Die schnelle und die langsame Liebe - Dr. phil. Wolfgang Schmidbauer - E-Book

Die schnelle und die langsame Liebe E-Book

Dr. phil. Wolfgang Schmidbauer

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Beschreibung

Eine funktionierende Paarbeziehung – viele wünschen es sich, manche erleben es. Doch woran liegt es, dass Liebe hält oder scheitert?  Wolfgang Schmidbauer macht ein generationenübergreifendes Grundproblem aus: Wir vergleichen und rechnen auf – "Du liebst mich weniger als ich dich", "Ich tue mehr für die Beziehung als du". So, als wäre die Liebe ein gewinnorientiertes Unternehmen. Dass Liebe so nicht funktioniert, zeigen diese Erzählungen über langjährige und sporadische Paare, flüchtige und wiederkehrende Begegnungen, Entwicklungen vor und nach dem ersten Sex. Leserinnen und Leser erleben die Handlungen hautnah mit und profitieren von Expertenwissen und weitreichender Praxiserfahrung des bekannten Paartherapeuten.

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Seitenzahl: 320

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Impressum

© eBook: 2023 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

© Printausgabe: 2023 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

Gräfe und Unzer ist eine eingetragene Marke der GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, www.gu.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie Verbreitung durch Bild, Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Projektleitung: Ariane Hug

Lektorat: Ulrike Auras

Covergestaltung: ki36 Editorial Design, München, Katja Wohnrath

eBook-Herstellung: Pia Schwarzmann

ISBN 978-3-8338-8945-5

1. Auflage 2023

Bildnachweis

Syndication: www.seasons.agency

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Wichtiger Hinweis

Die Gedanken, Methoden und Anregungen in diesem Buch stellen die Meinung bzw. Erfahrung der Verfasserin dar. Sie wurden von der Autorin nach bestem Wissen erstellt und mit größtmöglicher Sorgfalt geprüft. Sie bieten jedoch keinen Ersatz für persönlichen kompetenten medizinischen Rat. Jede Leserin, jeder Leser ist für das eigene Tun und Lassen auch weiterhin selbst verantwortlich. Weder Autorin noch Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus den im Buch gegebenen praktischen Hinweisen resultieren, eine Haftung übernehmen.

Woran liegt es, ob Liebe Bestand hat oder scheitert? Ob sich aus dem berauschenden anfänglichen Begehren eine verlässliche Lebenspartnerschaft entwickelt? Ob das Feuer der schnellen Liebe als wärmende Kraft in der langsamen weiterlodert?

Erwartungen an sich selbst sowie an den anderen, Prägungen durch Elternhaus und Zeitgeist, die Sorge, nicht zu genügen, all das sind Stolpersteine. Offenheit, Respekt und Wert­schätzung sowie die Bereitschaft, sich auf einen gemeinsamen Weg einzulassen, zu verzeihen und neu zu beginnen – auf solchem Boden dagegen kann eine stabile und liebevolle Partnerschaft gedeihen.

Die Geschichten in diesem Buch handeln von verschiedenen Facetten der Liebe und sind durchdrungen vom Experten­wissen des renommierten Autors und Paartherapeuten Wolfgang Schmidbauer.

EINLEITUNG

Ohne ihre schnellen Aspekte verliert die Liebe die Freude; ohne ihre langsamen den Halt. Sie entwickelt sich, wenn sie schnell sein darf und langsam sein kann. Nicht die krisenfreie Liebe ist stabil, sondern die krisenerprobte; nicht Streit führt zu bleibenden Störungen, sondern ein Mangel an erotischer Versöhnung.

Oft erinnern sich Paare mit Sehnsucht an eine romantische Frühzeit ungestörter Nähe. Sie können die böse Szene nicht vergessen, in der diese funkelnde Kristallschale einen Knacks bekam. Nie wieder wurde sie so wie früher! Besonders fatal kann das werden, wenn vermeintlich klar ist, wer an dem Sprung im Glück schuldig ist. Aus dem Gewinn: So habe ich dich genauer kennengelernt, wird ein Verlust: Du hast meine Illusion kaputt gemacht.

Der Knacksgedanke befremdet, wenn wir uns vor Augen führen, dass Liebe zwischen Organismen doch selbst etwas ist wie ein Lebewesen mit den entsprechenden Selbstheilungskräften. Wunden vernarben, Mückenstiche hören irgendwann auf zu jucken – was also soll das Bild vom Bruch? Es importiert eine gläserne Radikalität, die dem einfacheren Leben vor Geldwirtschaft und Leistungsdenken noch fremd war, in die Liebe. Der Partner muss sich, wie der Profit, in genau die Richtung ent­wickeln, die mir vorschwebt. Ich darf nicht aufhören, an die Gefahr der Insolvenzen zu denken, die von einem Gegenüber ausgehen, das weniger auf das Liebeskonto einzahlt als ich.

Die Erfahrung, zu wenig geliebt zu werden, zu wenig Aufmerksamkeit zu bekommen, wird in einer kapitalistisch geprägten Erlebniswelt zur Drohung schlechthin. In Tauschwirtschaften oder Jägerkulturen erleben Erwachsene jeden Tag Misserfolge und Erfolge. Heute wächst die Angst, grundsätzlich nicht wertvoll genug zu sein für einen angesehenen Platz in der Welt. Die narzisstischen Wünsche werden zum Lebensziel: von einem bewunderten Partner ebenfalls bewundert zu werden und auf diesem Weg ein stabiles Selbstgefühl zu gewinnen. Entsprechend gefährlich sind die Abstürze in Unverständnis, ja Fassungslosigkeit, wenn dieser Handel misslingt.

Es ist die große Liebesillusion der kapitalistischen Welt, dass Liebende die gleiche Bank haben. Im Konflikt wird klar, dass oft nicht einmal die Währung passt. Wenn wir uns darauf einigen könnten, dass wir alle (auch) Säugetiere sind, wäre es doch ein wenig einfacher. Auch der Psychoanalytiker steht nicht über den animalischen Leidenschaften, er ringt mit ihnen wie andere Menschen auch. Nur in den Ruhepausen mag ein ironischer Blick auf jene fallen, die einen sicheren Platz über dem Getümmel erhoffen und ängstlich nach unten blicken, ob die Stützen ihrer Hochsitze morsch sein könnten.

Geschichten voller Scham und Verworrenheit dem Liebsten zu erzählen ist besser, als zu schweigen. Mit ihm zu schweigen ist besser, als verlassen zu werden. Wer seine Liebe verliert, den streift der Schatten des Todes. Und doch kann eine zweite, eine dritte Liebe schöner werden als die erste. Das wird aber nur möglich sein, wenn es uns gelingt, die alten Lieben in Geschichten zu verwandeln, die wir unbefangen erzählen können.

Das neu hinzugekommene Kind in der Schar Gleichaltriger auf dem Spielplatz blickt um sich. Es verliebt sich, ein wenig, lädt zum Spielen ein, verbindet sich, löst sich, weil das Gegenüber nicht mehr mag, blickt um sich, findet Ersatz. Der Versuch, sich zu binden, gelingt oder scheitert, entmutigt aber nicht, ihn zu wiederholen.

Die Ausdruckskraft des Kindes, das die Welt der Gespielen und Gespielinnen entdeckt, bezaubert den erwachsenen Beobachter. Dabei verwirkt er womöglich gerade den ernsten Gedanken, was wir vom Kind lernen sollten, um aufmerksamer zu werden für die Schäden, die ein auf Effektivität ausgerichtetes Denken in der Beziehungswelt anrichtet. In Liebeswerben und Enttäuschungszorn bleibt diese frühe Blüte der Offenheit vielfältiger, freier, aber auch verletzlicher als die von der Gesellschaft überwachten Verliebtheiten der Erwachsenen, in denen Schamgefühl, Rückzug und manchmal auch die Flucht nach vorn ein raues Klima schaffen. Glücklich die Erwachsenen, denen die ödipalen Geschenke nicht geraubt wurden. Sie werden Freude am Flirt behalten und Niederlagen mit Humor verarbeiten.

Spielenden Kleinkindern ist die Angst vor Nähe noch fremd, die Erwachsene ebenso plagen kann wie ihr Gegenbild, die (enttäuschte) Sehnsucht nach Verschmelzung. Wo das Kind sich seiner Hingabe nicht schämt und Absagen eher lästig findet als verletzend, verbinden wir später Ablehnung mit Wertlosigkeit und suchen Sicherheit in technischen Lösungen. Diese versprechen, den Unsicherheiten zu entgehen, welche sich zwischen der flüchtigen Emotion und der verlässlichen Bindung ansiedeln.

Heute gibt es digitale Apparaturen, die den Schmerz einer Absage ersparen wie der Rollstuhl den Muskelkater. Die Konstrukteure von Partnersuch-Apps haben versprochen, Zurückweisungen im Verborgenen zu lassen, nur das gemeinsam Zündende darf an die Oberfläche. Einfacher ist das Liebesleben dadurch gewiss nicht geworden, nur schneller. Es sind und bleiben aber allein die langsamen Entwicklungen, die unserem Leben Halt geben. Wer Räume schaffen will, in denen sich Liebesbeziehungen entfalten können, muss sich auf etwas einlassen, das sich nicht mehr von heute auf morgen auflösen und ungeschehen machen lässt.

Wer zusammen mit der Liebsten in Urlaub fährt, wer mit ihr oder ihm eine Wohnung mietet, einen Garten anlegt, ein Kind bekommt, schafft auch Hindernisse, die sich der Absicht widersetzen, das Weite zu suchen. Wo das gemeinsame Leben aufrechterhalten und die Verantwortung für Kinder geteilt werden soll, müssen die schnellen Kräfte gebändigt werden.

Beziehungen zaubern sich herbei, wenn wir sie nur lassen. Das nach Spielgefährten Ausschau haltende Kleinkind schlummert in uns. Es kann sich in jedem Raum beleben, in dem neue Menschen sind. Leider fällt das vielen Erwachsenen schwer. Sie können frühe, ängstigende Erfahrungen nicht loslassen. In der Überwindung solcher Hemmungen helfen psychologische Einsichten und psychotherapeutische Techniken. Aber sie sind ­ihrerseits auch Teil eines Leitungsprinzips, das die spontane Entfaltung der Liebe und die unbefangene Bereitschaft ­lähmen kann, einander zu verzeihen und von vorn anzufangen, ohne endlos über den Knacks und die Schuldfrage zu sprechen. ­Diagnosen und Fachausdrücke haben im intimen Dialog von ­Paaren nichts zu suchen, auch dann nicht, wenn beide studierte Psychologen oder Ärzte sind; noch weniger, wenn nur ein Teil mit solchen Werkzeugen hantiert. Darin steckt eine verborgene Gewalt, die so wenig zu Gutem führen kann wie in den Dialog der Partner eingeführte Zitate aus der Ratgeberliteratur.

Ich habe in diesen Texten den zielgerichteten Umgang des Therapeuten mit Paarproblemen gegen die pure Erzählung getauscht, wie sich ein Seefahrer hinaustreiben lässt ins Offene. Auf dem literarischen Feld gleicht das in meinen Augen dem Versuch, begriffliche Apparate auszuschalten, mit deren Hilfe Menschen zu einem Fall geformt werden. Es reizte mich, Figuren zu erfinden und sie miteinander zu verbinden, sie auf den Weg ins Unbekannte zu schicken, an Helden und Heldinnen zu denken, die den Drachen nicht besiegen, sondern von ihm gefressen werden und seine Eingeweide durchwandern. Alle auftretenden Personen entspringen meiner Einbildungskraft, ebenso wie das erzählende Ich unvermeidlich ein Teil von mir und doch nicht mit der realen Person des Autors zu verwechseln ist.

München, im August 2022

Wolfgang Schmidbauer

BLINDFLUG – ­GEGENSÄTZE ZIEHEN SICH AN

Sein Vater hatte in einer Bank gearbeitet und war in einem Job hängen geblieben, den sonst keiner wollte, weil der einen überall unbeliebt machte. Er war Revisor, besuchte unangemeldet die Filialen in seinem Bezirk und prüfte, ob auch alle Vorgänge vorschriftsmäßig abliefen. Darin war er gut, wurde immer besser, von vielen gehasst, von wenigen geschätzt. Er machte keine Fehler; die Fehler machten die anderen. Zu Hause war der Eigenbrötler immer in Gedanken versunken, nicht böse, wenn ihn die Mutter störte oder der Sohn eine Frage zu einer Rechenaufgabe hatte, aber ohne Interesse, ganz freudlos tat er das Verlangte mit dem Ausdruck »Wenn es denn sein muss!«. So wurde nicht viel von ihm verlangt.

Anfangs hatte sich die Mutter manchmal beim Vater beschwert, das sei kein Leben, sie habe keine Freude, für ihn gebe es nur seine Arbeit. Dann zeigte der Vater um sich herum, auf den Kühlschrank, den Fernseher, die Wohnwand, noch eine Drehung, die galt dem Haus, noch eine für den Garten, sie hatten doch ­alles, das hatte er verdient und aufgebaut, wenn ihr das nicht reiche, dann solle sie sich doch umsehen nach einem besseren Mann.

»Früher war er nicht so«, sagte die Mutter über den Vater. »Er wird jetzt dem Opa immer ähnlicher. Der hat sich auch über nichts freuen können. Aber bei dem Opa hat es jeder verstanden. Der war in Stalingrad gewesen und dann in Sibirien, und als er zurückkam, hat er immer gefroren, saß im Winter neben dem Ofen und ging im Sommer nie ohne Schal und Mütze, und er redete nur über das Essen und über seine Arbeit in der Kirche. Er war Mesner, man hätte dort vom Fußboden essen können. Aber dein Vater war ganz anders, der war ein lustiger Bursche, vor allem, wenn er etwas getrunken hatte, er hat getanzt, ist Moped gefahren und hatte Freunde. Ich habe ihn im Chor kennengelernt, den wir damals in der Pfarrei hatten, als der junge Pfarrer noch da war, der jetzt geheiratet hat und nur noch Religionslehrer ist. Der hat uns getraut, den haben wir beide gemocht, damals haben wir noch diesen Brief an den Bischof unterschrieben, dass er bleiben soll und wir lieber einen guten verheirateten Pfarrer haben als irgendeinen Holzkopf und Messgewandständer. Aber es hat nichts genützt. Dass dein Vater zur Bank gegangen ist, das hat dem Opa gepasst, auch wenn er nie etwas gelobt hat. Dann wurde ich schwanger und wir haben geheiratet, er hat eine besser bezahlte Stelle gefunden und ist immer verschlossener geworden, er war oft tagelang unterwegs. Ich habe gedacht, er freut sich auf ein Kind, auf eine richtige Familie, ich hätte auch gerne noch mehr Kinder gehabt. Aber es war nichts damit.«

»Nimm ihn nicht so wichtig«, versuchte er die Mutter zu trösten. »Wir haben ja uns!« Er wusste, dass sie das hören wollte.

War Klaus deshalb ein braves, pflegeleichtes Kind, weil die Mutter schon genug Kummer mit dem Vater hatte? Oder war er einfach zu bequem, zu einfallslos? Jedenfalls wurde er ein ordentlicher Schüler, erreichte immer das Klassenziel, spielte in der Schulmannschaft des Gymnasiums Basketball. Er war nicht groß gewachsen, aber schnell, hatte ein gutes Auge, gab den Ball lieber weiter, als etwas Riskantes zu versuchen.

Er war von auffälliger Unauffälligkeit, wurde stellvertretender Mannschaftskapitän, war weder besonders beliebt – dazu war er zu zurückhaltend und vorsichtig – noch unbeliebt – dafür war er zu ernst und wachsam. Und weil er so wenig Angriffs­flächen bot, wurde er auch nie Ziel von Scherzen oder Spott wie andere, die entweder zu früh oder zu spät mit einer Freundin gingen oder sich ins Koma tranken.

Er konnte sich keinen Grund denken, warum er den Tag über immer unter Spannung stand und ihn manchmal der ­Nacken schmerzte, warum er eigentlich erst abends Appetit hatte und ihm morgens allein schon vom Gedanken an ein Frühstück übel wurde, warum das Mittagessen seinen Körper fast ebenso schnell wieder verließ, wie er es sich seiner Mutter zuliebe hineingeschaufelt hatte. Abends dachte er fast zärtlich an sein Bett, an den Frieden, den er dort gleich finden würde, daran, dass dann viele Stunden niemand etwas von ihm wollte. Jetzt aß er auch mit Genuss und verstand nicht, warum das nicht immer so war. Ging es anderen auch so, dass der Morgen nicht an den vorhergehenden Abend anknüpfte, sondern an den Morgen vor diesem Abend, die friedliche Stimmung am Abend erst wieder denkbar wurde, wenn sich auch diesmal der Tag neigte und getan war, was getan werden musste?

Klaus bewegte sich gern, nein, das war vielleicht falsch gesagt: Er war nicht gern lange an einem Platz, saß nicht gern still, außer am Abend. So war er viel zu Fuß unterwegs. Als ihm die Eltern sein erstes Rad schenkten, entdeckte er, dass Fahren noch viel besser war als Gehen oder Laufen. Solange er radelte und sich darauf konzentrierte, war seine Anspannung fast verschwunden. Er entdeckte Aufgaben, die seine Konzentration noch steigerten: die richtige Linie auf der Straße zu finden, Hindernissen auszuweichen, so genau zu bremsen, dass er eine Handbreit vor der Ampel oder der geschlossenen Bahnschranke zum Stehen kam.

Seine Klassenkameraden kümmerten sich nicht um ihre Fahrräder. Sie ließen sie verdrecken, fuhren weiter, wenn die Kette krachte oder das Schutzblech klapperte. Wenn ihre Eltern sein Rad neben den Rädern ihrer Söhne und Töchter sahen, sagten sie: »Schaut, der Klausi, der liebt sein Rad, der pflegt es!« War das Liebe, wenn man etwas brauchte, damit es einem nicht schlecht ging?

Wenn die Luft an ihm vorbeistrich, die Alleebäume ihm entgegenstürmten, hinter ihm verschwanden und schon der nächste auf ihn zukam, stellte sich fast so etwas wie ein ­gutes Gefühl ein, auf jeden Fall eine starke Abschwächung der schlechten Gefühle. Es war nicht zum Jubeln und Jauchzen, aber daraus ließ sich etwas machen. Schnell sollte die Bewegung sein, dachte er, und fast ohne zu wissen, dass er es wusste, überlegte er, wie er mit möglichst wenig Aufwand möglichst schnell fahren konnte. Er forschte nach, entdeckte, dass es im Internet Menschen gab, die sich gründlicher mit solchen Fragen beschäftigten, als er es je für möglich gehalten hatte, und war bald einer von ihnen. Erst ging es nur um Kleinigkeiten wie den Luftdruck, die Reifen, die Spannung der Speichen. Nach drei Jahren gelang es ihm, die Eltern zu überzeugen, dass er ein neues Fahrrad brauchte, auf alle anderen Geschenke zu Weihnachten verzichte er, er wolle auch erst einmal nur die Grundausstattung für eine richtige Maschine. Er sagte inzwischen »Maschine«, daran erkannte man die ernsthaften Fahrer, das hatte er in seinem Blog gelesen.

Er war drahtig, fuhr an einem Nachmittag manchmal hundert Kilometer, fand seine Lieblingsstrecken über die Dörfer, die Mutter packte ihm Müsliriegel ein, die Wasserbeutel in seinem Trinkrucksack füllte er selbst.

Auf einer dieser Fahrten durch ein landwirtschaftlich kaum genutztes Moorgebiet kam er an einem kleinen Flugplatz vorbei. Der lag am Rande eines Sees, in dem das benachbarte Kloster früher die Karpfen für das Fastenessen der Mönche gezüchtet hatte. Klaus fuhr diese Strecke jetzt oft, die Straßen waren asphal­tiert, aber schmal, nur gelegentlich traf er auf einen Förster oder den Traktor eines Bauern, an den Wochenenden auf Wanderer, die ihre Autos im Schatten schütterer Baumgruppen aus Weiden und Birken geparkt hatten.

Wenn Betrieb auf dem Flugplatz war, hielt er an, setzte sich ins Gras und beobachtete das Geschehen. Die Männer schoben einen Flieger mit schmalem Körper und langen Tragflächen aus einer Halle, der man noch ansah, dass sie früher einmal eine große Scheune gewesen war. Vielleicht hatte sie auch zum Kloster gehört, in dem schon lange keine Mönche mehr lebten. Es sei säkularisiert worden, hatte er auf einer Tafel gelesen, wusste jedoch nicht, was das bedeutete.

Die Männer schoben den Flieger in die Mitte einer sehr ebenen Wiese, die an zwei gegenüberliegenden Seiten von weißen Markierungen gesäumt war. Einer stieg in ein kleines Auto und fuhr zu einem Häuschen, das weitab am Ende der Startbahn lag; andere hoben ein Seil aus der Wiese und befestigten es an dem weißen Flugzeug. Dann trat einer der Männer an den Rumpf und stieg an einer kurzen Leiter hoch, öffnete eine kleine durchsichtige Kuppel, kletterte hinein und schloss die Kuppel wieder.

In dem Häuschen tuckerte ein Motor. Das Seil spannte sich, ein daran befestigtes Fähnchen näherte sich einem Pfosten, an dem etwas wie ein Schlauch hing, der sich in jedem Lufthauch drehte. Das weiße Flugzeug glitt über den Rasen, erhob sich schnell und steil in die Luft, das schwarze Seil wurde schlaff, löste sich von dem Rumpf und sank an einem kleinen Fallschirm zu Boden, während der Flieger lautlos über das Häuschen mit der Motorwinde hinwegglitt und bald über dem Südhang des nahe gelegenen Peißenbergs kreiste. Manchmal schnitten die Flügel in eine der tief hängenden weißen Wolken.

Auf dem Weg nach Hause fuhr er an einem langen, sanften Gefälle hügelab freihändig, breitete die Arme aus und schloss die Augen, um sich hinaufzuträumen in diese Wolken. Er spürte den Wind, den sanften Druck auf Augenlidern und Schenkeln, aber er war viel zu vorsichtig, um dieses Spiel fortzusetzen. Er schaute wieder auf die Straße, korrigierte seinen Kurs und hielt den Wunsch fest, auch in einem dieser künstlichen Vögel zu ­sitzen.

Er war inzwischen fünfzehn. Wenn die Eltern einverstanden wären, dürfte er in diesem Alter fliegen. Natürlich nur mit ­einem Lehrer zusammen. Aber ohne die Unterschrift eines Erziehungsberechtigten konnte er nicht in den Verein, der den Flugplatz unterhielt und in dem jedes zweite Jahr ein Kurs für die Jungmitglieder begann. Seinen Wunsch durchzusetzen war unmöglich. Sein Vater fand ihn blöd. Wozu sollte es gut sein, ­einen Vereinsbeitrag zu bezahlen, nur um Menschen völlig sinnlos in die Luft zu katapultieren? Nein, dafür wurde kein Geld aus­gegeben, basta. Und die Mutter, auf die Klaus seine Hoffnung gesetzt hatte, fand die Sache zu gefährlich.

Er widersprach weder dem Vater noch der Mutter, dem ­Vater nicht, weil das keinen Sinn hatte, der Mutter nicht, weil er sie nicht kränken wollte, sie hatte Kummer genug. Er musste warten, bis er 18 Jahre alt war. In der Zwischenzeit konnte er träumen. Warum, beispielsweise, war er ein Mensch und kein Vogel? Und wenn er ein Vogel wäre, welcher Vogel sollte es sein? Der Uhu, unsichtbar, lautlos auf Beuteflug? Der Adler, der hoch im Gebirge auf unzugänglichen Klippen nistet? Der Kondor, der größte Vogel überhaupt, was die Spannweite der Flügel angeht, einer der besten Segelflieger? Oder der Albatros, der im Fliegen schläft und die unterschiedlichen Windgeschwindigkeiten dicht über der Meeresoberfläche nutzt, um mühelos tage- und wochenlang zu gleiten?

Er las, dass auch Segelflieger diese Luftwirbel nutzen, es aber gefährlich ist, dicht am Boden oder an einer Wasseroberfläche zu fliegen. Mit Modellflugzeugen gab es diese Sorgen nicht. Vielleicht konnte er einen Albatros bauen? Er versuchte es mit ­einem Bausatz aus dem Spielzeugladen, klebte die Brettchen aus dem leichten Balsaholz zusammen und zog los. Wie es in der Anleitung stand, hatte er einen sonnenbeschienenen Hang gesucht, um die Thermik zu nutzen. Aber es machte keinen Unterschied, ob er nun gegen den Wind startete oder mit dem Wind, am Morgen oder am Abend, unter einer Wolkendecke oder in praller Sonne: Der Holzflügler stieg kurz in die Höhe, ging in einen kleinen Sturzflug über, fing sich, stürzte wieder. So ging es drei-, höchstens viermal, dann berührte er den Boden und kam nicht wieder hoch. Wenn er mit einer Flügelspitze aufkam, lösten sich die Tragflächen vom Rumpf. Klaus steckte sie dann wieder zusammen, hakte den Gummizug ein, probierte es noch einmal. Aber das Ding flog kaum besser als ein Papierflieger, wie ihn sich Kinder falten.

Klaus forschte weiter, tastete sich durch Blogs von Modellbauern und Websites von Segelflugverbänden, schrieb Buchtitel auf seinen Wunschzettel, bestellte einen Baukasten für ein größeres Modellflugzeug und notierte mit Druckbuchstaben jedes Wort, das er nicht kannte, in ein Schulheft. Er lernte die Wörter und die Übersetzungen auswendig und verstand allmählich, was unter ernsthaften Modellbauern diskutiert wurde. An seinem siebzehnten Geburtstag bekam er einen Bausatz für ein ferngesteuertes Segelflugzeug mit anderthalb Metern Spannweite. Es war teuer, aber die Mutter scheute die Kosten nicht, wenn nur ihr lieber Klausi auf sicherem Grund blieb.

Inzwischen war er ein geübter Bastler, konnte mit Klebepistole und Lötkolben umgehen. Er setzte die kleinen Elektromagnete in das Höhen- und Seitenruder ein, verband sie mit dem Empfänger und probierte, ob sie auf die Bewegungen des Joysticks reagierten, der aus dem Batteriepack der Sendeeinheit ragte. Er studierte die Leuchtdioden, die anzeigten, wann sein Flieger den sicheren Sendebereich verlassen würde. Es gab Geschichten, dass sich solche Modelle in einem Gewitter selbstständig gemacht hatten und in Entfernungen von vielen Hundert Kilometern aufgefunden worden waren.

Früher waren Segelflugzeugpiloten direkt in Gewitterwolken gestoßen, mit selbst gebastelten Lattenhelmen gegen Hagel­schlag auf dem Kopf und einem Fallschirm auf dem Rücken, falls die heftigen Stürme oder gar ein Blitzschlag die Kiste zerstören würden. Einige waren trotz des Fallschirms umgekommen. Sie waren erstickt und erfroren. Die Aufwinde in einer Gewitterwolke können den Unerfahrenen wie in einem Aufzug in Höhen katapultieren, in denen die Luft dünn wird und grausame Kälte in die Lunge schneidet.

Er las solche Geschichten am liebsten nachts, vor dem Einschlafen, wenn die Anspannung nachließ und er allmählich ­ruhig wurde. Er war fasziniert von den Rhönindianern, jungen Fliegern, denen der Versailler Vertrag den Motorflug verbot. Sie hatten ein Lager auf der Wasserkuppe aufgeschlagen und aus Tannenholz und Bettlaken Segelflieger gebaut, die sie mithilfe von Gummiseilen oder sogar im schlichten Anlauf wie einst Lilien­thal starteten. Sie lebten von Erbswurst und alt­backenem Brot. Mal gingen ihre Flieger zu Bruch, mal brachen sie ­Rekorde. Die jähen Höhenstürme in Gewitterwolken fürchteten sie nicht.

Neben seinem letzten Modell wirkten die ersten Flugzeuge auf der Röhn oder auch die in Rossitten auf der kurischen Nehrung wie Frachtsegelschiffe neben einer Rennyacht. Er konnte es bald stundenlang in der Luft halten, wenn die Thermik passte oder er zwei Luftschichten fand, die unterschiedlich schnell ­waren. Es war ein Spiel, das er sehr ernst nahm, weil es auf wichtigere Aufgaben vorbereitete.

Er sagte zu Hause nicht Bescheid, als er am Tag nach seinem achtzehnten Geburtstag in den Aeroclub ging und sich anmeldete: Die Kursgebühr war im Mitgliedsbeitrag enthalten, er hatte sich von den Eltern Geld gewünscht, für die Abiturreise. Mama sollte sich keine Sorgen machen. Im Theorieunterricht langweilte er sich, denn er wusste ebenso viel wie der Lehrer über Aerodynamik und mehr als dieser über Flugzeugkonstruktion. Der Lehrer war ein selbstbewusster und praktischer Mann, ein erfahrener Flieger, dem schnell auffiel, mit welch ungewöhnlichem Ernst dieser Anwärter bei der Sache war. Nach einem Viertel­jahr war Klaus sein Stellvertreter. Er unterrichtete die technischen Fächer und brachte manchmal eines seiner ­Modelle mit, um den Sinn von bestimmten Konstruktionsdetails zu demonstrieren.

Er richtete sein Zimmer neu ein, räumte die Steifftiere, die seine Mutter ihm zu jedem Geburtstag geschenkt hatte, die Bilderbücher, die Tischtennis- und Federballschläger in Kisten und stellte diese in den Keller. Die Poster von berühmten Radrennfahrern nahm er ab und strich den Raum in einem klaren, hellen Blau. Seine Mutter war entsetzt über die kalte Farbe. Aber sie sah ein, dass die Flugzeugmodelle, die jetzt als einziger Schmuck des Zimmers von der Decke hingen, vor diesem Hintergrund besser wirkten. Im Bücherregal standen die Biografien berühmter Segelflieger, eine Chronik der Röhnindianer und Fachliteratur über Flugzeugkonstruktion, Zugvögel und computergestützte Steuerungen.

Der Vater zuckte die Achseln und sagte zur Mutter: »Jedes Jahr ein teures Steifftier, damit am Ende alle in den Keller geräumt werden!«

»Aber sie haben ihn doch gefreut«, setzte die Mutter da­gegen, »gell, Klausi?«

»Natürlich haben sie mich gefreut, aber es wäre mir lieber, wenn du Klaus sagen würdest!«

»Aber du bleibst doch mein Klausi!«, erwiderte die Mutter zärtlich.

»Natürlich, aber es kostet dich doch keine Mühe, das i wegzulassen!«

»Genau«, sagte der Vater, »wenn du schon nicht mit den Plüschtieren sparen kannst, dann wenigstens mit den Buch­staben!«

»Ihr Männer seid euch wieder einig«, schmollte die Mutter.

Die Männer sagten nichts mehr. Nicht weil sie sich einig gewesen wären, sondern weil jeder von ihnen auf seine Weise spürte, dass er nicht der Mann sein wollte, von dem die Mutter redete, und auch weil jeder auf jeweils seine Weise es aufgegeben hatte, der Mutter zu sagen, was er sein wollte. Es schmerzte Klaus, sie so zu sehen, wie sie ins Leere griff und nichts fand, aber auch nicht anders konnte. Er spürte diesen Schmerz auch, wenn er sie nicht sah, die Empfindung war dann aber schwächer und verschwand, wenn er etwas zu tun hatte. Und von allem, was es zu tun gab, war das Fliegen bei Weitem das beste Mittel gegen diesen Schmerz. Wenn er flog, ließ er den Schmerz zurück, löschte ihn nicht nur aus, sondern siegte über ihn, erhob sich über ihn. Er hatte das geahnt, seit er zum ersten Mal gesehen hatte, wie eine dieser zarten Libellen in die Luft gerissen wurde und weiterschwebte, als das Zugseil an seinem Schirmchen zu Boden sank.

Jetzt saß er selbst unter der gläsernen Kuppel, spürte die Beschleunigung, hörte mit halbem Ohr die Anweisung seines Lehrers – und fühlte sich zu Hause, wollte nur noch diese Freiheit, dieses Eintauchen in einen Ozean von Ruhe, von Schwerelosigkeit in sich aufnehmen, speichern, eingravieren, festhalten für immer, für alle Zeiten. Es schien ihm unrecht, an ein Ende dieses Zustandes zu denken, er musste sich ganz von ihm erfüllen lassen und war doch gleichzeitig dabei, mit Höhen- und Seitenruder zu lenken, nach einem Aufwind zu suchen, der ihm ein wenig mehr Höhe verschaffte und ihm half, länger oben zu bleiben. Wie bei allen Übungsflügen war klar, dass sie spätestens nach einer Stunde wieder unten sein würden, andere Schüler warteten. Er würde wieder landen müssen, aber das bedeutete nichts, denn er würde auch wieder fliegen.

Er hatte jetzt etwas wie eine befreite Provinz, einen Brücken­kopf, war bei sich selbst angekommen, ein Eroberer auf ­einem fremden Kontinent. Der Kontinent war er selbst, dieses schwächliche, von der Mutter überwucherte, unfreie Gebilde.

Zu Hause war er jetzt ernst, redete nur kurze Sätze. Die Mutter war besorgt. Er habe weniger Zeit, sagte er ihr, die Schule fordere mehr, der Notendurchschnitt sei wichtig, mehr Einsatz angesagt. Später, wenn er wieder mehr Zeit habe, könne er ihr auch mehr im Haushalt helfen. Sie sagte (und er hatte erwartet, dass sie das sagen würde), nein, nein, darum gehe es nicht, die Hausarbeit sei zwar lästig und oft viel, ein ganzes Haus ohne Hilfe, der Vater sei eben zu geizig, aber es mache ihr Freude, für ihn zu sorgen, noch sei sie so jung und so fit, dass sie das gut erledigen könne, darüber dürfe er sich keine Gedanken machen. Sein Abitur, sein Studium, seine Gesundheit seien wichtiger als ihre Rückenschmerzen und die schlaflosen Nächte, wenn der Vater unterwegs sei und sie fürchte, ihm könne etwas zustoßen. »Mach dir keine Sorgen«, beruhigte Klaus sie, »Vater ist der vorsichtigste Fahrer, den ich kenne, und er wird auch nie aus Benzinmangel stehen bleiben.« Es war eine Marotte des Vaters, immer schon dann zu tanken, wenn die Bezinanzeige zum ersten Mal nach links rückte.

Die Zeit am Flugplatz erklärte er zur Lerngruppe mit Klassenkameraden. Solange die Mutter das glaubte, war sie zufrieden. Am Flughafen hatte er im Sekretariat vorsichtshalber die Telefonnummer eines Freundes angegeben. Die Mutter sollte sich keine Sorgen machen. Wenn er ihr sagte, was sie beruhigte, war das doch richtig. Alles andere wäre falsch gewesen. Er konnte ja auch mit dem Flugzeug nicht in dem Steigungswinkel fliegen, der ihm beliebte. Er musste sich an das halten, was die Instrumente anzeigten. Lange genug hatte er die Eltern beobachtet. Jetzt wusste er, was nötig war. Er musste dafür sorgen, dass alles normal war. Dann konnte er fliegen.

Seine Mutter wünschte sich einen normalen Mann, der ­etwas mit seiner Frau unternahm, der einen Urlaub plante, der mit ihr im Karneval tanzen ging und sich ein Abonnement in der Oper leistete. Sein Vater war kein normaler Mann, er machte die Mutter unglücklich. Eine Weile hatte Klaus gedacht, er müsste mit der Mutter tanzen gehen oder herausfinden, wo es dieses Abonnement für die Oper gab. Aber das wäre nicht normal gewesen. Für ihn als Sohn war normal, dass er in die Schule ging, einen Beruf erlernte, Geld verdiente, eine Frau und später eine Familie hatte. Die Mutter wünschte sich Enkel. Sie hätte gerne mehr Kinder gehabt, und er wäre vielleicht auch froh gewesen um Geschwister, obwohl er das eigentlich nicht genau wusste. Sie hätten ihn vielleicht ablösen können in dieser leisen Sorge um die Mutter, die er nur dann ganz vergaß, wenn er in der Luft war oder sich an einen Flug erinnerte.

Der Gedanke, eine Freundin zu haben, erregte und ängstigte ihn. Andere in der Basketballmannschaft prahlten mit ihren Eroberungen. Sie fragten andere – bevorzugt Mitschüler, die sie für unschuldig hielten –, ob sie ihnen einen Pariser in XXL leihen könnten. Sie behaupteten, eine Taschenflasche mit achtzigprozentigem Rum sei ihr unfehlbares Mittel, die Cola einer ahnungslosen Blondine in einen Liebestrank zu verwandeln. Er sagte nichts, vermutlich war alles Angeberei und sie wussten so wenig wie er eine Antwort auf die Fragen, die ihn beschäftigten: War es mit einer Frau anders als beim Wichsen? Was passierte mit einem, wenn man es zum ersten Mal getan hatte? War man danach ein anderer Mensch? War es wie Fliegen?

Seine Mutter war die einzige Frau, mit der er bisher über Liebe geredet hatte. Genau genommen, hat er nicht mit ihr geredet, sondern sie mit ihm. Sie hatte gesagt, der Vater liebe sie nicht, sie aber liebe ihren Klausi und Klausi liebe auch sie, gell? Er überlegte, was sein Verhalten von dem des Vaters unterschied. Das war, dass der Vater manchmal unfreundlich zur Mutter war, dass er sie kritisierte und sich keine Mühe gab, es ihr recht zu machen. Er hingegen war nie unfreundlich und er gab sich Mühe, die Mama zufriedenzustellen.

Seit er denken konnte, hatte er sich über den Vater gewundert. Es kostete doch nicht mehr Mühe, freundlich zu bitten, als unfreundlich zu fordern. Wenn der Vater sagte, er wolle seine Ruhe, habe genug Ärger im Büro, hätte er doch mit ein bisschen mehr Lob und Lächeln für seine Frau viel mehr von dieser Ruhe bekommen als durch seine mürrische Klage über ihr Zanken. Waren die Eltern ein Rätsel, dessen Tiefe er nicht ergründen konnte, oder waren sie einfach blöd und fanden die einfachsten Lösungen nicht? Er hatte diese Kinderfrage irgendwann aufgegeben, er kam nicht weiter damit und hatte Wichtigeres zu tun.

Wenn seine Kumpel über geile Weiber redeten, hatte er das anfangs ignoriert. Und wenn ihm Typen, die schon das zweite Mal eine Klasse wiederholten und von seinen Mathehausauf­gaben abschreiben wollten, auf ihrem Handy einen besonders geilen Porno zeigten, hatte er hingeguckt, ohne zuzugeben, dass ihn das schockierte – das hatte die Mama ja auch mindestens einmal mit sich machen lassen, damit sie schwanger wurde. Vermutlich hatten die Eltern das nachher gleich aufgegeben, er konnte sich das gar nicht vorstellen zwischen ihnen, deshalb hatte er auch keine Geschwister, so war das.

Jetzt wichste er regelmäßig, es half ihm beim Einschlafen und war auch morgens schön, wenn er einmal länger liegen bleiben konnte. Er achtete darauf, dass keine Flecken in die Bett­wäsche kamen, die seine Mutter wechselte. Als die Mama einmal über seine schmutzigen Basketballtrikots klagte, hatte er angeboten, die selber zu waschen. Die Mama fand dieses Angebot toll. Er sammelte seine Wäsche in einem eigenen Korb, steckte sie ab und an in die Waschmaschine und ließ anschließend den Trockner laufen. Er schlief jetzt am liebsten in einem Trikot der Schulmannschaft, das saugte einiges weg.

Dann war Tanzkurs. Er lernte zu fragen, ob er bitten durfte. Das Förmliche, Vorsichtige gefiel ihm, es gab Regeln, feste Schritte, er übte ernsthaft und war sehr überrascht, dass ihn bei der Damenwahl gleich zwei Bewerberinnen auffordern wollten, von denen eine nach kurzem Blickwechsel gegen die zweite zurücktrat. Diese zweite hieß Sarah und war auf ihren Absätzen ­einen halben Kopf größer als er. Aus der Ferne hatte er sie schon länger bewundert, sie war blond, schlank, kam öfter in Reithosen und Stiefeln in die Schule, galt als stolz, von den Angebern in der Mannschaft hatte noch keiner behauptet, etwas mit ihr zu haben.

Sie tanzten und er war froh, dass er nicht mit ihr reden musste, sondern sich auf den Rhythmus und die Schritte konzentrieren konnte. Sie roch gut, sie fühlte sich gut an, er hätte gern gesagt, wie gut er fand, dass sie ihn ausgesucht hatte, aber er wusste nicht, wie er das sagen sollte. Nach dem Tanz war Pause, sie standen noch nebeneinander. Jetzt sagte er, er habe ihren Namen schon gehört, Sarah, sie seinen nicht – Klaus. Ob sie reite? Er habe sie doch so ausgerüstet gesehen. Er habe es noch nie probiert, aber er stelle es sich schön vor – die Bewegung. Sich zusammen mit etwas bewegen, das größer ist, stärker. Seine Leidenschaft sei das Fliegen, das Segelfliegen. Er erschrak. Das hatte er noch niemandem in der Schule gesagt. Er fürchtete den Spott der Kameraden über etwas, das ihnen fremd war, wie er die Angst seiner Mutter fürchtete.

»Bitte sag es nicht weiter. Ich habe es auch zu Hause nicht erzählt, dass ich in dem Kurs bin. Meine Mutter würde sich Sorgen machen. Und die anderen … ich denke, dass sie es nicht verstehen.«

»Ich verstehe das. Ich meine – reiten ist ein Mädchentraum. Alle Mädchen wollen reiten. Aber die meisten geben es auch bald wieder auf. Sie schwärmen für die Pferde, aber sie wollen eigentlich nichts von ihnen wissen. Sie denken, Pferde sind wie Menschen, sie machen ihnen Liebeserklärungen wie einem Menschen, aber ein Pferd ist ein Fluchttier, es hat Angst vor Liebeserklärungen, wenn es den Menschen nicht kennt und ihm nicht vertraut.«

Es gefiel ihm, wie sie vom Reiten sprach, dieses Gründliche. Sie dachte über das nach, was sie tat. Jetzt unterbrach sie sich.

»Ich rede zu viel. Keine Ahnung, ob dich das interessiert.«

»Doch, sehr. Vielleicht geht es mir ähnlich. Ich wollte als Kind fliegen, aber es war nicht ernst. Meine Eltern haben es verboten, ich musste warten, bis ich 18 war. In der Zwischenzeit habe ich mich mit Aerodynamik beschäftigt, habe Modellflugzeuge gebaut. Es ist mir immer ernster geworden, und je ernster es mir wurde, desto lieber habe ich mich damit beschäftigt. Vielleicht geht es dir mit dem Reiten genauso!«

»Ich weiß nicht. Mich haben die Pferde gerettet, obwohl ich anfangs wirklich nichts verstanden habe. Es war vielleicht der Geruch, die Wärme. Meine Mutter säuft, mein Vater ist abgehauen, mein großer Bruder – ich will nicht zu viel sagen, auf jeden Fall ist er kein Vorbild. Bei meiner Mutter weiß ich nie, wie ich dran bin, heute Küsse, morgen gibt es kein Frühstück und kein Mittagessen und Schläge, wenn ich mich beklage. Sie redet auf mich ein, ich bin schuld an ihrem Elend, ich rede auf sie ein, aber es nützt nichts.«

Er erschrak. So durfte doch niemand von einer Mutter reden. Oder doch? Für Sarah schien es das Einfachste der Welt.

»Ich bin in jeder freien Stunde im Stall. Ich muss Pferde bewegen, deren Besitzerinnen sie nicht genug reiten. Reiche Töchter und so. Sind erst mal begeistert, haben dann anderes im Kopf. Ich kriege etwas Geld, habe dort auch ein Zimmer auf dem Dachboden. Ist im Winter zu kalt, im Sommer zu heiß, aber besser als zu Hause.«

»Ich bin auch lieber bei den Segelfliegern als daheim. Aber auf dem Flugplatz gibt es keine Zimmer. Ich würde gern jeden Tag ein paar Stunden fliegen. Es ist … einfach ein gutes Gefühl. Als ob nichts anderes zählt.«

»Das kenne ich.«

Sie tanzten jetzt im Kurs regelmäßig miteinander, und in den meisten Unterrichtspausen unterhielten sie sich in einer Ecke des Schulhofs. Weder Sarah noch Klaus waren jemals in einer Clique gewesen. Sie redeten mal mit dem einem, bald mit einem anderen der Einzelgänger oder mit einem der Cliquenmitglieder, das sich gerade nicht wohl fühlte in seinem Kreis.

Es dauerte lange, bis sie sich außerhalb von Schule und Tanzkurs verabredeten. Sie waren es nicht gewohnt, nach der Schule in eines der Cafés zu gehen, in denen sich die Cliquen trafen. Sarah wollte zu ihren Pferden, Klaus wollte pünktlich zum Essen bei seiner Mutter sein. Das beruhigte sie, er konnte gleich danach die Hausaufgaben erledigen und dann zum Training oder zum Lernen, in Wahrheit zum Flugplatz.

Er schämte sich, dass er seine Mutter belog. Sarah hatte das nie getan. Als er es ihr sagte, streichelte sie seine Backe. »Mach dir keine Sorgen, du hast eben ein gutes Herz«, sagte sie. Er beobachtete Sarah jetzt genau und dachte darüber nach, was ihr eine Freude machen könnte. Sein Traum war, mit ihr zu fliegen. Ihr den Platz zu geben, an dem er saß. Hinter ihr zu sitzen, wie jetzt noch sein Lehrer. Aber sie sollte erst kommen, wenn er nicht mehr der Schüler war, erst nachdem er das erste Mal ­allein geflogen war.

Er hatte herausgefunden, wo der Reitstall war, in dem Sarah wohnte. Aber sie hatte ihn bisher nicht eingeladen. Er wusste nichts von Pferden. Er hatte Scheu vor ihnen, ging ihnen ­lieber aus dem Weg, sie waren stark und wild, bissen und traten mit eisenbeschlagenen Hufen. Es waren Tiere, nicht gebaut, um von Menschen gelenkt zu werden. Er unterhielt sich mit Sarah über diesen Unterschied zwischen Pferden und Flugzeugen. Ob es so etwas wie eine Bedienungsanleitung für ein Pferd gebe? Sie lächelte. »Es gibt Reitschulen«, sagte sie, »und Stile – den englischen, den spanischen, den Westernstil, unterschiedliche Traditionen aus den Zeiten, als Pferde noch das wichtigste Mittel waren, sich fortzubewegen. Aber jedes Tier ist anders. Stell dir vor, dein Flugzeug erinnert sich an alle Pilotenfehler, die schon einmal mit ihm gemacht wurden, und versucht dich dazu zu bringen, sie zu wiederholen.«

Er stellte es sich vor und schüttelte den Kopf.

»Ich würde nie in einen solchen Flieger steigen.«