiner Mann, der mit einem Besen die Eingangstreppe fegte, starrte mich an. Ich lief so schnell ich konnte weiter. Hinein nach Foulsham.
Es war kalt hier draußen! Das hatte ich erst gar nicht gespürt, aber außerhalb der Fabrik war mir so kalt, als könnte ich nie wieder warm werden. Aus meinem Mund kam Dampf wie bei einer Lokomotive. Wie ich jetzt meine Medizin vermisste! Was hätte ich für einen Löffel voll gegeben! Aber ich war frei, ich war draußen. Überall standen baufällige Häuser, und Leute waren so früh noch nicht viele unterwegs. Die Sonne war inzwischen aufgegangen, gerade so eben. Sie gab sich alle Mühe durchzudringen. Von fern hörte ich, wie der Müll hinter der Mauer rumorte. Die Luft war voll Asche und Ruß.
Ich versteckte mich hinter einer armseligen Hütte. Dort zog ich das Kleid aus, riss mir das ganze Cruickshanks-Zeug vom Leib und stand in meinen eigenen Sachen da, wieder ganz ich selbst. Schuhe hatte ich nicht, die hatte ich vergessen mitzunehmen. Aber das war nicht wichtig. Die meisten Kinder aus Foulsham, die ich aus meinem Fenster beobachtet hatte, trugen entweder gar keine Schuhe oder hatten Lappen an den Füßen. Ich riss Streifen aus Miss Cruickshanks’ Kleid und band sie um meine Füße. Endgültig draußen und weg von Bay Leaf House! Ich wollte zuallererst diese große Fabrik so weit wie möglich hinter mir lassen, deshalb stolperte ich weiter, wagte nicht, jemandem ins Gesicht zu sehen. Nur vorankommen wollte ich. Irgendwann würde ich Fragen stellen müssen, Auskünfte brauchen. So viel war mir klar. Ich hatte meinen halben Sovereign in der Tasche, und den hielt ich gut fest. Ich wärmte ihn. Er kam mir fast wie ein Vertrauter vor. Vielleicht war dieser Sovereign wirklich mal ein Mensch gewesen. Nur, wie konnte das sein? Das wäre doch allzu unwahrscheinlich. Ach, egal, wer oder was er sein mochte, mein Sovereign, ich war froh, dass ich ihn hatte.
Ich war zurück in Filching, das jetzt Foulsham hieß.
Endlich.
Und ich stürzte mich hinein. Also los, James Henry, streng dich an! Ich bog um eine Ecke und kam in belebtere Straßen. Grobschlächtige Menschen in schmutzigen Kleidern saßen in der Gosse, zerlumpte Kinder rannten herum, sie sahen so anders aus als ich, so dreckig. Langsam ging ich weiter, längst nicht mehr fröhlich. Ich hatte nicht gedacht, dass ich so auffallen würde. Trotz meiner mit Stoff umwickelten Füße war ich zu gut gekleidet. Überall schauten mich die Leute an. Ich passte nicht hierher, ich gehörte nicht hierher. Aber ich konnte auch nicht zurück.
»Kann ich dir helfen?«, fragte jemand.
Und statt zu antworten, drehte ich mich um und lief davon.
»Was ist denn mit dem los?«
»Wird wohl nichts Gutes im Schilde führen.«
»Was hat er getan, dass er so davonrennt?«
Leute kamen hinter mir her, es wurden immer mehr. »Wer bist du? Wie heißt du?«, riefen sie. »Warte doch mal. Warte, red mit uns! Du bist doch nicht etwa dieser Schneider? He, feine Klamotten hast du an! Komm, sag was!«
Kinder folgten mir, sie fanden die Sache höchst unterhaltsam, rannten und hüpften hinter mir her und sangen:
Spuck, Spick, Speck,
wohin rollst du denn?
Du kommst nicht weg
vom Müllplatz in Forlichingham.
Ritsch, Ratsch, Rutsch,
bist ja doch gleich futsch!
Rutschst und stolperst, Kopf voran,
im Müll von Filching kommst du an.
Dieses Lied kannte ich. In meinem Kopf regte sich eine Ahnung, dass ich es selbst gesungen hatte, als ich klein war, dass ich selbst durch diese schmutzigen Straßen gehüpft war. Hilfe, oh, Hilfe! Es mussten inzwischen mehr als zwanzig Kinder sein, die mich verfolgten.
»Lasst mich in Ruhe!«, schrie ich, aber sie liefen mir trotzdem nach. Plötzlich war mir der Weg versperrt von einem großen, breitschultrigen Mann mit einem verbeulten Hut.
»Du hast wohl was?«, sagte er. »Etwas, das ich gern hätte? Ja? Hast du? Was ist es denn? Bei uns in Foulsham wird geteilt, gib’s mir. Gib her! Ich will’s haben. Wer sagt, dass es deins ist, wo’s doch schon die ganze Zeit mir gehört hat?«
Er streckte eine grobe, hässliche Hand aus. Ich tat, als wühlte ich in meinen Taschen – und schon bückte ich mich und flitzte in eine andere Straße.
»Es ist meins!«, hörte ich den Mann schreien. »Was der da hat, gehört mir! Packt ihn! Reißt ihn nieder, den feisten Burschen!«
Ich war gerade vor einem Haus angekommen, aus dessen schiefem Schornstein Rauch quoll. Auf der Fensterscheibe stand BACKWAREN FOULSHAM, und dort sauste ich hinein. Klapprige Tische, Leute im Zwielicht eines verqualmten Raumes. Alle drehten sich um, als ich hereinkam. Ich schloss die Tür hinter mir. Draußen vor dem Fenster drängten sich die schmuddeligen Kinder und linsten herein. Ich konnte da unmöglich wieder hinaus. Ich würde einfach nicht weggehen, würde mich eine Weile hier aufhalten und verschnaufen. Irgendwann würde es diesen Kindern bestimmt langweilig werden, und erst dann würde ich den Laden verlassen, keine Minute früher.
Ein dünnes Mädchen mit einer speckigen Schürze kam auf mich zu.
»Kennst du das Rattenhaus?«, fragte ich.
»Was kriegst du?«, fragte sie zurück.
»Verzeihung«, sagte ich, »tut mir wirklich leid, ich möchte auch nicht weiter stören, aber kennst du …«
»Mir egal, was dir leidtut. Das interessiert mich nicht. Was kriegst du?«